Jane Eyre - Charlotte Brontë - E-Book
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Charlotte Bronte

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Beschreibung

Neuübersetzung des Meisterwerks  Einer der berühmtesten Frauenromane der Welt! Als vor rund 150 Jahren ›Jane Eyre‹ in London erschien, war ein Bestseller der Weltliteratur geboren. Der ergreifende Roman über eine Waise, die allen Widrigkeiten zum Trotz zur selbstbewussten Persönlichkeit heranreift und am Ende das Glück in der Liebe findet, ist seither millionenfach gedruckt, in fast alle Sprachen übersetzt, kürzlich neu verfilmt und von Lesergenerationen »verschlungen« worden. Ein prominenter Fan war Queen Victoria.   Dieser unbestrittene Klassiker der englischen Frauen-Literatur wird hier in einer Neuübersetzung vorgelegt.    

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Charlotte Brontë

Jane Eyre

Aus dem Englischen vonGottfried Röckelein

Deutscher Taschenbuch Verlag

ERSTER BAND

ERSTES KAPITEL

Ein richtiger Spaziergang war an jenem Tag ausgeschlossen. Zwar waren wir am Morgen eine Stunde lang durch das blätterlose Strauchwerk gestreift, doch nach dem Dinner (Mrs. Reed speiste frühzeitig, wenn sie ohne Gesellschaft war) hatte der kalte Winterwind so düstere Wolken mit sich gebracht und einen so alles durchdringenden Regen, daß nun nicht daran zu denken war, sich noch einmal an der frischen Luft etwas Bewegung zu verschaffen.

Sehr zu meiner Freude. Ich habe lange Spaziergänge noch nie gemocht, schon gar nicht an schauerlich kalten Nachmittagen. Das Schlimme war für mich immer das Heimkommen in der naßkalten Dämmerung, Finger und Zehen ganz klamm, geknickt wegen der Schelte von Bessie, dem Kindermädchen, und gedemütigt durch das Bewußtsein meiner körperlichen Unterlegenheit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed.

Besagte Kinder Eliza, John und Georgiana waren gerade im Wohnzimmer um ihre Mama versammelt. Sie ruhte auf einem Sofa beim Kamin und sah, ihre Lieblinge um sich geschart (die im Augenblick weder stritten noch heulten), vollständig glücklich aus. Mich hatte sie von der Teilnahme an der kleinen Runde befreit; Begründung: Sie bedauere die Notwendigkeit, mich fernhalten zu müssen, aber solange sie nicht von Bessie höre und durch eigenen Augenschein wahrnehme, daß ich mich ernsthaft um eine geselligere und einem Kinde angemessenere Verhaltensweise bemühe, um ein gefälligeres und lustigeres Wesen – um ein heitereres, offeneres, natürlicheres sozusagen –, so lange müsse sie mich in der Tat von jenen Privilegien ausschließen, die nur den zufriedenen, glücklichen kleinen Kindern zugedacht seien.

»Was habe ich nach Bessies Meinung denn getan?« fragte ich.

»Jane, Wortklauber und Fragensteller sind mir zuwider. Außerdem ist es ja weiß Gott widerwärtig, wenn ein Kind Erwachsenen gegenüber einen solchen Ton anschlägt. Setz dich irgendwohin, und solang du nichts Liebenswürdiges zu sagen hast, verhältst du dich still.«

Ein kleines Frühstückszimmer schloß sich ans Wohnzimmer an; dort schlüpfte ich hinein. Es enthielt einen Bücherschrank; schnell bemächtigte ich mich eines Bandes, wobei ich darauf achtete, daß er auch mit Bildern ausgestattet war. Ich kletterte auf die Fensterbank, zog die Füße an den Körper und setzte mich, nach Türkenart, mit gekreuzten Beinen hin; und nachdem ich den schweren, roten Baumwollvorhang ganz dicht an mich herangezogen hatte, saß ich in zweifacher Zurückgezogenheit dahinter wie in einem Schrein.

Zur Rechten begrenzte der scharlachfarbene Faltenwurf mein Gesichtsfeld, zur Linken waren es die klaren Fensterscheiben, die mich vor dem trüben Novembertag beschützten, ohne mich völlig von der Außenwelt abzusondern. Während ich die Seiten meines Buches umblätterte, vertiefte ich mich zwischendurch immer wieder in den Anblick dieses Winternachmittags. In der Ferne bot er sich als ein fahles Nichts aus Dunst und Nebel dar, aus der Nähe als Landschaftsbild mit durchweichtem Rasen und sturmgepeitschtem Gesträuch, mit endlosen Regenschauern, die ungestüm vor den langen und klagenden Böen dahinfegten.

Ich kehrte wieder zu meinem Buch zurück, Bewicks ›Darstellung der Britischen Vogelwelt‹. Eigentlich interessierte mich der Text dabei meist weniger, andererseits gab es da gewisse Seiten in der Einleitung, bei denen ich – selbst als Kind – nicht einfach so tun konnte, als seien sie leer. Es waren jene, auf denen die Schlupfwinkel von Seevögeln beschrieben wurden – die ausschließlich von ihnen besiedelten »einsam gelegenen Klippen und Felsvorsprünge«, die Küste Norwegens, übersät mit vorgelagerten Inseln von ihrem südlichsten Punkt Lindesnes (d.h.: Landspitze) bis hinauf zum Nordkap –

Wo das Nordmeer in wilden Wirbeln

Brodelt rings um die nackten, düstren Inseln

Des fernen Thule und die Sturzseen des Atlantik

Hereinbrechen über die stürmischen Hebriden.

Genausowenig konnte ich die Beschwörung der öden Gestade von Lappland, Sibirien, Spitzbergen, Nowaja Semlja, Island und Grönland einfach übergehen mit »der riesigen Weite der Regionen nördlich des Polarkreises und jene gottverlassenen, öden Gebiete – diesen Vorratskammern an Frost und Schnee, wo erstarrte Eisfelder als jahrhundertealte Aufhäufung von Wintern gläsern in alpine Höhen hinaufragen und als geballte Verkörperung der vielfachen Unbilden extremer Kälte den Pol umgeben«. Aus diesen leichenstarren Sphären erschuf ich mir mein eigenes Reich: schemenhaft und verschwommen wie alle halbverstandenen Vorstellungen, die in einem Kinderhirn umherschwirren, aber eigenartig eindrucksvoll. Die Wörter auf den einleitenden Seiten verbanden sich mit den nachfolgenden Vignetten. Sie verliehen der Klippe, die einsam aus dem wogenden und tosenden Meer ragte, erst ihre Bedeutung, desgleichen dem gestrandeten Boot, das an einer trostlosen Küste zerschellt lag, und dem kalten und gespenstischen Mond, der zwischen Wolkenbänken hindurch auf ein Wrack sah, das gerade versank.

Ich könnte die Stimmung nicht wiedergeben, die geisterhaft über dem völlig verlassenen Friedhof lag mit seinen beschrifteten Grabsteinen, seinem Tor, den zwei Bäumen, der von einer verfallenen Mauer gesäumten, niedrigen Horizontlinie und der gerade aufgegangenen Mondsichel, welche die Abendstunde anzeigte.

Die beiden in Windstille und träger See dümpelnden Schiffe waren für mich meergeborene Traumgebilde.

Den Dämon, der sich dem Dieb auf den Rücken hockt und seine Krallen in den Sack mit dem Raubgut schlägt, überblätterte ich rasch; es war ein Bild des Grauens.

Dies galt auch für das Bild mit dem schwarzen, gehörnten Unhold, der abseits auf einem Felsen saß und aus der Entfernung eine Menschenmenge beobachtete, die einen Galgen umstand.

Jedes einzelne Bild erzählte eine Geschichte; oftmals rätselhaft für meinen unentwickelten Verstand und meine unfertigen Gefühle, doch immer zutiefst fesselnd, so fesselnd wie die Geschichten, die Bessie manchmal an den Winterabenden zum besten gab, wenn sie gerade guter Laune war und uns, nachdem sie ihren Bügeltisch zum Ofen im Kinderzimmer gestellt hatte, erlaubte, daß wir uns um ihn herumsetzten. Und während sie Mrs. Reeds Spitzenrüschen bügelte und die Bordüren ihrer Nachthauben kräuselte, fütterte sie unsere gespannte Aufmerksamkeit mit Geschichten von Liebe und Abenteuer aus alten Märchen und noch älteren Balladen oder (wie ich zu einem späteren Zeitpunkt herausfand) aus ›Pamela‹ und ›Henry, Graf von Moreland‹.

Mit Bewicks Buch auf meinen Knien war ich glücklich, zumindest auf meine Weise. Ich fürchtete nichts so sehr, wie gestört zu werden, und das geschah nur allzu bald. Die Tür zum Frühstückszimmer ging auf.

»Huuh! Madame Muffel!« rief die Stimme von John Reed und verstummte dann; er fand den Raum augenscheinlich leer.

