Jane Eyre - Charlotte Brontë - E-Book

Jane Eyre E-Book

Charlotte Bronte

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Beschreibung

Die junge Jane Eyre tritt eine Stelle als Gouvernante auf dem entlegenen Landsitz Thornfield Hall an – und sie verliebt sich unsterblich in den Herrn des Hauses, den verschlossenen, aber faszinierenden Edward Rochester. Er erwidert ihre Gefühle leidenschaftlich, doch ein schreckliches Geheimnis bedroht das Glück ...

Mit der klugen, charakterstarken Jane Eyre schuf Charlotte Brontë eines der bewegendsten Frauenporträts der Weltliteratur. Der Roman gilt als fiktive Autobiographie der Autorin.Melanie Walz erweckt diesen Klassiker der viktorianischen Literatur in ihrer Neuübersetzung zu neuem Leben und präsentiert ihn in einer frischen und modernen Sprache. Die Neuübersetzung von Charlotte Brontës erstem Roman wird ergänzt durch einen ausführlichen Anhang, der die historischen Hintergründe des Romans erläutert.

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Seitenzahl: 1027

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Nach einer Kindheit im Waisenhaus tritt Jane Eyre eine Stelle als Gouvernante auf dem entlegenen Landsitz Thornfield Hall an – und verliebt sich unsterblich in den Hausherrn, den düsteren und verschlossenen Edward Rochester. Er erwidert ihre Gefühle voller Leidenschaft, doch er ist verheiratet, und Jane weigert sich, ein Leben als Mätresse zu führen. Erst nach dem dramatischen Tod seiner Frau finden die beiden zusammen.

Mit der klugen, charakterstarken Jane Eyre schuf Charlotte Brontë eines der bewegendsten Frauenporträts der englischen Literatur. Der Roman gilt als fiktive Autobiographie der Autorin.

Charlotte Brontë, geboren 1816 in Thornton, Yorkshire, arbeitete zunächst als Lehrerin und Gouvernante, bevor sie 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell Gedichte und Romane zu schreiben begann. Der literarische Durchbruch gelang erst 1847 mit Jane Eyre. 1855 starb Charlotte Brontë in Haworth.

Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, wurde 1999 mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und 2001 mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Sie hat u. ‌a. Antonia S. Byatt, John Cooper-Powys, Charles Dickens, Marcel Proust und Virginia Woolf übersetzt.

Charlotte Brontë

Jane Eyre

Eine Autobiographie

Herausgegeben und aus dem Englischenübersetzt von Melanie Walz

Titel der Originalausgabe: Jane Eyre. Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym Currer Bell im Verlag Smith & Elder, London 1847.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2015

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: hissmann, heilmann, hamburg / Simone Andjelkovic

Jane EyreEine Autobiographie

W. ‌M. Thackeray, Esquire,widmet dieses Werkmit aller Hochachtungder Verfasser

Vorwort des Verfassers zur zweiten Ausgabe

Da ein Vorwort zu der ersten Ausgabe von Jane Eyre nicht nötig war, gab es keines: Diese zweite Ausgabe erfordert jedoch einige Worte des Danks und verschiedene Bemerkungen.

Mein Dank ist drei Parteien geschuldet:

Dem Publikum für das geneigte Ohr, das es einer schlichten Erzählung ohne allzu große Ansprüche geliehen hat.

Der Presse für das weite Feld, das ihre ungeheuchelte Zustimmung einem unbekannten Anfänger eröffnet hat.

Meinen Verlegern für die Unterstützung, die sie mit ihrem Taktgefühl, ihrer Energie, ihrem Realitätssinn und ihrer offenherzigen Großmut einem Autor ohne Renommee und ohne Referenzen geleistet haben.

Presse und Publikum sind recht undeutliche Größen für mich, und ich muss mich damit begnügen, ihnen in undeutlichen Wendungen zu danken; meine Verleger aber sind konkret, ebenso wie einzelne großzügige Kritiker, die mich ermutigt haben, wie nur großherzige und hochherzige Menschen einen Unbekannten in seinen Mühen ermutigen können; ihnen, i. ‌e. meinen Verlegern und den erwähnten einzelnen Kritikern, sage ich herzlich: Meine Herren, ich danke Ihnen von ganzem Herzen.

Nachdem ich so denen gedankt habe, die mir halfen und mich ermutigten, wende ich mich einer anderen Gruppe zu, einer kleinen Gruppe, soweit mir bekannt, doch deshalb keineswegs zu vernachlässigen. Ich beziehe mich auf jene furchtsamen oder nörglerischen Einzelnen, die Bedenken ob der Tendenz von Büchern wie Jane Eyre geäußert haben, in deren Augen alles Ungewohnte schlecht sein muss, in deren Ohren jeder Protest gegen das Frömmlertum – diese Brutstätte des Verbrechens – wie ein Schmähen der Frömmigkeit klingt, dieser Regierung Gottes auf Erden. Letztgenannten Zweiflern möchte ich einige unstreitige Unterscheidungen vor Augen führen und gewisse unbestreitbare Wahrheiten in Erinnerung rufen.

Konventionen sind nicht mit Moral gleichzusetzen. Selbstgerechtigkeit ist nicht dasselbe wie Religiosität. Erstere anzugreifen bedeutet nicht, sich an Letzterer zu vergehen. Dem Pharisäer die Maske vom Gesicht zu reißen, heißt nicht, eine frevlerische Hand gegen die Dornenkrone zu erheben.

Diese Dinge und Taten sind einander diametral entgegengesetzt: Sie sind so verschieden voneinander wie Tugend und Laster. Die Menschen verwechseln sie allzu oft, doch man sollte sie nicht verwechseln: Den Schein sollte man nicht für die Wahrheit halten, und engstirnige menschliche Grundsätze, die nur dazu führen, einige wenige herauszuheben und übergroß zu machen, sollten nicht den welterlösenden Glauben des Christus ersetzen. Es gibt – ich wiederhole es – einen Unterschied, und es ist eine gute und nicht eine schlechte Tat, die Trennungslinie zwischen dem einen und dem anderen erkennbar und deutlich zu markieren.

Es mag der Allgemeinheit nicht zupasskommen, diese Vorstellungen auseinanderdividiert zu sehen, da sie es gewohnt ist, sie zu vermischen, und es als bequem erachtet, den bloßen Anschein als gediegenen Wert auszugeben, weißgetünchte Wände als Beweis lauterer Heiligtümer zu nehmen. Sie mag den hassen, der es wagt, hineinzustochern und bloßzustellen, die Vergoldung abzureißen und das billige Metall darunter zum Vorschein zu bringen, in das Grabmal einzudringen und die sterblichen Reste zu enthüllen – doch mag sie ihn noch so sehr hassen, ist sie ihm dennoch zu Dank verpflichtet.

Ahab liebte den Propheten Micha nicht, denn dieser sagte ihm nie Gutes voraus, sondern nur Schlimmes; vermutlich war ihm der speichelleckerische Sohn Kenaanas lieber, und dennoch wäre Ahab ein blutiges Ende erspart geblieben, hätte er seine Ohren der Schmeichelei verstopft und auf ehrlichen Rat gehört.

In unseren Zeiten gibt es einen, dessen Worte nicht dazu gedacht sind, zarte Ohren zu umschmeicheln, der nach meinem Ermessen größer ist als die Großen der Gesellschaft, so wie der Sohn Imlas größer war als die gekrönten Könige Judas und Israels, und der die Wahrheit ebenso deutlich ausspricht, so machtvoll wie ein Prophet, so wagemutig, so kühnen und unerschrockenen Geistes. Wird der satirische Verfasser von Vanity Fair hohen Ortes bewundert? Ich weiß es nicht; doch ich glaube, wenn manche derer, unter die er das griechische Feuer seines Sarkasmus schleudert und die brennenden Blitze seiner Anklage, seine Warnungen rechtzeitig beherzigten, könnten sie oder ihre Brut einem tödlichen Ramoth in Gilead entkommen.

Warum habe ich diesen Mann erwähnt? Ich erwähnte ihn, Leser, weil ich in ihm einen Intellekt zu sehen wähne, der tiefer und einzigartiger ist, als es seine Zeitgenossen bisher erkannt haben, weil ich ihn für den überragenden gesellschaftlichen Erneuerer unserer Tage halte – für den wahren Meister jener, die daran arbeiten, die entartete Ordnung der Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen –, weil ich der Ansicht bin, dass keiner derer, die sein Schreiben kommentieren, bisher zu einem passenden Vergleich gefunden hat, zu Worten, die sein Können angemessen würdigen. Es heißt, er schreibe wie Fielding; man erwähnt seinen Witz, seinen Humor, seine Komik. Doch er ähnelt Fielding wie ein Adler einem Geier: Fielding konnte sich mit Aas begnügen, was Thackeray niemals täte. Sein Witz ist brillant, sein Humor ist anziehend, und beide stehen zu seiner ernsthaften Begabung in der gleichen Beziehung wie das flackernde Wetterleuchten am Rand der Sommerwolke zu dem elektrisch geladenen Todesfunken, der sich in seinem Inneren verbirgt. Und zuletzt habe ich Mr. Thackerey erwähnt, weil ich ihm – so er die Huldigung eines ihm gänzlich Unbekannten annehmen sollte – diese zweite Ausgabe von Jane Eyre gewidmet habe.

