Jane Eyre - Charlotte Brontë - E-Book

Jane Eyre E-Book

Charlotte Bronte

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Beschreibung

Im Jahre 1847 veröffentlicht die damals 31-jährige Charlotte Brontë "Jane Eyre. Eine Autobiographie" (Im Original "Jane Eyre. An Autobiography"), den Klassiker der viktorianischen Romanliteratur des 19 Jahrhunderts. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Jane Eyre, die nach einer schweren Kindheit eine Stelle als Gouvernante annimmt und sich in ihren Arbeitgeber verliebt, jedoch immer wieder um ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen muss. Noch in der Nacht vor der Hochzeit entdeckt Jane ein schreckliches Geheimnis: Im obersten Stockwerk des Hauses hält ihr zukünftiger Ehemann seine wahnsinnig gewordene Frau versteckt. "Jane Eyre" ist ein Roman der Leidenschaften und Gefühle, der lauernden Stimmungen und eines frisch erwachten Lebenshungers. Es war der erste Roman, der der weiblichen Erfahrung von Machtlosigkeit in dieser Form eine neue Stimme gab. Es war überhaupt das erste Buch aus der Perspektive einer jungen Frau. "Ich bin kein Vogel, und kein Netz und kein Vogelsteller vermag mich zu fangen. Ich bin ein freies, menschliches Wesen mit einem unabhängigen Willen, und jetzt mache ich denselben geltend, indem ich Sie verlasse.", sagt Jane Eyre zu dem Mann, den sie liebt. Der Romane wurde mehrmals für Theater, Film und Fernsehen bearbeitet. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1035

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Charlotte Brontë

Jane Eyre

Eine Autobiografie

Charlotte Brontë

Jane Eyre

Eine Autobiografie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020Übersetzung: Maria von Borch EV: Reclam, Leipzig, 1918 3. Auflage, ISBN 978-3-954180-19-6

null-papier.de/jane

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­to­rin und Werk

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

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Autorin und Werk

Char­lot­te Brontë (✳ 21.04.1816 in Thorn­ton, Yorks­hi­re; † 31.03.1855 in Ha­worth, Yorks­hi­re), ist die äl­tes­te der drei au­ßer­ge­wöhn­li­chen Schrift­stel­ler-Schwes­tern Emi­ly Jane, Anne und Char­lot­te. Sie ver­öf­fent­lich­te ihre Ro­ma­ne un­ter dem Pseud­onym Cur­rer Bell.

Char­lot­te Brontë wird als drit­tes Kind des iri­schen Pfar­rers Pa­trick Brontë und sei­ner Frau Ma­ria, geb. Bran­well, ge­bo­ren. Ge­mein­sam mit ih­ren drei jün­ge­ren Ge­schwis­tern Pa­trick Bran­well, Emi­ly Jane und Anne be­ginnt sie schon als Kind zu schrei­ben und ver­fasst zahl­rei­che win­zi­ge Heft­chen und Fan­ta­sie­ges­chich­ten.

Die Kin­der wer­den meist da­heim un­ter­rich­tet und be­su­chen die Schu­le nur kurz.

1835 tritt Char­lot­te eine Stel­le als Leh­re­rin an. 1842 be­sucht sie zu­sam­men mit ih­rer Schwes­ter Emi­ly das Brüs­se­ler »Pen­sion­nat de De­moi­sel­les« in der Ab­sicht dort ihr Fran­zö­sisch zu ver­bes­sern. Sie plant eine ei­ge­ne Mäd­chen­schu­le zu er­öff­nen, muss aber das Pro­jekt we­gen man­geln­der Nach­fra­ge auf­ge­ben.

Zu­sam­men mit ih­ren Schwes­tern gibt sie un­ter den (männ­li­chen) Pseud­ony­men El­lis (Emi­ly), Ac­ton (Anne) und Cur­rer (Char­lot­te) Bell einen Ge­dicht­band her­aus, der nicht sehr er­folg­reich ver­kauft wird.

Auch Char­lot­tes ers­ter Ro­man »The Pro­fes­sor« über ihre ei­ge­ne un­er­wi­der­te Lie­be zu ei­nem ver­hei­ra­te­ten Mann fin­det zu ih­ren Leb­zei­ten kei­nen Ver­le­ger.

1847 end­lich ist das Jahr der 3 Schwes­tern. Jede bringt einen Ro­man her­aus – und »die Bells« sind mit ei­nem Mal be­kannt. Wäh­rend Kri­tik und Pub­li­kum Char­lot­tes »Jane Eyre« fei­ern, rea­giert man auf Emi­lys »Die Sturm­hö­he« (»Wuthe­ring Heights«) mit ge­misch­ten Ge­füh­len, zu ge­wagt und mys­te­ri­ös wirkt die­se Ge­schich­te. An­nes Ro­man »Ag­nes Grey« gilt zu­nächst nur als leich­te und un­ter­halt­sa­me Lek­tü­re.

Man ver­mu­tet einen männ­li­chen Ur­he­ber hin­ter »Jane Eyre« und ist sehr über­rascht, als sich der Au­tor als Frau ent­puppt. Char­lot­te wird in die li­te­ra­ri­schen Krei­se Lon­d­ons ein­ge­führt und ge­niest eine kur­ze Zeit des Ruhms. Ihre Bü­cher er­schei­nen wei­ter­hin un­ter Pseud­onym.

1854 hei­ra­tet sie Ar­thur Bell Ni­cholls, den Hilfs­pfar­rer ih­res Va­ters. Am Kar­sams­tag 1855 stirbt sie – laut To­ten­schein an Tu­ber­ku­lo­se – ver­mut­lich je­doch an »Hy­pereme­sis gra­vi­da­rum« (schwan­ger­schafts­be­ding­te Stoff­wech­sel­stö­rung).

Al­len Ge­schwis­tern ist nur ein kur­z­es Le­ben be­schert. Der Bru­der Pa­trick Bran­well, ein ta­len­tier­ter Ma­ler und Dich­ter, stirbt ver­mut­lich an den Fol­gen des Al­ko­ho­lis­mus 1848 im Al­ter von 37 Jah­ren, Emi­ly Jane stirbt eben­falls 1848 mit 30 eben­so wie die Jüngs­te, Anne ein Jahr dar­auf, 1849, im Al­ter von 29 Jah­ren an den Fol­gen der Tu­ber­ku­lo­se.