»Wo zum Geier steckt sie bloß?« fuhr er fort. »Lizzy! Georgy!« (an seine Schwestern gewandt), »Joan ist nicht da; sagt Mama, sie ist in den Regen hinausgerannt – das Miststück!«

›Bloß gut, daß ich den Vorhang vorgezogen habe‹, dachte ich mir und wünschte inbrünstig, er möge mein Versteck nicht entdecken. Von selbst hätte John Reed es nämlich nie gefunden; weder hatte er scharfe Augen noch einen scharfen Verstand. Doch Eliza brauchte nur kurz den Kopf durch die Tür zu stecken, und schon sagte sie:

»Die sitzt bestimmt am Fenster, Jack, ganz sicher.«

Und auf der Stelle kam ich zum Vorschein, denn ich zitterte bei der Vorstellung, von besagtem Jack herausgezerrt zu werden.

»Was willst du?« fragte ich unbeholfen und schüchtern.

»Das heißt: ›Was wünschen Sie, Master Reed‹«, lautete die Antwort. »Ich wünsche, daß du herkommst«, womit er sich in einen Sessel setzte und mir mit einer Geste bedeutete, ich solle zu ihm hingehen und mich vor ihm aufstellen.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren, vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn. Er war groß und kräftig für sein Alter, mit einer fettigen, ungesunden Haut, groben Zügen in einem breiten Gesicht, schweren Gliedmaßen und großen Händen und Füßen. Beim Essen stopfte er alles so gierig in sich hinein, daß es ihm schon auf die Galle geschlagen war und er außerdem trübe und triefäugig dreinguckte, mit seinen schwabbeligen Backen. Er hätte jetzt eigentlich in der Schule sein müssen, aber seine Mama behielt ihn gerade ein oder zwei Monate zu Hause, »wegen seiner zarten Gesundheit«. Mr. Miles, der Lehrer, versicherte, daß es dem Knaben bedeutend besser ginge, würde man ihm von daheim weniger Kuchen und Näschereien schicken; doch das mütterliche Herz wollte von einer solch rohen Auffassung nichts wissen und neigte eher der gebildeteren Theorie zu, wonach Johns Bläßlichkeit zurückzuführen war auf übergroße Strebsamkeit und, eventuell, auf Sehnsucht nach Zuhause.

Johns Zuneigung zu Mutter und Schwestern war begrenzt, und mir gegenüber hatte er eine Antipathie. Er schikanierte und schlug mich; nicht zwei- oder dreimal in der Woche, auch nicht zwei- oder dreimal täglich, sondern fortwährend. Jede Faser in mir hatte Angst vor ihm, jedes bißchen Fleisch an meinen Knochen zog sich zusammen, sobald er näher kam. Es gab Augenblicke, da war ich ganz fassungslos wegen des Schreckens, den er verbreitete, denn ich hatte nicht die geringste Möglichkeit, mich bei irgend jemandem über seine Drohungen oder Quälereien zu beschweren. Die Diener wollten ihren jungen Herrn nicht dadurch gegen sich aufbringen, daß sie für mich Partei ergriffen, und Mrs. Reed war blind und taub, was dieses Thema betraf. Nie sah sie, wie er mich schlug, oder hörte sie, wie er mich beschimpfte, obwohl er hin und wieder beides direkt vor ihrer Nase tat, häufiger allerdings hinter ihrem Rücken.

Aus Gewohnheit folgsam gegen John, kam ich zu seinem Sessel. Etwa drei Minuten verbrachte er damit, mir seine Zunge so weit herauszustrecken, wie er nur konnte, ohne daß dabei die Zungenwurzel Schaden nahm. Ich wußte, daß er bald zuschlagen würde, und während ich vor diesem Schlag zitterte, staunte ich über die eklige und häßliche Erscheinung desjenigen, der ihn gleich austeilen würde. Ich frage mich, ob er wohl diese Gedanken in meinem Gesicht lesen konnte, denn ganz unvermittelt, ohne etwas zu sagen, schlug er plötzlich und heftig zu. Ich taumelte, und während ich mein Gleichgewicht wiederzuerlangen suchte, trat ich einen oder zwei Schritte von seinem Sessel zurück.

»Das ist für deine unverschämte Antwort, die du vorhin Mama gegeben hast«, sagte er, »und für deine heimtückische Art, dich hinter Vorhängen herumzudrücken, und für den Ausdruck in deinen Augen, den du vor zwei Minuten hattest, du Luder!«

Ich war John Reeds Beleidigungen gewohnt, und nie kam mir der Gedanke, darauf zu antworten. Mich beschäftigte eher die bange Frage, wie ich den Schlag aushalten sollte, welcher der Schmähung mit Sicherheit folgen würde.

»Was hast du da hinter dem Vorhang gemacht?« wollte er wissen.

»Ich habe gelesen.«

»Zeig mir das Buch.«

Ich ging zurück zum Fenster und holte es.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu nehmen; du bist hier nur geduldet, sagt Mama. Du hast kein Geld; dein Vater hat dir keines hinterlassen. Eigentlich solltest du betteln gehen und nicht hier unter uns Kindern besserer Leute leben und das gleiche Essen wie wir kriegen und Kleider tragen, die unsere Mama bezahlt. Ich werde dich lehren, in meinen Bücherregalen herumzustöbern! Denn es sind meine Regale! Das ganze Haus gehört mir – jedenfalls in ein paar Jahren. Los, stell dich neben die Tür, weg vom Spiegel und von den Fenstern!«

Ich tat wie geheißen, ohne gleich zu erkennen, was er im Schilde führte. Aber als ich sah, daß er das Buch hochhob, um es nach mir zu werfen, zuckte ich instinktiv mit einem Schreckensruf zur Seite, allerdings nicht schnell genug. Der Band wirbelte durch die Luft und traf mich; ich stürzte, fiel gegen die Tür und schlug mir den Kopf auf. Es blutete, und der Schmerz war heftig. Der Gipfel meiner Angst war erreicht, und sie wurde jetzt von anderen Empfindungen abgelöst.

»Du gemeiner und brutaler Kerl!« sagte ich. »Du führst dich auf wie ein Mörder – wie ein Sklaventreiber – wie einer dieser römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmiths ›Römische Geschichte‹ gelesen und mir meine eigene Meinung über Nero, Caligula etc. gebildet. Im stillen hatte ich auch Parallelen gezogen, von denen ich nie gedacht hätte, daß ich sie jemals aussprechen würde.

»Was? Was?« schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr das gehört, Eliza und Georgiana? Das sage ich der Mama, aber zuerst –« Er stürmte wie wild auf mich los. Ich spürte, wie er mich an den Haaren und an der Schulter packte. Doch er hatte es mit jemandem zu tun, der verzweifelt war. Ich sah in ihm wirklich einen Tyrannen, einen Mörder. Ich spürte, wie ein oder zwei Tropfen Blut von meinem Kopf den Hals hinabrannen, und wurde eines stechenden Schmerzes gewahr. Diese Empfindungen waren nun stärker als meine Angst, und ich reagierte wie eine Rasende. Ich weiß nicht so genau, was ich mit meinen Händen anrichtete, aber er hieß mich »Luder! Du Luder!« und brüllte los. Hilfe kam schnell herbei: Eliza und Georgiana waren zu Mrs. Reed gerannt, die sich nach oben begeben hatte. Sie erschien auf dem Schauplatz, gefolgt von Bessie und der ihr untergebenen Zofe Abbot. Wir wurden getrennt. Ich hörte die Worte:

»Nein, so was! Nein, so was! Geht diese Furie doch glatt auf Master John los!«

»Hat man jemals schon ein solches Bild von Ungestüm gesehen!«

Dann fügte Mrs. Reed hinzu:

»Schafft sie ins Rote Zimmer und sperrt sie dort ein!«

Augenblicklich wurde ich von vier Händen ergriffen und nach oben geschleppt.

ZWEITES KAPITEL

Den ganzen Weg hinauf leistete ich Widerstand, etwas für mich Neues und ein Umstand, der wunderbar dazu angetan war, die schlechte Meinung zu untermauern, welche Bessie und Miss Abbot von mir zu hegen beliebten. Es ist wahr, daß ich ein bißchen neben mir war beziehungsweise ziemlich außer mir, wie die Franzosen das nennen würden. Ich erfaßte sofort, daß das Aufbegehren eines Augenblicks mir mit großer Wahrscheinlichkeit eine besonders ausgefallene Bestrafung einbringen würde. Aber wie jede rebellische Sklavin verspürte ich den Mut der Verzweiflung, der mich vor nichts mehr zurückschrecken ließ.

»Halten Sie ihre Arme fest, Miss Abbot! Sie ist ja wie eine tollwütige Katze.«

»Schämt Euch! Schämt Euch!« rief die Kammerzofe. »So ein schockierendes Benehmen, Miss Eyre! Einen jungen Gentleman zu schlagen, den Sohn Eurer Wohltäterin! Euren jungen Herrn!«

»Was heißt hier ›Herrn‹! Wieso ist er mein ›Herr‹? Bin ich eine Dienerin?«

»Nein; Ihr seid noch weniger als eine Dienerin, denn Ihr tragt nichts zu Eurem Unterhalt bei. Hier, setzt Euch hin und denkt über Eure Schlechtigkeit nach.«

Zwischenzeitlich hatten sie mich zu dem von Mrs. Reed angegebenen Zimmer gebracht und mich auf einen Sitz geworfen. Mein erster Impuls war es, wie eine Feder wieder hochzuschnellen. Zwei Paar Hände drückten mich sofort nieder.