Currer Bell

21. Dezember 1847

Bemerkung zur dritten Ausgabe

Ich nutze die Gelegenheit einer dritten Auflage von Jane Eyre, um mich abermals an das Publikum zu wenden und zu erklären, dass mein Anspruch auf Autorschaft allein auf diesem Buch beruht. Sofern mir also die Autorschaft an anderen Werken zugesprochen wurde, war dies eine Ehre, die mir nicht gebührt und die folglich demjenigen verwehrt wurde, dem sie von Recht wegen zusteht.

Diese Erklärung mag Irrtümer berichtigen, die bereits geschehen sind, und künftigen Missverständnissen vorbeugen.

Currer Bell

13. April 1848

Erstes Kapitel

An einen Spaziergang war an diesem Tag nicht zu denken. Wir waren vormittags eine Stunde lang in dem kahlen Strauchgarten herumgewandert, doch seit der Mittagsmahlzeit (wenn niemand zu Besuch war, pflegte Mrs. Reed früh zu speisen) hatte der kalte Winterwind so düstere Wolken und einen so durchdringenden Regen gebracht, dass nicht mehr die Rede davon sein konnte, sich draußen zu ergehen.

Mich freute es; lange Spaziergänge habe ich noch nie gemocht, vor allem an kühlen Nachmittagen; Ich fürchtete mich davor, in dem unheimlichen Zwielicht nach Hause zu kommen, mit vor Kälte steifen Fingern und Zehen und mit einem Herzen voll Kummer, weil Bessie, das Kindermädchen, mich gescholten hatte und weil ich mir der körperlichen Unterlegenheit Eliza, John und Georgiana Reed gegenüber bewusst war.

Diese genannten Eliza, John und Georgiana waren nun um ihre Mama im Salon versammelt; sie ruhte auf dem Sofa, von ihren Lieblingen umgeben (die ausnahmsweise weder stritten noch plärrten), und wirkte rundum glücklich. Mich hatte sie der Teilnahme an dieser Gruppe enthoben mit den Worten, sie bedaure, sich genötigt zu sehen, mich fernzuhalten, doch bis Bessie ihr bestätigen könne und sie aus eigener Anschauung erkennen könne, dass ich mich ernsthaft um ein geselligeres und kindgerechteres Betragen bemühte, um eine liebenswertere und fröhlichere Wesensart – unbeschwerter, offener und natürlicher –, müsse sie mir die Vergünstigungen vorenthalten, die nur für glückliche und zufriedene Kinder bestimmt seien.

»Was hat Bessie gesagt, was ich getan haben soll?«, fragte ich.

»Jane, Spitzfindigkeiten und Herumgenörgel kann ich gar nicht ausstehen; und ein Kind, das sich Erwachsenen gegenüber so aufführt, ist eine wahrhaft hässliche Erscheinung. Setz dich irgendwo hin und halte den Mund, bis du etwas Erfreuliches sagen kannst.«

An den Salon grenzte ein kleines Frühstückszimmer. Dorthin schlüpfte ich. Es gab dort ein Bücherregal; schon bald hatte ich mir einen Band ausgesucht, mit Bedacht darauf, dass er Bilder enthielt. Ich machte es mir auf dem Fenstersitz gemütlich, im Schneidersitz wie ein Türke, und nachdem ich den dicken roten Vorhang fast ganz zugezogen hatte, war ich doppelt verborgen.

Die Falten des dunkelroten Vorhangs begrenzten meine Sicht zur Rechten; zur Linken sah ich die klaren Fensterscheiben, die mich vor dem trübseligen Novembertag beschützten, ohne mich von ihm zu trennen. Während ich in meinem Buch blätterte, betrachtete ich ab und zu den winterlichen Nachmittag. In der Ferne bot er eine bleiche Leere aus Nebel und Wolken, in der Nähe ein Bild nassen Rasens und windgezauster Sträucher und unablässigen Regens, der sich vor einem unaufhörlichen und fürchterlichen Sturmwind ergoss.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück – BewicksHistory of British Birds; der Text interessierte mich nicht sonderlich, wenn ich ehrlich sein soll, aber dennoch gab es einige einleitende Seiten, die ich selbst als Kind nicht ungelesen überblättern wollte. Es waren die Seiten, auf denen es um die Nistplätze der Seevögel geht, um die »einsamen Felsen und Felsvorsprünge«, auf denen nur sie wohnen, an der Küste Norwegens, die von ihrem südlichen Zipfel, Kap Lindesnäs, bis zum Nordkap mit Inseln bestückt ist –

Wo das Nordmeer in gewaltigem Wirbeln

Die nackten, traurigen Inseln umtost

Des entlegenen Thule und des Atlantiks Wüten

Sich zwischen den sturmgepeitschten Hebriden ergießt.

Und ebenso wenig konnte ich über die Erwähnung der kahlen Ufer Lapplands, Sibiriens, Spitzbergens, Nowaja Semljas, Islands und Grönlands hinweglesen, »das ausgedehnte Gebiet der arktischen Zone und die verlassenen Bereiche trostlosen Raumes, jenes Reservoirs von Eis und Schnee, wo dicke Eisfelder, gewachsen in den Wintern von Jahrhunderten, zu schwindelerregenden Gipfeln gefroren, um den Nordpol herum die vielfältigen Unbilden der strengen Kälte vereinigen«. Von diesen todesweißen Gegenden bildete ich mir meine eigene Vorstellung: undeutlich, wie alle halbverstandenen Dinge, die schemenhaft im kindlichen Geist hausen, doch merkwürdig beeindruckend. Die Worte dieser Einleitung verbanden sich für mich mit den darauffolgenden Vignetten und schufen die Bedeutung des einsamen Felsens in einem Meer aus Wogen und Gischt, des gestrandeten Bootes an einer trostlosen Küste und des kalten, gespenstischen Mondes, der durch Wolkenstreifen zu einem lecken Schiff blickte, das gerade sank.

Ich kann nicht mit Worten ausdrücken, welche Stimmung auf dem einsamen Friedhof mit seinem beschrifteten Grabstein spukte, mit seinem Tor, seinen zwei Bäumen, dem niedrigen Horizont, von einer verfallenen Mauer umschlossen, und der soeben aufgegangenen Mondsichel, die die Abendzeit anzeigte.

Die zwei Schiffe, reglos auf einem unbewegten Meer, hielt ich für gespenstische Erscheinungen.

Den bösen Geist, der das Bündel des Diebs hinter dessen Rücken an den Boden nagelte, überblätterte ich schnell: Er war zu schrecklich anzusehen.

Und schrecklich war auch das schwarze gehörnte Etwas, das hoch auf einem Felsen hockte und eine um einen Galgen versammelte Menschenmenge in der Ferne beobachtete.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte, oft rätselhaft für mein unausgegorenes Verständnis und meine unerprobten Empfindungen, doch immer zutiefst fesselnd – so fesselnd wie die Geschichten, die Bessie manchmal an Winterabenden erzählte, wenn sie zufällig gute Laune hatte, ihr Bügelbrett an den Kamin im Kinderzimmer brachte, uns erlaubte, danebenzusitzen, und, während sie Mrs. Reeds Spitzenrüschen fältelte und die Bordüren ihrer Nachthauben kräuselte, ihren gebannten Zuhörern Liebes- und Abenteuererlebnisse aus alten Märchen und noch älteren Balladen oder auch (wie ich später herausfand) aus Pamela und Henry, Earl of Moreland darbot.

Mit Bewick auf den Knien war ich also glücklich, glücklich jedenfalls auf meine Weise. Ich fürchtete nichts, außer gestört zu werden, und dies geschah nur zu bald. Die Tür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Bah! Madame Griesgram!«, rief die Stimme John Reeds; dann hielt er inne: das Zimmer schien leer zu sein.

»Wo zum Teufel steckt sie?«, fuhr er fort. »Lizzy! Georgy!« (rief er seinen Schwestern zu) »Joan ist nicht hier. Sagt Mama, dass sie in den Regen hinausgelaufen ist – das elende Geschöpf!«

»Wie gut, dass ich den Vorhang zugezogen habe«, dachte ich; ich hoffte inbrünstig, dass er mein Versteck nicht entdecken würde, und aus eigenem Vermögen hätte John Reed es auch nicht entdeckt, denn er war von langsamer Wahrnehmung und Auffassungsgabe; doch Eliza streckte nur den Kopf zur Tür herein und sagte sogleich: »Sie ist ganz gewiss auf dem Fenstersitz, Jack.«

Und ich kam unverzüglich heraus, denn es grauste mir bei der Vorstellung, von besagtem Jack herausgezerrt zu werden.

»Was willst du?«, fragte ich linkisch und schüchtern.