Char­lot­te Brontës letz­ter Ro­man »Emma« bleibt un­voll­en­det und er­scheint 1860 po­stum zu­sam­men in ei­ner Aus­ga­be ih­res Erst­lings­werk »The Pro­fes­sor«.

Erster Teil

Erstes Kapitel

Es war ganz un­mög­lich, an die­sem Tage einen Spa­zier­gang zu ma­chen. Am Mor­gen wa­ren wir al­ler­dings wäh­rend ei­ner gan­zen Stun­de in den blät­ter­lo­sen, jun­gen An­pflan­zun­gen um­her­ge­wan­dert; aber seit dem Mit­ta­ges­sen – Mrs. Reed speis­te stets zu frü­her Stun­de, wenn kei­ne Gäs­te zu­ge­gen wa­ren – hat­te der kal­te Win­ter­wind so düs­te­re, schwe­re Wol­ken und einen so durch­drin­gen­den Re­gen her­auf­ge­weht, dass von wei­te­rer Be­we­gung in fri­scher Luft nicht mehr die Rede sein konn­te.

Ich war von Her­zen froh dar­über: lan­ge Spa­zier­gän­ge, be­son­ders an fros­ti­gen Nach­mit­tagen, wa­ren mir stets zu­wi­der: – ein Greu­el war es mir, in der rau­en Däm­mer­stun­de nach Hau­se zu kom­men, mit fast er­fro­re­nen Hän­den und Fü­ßen, – mit ei­nem Her­zen, das durch das Schel­ten Bes­sie’s, der Kin­der­wär­te­rin, bis zum Bre­chen schwer war, – ge­de­mü­tigt durch das Be­wusst­sein, phy­sisch so tief un­ter Eli­za, John und Ge­or­gi­na Reed zu ste­hen.

Die so­eben er­wähn­ten Eli­za, John und Ge­or­gi­na hat­ten sich in die­sem Au­gen­blick im Sa­lon um ihre Mama ver­sam­melt: die­se ruh­te auf ei­nem Sofa in der Nähe des Ka­mins und um­ge­ben von ih­ren Lieb­lin­gen, die zu­fäl­li­ger­wei­se in die­sem Mo­ment we­der zank­ten noch schri­en, sah sie voll­kom­men glück­lich aus. Mich hat­te sie da­von dis­pen­siert, mich der Grup­pe an­zu­schlie­ßen, in­dem sie sag­te, dass es sie tief un­glück­lich ma­che, ge­zwun­gen zu sein, mich fern zu hal­ten; dass sie mich aber von Vor­rech­ten aus­schlie­ßen müs­se, zu de­ren Ge­nuss nur zu­frie­de­ne, glück­li­che, klei­ne Kin­der be­rech­tigt sei­en, und dass sie mir erst ver­zei­hen wür­de, wenn sie so­wohl durch ei­ge­ne Wahr­neh­mung wie durch Bes­sie’s Wor­te zu der Über­zeu­gung ge­langt sein wür­de, dass ich in al­lem Ernst ver­su­che, mir an­zie­hen­de­re und freund­li­che­re Ma­nie­ren, einen kind­li­che­ren, ge­sel­li­ge­ren Cha­rak­ter – ein leich­te­res, of­fen­her­zi­ge­res, na­tür­li­che­res Be­neh­men an­zu­eig­nen.

»Was sagt denn Bes­sie, dass ich ge­tan habe?« frag­te ich.

»Jane, ich lie­be we­der Spitz­fin­dig­kei­ten noch Fra­gen; au­ßer­dem ist es gra­de­zu wi­der­lich, wenn ein Kind äl­te­re Leu­te in die­ser Wei­se zur Rede stellt. Au­gen­blick­lich set­zest du dich ir­gend­wo hin und schweigst, bis du freund­li­cher und lie­bens­wür­di­ger re­den kannst.«

An das Wohn­zim­mer stieß ein klei­nes Früh­stücks­zim­mer: ich schlüpf­te hin­ein. Hier stand ein großer Bü­cher­schrank. Bald hat­te ich mich ei­nes großen Ban­des be­mäch­tigt, nach­dem ich mich zu­erst vor­sich­tig ver­ge­wis­sert hat­te, dass er Bil­der ent­hal­te. Ich stieg auf den Sitz in der Fens­ter­ver­tie­fung, zog die Füße nach und kreuz­te die Bei­ne wie ein Tür­ke; dann zog ich die dun­kel­ro­ten Moi­ree-Vor­hän­ge fest zu­sam­men und saß so in ei­nem dop­pel­ten Ver­steck.

Schar­lach­ro­te Dra­pe­ri­en schlos­sen mir die Aus­sicht zur rech­ten Hand; links be­fan­den sich die großen, kla­ren Fens­ter­schei­ben, die mich vor dem düs­tern No­vem­ber­tag wohl schütz­ten, mich aber nicht von ihm trenn­ten. In kur­z­en Zwi­schen­räu­men, wenn ich die Blät­ter mei­nes Bu­ches wen­de­te, fiel mein Blick auf das Bild die­ses win­ter­li­chen Nach­mit­tags. In der Fer­ne war nichts als ein blas­ser, lee­rer Ne­bel, Wol­ken; im Vor­der­grun­de der feuch­te, freie Platz vor dem Hau­se, vom Win­de ent­laub­te Ge­sträu­che, und ein un­auf­hör­li­cher vom Sturm wild­ge­peitsch­ter Re­gen.