»Wenn Ihr nicht still sitzenbleibt, dann müssen wir Euch eben festbinden«, sagte Bessie. »Miss Abbot, leiht mir Eure Strumpfbänder. Die meinen würde sie glatt durchreißen.«

Miss Abbot wandte sich ab, um ein strammes Bein des geforderten Bandes zu entkleiden. Diese Vorkehrungen zur Fesselung und die damit verbundene zusätzliche Schmach und Niedertracht dämpften meine Erregung ein wenig.

»Tut es nicht«, flehte ich. »Ich werde mich nicht von der Stelle rühren.«

Zur Bekräftigung meiner Worte klammerte ich mich an meinem Sitz fest.

»Das will ich aber auch hoffen«, sagte Bessie, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß ich wirklich keinen Widerstand mehr leistete, lockerte sie ihren Griff. Dann stellten sie und Miss Abbot sich mit verschränkten Armen hin und starrten mir finster und argwöhnisch ins Gesicht, als zweifelten sie an meinem Verstand.

»So hat sie sich doch noch nie aufgeführt«, sagte Bessie schließlich an die Zofe gewandt.

»Aber es hat schon seit jeher in ihr dringesteckt«, lautete die Erwiderung. »Ich habe der gnädigen Frau schon oft meine Meinung zu dem Kind gesagt, und die gnädige Frau hat mir recht gegeben. Das ist ein hinterlistiges kleines Ding. Noch nie habe ich ein Mädchen in dem Alter gesehen, das so verschlagen gewesen wäre.«

Bessie antwortete nichts, wandte sich aber kurz darauf an mich und sagte:

»Ihr solltet wissen, Miss, daß Ihr in Mrs. Reeds Schuld steht: Sie sorgt für Euren Unterhalt. Sollte sie Euch vor die Tür setzen, müßtet Ihr wohl ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte hatte ich nichts zu sagen; sie waren mir nicht neu. Die allerersten Erinnerungen an mein Dasein auf Erden enthielten Hinweise der gleichen Art. Diese Vorhaltungen wegen meiner Abhängigkeit waren in meinen Ohren zu einer inhaltsleeren Litanei geworden, zwar sehr schmerzlich und niederschmetternd, aber nur halb verständlich. Miss Abbot fiel in den Gesang ein:

»Und Ihr solltet Euch nicht auf eine Stufe stellen wollen mit den Misses Reed und dem jungen Mr. Reed, nur weil die gnädige Frau Euch gütigst erlaubt, eine gemeinsame Erziehung mit ihnen zu genießen. Sie allerdings werden später jede Menge Geld haben – und Ihr keines. Eure Bestimmung ist es, bescheiden zu sein und alles zu tun, damit sie Euch mögen.«

»Was wir Euch sagen wollen, ist zu Eurem Besten«, ergänzte Bessie, keineswegs barschen Tones. »Ihr solltet Euch bemühen, nützlich und gefällig zu sein; dann findet Ihr hier vielleicht ein Zuhause. Aber wenn Ihr Euch so jähzornig und unverschämt benehmt, dann wird Euch die gnädige Frau vor die Tür setzen, ganz sicher.«

»Und außerdem«, sagte Miss Abbot, »wird Gott sie strafen: Er läßt sie mitten in einem ihrer Tobsuchtsanfälle tot umfallen – und wo würde sie dann wohl landen? Kommt, Bessie, lassen wir sie jetzt hier. Nicht um alles in der Welt möchte ich in ihrer Haut stecken. Sprecht Euer Gebet, Miss Eyre, sobald Ihr wieder zu Euch gekommen seid. Denn wenn Ihr nicht bereut, dann möchte es wohl sein, daß ein gewisses schlimmes Etwas den Kamin herunterfährt und Euch zu Recht mitnimmt.«

Sie gingen fort, schlossen die Tür und verriegelten sie hinter sich.

Das Rote Zimmer war ein Gästezimmer, in dem selten jemand übernachtete; eigentlich so gut wie nie, könnte man fast sagen, höchstens wenn einmal aus Zufall ein unerwarteter Andrang von Gästen es erforderlich machte, sich aller Unterbringungsmöglichkeiten zu bedienen, die Gateshead Hall zu bieten hatte. Dennoch war es einer der größten und ansehnlichsten Räume dieses Herrensitzes. Die Mitte wurde beherrscht von einem Bett mit massiven Mahagonipfosten und dunkelroten Damastvorhängen, das wie ein Tabernakel aus der übrigen Einrichtung herausragte. Die beiden großen Fenster, deren Jalousien immer heruntergelassen waren, hatte man dekoriert mit girlandenartig gerafften und gerüschten halblangen Gardinen, dazu bodenlange, halbbreite Vorhänge aus dem gleichen Stoff und mit Faltenwürfen. Der Teppich war rot; auf dem Tisch am Fußende des Bettes lag eine karmesinrote Decke; die Wände waren hellbraun mit einem Hauch von Rosa. Kleiderschrank, Toilettentisch und Stühle waren aus altem Mahagoni, das man so lange poliert hatte, daß es fast schwarz glänzte. Aus all diesen dunklen Farbtönen ringsum stachen hoch und leuchtend weiß die dicken Lagen von Matratzen und Kissen des Bettes hervor, über die man noch eine makellos reine, steife Baumwolltagesdecke gebreitet hatte. Kaum weniger auffallend war ein stattlicher, bequemer Polstersessel beim Kopfende des Bettes, ebenfalls weiß und mit einem Fußschemel davor, der meiner Meinung nach aussah wie ein totenbleicher Thron.

Dieser Raum war eisig, weil das Kaminfeuer selten angezündet wurde; er war ruhig, weil abseits des Kinderzimmers und der Küchen gelegen, und ehrfurchtgebietend, weil alle wußten, daß er so selten benutzt wurde. Allein das Hausmädchen kam samstags hierher, um den Staub zu wischen, der sich während der Woche friedlich auf Spiegeln und Möbeln niedergelassen hatte. Und alle heiligen Zeiten inspizierte ihn Mrs. Reed einmal, um den Inhalt eines bestimmten Geheimfaches im Kleiderschrank zu überprüfen, wo diverse Dokumente, ihre Schmuckschatulle und ein Medaillon mit dem Bildnis ihres verschiedenen Ehemanns aufbewahrt waren. Und in diesen letzten Worten liegt das Geheimnis des Roten Zimmers, der Zauberbann, der es zu einem so abgeschiedenen Ort machte, trotz seiner Pracht.

Mr. Reed war nun schon seit neun Jahren tot. Hier in dieser Kammer tat er seinen letzten Atemzug; hier lag er aufgebahrt; von hier wurde er im Sarg von den Leichenträgern hinausgetragen, und seit jenem Tag hatte das Bewußtsein einer traurigen Weihe das Zimmer vor allzu häufigen Eindringlingen geschützt.

Der Sitzplatz, den nicht zu verlassen Bessie und die gallige Miss Abbot mich vergattert hatten, war eine niedrige Ottomane beim marmornen Kaminsims. Das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten stand der hohe, dunkle Kleiderschrank, dessen Paneele das gedämpfte Licht unterschiedlich stark brachen, so daß sie ungleichmäßig glänzten; zu meiner Linken die verhüllten Fenster; ein großer Spiegel zwischen ihnen warf die leere Erhabenheit von Bett und Zimmer zurück. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie die Tür verriegelt hatten; und als ich mich von meinem Platz zu rühren getraute, stand ich auf, um nachzusehen. Ach – leider! Kein Gefängnis der Welt war je sicherer. Beim Zurückgehen mußte ich am Spiegel vorbei; mein gebannter Blick erforschte unwillkürlich die Tiefe des Raums, die er enthüllte. Alles erschien kälter und düsterer aus dieser vorgespiegelten Perspektive als in der Wirklichkeit, und die wunderliche kleine Gestalt, die mich dort mit aufgerissenen Augen und käseweißem Gesicht ansah, deren Arme als helle Flecken aus der Düsternis herausstachen und deren angstvoll funkelnder Blick ruhelos über die leblosen Objekte schweifte, wirkte wie ein leibhaftiger Geist auf mich. Sie kam mir vor wie eines jener winzigen Phantome, halb Elfe, halb Kobold, die in Bessies abendlichen Geschichten aus einsamen, farnüberwucherten und abgelegenen Talsenken in den Heidemooren auftauchten und Reisenden erschienen, die noch spät unterwegs waren. Ich kehrte zu meinem Sitzplatz zurück.

Zwar wurde ich im Augenblick von abergläubischen Vorstellungen heimgesucht, doch war die Stunde für deren Sieg noch nicht gekommen. Noch war mein Blut in Wallung, noch gürtete mich der Zorn der aufbegehrenden Sklavin mit seiner bitteren Stärke. Ich mußte zunächst einem jähen Ansturm von Bildern aus der Vergangenheit Einhalt gebieten, ehe ich mich zitternd der trostlosen Gegenwart hingab.