»Das heißt: ›Was wollen Sie, Master Reed?‹«, lautete die Antwort. »Ich will, dass du herkommst«, und indem er sich in einen Sessel setzte, bedeutete er mir mit einer Handbewegung, ich solle näher kommen und vor ihm stehen bleiben.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren, vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn, groß und untersetzt für sein Alter, mit einer grauen, ungesunden Hautfarbe, groben Zügen in seinem flächigen Gesicht, schwerfälligen Gliedmaßen und großen Händen und Füßen. Bei Tisch stopfte er sich unmäßig voll, was ihm Gallenbeschwerden und Verdrießlichkeit bescherte, trübe Augen und schlaffe Haut. Er hätte eigentlich in der Schule sein sollen, doch seine Mama hatte ihn für ein, zwei Monate nach Hause geholt, »seiner zarten Gesundheit wegen«. Der Lehrer Mr. Miles hatte zwar versichert, er könnte völlig gesund sein, wenn er weniger Kuchen und Süßigkeiten von zu Hause geschickt bekäme, doch das Herz der Mutter konnte sich mit einer so unfreundlichen Meinung nicht anfreunden und hegte lieber den zartbesaiteteren Gedanken, dass Johns fahler Teint von allzu fleißigem Lernen herrühre und vielleicht von Heimweh.

John brachte Mutter und Schwestern wenig Zuneigung entgegen, und mich konnte er nicht leiden. Er schikanierte und drangsalierte mich; nicht zwei- oder dreimal in der Woche, nicht ein- oder zweimal am Tag, sondern ununterbrochen; jeder Nerv meines Körpers fürchtete ihn, und jedes bisschen Fleisch an meinen Knochen schrak vor ihm zurück. Manchmal bestürzte es mich, welchen Schrecken er in mir auslöste, denn es gab niemanden, der mich vor seinen Drohungen oder seinen Züchtigungen beschützt hätte; die Dienstboten wollten ihren jungen Herrn nicht kränken, indem sie gegen ihn Partei ergriffen, und Mrs. Reed war blind und taub in dieser Sache; sie sah nie, wie er mich schlug oder mich beschimpfte, obwohl er es ab und zu sogar in ihrer Gegenwart tat, meistens allerdings hinter ihrem Rücken.

Gewohnt, John zu gehorchen, trat ich zu seinem Stuhl; etwa drei Minuten lang streckte er mir die Zunge heraus, soweit er es bewerkstelligen konnte, ohne sie aus der Wurzel zu reißen; ich wusste, dass er als Nächstes zuschlagen würde, und während ich mich vor dem Schlag fürchtete, sann ich über den abstoßenden und hässlichen Anblick desjenigen nach, der mich schlagen würde. Ich frage mich, ob er diese Gedanken meiner Miene ablas, denn ohne ein Wort zu äußern, schlug er unvermittelt und mit aller Kraft zu. Ich taumelte und trat einen oder zwei Schritte von seinem Sessel zurück, um mein Gleichgewicht wiederzufinden.

»Das ist für die Unverschämtheit, mit der du vorhin Mama geantwortet hast«, sagte er, »und für die Heimlichkeit, mit der du hinter Vorhänge kriechst, und für die Art, wie du mich eben angesehen hast, du Ratte!«

John Reeds Beschimpfungen gewohnt, wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihm zu antworten; meine Gedanken waren damit beschäftigt, wie ich den Schlag ertragen konnte, der den Schimpfworten zweifellos folgen würde.

»Was hast du hinter dem Vorhang angestellt?«, fragte er.

»Ich habe gelesen.«

»Zeig mir das Buch.«

Ich ging zu dem Fenster zurück und holte es von dort.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu lesen; du bist eine Abhängige, sagt Mama; du hast kein Geld; dein Vater hat dir nichts hinterlassen; du solltest betteln gehen und nicht hier mit vornehmen Kindern wie uns leben und dasselbe essen wie wir und Kleider auf Mamas Kosten tragen. Und jetzt werde ich dich lehren, in meinen Bücherschränken zu stöbern – denn es sind meine; das ganze Haus gehört mir oder wird mir in ein paar Jahren gehören. Geh und stell dich an die Tür, weg vom Spiegel und von den Fenstern.«

Ich gehorchte, ohne zuerst zu wissen, was er bezweckte; doch als ich sah, wie er das Buch erhob und damit zielte und dann im Begriff war, es zu werfen, sprang ich instinktiv mit einem Schrei des Schreckens zur Seite, doch nicht schnell genug; das Buch wurde geworfen, traf mich, und ich fiel hin, schlug mit dem Kopf gegen die Tür und schnitt mich. Die Wunde blutete, der Schmerz war durchdringend; mein Schrecken hatte den Höhepunkt überschritten, und andere Gefühle folgten.

»Du schlechter und grausamer Junge!«, sagte ich. »Du bist wie ein Mörder – du bist wie ein Sklaventreiber – du bist wie die römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmiths History of Rome gelesen und mir eine Meinung über Nero, Caligula usw. gebildet. Zudem hatte ich im Stillen Parallelen gezogen, die so laut zu äußern ich nie gedacht hätte.

»Was! Was!«, schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr das gehört, Elizabeth und Georgiana? Das sage ich Mama! Aber vorher –«

Er rannte auf mich zu; ich spürte, wie er mich an den Haaren und an der Schulter packte; er hatte sich mit einer verzweifelten Beute angelegt. Ich sah in ihm wahrhaftig einen Tyrannen: einen Mörder. Ich spürte Blut von meinem Kopf den Hals entlangtröpfeln und war mir eines beißenden Schmerzes bewusst; diese Eindrücke gewannen kurzzeitig die Oberhand über meine Furcht, und ich wehrte mich erbittert. Ich weiß nicht genau, was ich mit meinen Händen tat, aber er schimpfte mich »Ratte! Ratte!« und brüllte laut. Hilfe kam bald; Eliza und Georgiana waren zu Mrs. Reed gelaufen, die nach oben gegangen war; nun betrat sie den Schauplatz, von Bessie und ihrer Kammerzofe Abbot gefolgt. Man trennte uns; dann hörte ich die Worte: »Du lieber Himmel! Was für eine Furie, so über Master John herzufallen!«

»Hat man so etwas Jähzorniges schon erlebt?«

Dann fügte Mrs. Reed hinzu: »Bringen Sie sie in das rote Zimmer und sperren Sie sie dort ein.« Vier Hände ergriffen mich sogleich, und ich wurde nach oben getragen.

Zweites Kapitel

Ich wehrte mich den ganzen Weg über: eine neue Erfahrung für mich und ein Umstand, der die schlechte Meinung, die Bessie und Miss Abbot von mir zu haben geneigt waren, sehr beförderte. Es verhielt sich so, dass ich ein wenig neben mir war oder, wie die Franzosen sagen würden, außer mir: Ich war mir dessen bewusst, dass die Rebellion eines Augenblicks mich befremdlichen Strafen ausgeliefert hatte, und wie jeder andere aufständische Sklave wollte ich in meiner Verzweiflung bis zum Äußersten gehen.

»Halten Sie ihre Arme, Miss Abbot, sie ist wie eine tollwütige Katze.«

»Pfui Schande! Pfui Schande!«, rief die Kammerzofe. »Was für ein schändliches Betragen, Miss Eyre, einen jungen Gentleman zu schlagen, den Sohn Ihrer Wohltäterin! Ihren jungen Herrn!«

»Meinen Herrn? Wie soll er mein Herr sein? Bin ich seine Dienerin?«

»Nein; Sie sind weniger als eine Dienerin, denn Sie arbeiten nicht für Ihr Brot. Da, setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Bösartigkeit nach.«

Inzwischen hatten sie mich in den von Mrs. Reed gewiesenen Raum gebracht und auf einen Hocker geworfen; ich wollte wie eine Feder hochschnellen, doch zwei Paar Hände hielten mich unerbittlich fest.

»Wenn du nicht stillsitzen willst, müssen wir dich festbinden«, sagte Bessie. »Miss Abbot, leihen Sie mir Ihre Strumpfbänder; meine würde sie sofort zerreißen.«

Miss Abbot wandte sich ab, um ein stämmiges Bein von dem erforderlichen Band zu befreien. Diese Vorbereitung für die Fesseln und die zusätzliche Schmach, die damit verbunden war, kühlten meinen Zorn ein wenig ab.

»Ziehen Sie sie nicht ab«, rief ich. »Ich werde mich nicht rühren.«

Worauf ich mich zum Beweis mit den Händen an meinem Sitz festhielt.

»Tu es bloß nicht«, sagte Bessie; und als sie sich vergewissert hatte, dass ich tatsächlich einlenkte, ließ sie mich los; dann standen sie und Miss Abbot mit gekreuzten Armen da und sahen mich finster und mit gerunzelter Stirn an, als zweifelten sie an meinem Geisteszustand.

»So etwas hat sie noch nie getan«, sagte Bessie schließlich zu der Kammerzofe.