Ich kehr­te zu mei­nem Bu­che zu­rück – Be­wicks Ge­schich­te von Eng­lands ge­fie­der­ten Be­woh­nern; im All­ge­mei­nen küm­mer­te ich mich we­nig um den ge­druck­ten Text des Wer­kes, und doch wa­ren da ei­ni­ge ein­lei­ten­de Sei­ten, wel­che ich, ob­gleich nur ein Kind, nicht gänz­lich über­ge­hen konn­te. Es wa­ren jene, die von den Ver­ste­cken der See­vö­gel han­del­ten, von je­nen ein­sa­men Fel­sen und Klip­pen, wel­che nur sie al­lein be­woh­nen, von der Küs­te Nor­we­gens, die von ih­rer äu­ßers­ten süd­li­chen Spit­ze, dem Lin­des­näs bis zum Nord­kap mit In­seln be­sä­et ist.

Wo der nörd­li­che Ozean, in wil­dem Wir­bel Um die nack­ten, öden In­seln tobt Des ul­ti­ma Thu­le; und das at­lan­ti­sche Meer Sich stür­misch zwi­schen die He­bri­den wälzt.

Auch konn­te ich nicht un­be­ach­tet las­sen, was dort stand von den düs­te­ren Küs­ten Lap­p­lands, Si­bi­ri­ens, Spitz­ber­gens, No­va­zem­blas, Is­lands, Grön­lands, mit dem wei­ten Be­reich der ark­ti­schen Zone und je­nen ein­sa­men Re­gio­nen des öden Raums – je­nem Re­ser­voir von Eis und Schnee, wo fest ge­fro­re­ne Fel­der – die An­häu­fung von Jahr­hun­der­ten von Win­tern – al­pi­ne Hö­hen auf Hö­hen er­fro­ren, den Nord­pol um­ge­ben und die ver­viel­fach­te Stren­ge der äu­ßers­ten Käl­te kon­zen­trie­ren. Von die­sen to­des­wei­ßen Re­gio­nen mach­te ich mir mei­nen ei­ge­nen Be­griff: schat­ten­haft, wie all jene nur halb ver­stan­de­nen Ge­dan­ken, die ei­nes Kin­des Hirn kreu­zen, aber einen selt­sam tie­fen Ein­druck hin­ter­las­send. Die Wor­te die­ser ein­lei­ten­den Sei­ten ver­ban­den sich mit den dar­auf fol­gen­den Vig­net­ten und ga­ben al­len eine Be­deu­tung: je­nem Fel­sen, der aus ei­nem Meer von Wel­len und Wo­gen­schaum em­por­rag­te; dem zer­trüm­mer­ten Boo­te, das an trau­rig wüs­ter Küs­te ge­stran­det; dem kal­ten, geis­ter­haf­ten Mon­de, der durch düs­te­re Wol­ken­mas­sen auf ein sin­ken­des Wrack her­abblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit wel­chem Emp­fin­den ich auf den stil­len, ein­sa­men Fried­hof mit sei­nem be­schrie­be­nen Lei­chen­stein sah, auf je­nes Tor, die bei­den Bäu­me, den nied­ri­gen Ho­ri­zont, der durch eine zer­fal­le­ne Mau­er be­grenzt war, auf die schma­le Mon­des­si­chel, de­ren Auf­gang die Stun­de der Abend­flut be­zeich­ne­te.

Die bei­den Schif­fe, wel­che auf re­gungs­lo­ser See von ei­ner Wind­stil­le be­fal­len wer­den, hielt ich für Meer­ge­spens­ter.

Über den Un­hold, wel­cher das Bün­del des Die­bes auf des­sen Rücken fest band, eil­te ich flüch­tig hin­weg; er war ein Ge­gen­stand des Schre­ckens für mich.

Und ein glei­ches Ent­set­zen flö­ßte mir das schwar­ze, ge­hörn­te Et­was ein, das hoch auf ei­nem Fel­sen saß und in wei­ter Fer­ne eine Men­schen­mas­se be­ob­ach­te­te, die einen Gal­gen um­gab.

Je­des Bild er­zähl­te eine Ge­schich­te: oft war die­se für mei­nen un­ent­wi­ckel­ten Ver­stand ge­heim­nis­voll, mei­nem un­be­stimm­ten Emp­fin­den un­ver­ständ­lich, – stets aber flö­ßte sie mir das tiefs­te In­ter­es­se ein: das­sel­be In­ter­es­se, mit wel­chem ich den Er­zäh­lun­gen Bes­sie’s horch­te, wenn sie zu­wei­len an Win­ter­aben­den in gu­ter Lau­ne war; dann pfleg­te sie ih­ren Plätt­tisch an das Ka­min­feu­er der Kin­der­stu­be zu brin­gen, er­laub­te uns, un­se­re Stüh­le an den­sel­ben zu rücken, und wäh­rend sie dann Mrs. Reeds Spit­zen­vo­lants bü­gel­te und die Spit­zen ih­rer Nacht­hau­ben kräu­sel­te, er­götz­te sie un­se­re Ohren mit Er­zäh­lun­gen von Lie­bes­gram und Aben­teu­ern aus al­ten Mär­chen und noch äl­te­ren Bal­la­den, oder – wie ich erst viel spä­ter ent­deck­te – aus den Blät­tern von Pa­me­la, und Hen­ry, Graf von Mo­re­land.

Mit Be­wick auf mei­nen Kni­en war ich da­mals glück­lich: glück­lich we­nigs­tens auf mei­ne Art. Ich fürch­te­te nichts als eine Un­ter­bre­chung, eine Stö­rung – und die­se kam nur zu bald. Die Tür zum Früh­stücks­zim­mer wur­de ge­öff­net.

»Bah, Frau Träu­me­rin!« er­tön­te John Reeds Stim­me; dann hielt er inne; au­gen­schein­lich war er er­staunt, das Zim­mer leer zu fin­den.

»Wo zum Teu­fel ist sie denn?« fuhr er fort, »Liz­zy! Ge­or­gy!« rief er sei­nen Schwes­tern zu, »Joan ist nicht hier. Sagt doch Mama, dass sie in den Re­gen hin­aus ge­lau­fen ist – das böse Tier!«

»Wie gut, dass ich den Vor­hang zu­sam­men­ge­zo­gen habe«, dach­te ich; und dann wünsch­te ich in­brüns­tig, dass er mein Ver­steck nicht ent­de­cken möge; John Reed selbst wür­de es auch nie­mals ent­deckt ha­ben; er war lang­sam, so­wohl von Be­grif­fen wie in sei­nem Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen; aber Eli­za steck­te den Kopf zur Tür hin­ein und sag­te so­fort:

»Sie ist ge­wiss wie­der in die Fens­ter­ver­tie­fung ge­kro­chen, sieh nur nach, Jack.«

Ich trat so­fort her­aus, denn ich zit­ter­te bei dem Ge­dan­ken, dass der er­wähn­te Jack mich her­vor­zer­ren wür­de.