All die brutalen Schikanen John Reeds, die ganze arrogante Gleichgültigkeit seiner Schwestern, das ganze Ausmaß der Ablehnung seitens seiner Mutter, die ganze einseitige Parteinahme der Bediensteten tauchten in meiner verstörten Seele auf wie schwarzer Bodensatz in einer trüben Quelle. Warum mußte ich andauernd leiden, wurde ich andauernd tyrannisiert, andauernd beschuldigt, warum wurde bis in alle Ewigkeit an mir herumgenörgelt? Warum konnte ich es nie jemandem recht machen? Warum war schon der Versuch sinnlos, jemandes Wohlwollen zu gewinnen? Die halsstarrige und selbstsüchtige Eliza wurde respektiert. Die verzogene und launische Georgiana mit ihrer ätzenden Boshaftigkeit und ihrem kritteligen Getue wurde allgemein mit Nachsicht behandelt. Ihre Schönheit, ihre rosa Wangen und goldenen Locken schienen alle, die sie betrachteten, mit Entzücken zu erfüllen und ihr Straffreiheit für sämtliche charakterlichen Mängel zu erkaufen. Und John kam keiner in die Quere, geschweige denn, daß er vielleicht einmal bestraft worden wäre, obwohl er den Tauben den Hals umdrehte, die kleinen Pfauenküken umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, im Treibhaus die Trauben von den Reben riß und im Wintergarten den edelsten Pflanzen die Knospen abbrach. Außerdem sprach er manchmal von seiner Mutter als von »der Alten«, lästerte immer wieder über ihre dunkle Haut, die er freilich geerbt hatte, ignorierte schlichtweg ihre Wünsche, zerriß und beschmutzte nicht selten ihre seidene Garderobe – und blieb dennoch ihr »kleiner Liebling«. Ich dagegen wagte nicht, auch nur einen Fehler zu begehen; ich strengte mich an, jede Aufgabe zu erfüllen – und ich wurde von morgens bis mittags und von mittags bis abends nichtsnutzig und nervtötend, verstockt und hinterhältig genannt.

Mein Kopf blutete und schmerzte noch immer von dem Schlag und dem Sturz. Keiner hat John dafür getadelt, daß er mich aus reiner Bosheit schlug. Und bloß weil ich mich zur Wehr setzte, um noch weiteren, durch nichts gerechtfertigten Gewalttätigkeiten zuvorzukommen, wurde ich nun allerseits mit Schimpf und Schande überhäuft.

›Ungerecht! Ungerecht!‹ sagte mir mein Verstand, von dem quälenden Schmerz zu altkluger, doch nur sehr vorübergehend klarer Einsicht angestachelt, und meine Entschlossenheit, gleichermaßen angespornt, ersann allerlei absonderliche Auswege, wie ich mich dem unerträglichen Druck entziehen könnte: indem ich davonlief oder, falls dies nicht durchführbar war, nie mehr etwas aß oder trank und einfach starb.

In welchem Aufruhr befand sich meine Seele an jenem düstren Nachmittag! Welch ein Tumult in meinem Kopf und welche Empörung in meinem Herzen! Doch in welcher Dunkelheit, in welch hoffnungsloser Unwissenheit wurde diese geistige Auseinandersetzung geführt! Ich konnte die eine, beharrlich wiederkehrende Frage in meinem Innern einfach nicht beantworten: warum ich dermaßen leiden mußte. Jetzt, aus dem Abstand von – ich werde nicht verraten wie vielen – Jahren, sehe ich klar.

Ich war ein Mißton in Gateshead Hall; ich war anders als alle anderen dort; ich hatte nichts gemein mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren auserwählten Vasallen. Sie mochten mich nicht und ich sie, weiß Gott, genausowenig. Sie waren nicht verpflichtet, einem Geschöpf mit Zuneigung zu begegnen, das keinem einzigen von ihnen auch nur irgendwie wesensverwandt gewesen wäre; einem so andersartigen Geschöpf, das vom Naturell, von den Fähigkeiten und Neigungen her zu ihnen im Widerspruch stand; einem nutzlosen Geschöpf, nicht in der Lage, ihren Interessen zu dienen oder zu ihrer Unterhaltung beizutragen; einem unangenehmen Geschöpf, das im stillen den Keim der Auflehnung gegen die ihm zuteil werdende Behandlung hegte und den der Verachtung ihres Urteils. Mir ist klar, daß Mrs. Reed, wäre ich ein lebhaftes, intelligentes, unbekümmertes, forderndes, hübsches, umhertobendes Kind gewesen – wenn auch genauso abhängig von ihr und ohne Freunde –, meine Existenz mit größerer Zufriedenheit geduldet hätte. Ihre Kinder hätten mir gegenüber dann mehr von der Herzlichkeit von Gleichaltrigen empfunden; die Dienerschaft wäre weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock der ganzen Kinderschar zu machen.

Das Licht des Tages begann sich aus dem Roten Zimmer fortzustehlen; es war nach vier, und der wolkenverhangene Nachmittag neigte sich einer freudlosen Dämmerung zu. Ich hörte, wie der Regen noch immer beständig gegen das Fenster im Treppenhaus klatschte und wie der Wind heulend durch das Gehölz hinter dem Haus fuhr. Allmählich wurde ich kalt wie ein Stück Stein, und mein Mut verließ mich immer mehr. Das gewohnte Gefühl von Erniedrigung, Selbstzweifel und auswegloser Niedergeschlagenheit fiel wie ein nasses Tuch auf die verglimmende Glut meines Zorns. Alle sagten, ich sei schlecht, und vielleicht war das ja auch so. Hatte ich nicht gerade daran gedacht, mich zu Tode zu hungern? Das war auf jeden Fall etwas Frevelhaftes; und war ich denn überhaupt schon zum Sterben bereit? War das Gewölbe unter dem Altar der Kirche von Gateshead etwa ein so einladender Ort? In diesem Gewölbe lag, wie man mir sagte, Mr. Reed begraben, und der Gedanke veranlaßte mich, ihn mir vorzustellen, woraufhin mir immer banger wurde. Ich konnte mich nicht mehr an ihn erinnern, aber ich wußte, daß er mein leiblicher Onkel war, der Bruder meiner Mutter, daß er mich als elternloses Kind in sein Haus aufgenommen und in den letzten Augenblicken seines Lebens Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie eines ihrer eigenen Kinder aufzuziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war vermutlich der Ansicht, dieses Versprechen erfüllt zu haben, und das hatte sie wohl auch, möchte ich sagen, jedenfalls soweit es ihr bei ihrem Charakter überhaupt möglich war. Wie aber sollte sie wohl einen Eindringling gern haben, zu dem sie weder verwandtschaftliche noch, nach dem Tod ihres Mannes, sonstwelche Beziehungen hatte? Es mußte für sie höchst verdrießlich gewesen sein festzustellen, daß sie auf Grund eines abgerungenen Versprechens die Mutterstelle eingenommen hatte bei einem fremden Kind, das sie nicht lieben konnte, und mit anzusehen, wie sich ein unsympathisches, nicht zu den anderen passendes, exotisches Wesen als permanenter Störenfried ihrer eigenen Familie aufdrängte.

Eine merkwürdige Eingebung beschäftigte mich immer mehr. Ich zweifelte nicht – und hatte nie daran gezweifelt, daß Mr. Reed, wäre er noch am Leben gewesen, mich gut behandelt hätte. Und nun, wie ich so dasaß und das weiße Bett betrachtete und die düstren Wände, hin und wieder auch den Blick wie hypnotisiert auf den schwach schimmernden Spiegel richtete, fielen mir all die Geschichten wieder ein, welche ich von Toten gehört hatte, die keinen Frieden in ihren Gräbern fanden, weil man ihren letzten Willen mißachtete, und die dann wieder zurück auf die Erde kamen, um die Wortbrüchigen zu bestrafen und die Betrogenen zu rächen. Und ich stellte mir weiter vor, daß Mr. Reeds Geist vielleicht nicht zur Ruhe kam wegen des am Kind seiner Schwester begangenen Unrechts und er daraufhin seine Behausung verließ, sei sie nun im unterirdischen Kirchengewölbe oder in der unbekannten Welt der Verstorbenen, und mir in dieser Kammer erschien. Ich wischte meine Tränen ab und unterdrückte mein Schluchzen, aus Angst, irgendein Anzeichen heftigen Schmerzes könnte eine Stimme aus dem Jenseits veranlassen, mich zu trösten, oder aus der Düsternis ein von einem Lichtschein eingerahmtes Antlitz hervorlocken, das sich mit seltsamem Mitgefühl über mich beugte. Ich fühlte, daß diese Idee, so tröstlich sie in der Theorie war, in ihrer Verwirklichung schrecklich wäre. So bemühte ich mich mit aller Kraft, sie nicht weiter aufkommen zu lassen, bemühte mich, standhaft zu bleiben. Ich schüttelte mir die Haare aus dem Gesicht, hob den Kopf und versuchte, meinen Blick tapfer durch den finstren Raum schweifen zu lassen. Genau in diesem Moment leuchtete ein Lichtfleck an der Wand auf. War es, so fragte ich mich, ein Mondstrahl, der durch einen Spalt in der Jalousie hereindrang? Nein, Mondlicht war schließlich reglos, dieses hingegen bewegte sich. Während ich das Phänomen bestaunte, glitt es zur Decke hinauf und zitterte über meinem Kopf. Jetzt kann ich die naheliegende Vermutung äußern, daß es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um den Schein einer Laterne handelte, die jemand quer über den Rasen getragen hatte. Damals aber, als meine Sinne auf alle möglichen Schrecken gefaßt waren, als meine Nerven vor Erregung nur so flatterten – damals hielt ich den zuckenden Lichtstrahl für einen Boten, der eine bevorstehende Erscheinung aus dem Jenseits ankündigte. Mein Herz pochte laut, meine Stirn wurde heiß; ein Geräusch dröhnte in meinen Ohren, das mir wie Flügelrauschen vorkam. Irgend etwas schien dicht bei mir zu sein; ich litt unter Beklemmung, unter Atemnot. Meine Willenskraft brach zusammen – ich stieß unwillkürlich einen wilden Schrei aus –, ich stürzte zur Tür und rüttelte mit aller Verzweiflung am Schloß. Draußen kamen Schritte den Flur entlang; der Schlüssel wurde gedreht, und Bessie und Abbot traten ein.