»Aber sie hatte es immer schon im Blut«, war die Antwort. »Ich habe Missis oft genug gesagt, was ich von dem Kind halte, und Missis war immer meiner Ansicht. Es ist ein verschlagenes kleines Ding. Noch nie habe ich ein Mädchen in seinem Alter von solcher Heimtücke gesehen.«

Bessie sagte nichts; doch nach einer Weile sagte sie zu mir: »Du müsstest doch wissen, Miss, dass du Mrs. Reed verpflichtet bist; sie ernährt dich; würde sie dich wegschicken, müsstest du ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte konnte ich nichts erwidern; sie waren mir nicht neu; meine allerersten Erinnerungen an mein Dasein enthielten Andeutungen der nämlichen Art. Der Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren zu einem undeutlichen Singsang geworden, sehr schmerzlich und niederschmetternd, aber nur halb verständlich. Miss Abbot stimmte ein: »Und Sie sollten sich nicht einbilden, Sie wären den Misses Reed und Master Reed gleichgestellt, nur weil Missis so freundlich ist, Sie mit ihnen zusammen aufwachsen zu lassen. Sie werden eine Menge Geld haben, und Sie werden nichts haben; es ist Ihre Aufgabe, demütig zu sein und sich zu bemühen, es Ihren Verwandten recht zu machen.«

»Was wir dir sagen, sagen wir dir zu deinem Besten«, fügte Bessie in nicht unfreundlichem Ton hinzu. »Du solltest dich bemühen, nützlich und freundlich zu sein, und dann wirst du hier vielleicht ein Zuhause finden; aber wenn du dich jähzornig und dreist aufführst, wird Missis dich wegschicken, ganz gewiss.«

»Außerdem«, sagte Miss Abbot, »wird Gott sie strafen. Er könnte sie mitten unter einem ihrer Zornesausbrüche tot umfallen lassen, und wohin käme sie dann? Kommen Sie, Bessie, wir wollen sie allein lassen; um nichts in der Welt wollte ich ihren Charakter haben. Sagen Sie Ihre Gebete, Miss Eyre, wenn Sie wieder bei Sinnen sind; denn wenn Sie nicht bereuen, könnte etwas Böses den Schornstein hinunterkommen und Sie holen.«

Sie gingen, schlossen die Tür und sperrten sie hinter sich ab.

Das rote Zimmer war ein selten benutzter Raum, fast könnte ich sagen: nie benutzt, außer ein zufälliger Besucherstrom in Gateshead Hall machte es erforderlich, alle Zimmer zur Verfügung zu stellen, obwohl es eines der größten und stattlichsten Zimmer im ganzen Haus war. Ein Bett auf gedrungenen Mahagonifüßen und mit Bettvorhängen aus dunkelrotem Damast stand wie ein Tabernakel in der Zimmermitte; die zwei großen Fenster, deren Fensterläden nie geöffnet wurden, waren mit den Falten und Girlanden der Vorhänge aus gleichem Material verhängt; der Teppich war rot; den Tisch am Fuß des Betts bedeckte ein scharlachrotes Tuch; die Wände waren hellbraun, mit einer Spur Rosa darin; Garderobenschrank, Toilettentisch und Stühle waren aus dunkelpoliertem alten Mahagoni. Von den Schatten dieses dunklen Hintergrunds hoben sich schroff und blendend weiß die aufgetürmten Matratzen und Kissen des Betts unter einer schneeweißen dichtgewebten Baumwolldecke ab. Kaum weniger auffallend war ein breiter, ebenfalls weißer Polstersessel mit Fußschemel neben dem Kopf des Betts, der, wie es mir scheinen wollte, wie ein bleicher Thron aussah.

In dem Raum war es kühl, denn dort wurde nur selten Feuer gemacht; es war still, weil er von Kinderzimmer und Küchenräumen weit entfernt war; und feierlich, weil er so selten betreten wurde. Nur das Hausmädchen kam an den Samstagen her, um den Staub einer Woche von Spiegeln und Möbeln zu wischen, und Mrs. Reed besuchte ihn in großen Abständen, um den Inhalt eines gewissen Geheimfachs im Kleiderschrank zu begutachten, das verschiedene Unterlagen enthielt, ihre Schmuckkassette und eine Miniatur ihres verstorbenen Ehemanns; und diese letzten Worte enthalten das Geheimnis des roten Zimmers, den Bann, der es trotz seiner Großartigkeit so verlassen machte.

Mr. Reed war seit neun Jahren tot; in diesem Zimmer hatte er den letzten Atemzug getan; hier war er aufgebahrt worden; von hier hatten die Träger seinen Sarg fortgebracht; und seit jenem Tag hatte eine Atmosphäre trübseliger Weihe den Raum vor häufigen Besuchen bewahrt.

Der Sitz, auf den Bessie und die erboste Miss Abbot mich verbannt hatten, war eine niedrige Ottomane in der Nähe des marmornen Kamins; das Bett ragte vor mir auf; zu meiner Rechten stand der hohe, dunkle Schrank, auf dessen glänzenden Flächen matte, unterbrochene Reflexe spielten; zu meiner Linken waren die vermummten Fenster; ein großer Spiegel zwischen ihnen wiederholte die leere Pracht von Bett und Zimmer. Ich war mir nicht sicher, ob sie die Tür abgesperrt hatten; und als ich wagte, mich zu rühren, stand ich auf und ging nachsehen. Ach! O ja, kein Kerker war je sicherer versperrt gewesen. Auf dem Rückweg musste ich an dem Spiegel vorbeigehen, und mein gebannter Blick ergründete unwillkürlich die Tiefe, die er enthüllte. In diesem Hohlraum nahm sich alles kälter und dunkler aus als in Wirklichkeit, und die sonderbare kleine Gestalt, die mich daraus anstarrte, mit weißem Gesicht, mit Armen, die Flecken in der Düsternis waren, und mit vor Furcht glitzernden Augen, die sich bewegte, wo nichts sonst sich regte, wirkte auf mich wie eine echte Geistererscheinung: Sie war für mich wie eines der winzigen Gespenster, halb Fee und halb Inkubus, die in Bessies abendlichen Erzählungen aus einsamen, farnbewachsenen Tälern im Moor kommen und sich dem Blick verspäteter Wanderer zeigen. Ich ging zu meinem Hocker zurück.

Der Aberglaube hatte mich heimgesucht; aber es war noch nicht der Zeitpunkt seines Sieges; mein Blut war noch warm; die Empfindungen des Sklaven, der sich aufgelehnt hatte, erfüllten mich noch mit der Kraft ihrer Erbitterung; ich musste einen Schwall schnell drängender Erinnerungen zügeln, bevor ich angesichts der trostlosen Gegenwart verzagte.

Alle gewalttätige Tyrannei John Reeds, alle stolze Gleichgültigkeit seiner Schwestern, alle Abneigung seiner Mutter, alle Parteilichkeit der Dienstboten kamen in meinem verstörten Geist zur Oberfläche wie dunkler Bodensatz eines trüben Brunnens. Warum musste immer ich leiden, mich einschüchtern lassen, mich beschuldigen und verurteilen lassen? Warum konnte ich nie gefallen? Warum war ich außerstande, irgendjemandes Gunst zu gewinnen? Eliza war starrköpfig und selbstsüchtig, aber sie wurde respektiert. Georgiana war verwöhnt, bissig, boshaft und hoffärtig, wurde aber von allen mit Nachsicht behandelt. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldenen Locken schienen alle zu entzücken, die sie ansahen, und sie für alles zu entschuldigen. John wagte niemand zu ermahnen oder gar zu bestrafen, obwohl er den Tauben den Hals umdrehte, die Pfauenküken tötete, die Hunde auf die Schafe hetzte, die Früchte von den Weinreben im Treibhaus riss und die Blüten der kostbarsten Pflanzen im Wintergarten abknickte; seine Mutter nannte er sogar »altes Mädchen«, schmähte sie manchmal für ihre dunkle Haut, die der seinen glich, ignorierte ihre Wünsche ungeniert, zerriss und beschmutzte oft genug ihre Seidengewänder und war und blieb dennoch »ihr kleiner Liebling«. Ich wagte nie, mir etwas zuschulden kommen zu lassen; ich war bestrebt, jede Pflicht zu erfüllen; aber ich galt von früh bis spät als frech und lästig, mürrisch und hinterhältig.

Mein Kopf schmerzte noch und blutete von dem Schlag und der Verletzung, die ich erhalten hatte; niemand hatte John dafür getadelt, dass er mich böswillig geschlagen hatte, doch weil ich gegen ihn aufbegehrt hatte, um noch mehr sinnloser Gewalt zu wehren, wurde ich von allen geschmäht.

»Ungerecht! – Ungerecht!«, sagte mein Verstand, von den Qualen zu unvorhergesehener, wenn auch kurzlebiger Kraft angespornt; und die ebenfalls geweckte Entschlossenheit suggerierte mir absonderliche Wege, um der unerträglichen Unterdrückung zu entkommen – wegzulaufen oder, wenn das nicht zu bewerkstelligen wäre, nie mehr zu essen und zu trinken, sodass ich sterben würde.

Welche Bestürzung herrschte an jenem düsteren Nachmittag in meiner Seele! Welcher Tumult war in meinem Denken, welcher Aufruhr in meinem Herzen! Aber in welcher Dunkelheit, in welch finsterem Unwissen führte ich diesen geistigen Kampf! Die unablässig wiederholte innere Frage, warum ich so leiden musste, konnte ich nicht beantworten; heute, mit dem Abstand – von wie vielen Jahren, will ich nicht verraten – weiß ich es.