»Da bin ich, was wünscht Ihr?« frag­te ich mit schlecht er­heu­chel­ter Gleich­gül­tig­keit.

»Sag: was wün­schen Sie, Mr. Reed«, lau­te­te sei­ne Ant­wort. »Ich will, dass du hier­her kommst«, und in­dem er in ei­nem Lehn­stuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Ges­te zu ver­ste­hen, dass ich nä­her kom­men und vor ihn tre­ten sol­le.

John Reed war ein Schul­jun­ge von vier­zehn Jah­ren; vier Jah­re äl­ter als ich, denn ich war erst zehn Jahr alt; groß und stark für sein Al­ter, mit ei­ner un­rei­nen, un­ge­sun­den Haut­far­be; große Züge in ei­nem brei­ten Ge­sicht, schwer­fäl­li­ge Glied­ma­ßen und große Hän­de und Füße. Ge­wöhn­lich pfleg­te er sich bei Ti­sche so voll­zupfrop­fen, dass er gal­lig wur­de; das mach­te sei­ne Au­gen trü­be und sei­ne Wan­gen schlaff. Ei­gent­lich hät­te er jetzt in der Schu­le sein müs­sen, aber sei­ne Mama hat­te ihn für ein bis zwei Mo­na­te nach Hau­se ge­holt »sei­ner zar­ten Ge­sund­heit we­gen«. Mr. Mi­les, der Di­rek­tor der Schu­le ver­si­cher­te, dass es ihm au­ßer­or­dent­lich gut ge­hen wür­de, wenn man ihm nur we­ni­ger Ku­chen und Lecker­bis­sen von Hau­se schi­cken woll­te; aber das Herz der Mut­ter em­pör­te sich bei ei­ner so roh aus­ge­spro­che­nen Mei­nung und neig­te mehr zu der fei­ne­ren und zar­te­ren An­sicht, dass Johns blass­gel­be Far­be von Übe­r­an­stren­gung beim Ler­nen und viel­leicht auch von Heim­weh her­rüh­re. –

John heg­te we­nig Lie­be für sei­ne Mut­ter und sei­ne Schwes­tern, und eine star­ke An­ti­pa­thie ge­gen mich. Er quäl­te und be­straf­te mich; nicht zwei- oder drei­mal in der Wo­che, nicht ein- oder zwei­mal am Tage, son­dern fort­wäh­rend und un­auf­hör­lich; je­der Nerv in mir fürch­te­te ihn, und je­der Zoll­breit Fleisch auf mei­nen Kno­chen schau­der­te und zuck­te, wenn er in mei­ne Nähe kam. Es gab Au­gen­bli­cke, wo der Schre­cken, den er mir ein­flö­ßte, mich ganz be­sin­nungs­los mach­te; denn ich hat­te nie­man­den, der mich ge­gen sei­ne Dro­hun­gen und sei­ne Tät­lich­kei­ten ver­tei­dig­te; die Die­ner­schaft wag­te es nicht, ih­ren jun­gen Her­ren zu be­lei­di­gen, in­dem sie für mich ge­gen ihn Par­tei er­griff, und Mrs. Reed war in die­sem Punk­te blind und taub: sie sah nie­mals, wenn er mich schlug, sie hör­te nie­mals, wenn er mich be­schimpf­te, ob­gleich er bei­des gar oft in ih­rer Ge­gen­wart tat: häu­fi­ger zwar noch hin­ter ih­rem Rücken.

Aus Ge­wohn­heit ge­horch­te ich John auch die­ses Mal und nä­her­te mich sei­nem Stuhl: un­ge­fähr zwei bis drei Mi­nu­ten brach­te er da­mit zu, mir sei­ne Zun­ge so weit ent­ge­gen­zu­stre­cken, wie er es ohne Ge­fahr für sei­ne Zun­gen­bän­der be­werk­stel­li­gen konn­te; ich fühl­te, dass er mich jetzt gleich schla­gen wür­de, und ob­gleich ich eine töd­li­che Angst vor dem Schla­ge emp­fand, ver­moch­te ich doch über die ekel­er­re­gen­de und häss­li­che Er­schei­nung des Bur­schen, der den­sel­ben aus­tei­len wür­de, mei­ne Be­trach­tun­gen an­zu­stel­len. Ich weiß nicht, ob er die­se Ge­dan­ken auf mei­nem Ge­sich­te las, denn plötz­lich, ohne ein Wort zu sa­gen, schlug er hef­tig und bru­tal auf mich los. Ich tau­mel­te; dann ge­wann ich das Gleich­ge­wicht wie­der und trat ei­ni­ge Schrit­te von sei­nem Stuhl zu­rück.

»Das ist für die Frech­heit, dass du vor ei­ner Wei­le ge­wagt hast, Mama eine Ant­wort zu ge­ben«, sag­te er, »und dass du ge­wagt hast, dich hin­ter den Vor­hang zu ver­krie­chen, und für den Blick, den ich vor zwei Mi­nu­ten in dei­nen Au­gen ge­wahr­te, du Rat­ze, du!«

An Johns Be­schimp­fun­gen ge­wöhnt, fiel es mir nie­mals ein, ir­gend et­was auf die­sel­ben zu er­wi­dern; ich dach­te nur dar­an, wie ich den Schlag er­tra­gen soll­te, der un­fehl­bar auf die Schimpf­wor­te fol­gen wür­de.

»Was hast du da hin­ter dem Vor­hange ge­macht?« frag­te er wei­ter.

»Ich habe ge­le­sen.«

»Zei­ge mir das Buch.«

Ich ging an das Fens­ter zu­rück und hol­te es von dort.