»Miss Eyre, seid Ihr krank?« sagte Bessie.

»Was für ein fürchterlicher Krach! Das geht einem ja durch und durch!« rief Abbot aus.

»Holt mich hier raus! Ich will wieder ins Kinderzimmer!« schrie ich.

»Weswegen? Seid Ihr verletzt? Habt Ihr etwas gesehen?« fragte Bessie nach.

»Oh! Ich habe ein Licht gesehen und dachte, es sei ein Gespenst.« Inzwischen hatte ich Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir auch nicht.

»Sie hat mit voller Absicht so gebrüllt«, erklärte Abbot, sichtlich angewidert. »Und wie sie gebrüllt hat! Hätte sie große Schmerzen gelitten, wäre das ja zu entschuldigen gewesen, aber sie wollte nur, daß wir alle herbeigerannt kommen. Ich kenne doch ihre üblen Tricks.«

»Was ist hier eigentlich los?« verlangte eine andere Stimme gebieterisch zu wissen, und Mrs. Reed kam den Korridor entlang mit heftig wehender Nachthaube und ungestüm raschelndem Schlafgewand. »Abbot und Bessie, ich glaube, meine Anordnung lautete, daß Jane Eyre so lange im Roten Zimmer zu bleiben hat, bis ich sie selbst hole.«

»Miss Jane hat so arg geschrien, Ma’am«, verteidigte sich Bessie.

»Laßt sie los«, war die barsche Antwort. »Kind, du läßt Bessies Hand los! Mit solchen Sachen kommst du bei mir nicht durch, damit du Bescheid weißt. Ich hasse Verschlagenheit, besonders bei Kindern. Es ist meine Pflicht, dir klarzumachen, daß du mit Tricks nichts erreichst. Du bleibst jetzt noch eine weitere Stunde hier, und nur unter der Voraussetzung, daß du aufs Wort folgst und ich keinen Mucks mehr höre, werde ich dich dann herauslassen.«

»Ach, Tante, habt doch Mitleid! Vergebt mir! Ich halte es hier drin nicht aus – bestraft mich auf andere Weise! Es wäre mein Tod, wenn –«

»Ruhe! Dieses theatralische Gezeter ist ja widerwärtig« – und zweifellos mußte sie es ganz so empfunden haben. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin. Sie war aufrichtig davon überzeugt, in mir einen Ausbund an bösartiger Heftigkeit, niederträchtigem Charakter und gefährlicher Falschheit vor sich zu haben.

Bessie und Abbot hatten sich zurückgezogen. Mrs. Reed war meine nunmehr unkontrollierte Angst und mein wildes Schluchzen endgültig leid, stieß mich abrupt ins Zimmer zurück und sperrte mich ohne ein weiteres Wort ein. Ich hörte, wie sie davonrauschte; und bald, nachdem sie gegangen war, erlitt ich, glaube ich, eine Art Anfall. Der Vorhang der Bewußtlosigkeit senkte sich über die Szene.

DRITTES KAPITEL

Als nächstes erinnere ich mich daran, daß ich mit einem Gefühl aufwachte, als hätte ich einen fürchterlichen Alptraum durchlitten, und daß ich direkt vor mir und hinter gekreuzten dicken, schwarzen Gitterstäben ein gräßliches, rotes Glühen sah. Ich vernahm auch Stimmen, die sich dumpf anhörten, als würden sie von Windes- oder Wasserrauschen übertönt. Erregung, Unsicherheit und eine alles andere beherrschende Empfindung von Entsetzen verwirrten meine Sinne. Binnen kurzem wurde mir bewußt, daß sich jemand um mich bemühte, mich hochhob und in eine sitzende Position brachte, und das Ganze so liebevoll und behutsam, wie mich noch nie jemand aufgerichtet oder gestützt hatte. Ich legte meinen Kopf gegen ein Kissen oder einen Arm und fühlte mich geborgen.

Nach weiteren fünf Minuten hatte sich der Nebel der Verwirrtheit verzogen. Ich erkannte, daß ich in meinem eigenen Bett lag und daß das rote Glühen das Ofenfeuer im Kinderzimmer war. Es war Nacht; eine Kerze brannte auf dem Tisch; Bessie stand am Fußende des Bettes mit einer Waschschüssel in der Hand, und ein Herr saß in einem Stuhl bei meinem Kopfkissen und beugte sich gerade über mich.

Ich verspürte unsägliche Erleichterung, die beruhigende Gewißheit von Beschütztsein und Sicherheit, als ich begriff, daß ein Fremder im Zimmer war, jemand, der nicht zu Gateshead gehörte und nichts mit Mrs. Reed zu tun hatte. Ich drehte mich von Bessie weg (obwohl mir ihre Gegenwart weitaus weniger zuwider war, als es beispielsweise die von Abbot gewesen wäre) und studierte das Gesicht des Gentleman. Ich kannte ihn: Es war Mr. Lloyd, ein heilkundiger Apotheker, der gelegentlich von Mrs. Reed gerufen wurde, wenn es jemandem aus der Dienerschaft schlechtging. Für sich selbst und die Kinder bemühte sie einen Arzt.

»Also – wer bin ich?« fragte er.

Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm gleichzeitig die Hand hin. Er ergriff sie, lächelte und sagte: »Bald geht’s uns wieder besser.« Dann legte er mich zurück, wandte sich an Bessie und trug ihr auf, unbedingt dafür zu sorgen, daß meine Nachtruhe nicht gestört werde. Er erteilte noch einige weitere Anordnungen, versprach, am nächsten Tag wieder vorbeizukommen, und ging fort – zu meinem Leidwesen. Ich hatte mich so behütet und umsorgt gefühlt, während er auf dem Stuhl neben meinem Kissen saß; aber nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, verdüsterte sich der ganze Raum, und aller Mut verließ mich. Eine unaussprechliche Trauer legte sich auf meine Seele und drückte sie nieder.

»Meint Ihr, Ihr könnt ein wenig schlafen?« fragte Bessie in recht sanftem Ton.

Ich wagte kaum zu antworten aus Angst, schon der nächste Satz könnte wieder zu barsch klingen. »Ich will’s versuchen.«

»Möchtet Ihr etwas trinken oder habt Ihr Appetit auf etwas zu essen?«

»Nein, danke, Bessie.«

»Ich denke, dann gehe ich jetzt zu Bett, denn es ist schon nach zwölf. Aber Ihr dürft mich rufen, wenn Ihr nachts etwas braucht.«

Wie großzügig! Ich erdreistete mich daraufhin, eine Frage zu stellen:

»Bessie, was ist mit mir los? Bin ich krank?«

»Ich vermute, daß Ihr im Roten Zimmer vor lauter Weinen und Schreien ohnmächtig geworden seid. Bald geht’s Euch wieder besser, ganz bestimmt.«

Bessie begab sich nach nebenan ins Zimmer des Hausmädchens. Ich hörte, wie sie sagte:

»Sarah, komm und schlaf bei mir im Kinderzimmer. Nicht um alles in der Welt will ich heute nacht mit dem armen Kind allein sein; womöglich stirbt es noch. Dieser Anfall kommt mir mehr als seltsam vor. Ich frage mich, ob sie nicht irgend etwas gesehen hat. Die gnädige Frau war aber auch zu streng.«

Sarah kam mit ihr zurück; sie begaben sich beide zu Bett. Eine halbe Stunde lang flüsterten sie noch miteinander, ehe sie einschliefen. Ich schnappte Bruchstücke ihrer Unterhaltung auf, aus denen ich nur allzu genau erschließen konnte, worum sich ihr Gespräch in der Hauptsache drehte.

»Etwas ist vor ihren Augen vorübergehuscht, ganz weiß gekleidet, und dann wieder verschwunden« – »und ein großer, schwarzer Hund hinterher« – »dreimal lautes Pochen an der Kammertür« – »ein Licht auf dem Kirchhof, genau über seinem Grab« – etc. etc.

Schließlich waren beide eingeschlafen, Feuer und Kerze erloschen. Für mich verstrichen die Stunden jener langen Nacht in gespenstischer Wachheit. Ohren, Augen und Seele waren gleichermaßen vor Angst angespannt – einer Angst, wie sie nur Kinder empfinden können.

Die Begebenheit im Roten Zimmer hatte keine ernsthafte oder langwierige körperliche Krankheit zur Folge. Sie versetzte nur meinen Nerven einen Schock, dessen Nachwirkungen ich bis zum heutigen Tag verspüre. Jawohl, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich einige furchtbare seelische Qualen! Doch ich sollte Ihnen vergeben, denn Sie wußten ja nicht, was Sie taten. Sie rissen meine kindliche Seele in Stücke und glaubten dabei vermutlich, nur meine schlimmen Angewohnheiten auszumerzen.