Ich war ein Missklang in Gateshead Hall; ich war anders als die anderen; nichts verband mich mit Mrs. Reed, mit ihren Kindern oder ihren Lieblingsvasallen. Sie liebten mich nicht, aber ich liebte sie wahrlich ebenso wenig. Sie waren nicht verpflichtet, Zuneigung zu einem Geschöpf zu empfinden, das an keine verwandte Saite in einem von ihnen rühren konnte, einem Geschöpf fremden Ursprungs, ihnen in Wesensart, Fähigkeiten und Neigungen entgegengesetzt, einem nutzlosen Geschöpf, außerstande, ihren Wünschen zu dienen oder zu ihrem Vergnügen beizutragen, einem Schädling, der in seinem Busen den Keim der Empörung gegen ihre Behandlung und der Verachtung ihres Urteilsvermögens hegte. Ich weiß, wäre ich ein lebensfrohes, strahlendes, sorgloses, anstrengendes, hübsches und ausgelassenes Kind gewesen – und ebenso abhängig und hilflos –, dann hätte Mrs. Reed meine Anwesenheit geduldiger ertragen, ihre Kinder hätten für mich mehr Mitgefühl aufgebracht und die Dienstboten hätten weniger Anlass gehabt, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.

Das Tageslicht begann aus dem roten Zimmer zu schwinden; es war nach vier Uhr, und der bewölkte Nachmittag ging allmählich in die Dämmerung über. Ich hörte den Regen noch immer unablässig gegen das Fenster im Treppenhaus prasseln und den Wind in dem Gehölz hinter dem Eingangsraum heulen; nach und nach wurde mir so kalt, als wäre ich aus Stein, und mein Mut verließ mich. Die gewohnte Mischung aus Demütigung, Selbstzweifeln und auswegloser Niedergeschlagenheit dämpfte die Nachglut meines verglimmenden Zorns. Alle sagten, ich sei böse, und vielleicht war ich es: Was hatte ich soeben anderes gedacht als den Wunsch, mich zu Tode zu hungern? Das war zweifellos ein Verbrechen; und war ich zum Sterben bereit? Oder war die Gruft unter Gateshead Hall ein einladender Ort? In einem solchen Gewölbe war Mr. Reed beerdigt, wie man mir erzählt hatte, und unter dem Eindruck dieses Gedankens versuchte ich, ihn mir zu vergegenwärtigen, und dachte mit wachsendem Entsetzen über ihn nach. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern; doch ich wusste, dass er mein Onkel war, der Bruder meiner Mutter, dass er mich als verwaistes Kleinkind aufgenommen hatte und dass er in seinen letzten Atemzügen Mrs. Reed zu dem Versprechen verpflichtet hatte, mich wie eines ihrer eigenen Kinder aufzuziehen und zu behandeln. Mrs. Reed war vermutlich der Ansicht, dieses Versprechen gehalten zu haben, und das hatte sie wohl auch getan, soweit ihre Wesensart es zuließ; doch wie sollte sie einen Eindringling, der nicht von ihrem Blut war und mit dem sie nach dem Tod ihres Ehemannes nichts verband, lieben können? Es muss höchst verdrießlich für sie gewesen sein, sich durch ein unwillig abgelegtes Gelöbnis verpflichtet zu finden, an Eltern statt ein fremdes Kind anzunehmen, das sie nicht lieben konnte, und einen in jeder Hinsicht andersartigen Fremdling als ständigen Eindringling ihres Familienkreises hinnehmen zu müssen.

Ein sonderbarer Gedanke kam mir da. Ich bezweifelte nicht – und hatte nie bezweifelt –, dass Mr. Reed mich freundlich behandelt hätte, wäre er noch am Leben gewesen; und nun, da ich dasaß und das weiße Bett und die verschatteten Wände betrachtete – und hin und wieder einen faszinierten Blick auf den schwach funkelnden Spiegel warf –, erinnerte ich mich daran, was ich von den Toten gehört hatte, denen die Missachtung ihres letzten Willens in ihren Gräbern keine Ruhe lässt und die auf die Erde zurückkehren, um die Wortbrüchigen zu bestrafen und die Unterdrückten zu rächen; und ich dachte mir, der Geist Mr. Reeds, gequält von dem Unrecht, das dem Kind seiner Schwester angetan wurde, könnte seinen Aufenthaltsort verlassen – sei es in der Kirchengruft oder in der unbekannten Welt der Verstorbenen – und mir in seinem Zimmer erscheinen. Ich wischte mir die Tränen ab und erstickte meine Seufzer, voller Furcht, ein Zeichen heftigen Schmerzes könnte eine übernatürliche Stimme wecken, die mich trösten wollte, oder aus den Schatten ein lichtumringtes Gesicht rufen, das sich in befremdlichem Mitgefühl über mich beugte. Diese Vorstellung war in der Theorie tröstlich, doch ich spürte, dass ihre Verwirklichung schrecklich sein musste. Mit aller Macht bemühte ich mich, sie zu unterdrücken – ich bemühte mich, stark zu sein. Ich schüttelte mir die Haare aus den Augen, hob den Kopf und versuchte mich unerschrocken in dem dunklen Zimmer umzusehen. In diesem Augenblick erschien ein Lichtschein an der Wand. War das, fragte ich mich, ein Mondstrahl, der durch einen Spalt im Fensterladen drang? Nein; das Mondlicht war ruhig, und dieser Lichtschein bewegte sich; während ich noch hinsah, glitt er zur Zimmerdecke hinauf und bebte über meinem Kopf. Heute kann ich mir ohne weiteres denken, dass dieser Lichtstrahl höchstwahrscheinlich das Licht einer Laterne war, die jemand über den Rasen trug, doch damals, in meiner Erwartung von Schrecknissen und in der Zerrüttung meiner Nerven, hielt ich den flinken Strahl für den Herold einer bevorstehenden Vision einer anderen Welt. Mein Herz klopfte laut, mir wurde heiß; mir tönte es laut in den Ohren, was ich für das Rauschen von Flügeln hielt; etwas schien sich mir zu nähern; ich fühlte mich erdrückt und erstickt; ich ertrug es nicht länger; ich lief zur Tür und schüttelte das Schloss laut und verzweifelt. Schritte kamen den Gang entlang geeilt; der Schlüssel wurde gedreht, und Bessie und Abbot kamen herein.

»Miss Eyre, bist du krank?«, fragte Bessie.

»Was für ein schrecklicher Lärm! Ich war geradezu erschrocken!«, rief Miss Abbot.

»Lasst mich raus! Lasst mich ins Kinderzimmer!«, rief ich.

»Warum? Hast du dich verletzt? Hast du irgendwas gesehen?«, fragte Bessie wieder.

»Oh! Ich habe ein Licht gesehen, und ich dachte, ein Geist würde kommen.« Ich hatte Bessies Hand ergriffen, und sie nahm sie nicht weg.

»Sie hat mit Absicht geschrien«, befand Abbot ungnädig. »Und wie laut! Hätte sie Schmerzen gelitten, könnte man es verstehen, aber sie hat nur geschrien, um uns alle herzubringen; ich kenne ihre frechen Manöver.«

»Was ist hier los?«, fragte eine andere Stimme gebieterisch, und Mrs. Reed eilte den Flur entlang, mit flatternder Nachthaube und raschelndem Gewand. »Abbot und Bessie, ich hatte doch angeordnet, dass Jane Eyre in dem roten Zimmer zu bleiben habe, bis ich selbst komme.«

»Miss Jane hat so laut geschrien, Ma'am«, sagte Bessie bittend.

»Lassen Sie sie schreien«, war die einzige Antwort. »Lass Bessies Hand los, Kind; auf diesem Weg kommst du nicht hinaus, glaube mir. Verstellung ist mir verhasst, vor allem bei Kindern, und es ist meine Pflicht, dir zu zeigen, dass deine Schliche nichts fruchten; du wirst nun eine Stunde länger hier bleiben, und ich werde dich erst freilassen, wenn du völlige Unterwerfung und Friedfertigkeit zu erkennen geben wirst.«

»Oh, Tante, seien Sie barmherzig! Vergeben Sie mir! Ich kann es nicht ertragen – bestrafen Sie mich anders! Es wird mein Tod sein, wenn ich –«

»Ruhe! Dieses Geschrei ist unerträglich«, und so empfand sie es zweifellos. In ihren Augen war ich eine vorwitzige Schauspielerin; sie hielt mich allen Ernstes für einen Ausbund bösartiger Leidenschaften, gehässiger Gesinnung und gefährlicher Verschlagenheit.

Nachdem Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, stieß Mrs. Reed, die von meiner Herzensangst und meinem Schluchzen nichts hören wollte, mich in das Zimmer zurück und sperrte es ab, ohne sich auf weitere Verhandlungen einzulassen. Ich hörte, wie sie sich majestätisch entfernte; und kurz darauf wurde ich offenbar für eine Zeitlang ohnmächtig, denn danach weiß ich nichts mehr.

Drittes Kapitel

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich unter dem Eindruck erwachte, ich hätte einen schrecklichen Alptraum gehabt, und vor mir einen schrecklichen roten Feuerschein sah, von dicken schwarzen Balken durchquert. Ich hörte auch Stimmen, die in hohlen Tönen sprachen, als würden sie von Wind- oder Wasserrauschen übertönt; Aufregung, Ungewissheit und ein überwältigendes Gefühl des Schreckens verwirrten meine Sinne. Nicht viel später wurde ich mir bewusst, dass jemand mich aufhob, mich hinsetzte und mich liebevoller behandelte, als ich es je zuvor erlebt hatte. Ich ließ meinen Kopf auf ein Kissen oder einen Arm sinken und fühlte mich geborgen.