»Du hast kein Recht, un­se­re Bü­cher zu neh­men; du bist eine Un­ter­ge­be­ne, hat Mama ge­sagt; du hast kein Geld; dein Va­ter hat dir keins hin­ter­las­sen; ei­gent­lich soll­test du bet­teln und hier nicht mit den Kin­dern ei­nes Gent­le­man, wie wir es sind, zu­sam­men le­ben, und die­sel­ben Mahl­zei­ten es­sen wie wir, und Klei­der tra­gen, die un­se­re Mama dir kau­fen muss. Nun, ich wer­de dich leh­ren, zwi­schen mei­nen Bü­chern um­her­zu­stö­bern, denn sie ge­hö­ren mir, und das gan­ze Haus ge­hört mir, oder wird mir we­nigs­tens in ei­ni­gen Jah­ren ge­hö­ren. Geh und stell dich an die Tür; nicht vor den Spie­gel oder die Fens­ter.«

Ich tat, wie mir ge­hei­ßen, ohne eine Ah­nung von sei­ner Ab­sicht zu ha­ben; als ich aber ge­wahr­te, dass er das Buch em­por­hob und mit dem­sel­ben ziel­te, sprang ich in­stink­tiv zur Sei­te und stieß einen Schre­ckens­schrei aus; je­doch nicht schnell ge­nug; das Buch wur­de ge­schleu­dert, es traf mich, und ich fiel, in­dem ich mit dem Kopf ge­gen die Tür schlug und mich ver­letz­te. Die Wun­de blu­te­te, der Schmerz war hef­tig; mein Ent­set­zen war über den Hö­he­punkt hin­aus­ge­gan­gen; an­de­re Emp­fin­dun­gen be­mäch­tig­ten sich mei­ner.

»Du bö­ser, grau­sa­mer Bube!« schrie ich. »Du bist wie ein Mör­der – du bist wie ein Skla­ven­trei­ber – du bist wie die rö­mi­schen Kai­ser!«

Ich hat­te Golds­mit­hs Ge­schich­te Roms ge­le­sen und mir mei­ne ei­ge­ne An­sicht über Nero, Ca­li­gu­la und an­de­re ge­bil­det. Im Stil­len hat­te ich Ver­glei­che ge­zo­gen, wel­che laut zu äu­ßern al­ler­dings nie­mals mei­ne Ab­sicht ge­we­sen.

»Was! Was!« schrie er. »Hat sie das zu mir ge­sagt? Habt ihr es ge­hört, Eli­za und Ge­or­gi­na? Das will ich der Mama er­zäh­len! – Aber erst noch …«

Er stürz­te auf mich zu: ich fühl­te, wie er mein Haar und mei­ne Schul­ter fass­te; er kämpf­te mit ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­schöp­fe. Ich sah wirk­lich in ihm einen Ty­ran­nen, – einen Mör­der. Dann fühl­te ich, wie ein­zel­ne Bluts­trop­fen von mei­nem Kop­fe auf den Hals her­ab­fie­len, und emp­fand einen ste­chen­den Schmerz: die­se Emp­fin­dun­gen sieg­ten für den Au­gen­blick über die Furcht und ich trat ihm in wahn­sin­ni­ger Wut ent­ge­gen. Was ich mit mei­nen Hän­den tat, kann ich jetzt nicht mehr sa­gen, aber er schrie fort­wäh­rend »Rat­ze! Rat­ze!« und brüll­te aus Lei­bes­kräf­ten. Hil­fe war ihm nahe: Eli­za und Ge­or­gi­na wa­ren ge­lau­fen, um Mrs. Reed zu ho­len, die nach oben ge­gan­gen war. Jetzt er­schi­en sie auf der Sze­ne, und ihr folg­ten Bes­sie und ihre Kam­mer­jung­fer Ab­bot. Man trenn­te uns: dann ver­nahm ich die Wor­te:

»Du lie­be Zeit! Du lie­be Zeit! Welch eine Fu­rie, so auf Mr. John los­zu­stür­zen!«

»Hat man je­mals ein so lei­den­schaft­li­ches Ge­schöpf ge­se­hen!« –

Dann füg­te Mrs. Reed hin­zu:

»Führt sie in das rote Zim­mer und schließt sie dort ein.« Vier Hän­de be­mäch­tig­ten sich mei­ner so­fort und man trug mich nach oben.

Zweites Kapitel

Auf dem gan­zen Wege leis­te­te ich Wi­der­stand; dies war et­was Neu­es und ein Um­stand, der viel dazu bei­trug, Bes­sie und Miss Ab­bot in der schlech­ten Mei­nung zu be­stär­ken, wel­che die­se oh­ne­hin schon von mir heg­ten. Tat­sa­che ist, dass ich voll­stän­dig au­ßer mir war, wie die Fran­zo­sen zu sa­gen pfle­gen; ich wuss­te sehr wohl, dass die Em­pö­rung die­ses einen Au­gen­blicks mir schon au­ßer­ge­wöhn­li­che Stra­fen zu­ge­zo­gen ha­ben muss­te, und wie vie­le an­de­re re­bel­li­sche Skla­ven war ich in mei­ner Verzweif­lung fest ent­schlos­sen, bis ans Äu­ßers­te zu ge­hen.

»Hal­ten Sie ihre Arme, Miss Ab­bot; sie ist wie eine wil­de Kat­ze.«

»Schä­men Sie sich! Schä­men Sie sich!« rief die Kam­mer­jung­fer. »Welch ein ab­scheu­li­ches Be­tra­gen, Miss Eyre, einen jun­gen Gent­le­man zu schla­gen! Den Sohn Ih­rer Wohl­tä­te­rin! Ihren jun­gen Herrn!«

»Herr! Wie ist er mein Herr? Bin ich denn eine Die­ne­rin?«

»Nein. Sie sind we­ni­ger als eine Die­ne­rin, denn Sie tun nichts, Sie ar­bei­ten nicht für Ihren Un­ter­halt. Da! Set­zen Sie sich und den­ken Sie über Ihre Schlech­tig­keit und Bos­heit nach!«

In­zwi­schen hat­ten sie mich in das von Mrs. Reed be­zeich­ne­te Ge­mach ge­bracht und mich auf einen Stuhl ge­wor­fen; mein ers­ter Im­puls war, wie eine Sprung­fe­der wie­der von dem­sel­ben em­por zu schnel­len; vier Hän­de hiel­ten mich je­doch au­gen­blick­lich wie­der wie mit ei­ser­nen Klam­mern.