Am nächsten Tag, um die Mittagszeit, war ich wieder auf den Beinen, war angekleidet und saß, in ein Schultertuch gehüllt, beim Ofen im Kinderzimmer. Ich fühlte mich körperlich schwach und vollständig am Ende meiner Kräfte; aber was mir am meisten zu schaffen machte, war ein unbeschreibliches seelisches Elend, ein Elend von solchem Ausmaß, daß es mir in einem fort stumme Tränen abrang. Kaum hatte ich mir einen salzigen Tropfen von der Backe gewischt, folgte schon der nächste. Eigentlich, so dachte ich mir, hätte ich jetzt glücklich sein sollen, denn niemand von den Reeds hielt sich im Haus auf; sie waren allesamt mit ihrer Mama in der Kutsche weggefahren. Abbot war in einem anderen Zimmer mit Nähen beschäftigt, und Bessie wuselte hin und her, räumte Spielsachen auf und brachte Schubladen in Ordnung, und zwischendurch richtete sie immer wieder einmal ein ungewohnt freundliches Wort an mich. Dieser Zustand hätte mir eigentlich wie ein Paradies des Friedens vorkommen müssen, mir, die ich ein Leben unaufhörlichen Tadels und niemals gedankter Schinderei gewohnt war. Doch meine zerrütteten Nerven waren in einer derartigen Verfassung, daß keine Ruhe sie besänftigen und keine Freude sie in Hochstimmung versetzen konnte.

Bessie war drunten in der Küche gewesen und brachte jetzt eine kleine Obsttorte auf einem ganz bestimmten, mit leuchtenden Farben bemalten Porzellanteller, auf dem ein Paradiesvogel abgebildet war, der in einem Kranz aus Winden und Rosenknospen nistete und der in mir bisher immer höchste Begeisterung und Bewunderung ausgelöst hatte. Und wie oft hatte ich gebettelt, genau diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, damit ich ihn besser betrachten konnte, und immer hatte es dann geheißen, ich sei eines solchen Privilegs nicht würdig! Dieses kostbare Stück wurde nun auf meine Knie plaziert und ich mit aller Herzlichkeit aufgefordert, die kleine runde Köstlichkeit darauf zu essen. Vergeb’ne Liebesmüh! Sie kam zu spät, diese Gunstbezeigung, zu spät wie die meisten anderen, die so heiß ersehnt und immer wieder verschoben worden waren. Ich konnte das Törtchen nicht essen, und das Gefieder des Vogels und die Farbtöne der Blumen kamen mir merkwürdig verblichen vor. Ich stellte Teller und Torte zur Seite. Bessie fragte, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch wirkte kurzfristig wie ein Stimulans, und ich bat sie, mir ›Gullivers Reisen‹ aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich wieder und wieder mit Vergnügen durchstudiert; für mich stellte es eine Schilderung von Tatsachen dar und war deshalb weitaus interessanter als das, was Märchen boten. Was nämlich die Elfen anging, nach denen ich zwischen den Blättern des Fingerhuts und in dessen Glockenkelchen sowie unter Pilzen und Efeuranken alter Mauernischen vergeblich Ausschau gehalten hatte, war ich letztlich zu der traurigen Erkenntnis gekommen, daß sie allesamt England verlassen und sich in irgendein unwirtliches Land begeben hatten, wo die Wälder wilder und dichter waren und es weniger Menschen gab. Da andererseits aber Lilliput und Brobdingnag nach meiner Überzeugung als konkrete Regionen der Erdoberfläche existierten, zweifelte ich nicht daran, daß ich eines Tages, auf einer langen Reise, mit eigenen Augen die kleinen Felder, Häuser und Bäume sehen würde, die zwergenhaften Menschen und die winzigen Kühe, Schafe und Vögel des einen Reiches, aber auch die baumlangen Kornähren, die mächtigen Bulldoggen, die monströsen Katzen und die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Als mir aber dieser kostbare Band jetzt ausgehändigt wurde, als ich die Seiten umblätterte und in den wunderbaren Bildern nach der Faszination suchte, die sich bislang unfehlbar bei mir eingestellt hatte – da erblickte ich nur Gruseliges und Trübseliges: Die Riesen waren unheimliche Schreckgespenster, die Pygmäen bösartige und furchterregende Teufelchen, Gulliver ein gottverlassener Wanderer in einer gottverlassenen und gefährlichen Gegend. Ich machte das Buch wieder zu, das ich mich nicht länger zu betrachten getraute, und legte es auf den Tisch neben die unberührte Torte.

Bessie war nun mit dem Abstauben und Aufräumen des Zimmers fertig, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, zog sie eine ganz bestimmte kleine Schublade auf, die voller herrlicher Stoffreste aus Seide und Satin war, und schickte sich an, daraus eine neue Haube für Georgianas Puppe zu machen. Dazu sang sie, und zwar dieses Lied:

Lustig war das Zigeunerleben,

Lang, lang ist’s her.

Ich hatte das Lied schon oftmals zuvor gehört, und jedesmal mit lebhaftem Vergnügen, denn Bessie hatte eine schöne Stimme – zumindest meiner Meinung nach. Nun aber hörte ich, obwohl ihre Stimme noch immer schön war, eine unbeschreibliche Traurigkeit aus der Melodie heraus. Manchmal, wenn ihre Arbeit sie sehr in Anspruch nahm, sang sie den Refrain ganz leise und sehnsuchtsvoll. Das »Lang, lang ist’s her« klang dann wie die traurigste Strophe eines Grabgesangs. Dem schloß sich übergangslos eine andere Ballade an, diesmal aber eine wirklich bittere.

Meine Füße sind wund und matt alle Glieder,

Weit ist der Weg durch die Berge so wild.

Schon bald sinkt mondlos die Dämm’rung nieder

Über der Welt, überm armen Waisenkind.

Warum schickt man mich fort, so weit weg und einsam,

Hinauf in die Moore, in Felsen und Wind?

Hart sind die Menschen, herzlos und grausam,

Nur Engel bewachen das Waisenkind.

Von weit her die sanfte Nachtbrise weht,

Der Wolken sind wen’ge, die Sterne glühn lind;

Unter Gottes Schutz und Schirm aber steht

Getröstet und hoffend das Waisenkind.

Und wenn ich auch falle von der morschen Brück’,

Mich verirre im Moor, den rechten Pfad nit mehr find’:

Der Vater in seiner Güte geleit’ mich zurück

Und drückt an sein Herz das Waisenkind.

Da ist ein Gedanke, der die Kraft mir verleiht,

Auch wenn nicht Vater noch Mutter mir bescheret sind:

Heimstatt und Zuflucht sind im Himmel nicht weit,

Denn Gott selbst liebt das arme Waisenkind.

»Aber, aber, Miss Jane, nun hört doch auf zu weinen«, sagte Bessie, als sie geendet hatte. Genausogut hätte sie dem Feuer befehlen können: Hör doch auf zu brennen! Aber wie auch sollte sie etwas von der grenzenlosen Niedergeschlagenheit ahnen, deren Opfer ich war? Im Verlauf des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder vorbei.

»Was, schon auf?« sagte er, als er das Kinderzimmer betrat. »Und wie geht es ihr, Bessie?«

Bessie antwortete, mir gehe es gut.

»Dann müßte sie aber eigentlich fröhlicher dreingucken. Kommt mal her, Miss Jane; dein Name ist doch Jane, oder?«

»Ja, Sir, Jane Eyre.«

»Also – du hast gerade geweint, Jane Eyre. Ob du mir wohl sagen kannst, weswegen? Tut dir etwas weh?«

»Nein, Sir.«

»Ach – vielleicht weint sie bloß, weil sie nicht mit der gnädigen Frau in der Kutsche ausfahren durfte«, warf Bessie ein.

»Aber woher denn! Sie ist doch schon viel zu alt, um wegen so was die beleidigte Leberwurst zu spielen.«

Das war auch meine Meinung, und da meine Selbstachtung unter der falschen Beschuldigung litt, antwortete ich prompt: »In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht wegen so was geweint. Außerdem hasse ich Ausfahrten mit der Kutsche. Ich weine, weil es mir schlechtgeht und ich unglücklich bin.«

»Aber, aber, Miss!« sagte Bessie.

Der gute Apotheker schien ein wenig perplex zu sein. Ich stand direkt vor ihm; er hielt seinen Blick unverwandt auf mich gerichtet. Seine Augen waren klein und grau und nicht sehr hell, und ich glaube, heute würde ich sie lebensklug nennen. Alles in allem hatte er ein hartes, kantiges, doch gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich ausgiebig gemustert hatte, sagte er:

»Weshalb ging es dir denn gestern so schlecht?«

»Sie ist hingefallen«, Bessie mischte sich erneut ein.

»Hingefallen! Das sind ja schon wieder Kleinkindermätzchen! Kann sie in dem Alter noch immer nicht gehen? Sie ist doch bestimmt schon acht oder neun!«

»Ich wurde zu Boden geworfen«, entfuhr mir die unverblümte Erklärung, ausgelöst durch einen erneuten Stich verletzten Stolzes. »Aber das war nicht der Grund, warum es mir so schlechtging«, fügte ich hinzu, während sich Mr. Lloyd eine Prise Schnupftabak gönnte.