Fünf Minuten darauf löste sich die Wolke der Verwirrung auf: Ich wusste nun sehr wohl, dass ich mich in meinem eigenen Bett befand und dass das rote Glosen der Schein des Feuers im Kinderzimmer war. Es war Nacht; eine Kerze brannte auf dem Tisch; Bessie stand mit einer Schale in der Hand am Fuß des Betts, und ein Herr saß neben meinem Kissen auf einem Stuhl und beugte sich über mich.

Ich verspürte unsägliche Erleichterung, eine tröstliche Gewissheit von Schutz und Sicherheit, als ich begriff, dass ein Fremder anwesend war, jemand, der nicht zu Gateshead gehörte und nichts mit Mrs. Reed zu tun hatte. Ich wandte mich von Bessie ab (obwohl ihre Gegenwart mir weit weniger zuwider war, als es beispielsweise die Abbots gewesen wäre) und beäugte das Gesicht des Besuchers; ich kannte ihn; es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed bisweilen kommen ließ, wenn einer der Dienstboten krank war; für sich selbst und ihre Kinder nahm sie die Dienstes eines Arztes in Anspruch.

»Nun, wer bin ich?«, fragte er.

Ich sagte seinen Namen und reichte ihm meine Hand; er ergriff sie lächelnd und sagte: »Wir werden uns nach und nach wieder erholen.« Dann legte er mich hin und sagte zu Bessie, sie solle Sorge tragen, dass ich nachts nichts gestört würde. Nach einigen anderen Anweisungen und dem Hinweis, dass er am nächsten Tag wiederkommen werde, ging er – zu meinem Kummer, denn ich hatte mich so beschützt und behütet gefühlt, solange er auf dem Stuhl neben meinem Kissen saß; und als er die Tür hinter sich schloss, verfinsterte sich das Zimmer und das Herz wurde mir wieder schwer: unaussprechlicher Kummer beschwerte es.

»Denkst du, du kannst schlafen, Miss?«, fragte Bessie in ungewohnt sanftem Ton.

Ich wagte kaum zu antworten, aus Furcht, ihre nächsten Worte könnten unfreundlich sein. »Ich will es versuchen.«

»Willst du etwas trinken oder etwas zu essen versuchen?«

»Nein, Bessie, danke.«

»Dann gehe ich jetzt zu Bett, denn es ist nach zwölf Uhr; aber du kannst mich rufen, wenn du nachts irgendetwas brauchst.«

Was für eine verblüffende Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.

»Bessie, was ist mit mir? Bin ich krank?«

»Offenbar bist du krank geworden, als du in dem roten Zimmer geweint hast; du wirst sicher bald wieder gesund sein.«

Bessie ging in das Zimmer der Dienstboten, das in der Nähe war. Ich hörte sie sagen: »Sarah, komm und schlafe mit mir im Kinderzimmer; nicht um alles in der Welt wollte ich heute Nacht mit dem armen Kind allein sein; sie könnte sterben; dieser Anfall, den sie hatte, ist eine sonderbare Sache; ich frage mich, ob sie irgendwelche Gesichte hatte; Missis war zu streng zu ihr.«

Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett; bevor sie einschliefen, unterhielten sie sich eine halbe Stunde lang im Flüsterton. Ich erhaschte Bruchstücke ihres Gesprächs, denen ich nur zu deutlich entnahm, was dessen hauptsächlichen Gegenstand bildete.

»Etwas kam an ihr vorbei, ganz in Weiß, und verschwand – ein großer schwarzer Hund hinter ihm – drei laute Klopftöne an der Zimmertür – ein Licht im Friedhof genau über seinem Grab«, usw. usf.

Zuletzt schliefen beide ein; Kaminfeuer und Kerze erloschen. Für mich vergingen die wachen Stunden dieser langen Nacht in entsetzlichem Wachsein; Ohr, Auge und Geist waren gleichermaßen von Schrecken erfüllt, Schrecken, wie sie nur Kinder erleben können.

Den Vorkommnissen im roten Zimmer folgte keine ernstliche oder anhaltende Erkrankung; sie hatten nur meinen Nerven einen Schlag versetzt, dessen Nachwirkungen ich bis heute verspüre. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich nicht wenige Qualen seelischen Leids. Doch ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wussten nicht, was Sie taten: Indem Sie mein Herz zerrissen, wähnten Sie nur, meine schlechten Angewohnheiten auszumerzen.

Am Tag darauf war ich gegen Mittag auf den Beinen und angekleidet und saß am Kamin des Kinderzimmers, in einen Schal eingehüllt. Ich fühlte mich körperlich schwach und erschöpft; doch mein schlimmstes Leiden war ein unsäglicher seelischer Kummer, ein Kummer, der mir stille Tränen abverlangte, und kaum hatte ich eine salzige Träne abgewischt, kam die nächste. Und doch hätte ich mich glücklich schätzen müssen, denn keiner der Reeds war im Haus; sie waren mit ihrer Mama in der Kutsche ausgefahren. Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und Bessie, die hin und her ging, während sie Spielzeug aufräumte und Schubladen ordnete, richtete hin und wieder ein ungewohnt freundliches Wort an mich. All das hätte für mich ein Paradies des Friedens sein müssen angesichts meines Alltags aus unablässigem Tadel und der Plackerei, die mit Undank vergolten wurde, doch meine Nerven waren nunmehr so zerrüttet, dass kein Friede sie trösten und kein Vergnügen sie kitzeln konnte.

Bessie war in die Küche hinuntergegangen und brachte mir ein Törtchen auf einem buntbemalten Porzellanteller, dessen Muster eines Paradiesvogels, der in einer Girlande aus Winden und Rosenknospen nistet, höchst enthusiastische Bewunderung in mir zu wecken pflegte und den in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer zu betrachten, ich oft erbettelt hatte, doch eines solchen Privilegs war ich als allzu unwürdig erachtet worden. Dieses kostbare Gefäß wurde nun auf meine Knie gestellt, und ich wurde herzlich aufgefordert, die runde Delikatesse darauf zu verzehren. Vergebliches Entgegenkommen! Zu spät erfolgt wie die meisten Entgegenkommen, die lange ersehnt und lange vorenthalten werden! Ich konnte das Törtchen nicht essen; und das Gefieder des Vogels, die Farben der Blumen erschienen mir sonderbar verblichen; ich stellte den Teller mit dem Kuchen beiseite. Bessie fragte, ob ich gern ein Buch hätte; das Wort Buch wirkte wie ein kurzzeitiger Ansporn, und ich bat sie, mir Gullivers Reisen aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich immer wieder voll Entzücken gelesen. Ich hielt es für einen Tatsachenbericht, in dem ich interessantere Dinge entdecken konnte als in den Märchen; denn was die Elfen betrifft, die ich vergeblich zwischen den Blättern und Blüten des Fingerhuts gesucht hatte, am Fuß von Pilzen und unter dem bodendeckenden Efeu, der alte Mauerwinkel begrünt, hatte ich mich zuletzt mit der traurigen Wahrheit abgefunden, dass sie allesamt England verlassen und ein wilderes Land aufgesucht hatten, in dem die Wälder unberührter und dichter waren und die Bevölkerung spärlicher war, während Liliput und Brobdingnag für meine Begriffe feste Bestandteile der Erdoberfläche waren und ich keinen Zweifel daran hegte, dass ich eines Tages nach einer langen Reise mit eigenen Augen die kleinen Felder, Häuser und Bäume, das kleine Völkchen, die winzigen Kühe, Schafe und Vögel des einen Reichs ebenso sehen können würde wie die baumhohen Weizenfelder, die mächtigen Bulldoggen, monströsen Katzen und turmhohen Männer und Frauen des anderen. Doch als dieser geliebte Band mir in die Hand gelegt wurde, als ich seine Seiten umblätterte und in den herrlichen Bildern nach dem Zauber suchte, den ich bislang immer darin gefunden hatte, war alles unheimlich und unerfreulich; die Riesen waren schaurige Kobolde, die Zwerge waren böswillige und erschreckende Wichte, Gulliver war ein zutiefst trostloser Wanderer in überaus gefürchteten und gefährlichen Gegenden. Ich schlug das Buch zu, das ich nicht länger lesen wollte, und legte es neben dem unangerührten Törtchen auf den Tisch.

Bessie hatte das Zimmer mittlerweile abgestaubt und aufgeräumt, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine kleine Schublade voll herrlicher Seiden- und Satinreste und machte sich daran, eine neue Haube für Georgianas Puppe zu nähen. Dabei sang sie ein Lied, das hieß:

Als wir herumzigeunerten,

Vor langer, langer Zeit.

Ich hatte das Lied schon oft gehört und immer mit großer Freude, denn Bessie hatte eine schöne Stimme – so dachte ich zumindest. Doch an diesen Tag hatte die Melodie für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit, obwohl Bessies Stimme so schön klang wie immer. Mit ihrer Arbeit beschäftigt, sang sie den Refrain manchmal ganz leise und langsam. »Vor langer, langer Zeit«, erklang dann wie die traurigste Kadenz eines Trauergesangs. Dann ging sie zu einer anderen Ballade über, die diesmal tatsächlich traurig war.

Meine Füße sind wund, meine Glieder sind kraftlos;

Weit ist der Weg, schroff die Berge sind;

Bald wird die Dämmerung düster und lichtlos

Beschatten den Weg des armen Waisenkinds.

Warum schickt man mich einsam in diese Einöde

Wo die Heide sich dehnt vor der Felsen Gebind?