»Wenn Sie nicht still sit­zen, wer­den wir Sie fest­bin­den«, sag­te Bes­sie. »Miss Ab­bot, bor­gen Sie mir Ihre Strumpf­bän­der; die mei­nen wür­de sie au­gen­blick­lich zer­rei­ßen.«

Miss Ab­bot wand­te sich ab, um ein star­kes Bein von den not­wen­di­gen Ban­den zu be­frei­en. Die­se Vor­be­rei­tun­gen, um mir Fes­seln an­zu­le­gen, und die neue Schan­de, die dies für mich be­deu­te­te, diente dazu, mei­ne Auf­re­gung ein we­nig zu min­dern.

»Neh­men Sie sie nicht ab«, schrie ich, »ich wer­de ganz still sit­zen.«

Um ih­nen für dies Ver­spre­chen eine Ga­ran­tie zu bie­ten, hielt ich mich mit bei­den Hän­den an mei­nem Sitz fest.

»Das möch­te ich Ih­nen auch ra­ten«, sag­te Bes­sie; und als sie sich über­zeugt hat­te, dass ich wirk­lich an­fing, mich zu be­ru­hi­gen, ließ sie mich los; dann stell­ten sie und Miss Ab­bot sich mit ge­kreuz­ten Ar­men vor mich und blick­ten fins­ter und zwei­felnd in mein Ge­sicht, als glaub­ten sie nicht an mei­nen ge­sun­den Ver­stand.

»Das hat sie bis jetzt noch nie­mals ge­tan«, sag­te end­lich Bes­sie zu Abi­gail ge­wen­det.

»Aber es hat schon lan­ge in ihr ge­steckt«, lau­te­te die Ant­wort. »Ich habe der gnä­di­gen Frau schon oft mei­ne Mei­nung über das Kind ge­sagt, und sie hat mir auch bei­ge­stimmt. Sie ist ein ver­steck­tes, klei­nes Ding: ich habe noch nie ein Mäd­chen in ih­rem Al­ter ge­se­hen, das so schlau wäre.«

Bes­sie ant­wor­te­te nicht; nach ei­ner Wei­le wand­te sie sich zu mir und sag­te:

»Fräu­lein, Sie soll­ten doch wis­sen, dass Sie Mrs. Reed ver­pflich­tet sind, sie er­hält Sie. Wenn sie Sie fort­schick­te, so müss­ten Sie ins Ar­men­haus ge­hen.«

Auf die­se Wor­te fand ich nichts zu er­wi­dern; sie wa­ren mir nicht mehr neu; so weit ich in mei­nem Le­ben zu­rück­den­ken konn­te, hat­te ich Win­ke des­sel­ben In­halts ge­hört. Die­ser Vor­wurf mei­ner Ab­hän­gig­keit war in mei­nen Ohren fast zum lee­ren, be­deu­tungs­lo­sen Sings­ang ge­wor­den, sehr schmerz­lich und be­drückend, aber nur halb ver­ständ­lich. Nun fiel auch Miss Ab­bot ein:

»Und Sie soll­ten auch nicht den­ken, dass Sie mit den Fräu­lein Reed und Mr. Reed auf glei­cher Stu­fe ste­hen, weil Mrs. Reed Ih­nen gü­tig er­laubt, mit ih­ren Kin­dern er­zo­gen zu wer­den. Die­se wer­den ein­mal ein großes Ver­mö­gen ha­ben, und Sie sind arm. Sie müs­sen de­mü­tig und be­schei­den sein und ver­su­chen, sich den an­de­ren an­ge­nehm zu ma­chen.«

»Was wir Ih­nen sa­gen, ist zu Ihrem Bes­ten«, füg­te Bes­sie hin­zu, ohne in har­tem Ton zu re­den, »Sie soll­ten ver­su­chen, sich nütz­lich und an­ge­nehm zu ma­chen, dann wür­den Sie hier viel­leicht eine Hei­mat fin­den; wenn Sie aber hef­tig und roh und un­ge­zo­gen wer­den, so wird Mrs. Reed Sie fort­schi­cken, da­von bin ich fest über­zeugt.«

»Au­ßer­dem«, sag­te Miss Ab­bot, »wird Gott Sie stra­fen. Er könn­te Sie mit­ten in Ihrem Trotz tot zu Bo­den fal­len las­sen, und wo­hin kämen Sie dann? Kom­men Sie, Bes­sie, wir wol­len sie al­lein las­sen: um kei­nen Preis der Welt möch­te ich ihr Herz ha­ben. Sa­gen Sie Ihr Ge­bet, Miss Eyre, wenn Sie al­lein sind; denn wenn Sie nicht be­reu­en, könn­te et­was Schreck­li­ches durch den Ka­min her­un­ter­kom­men und Sie ho­len.«

Sie gin­gen und schlos­sen die Tür hin­ter sich ab.