Gerade als er die Dose in die Westentasche zurückbeförderte, ertönte ein lautes Geklingel, das die Dienerschaft zum Mittagessen rief. Mr. Lloyd wußte um die Bedeutung dieser Glocke. »Das gilt Ihnen, Bessie«, sagte er. »Sie können ruhig hinuntergehen. Ich werde in der Zwischenzeit ein Wörtchen mit Jane reden.«

Bessie wäre zwar lieber dageblieben, mußte aber doch gehen, weil in Gateshead Hall überaus streng auf Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten geachtet wurde.

»Wegen des Sturzes ging es dir also nicht so schlecht. Weswegen denn dann?« fragte Mr. Lloyd weiter, nachdem Bessie das Zimmer verlassen hatte.

»Man hat mich in ein Zimmer gesperrt, wo es einen Geist gibt, bis es schon ganz finster war.«

Ich sah Mr. Lloyd gleichzeitig lächeln und die Stirn runzeln. »Einen Geist! Du scheinst also doch noch ein kleines Kind zu sein! Fürchtest du dich vor Geistern?«

»Vor Mr. Reeds Geist schon. Er starb nämlich in dem Zimmer und lag dort auch aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht nachts dorthin, wenn es nicht sein muß. Und es war gemein, mich dort ganz allein einzusperren, ohne eine Kerze! So gemein, daß ich’s wahrscheinlich nie vergessen werde.«

»Unsinn! Und das ist es, weshalb du so unglücklich bist? Fürchtest du dich auch jetzt bei Tag?«

»Nein, aber es dauert nicht lange, dann ist wieder Nacht. Und außerdem bin ich unglücklich – ganz unglücklich, wegen anderer Sachen.«

»Was für andere Sachen? Kannst du mir ein paar davon sagen?«

Wie hatte ich mir gewünscht, diese Frage ausführlich beantworten zu können! Doch wie schwierig war es, überhaupt eine Antwort herauszubringen. Kinder haben Gefühle, aber sie können sie nicht analysieren, und wenn sie in Gedanken eine Analyse halbwegs zustande bringen, dann wissen sie nicht, wie sie das Ergebnis dieses Vorgangs in Worte fassen sollen. Aus Furcht jedoch, diese allererste und einmalige Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen, bei der ich meinen Kummer ein wenig loswerden konnte, indem ich ihn einem anderen Menschen mitteilte, bemühte ich mich, nach einer unbehaglichen Pause, eine knappe, aber dennoch aufrichtige Antwort zu formulieren.

»Erstens einmal habe ich weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwester.«

»Du hast eine gute Tante und die Cousinen und den Cousin.«

Wieder machte ich eine Pause und legte dann unbeholfen dar:

»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt.«

Mr. Lloyd holte zum zweiten Mal seine Schnupftabakdose heraus.

»Findest du nicht, daß Gateshead Hall ein sehr schönes Haus ist?« fragte er. »Bist du denn nicht dankbar, daß du an einem so feinen Ort wohnen und leben darfst?«

»Es ist nicht mein Haus, Sir, und Abbot sagt, ich hätte noch weniger ein Recht hierzusein als eine Dienerin.«

»Ach was! Du wirst doch wohl nicht so dumm sein und einen so herrlichen Ort verlassen wollen?«

»Wenn ich die Möglichkeit hätte, woanders hinzugehen, würde ich’s mit großem Vergnügen tun; aber solange ich noch keine Frau bin, komme ich auch nicht von Gateshead fort.«

»Vielleicht doch – wer weiß? Hast du außer Mrs. Reed keine Verwandten?«

»Ich glaube nicht, Sir.«

»Väterlicherseits auch nicht?«

»Ich weiß es nicht. Einmal habe ich Tante Reed gefragt, und da sagte sie, möglicherweise gebe es da ein paar arme, heruntergekommene Verwandte mit dem Namen Eyre, aber sie wisse weiter nichts über sie.«

»Wenn du solche Verwandten hättest, würdest du dann gern zu ihnen ziehen?«

Ich dachte nach. Armut ist schon für die Großen eine schlimme Angelegenheit; für Kinder aber noch mehr. Die Vorstellung von fleißiger, arbeitsamer, achtbarer Armut ist ihnen so gut wie fremd. Sie bringen das Wort ausschließlich mit zerlumpter Kleidung, kärglicher Nahrung, kalten Kaminen, rüden Manieren und verwerflichen Lastern in Verbindung. Für mich war Armut ein anderes Wort für Erniedrigung.

»Nein, zu armen Leuten möchte ich nicht gehören«, gab ich zur Antwort.

»Auch dann nicht, wenn sie nett zu dir wären?«

Ich schüttelte den Kopf. Mir war nicht begreiflich, woher arme Leute die Mittel haben sollten, um nett zu sein. Und dann noch so zu sprechen wie sie, ihre Manieren anzunehmen, ungebildet zu sein und aufzuwachsen wie eine von diesen armseligen Frauen, die ich manchmal im Dorf vor den Haustüren ihre Kinder stillen oder ihre Wäsche waschen sah: Nein, ich war nicht heldenhaft genug, um mir die Freiheit zum Preis eines Daseins in der niedersten Kaste zu erkaufen.

»Aber sind denn deine Verwandten wirklich so arm? Sind sie Arbeiter?«

»Ich kann es nicht sagen. Tante Reed meint, falls ich überhaupt welche habe, dann sind sie bestimmt ein bettelarmes Lumpenpack. Und betteln gehen mag ich nicht.«

»Würdest du gern zur Schule gehen?«

Wieder dachte ich nach. Ich wußte ja kaum, was eine Schule war. Bessie sprach manchmal davon als einem Ort, wo angehende junge Damen auf harten Bänken saßen, die Füße zum Stillhalten in hölzernen Zwingen, die Hände auf die Tischplatte gelegt, brettartige Geradehalter auf dem Rücken, und wo sie fürchterlich affektiert und steif tun mußten. John Reed haßte seine Schule und verwünschte seinen Lehrer; aber John Reeds Ansichten waren für mich kein Maßstab, und wenn auch Bessies Schilderungen der Schuldisziplin (die sie von den jungen Damen einer Familie gehört hatte, bei der sie vor ihrer Zeit in Gateshead in Diensten gewesen war) schon irgendwie abschreckend klangen, so war doch das, was sie im einzelnen über die Fähigkeiten berichtete, welche die jungen Ladys erwarben, meiner Meinung nach recht reizvoll. Voller Stolz erzählte sie von den schönen Landschafts- und Blumenbildern, die diese gemalt hatten; von Liedern, die sie singen, und von Stücken, die sie spielen konnten; von den Täschchen, die sie knüpften, und den französischen Büchern, die sie übersetzten – so lange erzählte sie davon, bis sich beim Zuhören in mir der Gedanke festsetzte, ihnen nachzueifern. Außerdem wäre die Schule etwas völlig Neues: Sie bedeutete eine lange Reise, eine völlige Loslösung von Gateshead, den Eintritt in ein neues Leben.

»Ja, ich würde tatsächlich gerne zur Schule gehen«, lautete der vernehmliche Abschluß meines Sinnierens.

»Na, also; wer weiß, was noch alles passiert?« sagte Mr. Lloyd und stand auf. »Das Kind braucht eine Luftveränderung und eine neue Umgebung«, fuhr er im Selbstgespräch fort. »Arg strapazierte Nerven hat es.«

Bessie kam zurück, und im selben Augenblick hörte man die Kutsche auf den Kiesweg rollen.

»Ist das Ihre Herrin, Bessie?« fragte Mr. Lloyd. »Ich hätte sie gerne mal gesprochen, bevor ich gehe.«

Bessie bat ihn ins Frühstückszimmer und ging voran. In der nachfolgenden Unterredung zwischen dem Apotheker und Mrs. Reed erlaubte sich Mr. Lloyd wohl, wie ich auf Grund der nachfolgenden Ereignisse vermute, die Empfehlung auszusprechen, man möge mich doch zur Schule schicken, was zweifellos nur allzu bereitwillig aufgenommen wurde; denn eines Abends sagte Abbot, als sie, nachdem ich schon zu Bett gegangen war und sie mich schlafend wähnte, beim gemeinsamen Nähen das Thema mit Bessie diskutierte: »Die Gnädige ist doch bestimmt froh, ein so lästiges und boshaftes Kind loszuwerden, bei dem man dauernd das Gefühl hat, daß es einen beobachtet und insgeheim irgendwas ausheckt.« Ich glaube, Abbot hielt mich für so eine Art kindlichen Attentäter von der Qualität eines Guy Fawkes.

Bei derselben Gelegenheit erfuhr ich auch zum ersten Mal aus dem, was Miss Abbot Bessie anvertraute, daß mein Vater ein armer Geistlicher gewesen war; daß meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, welche eine solche Verbindung als nicht standesgemäß erachteten; daß mein Großvater Reed so aufgebracht über ihre Widersetzlichkeit war, daß er sie stracks enterbte; daß mein Vater ein Jahr nach der Heirat an Typhus erkrankte, den er sich bei einem Armenbesuch in einer großen Industriestadt geholt hatte, in der seine Kuratie lag und wo diese Seuche damals gewütet hatte; daß sich meine Mutter bei ihm ansteckte und beide binnen eines Monats nacheinander verstarben.