Ach, wie hart sind die Menschen, und nur Engel voll Güte

Wachen über die Schritte eines armen Waisenkinds.

Doch mild strahlen die Sterne am Himmel wolkenlos

Fern und sanft weht herbei der nächtliche Wind

Und der gnädige Gott spendet Hilfe und Trost

Und gibt Hoffnung dem armen Waisenkind.

Und sollte ich straucheln auf dem morschen alten Steg

Mich verirren im Moor, vom Irrlicht geblendt

Würd mein Vater im Himmel mir weisen den Weg

Zur himmlischen Zuflucht des armen Waisenkinds.

Denn es gibt einen Trost, der vermag mich zu stärken

Wenn auf Erden keinen Ort zum Verweilen ich find

Der Himmel ist mein Heim, und er wird mich erquicken,

Denn Gott ist der Freund des armen Waisenkinds.

»Komm schon, Miss Jane, weine nicht«, sagte Bessie, als sie das Lied beendet hatte. Sie hätte ebenso gut zum Feuer sagen können: »Brenne nicht!«, doch wie hätte sie den krankhaften Kummer erahnen können, dem ich unterlag? Im Lauf des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder.

»Wie, schon auf den Beinen?«, sagte er, als er das Kinderzimmer betrat. »Nun, Kinderfrau, wie geht es ihr?«

Bessie erwiderte, es gehe mir sehr gut.

»Dann sollte sie aber heiterer aussehen. Komm, Miss Jane; du heißt doch Jane?«

»Ja, Sir, Jane Eyre.«

»Nun gut, du hast geweint, Miss Jane Eyre; willst du mir sagen, warum? Hast du Schmerzen?«

»Nein, Sir.«

»Oh! Ich denke, sie hat geweint, weil sie nicht mit Missis in der Kutsche ausfahren konnte«, mischte Bessie sich ein.

»Das kann nicht sein! Sie ist doch sicher zu alt für so einen Unsinn.«

Das dachte ich auch; und da diese falsche Anschuldigung mich in meiner Selbstachtung traf, erwiderte ich ohne zu zögern: »Wegen so etwas habe ich noch nie geweint; ich kann es nicht leiden, in der Kutsche auszufahren. Ich weine, weil ich unglücklich bin.«

»Oh, Miss, schäm dich!«, sagte Bessie.

Der gute Apotheker wirkte ein wenig ratlos. Ich stand vor ihm; er hielt seinen Blick unverwandt auf mich gerichtet; seine Augen waren klein und grau; nicht sehr klar, aber heute würde ich sie für klug halten; seine Gesichtszüge waren nicht einladend und dennoch freundlich. Nachdem er mich ausgiebig betrachtet hatte, sagte er: »Was hat dich gestern krank gemacht?«

»Sie ist hingefallen«, sagte Bessie, die mir wieder zuvorkam.

»Hingefallen! Ha, wie ein kleines Kind! Kann sie in ihrem Alter nicht gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein.«

»Man hat mich niedergeschlagen«, war die unverblümte Erklärung, die mein gekränkter Stolz mir entlockte, »aber davon wurde ich nicht krank«, fügte ich hinzu, während Mr. Lloyd sich eine Prise Schnupftabak genehmigte.

Als er die Tabaksdose in seiner Westentasche verstaute, läutete eine laute Klingel, die zum Abendessen der Dienstboten rief; diesen Klingelton kannte er. »Das gilt Ihnen, Kinderfrau«, sagte er, »Sie können gehen; bis Sie wiederkommen, werde ich Miss Jane ins Gebet nehmen.«

Bessie wäre lieber geblieben, aber sie musste gehen, denn Pünktlichkeit bei allen Mahlzeiten musste in Gateshead Hall strikt eingehalten werden.

»Du bist nicht von dem Sturz krank geworden; wovon dann?«, fragte Mr. Lloyd weiter, als Bessie gegangen war.

»Ich war bis in die Nacht in einem Zimmer eingesperrt, in dem ein Geist umgeht.«

Ich sah Mr. Lloyd gleichzeitig lächeln und die Stirn runzeln. »Ein Geist! Dann bist du ja doch noch ein Kleinkind! Du fürchtest dich vor Geistern?«

»Vor Mr. Reeds Geist ja; er ist in diesem Zimmer gestorben und wurde dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand wagt sich nachts dorthin, wenn sie es vermeiden können; und es war herzlos, mich dort ohne eine Kerze einzusperren – so herzlos, dass ich es sicher nie vergessen werde.«

»Unsinn! Und das macht dich so unglücklich? Fürchtest du dich jetzt auch bei Tageslicht?«

»Nein; aber es wird bald wieder dunkel werden; und außerdem – bin ich unglücklich – sehr unglücklich anderer Dinge wegen.«

»Was für andere Dinge? Kannst du mir einige davon nennen?«

Wie sehr wünschte ich, diese Frage ausführlich beantworten zu können! Wie schwierig war es für mich, eine Antwort zu formulieren! Kinder empfinden, aber sie können ihre Empfindungen nicht analysieren; und selbst wenn die Analyse gedanklich teilweise erfolgt, können sie diesen Vorgang nicht in Worte fassen. Doch in meiner Besorgnis, diese erste und einzige Möglichkeit zu verlieren, meinen Kummer zu lindern, indem ich ihn mitteilte, brachte ich es über mich, nach verstörtem Zögern eine unbefriedigende, aber weitgehend wahrheitsgetreue Antwort herauszubringen.

»Zum einen habe ich weder Vater noch Mutter, Brüder oder Schwestern.«

»Du hast eine freundliche Tante und Cousins.«

Wieder schwieg ich; dann sagte ich, ohne zu überlegen: »Aber John Reed hat mich niedergeschlagen, und meine Tante hat mich in dem roten Zimmer eingesperrt.«

Mr. Lloyd holte ein zweites Mal seine Schnupftabaksdose hervor.

»Findest du nicht, dass Gateshead ein sehr schönes Haus ist?«, fragte er. »Bist du nicht sehr dankbar, in einem so schönen Haus zu wohnen?«

»Es ist nicht mein Haus, Sir; und Abbot sagt, ich hätte weniger Recht darauf, dort zu leben, als jeder Dienstbote.«

»Pah! Du kannst doch nicht so dumm sein, zu wünschen, einen so schönen Ort zu verlassen?«

»Wenn es einen anderen Ort gäbe, an den ich gehen könnte, täte ich es gerne; aber ich kann Gateshead nicht verlassen, bevor ich erwachsen bin.«

»Vielleicht kannst du es doch – wer weiß? Hast du andere Verwandte neben Mrs. Reed?«

»Ich glaube nicht, Sir.«

»Keine Verwandten seitens deines Vaters?«

»Das weiß ich nicht; ich habe Tante Reed einmal gefragt, und sie hat gesagt, ich hätte möglicherweise einige arme und schäbige Verwandte namens Eyre, aber sie wusste nichts weiter über sie.«

»Und wenn es sie gäbe, würdest du dann gerne zu ihnen gehen?«

Ich überlegte. Erwachsenen macht die Armut einen düsteren Eindruck, aber Kindern weitaus mehr; Kinder haben keine Vorstellung von der Armut fleißiger, arbeitsamer und ehrsamer Leute; für sie ist das Wort mit nichts anderem verbunden als mit zerlumpter Kleidung, spärlicher Nahrung, Herdstellen ohne Feuer, ungehobeltem Betragen und entwürdigenden Lastern; für mich war Armut gleichbedeutend mit Verderbtheit.

»Nein, mit armen Leuten hätte ich nicht gerne zu tun«, lautete meine Antwort.

»Auch dann nicht, wenn sie dich liebevoll aufnähmen?«

Ich schüttelte den Kopf; ich konnte mir nicht vorstellen, wie arme Leute es fertigbringen sollten, liebevoll zu sein; und die Vorstellung, ihre Sprache anzunehmen, ihr Betragen zu übernehmen, ungehobelt aufzutreten, aufzuwachsen wie die armen Frauen, die ich manchmal vor den Türen der Hütten des Dorfs von Gateshead ihre Kinder hegen oder ihre Kleider waschen sah: nein, so heroisch war ich nicht, die Freiheit um den Preis der Kastenzugehörigkeit zu erkaufen.

»Aber sind deine Verwandten wirklich so arm? Sind es Arbeiter?«

»Ich weiß es nicht; Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt welche hätte, wären es Bettler; und ich würde nicht gerne betteln gehen.«

»Würdest du gerne zur Schule gehen?«

Ich überlegte wieder; ich wusste nicht recht, was eine Schule war; Bessie sprach manchmal davon als von einem Ort, wo junge Damen in den Stock geschlossen wurden, Rückenbretter trugen und sich überaus vornehm und korrekt zu betragen hatten; John Reed verabscheute seine Schule und schimpfte auf seinen Lehrer; doch John Reeds Vorlieben und Abneigungen waren kein Maßstab für mich, und selbst wenn Bessies Auskünfte über schulische Disziplin – übernommen von den jungen Damen einer Familie, bei der sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead gekommen war – nicht besonders ermunternd wirkten, war ihre Schilderung einzelner Fertigkeiten, die diese jungen Damen erlangt hatten, dennoch verlockend. Sie prahlte mit herrlichen Bildern von Landschaften und Blumen von deren Hand, mit Liedern, die sie singen, mit Musikstücken, die sie spielen konnten, mit Täschchen, die sie häkeln konnten, und mit französischen Büchern, die sie übersetzen konnten, sodass mir beim Zuhören der Wunsch kam, es ihnen gleichzutun. Zudem würde der Schulbesuch einen grundlegenden Wandel bewirken: Er bedeutete eine lange Reise, völlige Absonderung von Gateshead und den Eintritt in ein neues Leben.