Das rote Zim­mer war ein Frem­den­zim­mer, in dem nur sel­ten je­mand schlief; ich könn­te bei­na­he sa­gen nie­mals oder nur dann, wenn ein zu­fäl­li­ger Zu­sam­men­fluss von Be­su­chern auf Ga­tes­head-Hall es not­wen­dig mach­te, alle Räum­lich­kei­ten des Hau­ses nutz­bar zu ma­chen. Und doch war es eins der schöns­ten und präch­tigs­ten Ge­mä­cher im Her­ren­hau­se. Wie ein Ta­ber­na­kel stand im Mit­tel­punkt des­sel­ben ein Bett von mas­si­ven Ma­ha­go­nipfei­lern ge­tra­gen und mit Vor­hän­gen von dun­kel­ro­tem Da­mast be­hängt; die bei­den großen Fens­ter, de­ren Rou­leaux im­mer her­ab­ge­las­sen wa­ren, wur­den durch Ge­hän­ge und Fal­ten­dra­pe­ri­en vom sel­ben Stof­fe halb ver­hüllt; der Tep­pich war rot; der Tisch am Fu­ßen­de des Bet­tes war mit ei­ner hoch­ro­ten De­cke be­legt; die Wän­de wa­ren mit ei­nem Stof­fe be­hängt, der auf licht­brau­nem Grun­de ein zar­tes rosa Mus­ter trug; die Gar­de­ro­be, der Toi­let­te­tisch, die Stüh­le wa­ren aus dunklem, po­lier­tem Ma­ha­go­ni an­ge­fer­tigt. Aus die­sen düs­te­ren Schat­ten er­ho­ben sich weiß und hoch und glän­zend die auf­ge­häuf­ten Ma­trat­zen und Kopf­kis­sen des Bet­tes, über die eine schnee­wei­ße De­cke ge­brei­tet war. Eben so un­heim­lich stach ein großer, ge­pols­ter­ter, eben­falls wei­ßer Lehn­stuhl her­vor, der am Kop­fen­de des Bet­tes stand und vor dem sich ein Fuß­sche­mel be­fand; da­mals er­schi­en er mir wie ein geis­ter­haf­ter Thron.

Das Zim­mer war dumpf, weil nur sel­ten ein Feu­er in dem­sel­ben an­ge­zün­det wur­de; es war still, weil es weit von der Kin­der­stu­be und den Kü­chen ent­fernt lag; un­heim­lich, weil ich wuss­te, dass fast nie­mals je­mand das­sel­be be­trat. Nur am Sonn­abend kam das Haus­mäd­chen hier­her, um den stil­len Staub ei­ner Wo­che von den Mö­beln und den Spie­geln zu wi­schen; und in lan­gen Zwi­schen­räu­men kam auch Mrs. Reed hier­her, um den In­halt ei­ner ge­wis­sen Schieb­la­de zu re­vi­die­ren, in wel­cher sich ver­schie­de­ne Ur­kun­den, ihre Ju­we­len­scha­tul­le und ein Mi­nia­tur­bild ih­res ver­stor­be­nen Gat­ten be­fand. In die­sen letz­ten Wor­ten liegt das Ge­heim­nis des ro­ten Zim­mers, der Zau­ber­bann, wes­halb es trotz sei­ner Pracht so ein­sam und ver­las­sen war.

Mr. Reed war seit neun Jah­ren tot; in die­sem Ge­ma­che hat­te er sei­nen letz­ten Atem­zug ge­tan; hier lag er auf­ge­bahrt; von hier hat­ten die Lei­chen­trä­ger ihn hin­aus­ge­tra­gen – und seit je­nem Tage hat­te ein Ge­fühl trau­ri­ger Wei­he je­den un­be­ru­fe­nen Be­su­cher von sei­ner Schwel­le fern ge­hal­ten.

Der Sitz, auf wel­chen Bes­sie und die bit­ter­bö­se Miss Ab­bot mich ge­bannt hat­ten, war eine nied­ri­ge Ot­to­ma­ne, wel­che nahe dem wei­ßen Mar­mor­ka­min stand; das Bett türm­te sich vor mir auf; zu mei­ner Rech­ten be­fand sich ein ho­her dunk­ler Gar­de­ro­ben­schrank, auf des­sen Ta­fel­werk sich die lei­sen, düs­te­ren Lich­ter bra­chen; zu mei­ner Lin­ken wa­ren die ver­häng­ten Fens­ter; ein großer Spie­gel zwi­schen den­sel­ben wie­der­hol­te die to­tes­s­til­le Ma­je­stät des Bet­tes und des Zim­mers. Ich war nicht ganz si­cher, ob sie die Tür zu­ge­schlos­sen hat­ten; und als ich wie­der Mut ge­nug hat­te, um mich zu be­we­gen, stand ich auf und ging um nach­zu­se­hen. Ach ja! Kei­ne Ker­ker­tür war je­mals si­che­rer ver­schlos­sen! Als ich wie­der an die Ot­to­ma­ne zu­rück­ging, muss­te ich an dem Spie­gel vor­über, mein ge­bann­ter Blick bohr­te sich un­will­kür­lich in die Tie­fe des­sel­ben ein. In ihm sah al­les noch küh­ler und hoh­ler und düs­te­rer aus als in Wirk­lich­keit, und die selt­sa­me, klei­ne Ge­stalt, die mir aus ihm ent­ge­gen­blick­te, mit weißem Ge­sicht und Ar­men, die grell aus der Dun­kel­heit her­vor­leuch­te­ten, mit Au­gen, die vor Furcht hin- und her­roll­ten, wo sonst al­les be­we­gungs­los war – die­se klei­ne Ge­stalt sah aus, wie ein wirk­li­ches Ge­s­penst; ich dach­te an eins je­ner zar­ten Phan­to­me, halb Elfe, halb Ko­bold, wie sie in Bes­sies Däm­mer­stun­den-Ge­schich­ten aus ein­sa­men, wil­den Schluch­ten und düs­te­ren Moo­ren her­vor­ka­men und sich dem Auge des nächt­li­chen Wan­de­rers zeig­ten. Ich kehr­te auf mei­nen Sitz zu­rück.

In die­sem Au­gen­blick be­mäch­tig­te der Aber­glau­be sich mei­ner, aber die Stun­de sei­nes voll­stän­di­gen Sie­ges über mich war noch nicht ge­kom­men: mein Blut war noch warm; die Wut des em­pör­ten Skla­ven er­hitz­te mich noch mit ih­rer gan­zen Bit­ter­keit; ich hat­te noch einen wil­den Strom von Ge­dan­ken an die Ver­gan­gen­heit zu bän­di­gen, be­vor ich mich ganz dem Jam­mer über die trost­lo­se Ge­gen­wart hin­ge­ben konn­te.