Als Bessie diese Geschichte vernahm, seufzte sie auf und sagte: »Die arme Miss Jane kann einem wirklich leid tun, Abbot.«

»Ja«, erwiderte Abbot, »wenn sie ein nettes, hübsches Kind wäre, könnte man sie in ihrem Elend richtig bedauern. Aber mit solch einer kleinen, häßlichen Kröte kann man doch nicht viel anfangen!«

»Nicht viel, das stimmt schon«, bestätigte Bessie. »Eine Schönheit wie Miss Georgiana wäre uns in einer solchen Lage mehr ans Herz gewachsen.«

»Ja, ich bin richtig vernarrt in Miss Georgiana!« rief Abbot ganz aufgeregt aus. »Ein kleiner Schatz! Mit ihren langen Locken und den blauen Augen und dieser süßen Gesichtsfarbe: Wie gemalt sieht sie aus! – Bessie, jetzt hätte ich Lust auf ein überbackenes Käsebrot zum Nachtmahl.«

»Ich auch – und zwar mit gerösteten Zwiebeln obenauf. Los, gehn wir runter.« Und weg waren sie.

VIERTES KAPITEL

Aus meinem Gedankenaustausch mit Mr. Lloyd und aus dem Verlauf des oben erwähnten Meinungsaustauschs zwischen Bessie und Abbot schöpfte ich ein genügend Maß an Hoffnung, um wieder gesund werden zu wollen. Baldige Veränderungen schienen bevorzustehen, die ich im stillen auch herbeisehnte. Allerdings ließen sie auf sich warten. Tage und Wochen vergingen; meine Gesundheit war inzwischen wiederhergestellt, aber bezüglich der Angelegenheit, über die ich nachgrübelte, gab es keine neuen Hinweise. Mrs. Reed beobachtete mich hin und wieder gestrengen Blickes, richtete aber selten ein Wort an mich. Seit meiner Krankheit hatte sie einen noch schärferen Trennstrich zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen: Ich erhielt eine kleine Kammer zugewiesen, in der ich ganz allein schlafen mußte; ich wurde dazu verurteilt, meine Mahlzeiten allein zu mir zu nehmen und mich die ganze Zeit über im Kinderzimmer aufzuhalten, während die anderen dauernd im Salon sein durften. Aber nicht eine einzige Andeutung ließ sie fallen, ob sie mich zur Schule schicken wollte. Dennoch verspürte ich instinktiv die Gewißheit, daß sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde; ihr Blick offenbarte nämlich mehr denn je eine unüberwindliche und tief verwurzelte Abneigung mir gegenüber, sobald er auf mich fiel.

Eliza und Georgiana sprachen sowenig wie möglich mit mir – offensichtlich auf Grund entsprechender Anweisungen. John machte ironische Grimassen, wann immer er mir begegnete, und versuchte einmal, mich zu verprügeln. Da ich aber sofort auf ihn losging, aufgebracht durch das gleiche Gefühl von tiefem Zorn und verzweifelter Auflehnung, das schon beim ersten Mal die Ursache meines Wutausbruchs gewesen war, hielt er es wohl für klüger, von mir abzulassen und davonzulaufen, wobei er Verwünschungen von sich gab und behauptete, ich hätte ihm die Nase eingeschlagen. In der Tat hatte ich jenem hervorragenden Körperteil einen so harten Schlag versetzt, wie ihn die Knöchel meiner Faust nur hergaben, und als ich sah, daß entweder dies oder mein Blick ihn eingeschüchtert hatte, verspürte ich die größte Lust, meinen Vorteil auszunutzen und noch eins draufzusetzen; aber schon war er bei seiner Mama. Ich hörte ihn greinend das Märchen von »dieser gemeinen Jane Eyre« vortragen, die wie eine tollwütige Katze über ihn hergefallen sei. Allerdings wurde ihm das Wort reichlich barsch abgeschnitten:

»Ich will kein Wort über sie hören, John! Ich habe dir gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten. Sie ist es nicht wert, beachtet zu werden. Ich wünsche nicht, daß du oder deine Schwestern Umgang mit ihr habt.«

Bei diesen Worten beugte ich mich übers Treppengeländer und schrie einfach los, ohne recht zu wissen, was ich schrie:

»Die sind auch gar nicht der richtige Umgang für mich!«

Mrs. Reed war zwar eine ziemlich korpulente Frau, doch als sie diese unerhörte und verwegene Erklärung vernahm, kam sie behend die Treppe heraufgerannt, trieb mich wie ein Wirbelsturm vor sich her und ins Kinderzimmer, drückte mich auf die Kante meines Kinderbettes nieder und machte mir unmißverständlich klar, daß ich weder diesen Platz zu verlassen noch während des ganzen Tages auch nur einen Laut von mir zu geben hätte.

»Was würde Onkel Reed dazu sagen, wenn er noch lebte?« rutschte es mir einfach so heraus. Ich sage deshalb ›einfach so‹, weil es mir vorkam, als produzierte meine Zunge Wörter, ohne daß ich deren Äußerung zustimmte. Irgend etwas sprach da aus mir, über das ich keine Kontrolle hatte.

»Was?« flüsterte Mrs. Reed vor sich hin. Ihr normalerweise eisgrauer, gelassener Blick wurde unruhig und zeigte so etwas wie Angst. Sie ließ meinen Arm los und starrte mich an, als wüßte sie wirklich nicht, ob ich ein Kind oder eine Furie war. Jetzt würde es mir bestimmt gleich an den Kragen gehen.

»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und denken. Und Papa und Mama können es auch. Die wissen Bescheid, daß Sie mich immer den ganzen Tag lang einsperren und daß Sie sich wünschen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed hatte sich schnell wieder gefaßt: Sie schüttelte mich kräftig durch, verpaßte mir links und rechts ein paar Ohrfeigen und ließ mich dann einfach wortlos sitzen. Als Pausenfüller sozusagen kam Bessie herein und hielt mir eine Gardinenpredigt von einer Stunde Dauer, in der sie den hieb- und stichfesten Nachweis erbrachte, daß ich das garstigste und verkommenste Kind war, das man jemals unter einem Dach großgezogen hatte. Halb glaubte ich ihr, denn in meinem Innern spürte ich wirklich nur böse Gefühle aufsteigen.

November, Dezember und der halbe Januar gingen vorbei. Weihnachten und Neujahr waren in Gateshead in gewohnt festlich-fröhlicher Stimmung gefeiert worden. Man beschenkte sich gegenseitig und lud zum Dinner und zu Abendgesellschaften ein. Selbstverständlich blieb ich von jeder Vergnüglichkeit ausgeschlossen. Mein Anteil an der allgemeinen Fröhlichkeit erstreckte sich auf die Rolle einer Zuschauerin, wenn Eliza und Georgiana jeden Tag herausgeputzt wurden und dann in ihren dünnen Musselinkleidern und dunkelroten Schärpen und mit kunstvollen Ringellöckchen im Haar hinunter zum Salon schritten; und danach auf die einer Zuhörerin, die den Klängen des Klavier- oder Harfenspiels von drunten lauschte, dem Hin- und Hereilen von Butler und Dienern, dem Klingen der Gläser und des Porzellans, wenn Erfrischungen gereicht wurden, dem an- und abschwellenden Summen der Konversation, sobald sich die Türen zum Salon öffneten oder schlossen. Wenn ich dieser Beschäftigung müde wurde, zog ich mich von der Treppe in die Einsamkeit und Stille des Kinderzimmers zurück; dort war ich zwar ein wenig betrübt, aber ich fühlte mich nicht elend. Um die Wahrheit zu sagen, verspürte ich nicht den leisesten Wunsch, mich in Gesellschaft zu begeben, denn in Gesellschaft nahm kaum jemand Notiz von mir; und wenn Bessie sich nur ein bißchen netter und umgänglicher gezeigt hätte, wäre es mir eine wirkliche Freude gewesen, die Abende ruhig mit ihr zu verbringen anstatt unter den furchteinflößenden Augen von Mrs. Reed und in einem Raum mit lauter Ladys und Gentlemen. Sobald sie aber ihre jungen Damen zurechtgemacht hatte, begab sich Bessie stets in belebtere Bereiche wie die Küche und die Kammer der Wirtschafterin, und die Kerze nahm sie auch immer mit. Ich saß dann da mit meiner Puppe auf dem Schoß, bis das Feuer ganz heruntergebrannt war, warf ab und zu einen prüfenden Blick durch den düsteren Raum, um mich zu vergewissern, daß ich der einzige Geist darin war. Und wenn dann nur noch die schwachrote Glut auf dem Rost lag, zog ich mich hastig aus, zerrte an Knoten und Bändern, so gut ich konnte, und suchte in meinem Bett Schutz vor der Kälte und der Finsternis. Meine Puppe nahm ich immer mit ins Bett. Der Mensch muß ja schließlich irgend etwas lieben, und in Ermangelung eines würdigeren Objektes meiner Zuneigung fand ich eben meine Freude daran, ein verschossenes Götzenbild zu umhegen und zu lieben, das in seiner Schäbigkeit der Miniaturausgabe einer Vogelscheuche glich. Heute bin ich mehr als erstaunt, wenn ich mich daran erinnere, mit welch grotesker Hingabe ich in dieses kleine Spielzeug vernarrt war, das ich als halb lebendig und empfindungsfähig ansah. Ich schlief immer erst dann ein, wenn ich es in mein Nachthemd gewickelt hatte; und wenn es behütet und warm dalag, war ich einigermaßen glücklich bei dem Gedanken, es sei genauso glücklich.