»Ich würde wahrhaftig gerne zur Schule gehen«, lautete das hörbare Fazit meiner Erwägungen.

»Gut, gut; wer weiß, was sich ergeben mag?«, sagte Mr. Lloyd, als er aufstand. »Das Kind braucht eine Luftveränderung und eine andere Umgebung«, fügte er im Selbstgespräch hinzu, »Nerven in schlechter Verfassung.«

Bessie kehrte nun zurück, und im gleichen Augenblick hörte man die Kutsche den Kies der Zufahrt entlangrollen.

»Ist das Ihre Herrin, Kinderfrau?«, fragte Mr. Lloyd. »Ich würde gerne mit ihr sprechen, bevor ich gehe.«

Bessie bat ihn in das Frühstückszimmer und ging voraus. In dem darauffolgenden Gespräch zwischen ihm und Mrs. Reed erlaubte sich der Apotheker die Empfehlung, mich zur Schule zu schicken, wie ich im Nachhinein vermute, und diese Empfehlung wurde zweifellos bereitwillig genug befolgt; denn als Abbot das Thema eines Abends mit Bessie erörterte, während sie im Kinderzimmer nähten und ich im Bett lag und schlief, wie sie dachten, sagte sie, Missis sei ganz gewiss recht froh, so ein lästiges, bösartiges Kind loszuwerden, das immer aussehe, als beobachte es alle und schmiede hinterrücks Komplotte. Abbot unterstellte mir offenbar, eine Art kindlicher Guy Fawkes zu sein.

Bei diesem Anlass erfuhr ich auch zum ersten Mal aus dem, was Miss Abbot Bessie erzählte, dass mein Vater ein armer Geistlicher gewesen war, dass meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Verwandten geheiratet hatte, die eine solche Verbindung als nicht standesgemäß ansahen, dass ihr Ungehorsam meinen Großvater Reed so erzürnt hatte, dass er sie enterbt hatte, dass meine Eltern ein Jahr lang verheiratet gewesen waren, als mein Vater bei der Seelsorge im Armenviertel der großen Fabrikstadt, in der er Hilfspfarrer war, mit dem dort verbreiteten Typhus angesteckt worden war und dass meine Mutter sich bei ihm angesteckt hatte und einen Monat nach seinem Tod gestorben war.

Als Bessie diesen Bericht vernahm, seufzte sie und sagte: »Die arme Miss Jane muss einem leidtun, Abbot.«

»Ja«, erwiderte Abbot, »wenn sie ein nettes, hübsches Kind wäre, dann könnte man Mitleid für ihr Elend haben; aber so eine kleine Kröte wie sie kann keine Gefühle in einem wecken.«

»Nicht sehr viele Gefühle«, pflichtete Bessie ihr bei, »und sicherlich würde eine Schönheit wie Miss Georgiana unter solchen Umständen weit mehr ans Herz rühren.«

»O ja, in Miss Georgiana bin ich ganz vernarrt!«, rief Abbot inbrünstig. »Kleines Schätzchen! – Mit ihren langen Locken und blauen Augen und dem entzückenden Teint, fast wie ein Bild! – Bessie, ich hätte nicht übel Appetit auf ein Welsh Rarebit zum Nachtmahl.«

»Ich auch – mit gerösteter Zwiebel. Kommen Sie, wir gehen hinunter.« Und sie gingen.

Viertes Kapitel

Aus meiner Unterhaltung mit Mr. Lloyd und aus der oben wiedergegebenen Besprechung zwischen Bessie und Abbot schöpfte ich genug Hoffnung, die mich anspornte, gesund werden zu wollen; eine Veränderung schien in greifbarer Nähe zu sein – ich ersehnte sie und wartete schweigend. Doch sie ließ auf sich warten; Tage und Wochen vergingen; ich hatte meine Gesundheit wiedererlangt, doch niemand sprach das Thema an, das meine Gedanken so stark beschäftigte. Mrs. Reed bedachte mich bisweilen mit einem strengen Blick, richtete jedoch fast nie das Wort an mich; seit meiner Erkrankung hatte sie eine deutlichere Grenze als je zuvor zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen, indem man mir ein Kämmerchen zuwies, wo ich allein schlief, und ich dazu verurteilt wurde, meine Mahlzeiten allein einzunehmen und mich ausschließlich im Kinderzimmer aufzuhalten, während meine Cousins ständig im Salon weilten. Doch obwohl sie sich keine Andeutung entschlüpfen ließ, dass sie mich zur Schule schicken würde, war ich mir dennoch instinktiv dessen gewiss, dass sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden werde, denn mehr denn je kündete ihr Blick von unbezwingbarer und tiefwurzelnder Abneigung, wenn er auf mich fiel.

Eliza und Georgiana sprachen so wenig wie möglich mit mir, offenbar auf Anweisung; John blies die Backen auf, wenn er mich sah, und einmal versuchte er mich zu malträtieren; doch da ich mich sofort energisch wehrte, angestachelt von dem gleichen Impuls blinden Zorns und tollkühner Rebellion, der mich in meiner Ruchlosigkeit schon zuvor zum Äußersten getrieben hatte, hielt er es für klüger, von seinem Vorhaben abzulassen, und lief weg unter lauten Verwünschungen und Wehklagen, ich hätte ihm die Nase gebrochen. Ich hatte diesem herausragenden Gesichtszug in der Tat einen so harten Schlag versetzt, wie meine Knöchel ihn führen konnten, und als ich sah, dass entweder der Schlag oder mein Zorn John eingeschüchtert hatten, war ich sehr geneigt, meinen Vorteil zu nutzen, doch da war er schon zu seiner Mama gelaufen. Ich hörte, wie er in weinerlichem Ton zu petzen begann, wie »diese garstige Jane Eyre« wie eine tollwütige Katze über ihn hergefallen war, doch man schnitt ihm recht ungnädig das Wort ab: »Erwähne sie nicht vor mir, John; ich habe dir befohlen, dich von ihr fernzuhalten; sie verdient keine Beachtung; ich wünsche nicht, dass du und deine Schwestern sich mit ihr abgeben.«

Da beugte ich mich über das Treppengeländer und rief unversehens und ohne mir meine Worte überlegt zu haben: »Sie sind es nicht wert, dass ich mich mit ihnen abgebe.«

Mrs. Reed war eine ziemlich beleibte Frau; doch als sie diese befremdliche und verwegene Erklärung vernahm, eilte sie geschwind die Treppe herauf, zog mich wie ein Wirbelwind in das Kinderzimmer, drückte mich mit eiserner Hand auf den Rand meines Kinderbetts und befahl mir mit allem Nachdruck, für den Rest des Tages dort zu bleiben und kein Wort zu sagen.

»Was würde Onkel Reed dazu sagen, wenn er am Leben wäre?«, fragte ich beinahe unwillkürlich. Ich sage: »beinahe unwillkürlich«, denn mir war, als äußerte meine Zunge Worte ohne Zutun meines Willens; etwas, worüber ich keine Macht hatte, sprach aus mir.

»Wie?«, sagte Tante Reed im Flüsterton; der für gewöhnlich kalte und beherrschte Blick ihrer grauen Augen wurde unsicher, als fürchtete sie sich; sie ließ meinen Arm los und starrte mich an, als wüsste sie wahrhaftig nicht, ob sie es mit einem Kind oder mit dem bösen Feind zu tun hatte. Nun gab es für mich kein Zurück mehr.

»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und denken; und Papa und Mama können das auch; sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag lang einsperren und dass Sie wünschen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed fasste sich schnell wieder; sie schüttelte mich ausgiebig, verpasste mir eine Handvoll Ohrfeigen und verließ mich dann ohne ein Wort. Bessie überbrückte die Lücke mit einer einstündigen Gardinenpredigt, in der sie über jeden Zweifel hinaus bewies, dass ich das bösartigste und verworfenste Kind sei, das je unter Menschen aufgewachsen war. Fast glaubte ich ihr, denn in meinem Inneren machten sich nur Hassgefühle bemerkbar.

November, Dezember und der halbe Januar vergingen. Weihnachten und Neujahr waren in Gateshead mit den gewohnten Festlichkeiten begangen worden; Geschenke waren getauscht worden, festliche Mahlzeiten und Abendunterhaltungen veranstaltet worden. Von all diesen Vergnügungen war ich selbstverständlich ausgeschlossen; mein Anteil an dem fröhlichen Treiben beschränkte sich darauf, zuzusehen, wie Eliza und Georgiana jeden Tag herausgeputzt wurden und zum Salon hinuntergingen in ihren dünnen Musselinröckchen und mit scharlachroten Schärpen, die Haare kunstvoll gelockt, und später auf die Klänge von Klavier oder Harfe zu lauschen, die unten gespielt wurden, auf das Hin und Her von Butler und Lakai, auf das Klingen von Gläsern und Tellern, wenn