Wie der schmut­zi­ge Bo­den­satz aus ei­nem trü­ben Brun­nen, so stieg aus mei­nem be­weg­ten, auf­ge­reg­tem Ge­müt al­les an die Ober­flä­che mei­nes Emp­fin­dens: John Reeds wil­de Ty­ran­nei, die hoch­mü­ti­ge Gleich­gül­tig­keit sei­ner Schwes­tern, die Ab­nei­gung sei­ner Mut­ter, die Par­tei­lich­keit der Dienst­bo­ten! Wes­halb muss­te ich stets lei­den, stets mit ver­ächt­li­chen Bli­cken an­ge­se­hen wer­den, im­mer be­schul­digt, im­mer ver­ur­teilt wer­den? Wes­halb konn­te ich nie­mals et­was recht ma­chen? Wes­halb war es im­mer nutz­los, wenn ich ver­such­te, ir­gend ei­nes Men­schen Gunst zu er­rin­gen? Man hat­te Ach­tung vor Eli­za, die doch so ei­gen­sin­nig und selbst­süch­tig war. Je­der­mann hat­te Nach­sicht mit Ge­or­gi­na, die stets übel­ge­launt und trot­zig und frech war. Ihre Schön­heit, ihre ro­si­gen Wan­gen und gol­di­gen Lo­cken schie­nen je­den zu ent­zücken, der sie an­blick­te und ihr Ver­ge­bung für all ihre Män­gel und Feh­ler zu er­kau­fen. John wur­de nie­mals be­straft, nie­mand wi­der­sprach ihm je­mals, ob­gleich er den Tau­ben die Häl­se um­dreh­te, die jun­gen Hüh­ner um­brach­te, die Hun­de auf die Scha­fe hetz­te, den Wein­stock im Treib­hau­se sei­ner Trau­ben be­raub­te und von den sel­tens­ten Pflan­zen die Knos­pen ab­riss; er nann­te sei­ne Mut­ter so­gar »lie­be Alte«; nahm durch­aus kei­ne Rück­sicht auf ihre Wün­sche; zer­riss und be­schmutz­te ihre sei­de­nen Klei­der nicht sel­ten, – und doch war er »ihr ein­zi­ger Lieb­ling«. Ich wag­te nie­mals, einen Feh­ler zu be­ge­hen; ich be­müh­te mich stets, mei­ne Pf­licht zu tun, und mich nann­te man un­ar­tig und un­er­träg­lich, mür­risch und hin­ter­lis­tig, vom Mor­gen bis zum Mit­tag, vom Mit­tag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerz­te noch und blu­te­te nach dem er­hal­te­nen Schla­ge und dem Fal­le, wel­chen ich ge­tan; nie­mand hat­te John einen Ver­weis er­teilt, weil er mich grund­los ge­schla­gen; aber weil ich mich ge­gen ihn auf­ge­lehnt hat­te, um sei­ner wei­te­ren un­ver­nünf­ti­gen, be­sin­nungs­lo­sen Hef­tig­keit zu ent­ge­hen, hat­ten alle mich mit den lau­tes­ten Schmä­hun­gen über­häuft.

»Un­ge­recht! – un­ge­recht!« sag­te mei­ne Ver­nunft, wel­cher die fort­wäh­ren­de, qual­vol­le Auf­rei­zung eine früh­zei­ti­ge, wenn auch vor­über­ge­hen­de Kraft ver­lie­hen hat­te; und die Ent­schlos­sen­heit, wel­che auch ge­weckt war, ließ mich al­ler­hand Mit­tel er­sin­nen, um eine Flucht aus die­sem schier un­er­träg­lich ge­wor­de­nen Dru­cke zu be­werk­stel­li­gen – ich dach­te dar­an, auf und da­von zu lau­fen, oder wenn dies nicht mög­lich, we­nigs­tens nie­mals wie­der Spei­se und Trank zu mir zu neh­men und auf die­se Wei­se zu Tode zu hun­gern.

Wie be­stürzt war mei­ne See­le an die­sem trau­ri­gen Nach­mit­tag! Wie er­regt war mein Ge­müt, wie furcht­bar em­pört mein Herz! Aber in wel­cher Düs­ter­heit, wel­cher Ver­blen­dung, wel­cher un­glaub­li­chen Un­wis­sen­heit wur­de die­ser See­len­kampf aus­ge­kämpft! Ich hat­te kei­ne Ant­wort auf die sich mir un­auf­hör­lich auf­drän­gen­de Fra­ge, wes­halb ich so viel lei­den muss­te. Jetzt nach Ver­lauf von – nein, ich will nicht sa­gen, von wie vie­len Jah­ren – habe ich die Ant­wort ge­fun­den!

Ich war ein Miss­ton in Ga­tes­head-Hall. Ich war ein Nichts an die­sem Orte; ich hat­te k­ei­ne Ge­mein­schaft mit Mrs. Reed oder ih­ren Kin­dern oder ih­ren be­zahl­ten Va­sal­len. Sie lieb­ten mich nicht, und in der Tat, ich lieb­te sie eben­so­we­nig. Es war auch nicht ihre Pf­licht, mit Lie­be auf ein Ge­schöpf zu bli­cken, wel­ches mit kei­ner ein­zi­gen See­le sym­pa­thi­sie­ren konn­te; ein he­te­ro­ge­nes Ge­schöpf, wel­ches ihr di­rek­tes Ge­gen­teil in Tem­pe­ra­ment, in Fä­hig­kei­ten und Nei­gun­gen war; ein nutz­lo­ses Ge­schöpf, wel­ches ih­rem In­ter­es­se nicht die­nen, zu ih­rem Ver­gnü­gen nichts bei­tra­gen konn­te; ein straf­ba­res Ge­schöpf, wel­ches die Kei­me der Em­pö­rung über die ihm wi­der­fah­ren­de Be­hand­lung in sich nähr­te, ein Ge­schöpf, das die tiefs­te Ver­ach­tung für ih­ren Ver­stand, ihr Ur­teils­ver­mö­gen nähr­te. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein san­gui­ni­sches, geist­rei­ches, her­ri­sches, schö­nes, wil­des Kind ge­we­sen wäre – wenn auch eben­so ab­hän­gig und freund­los – so wür­de Mrs. Reed mei­ne Ge­gen­wart in lie­bens­wür­di­ge­rer Wei­se er­tra­gen ha­ben; ihre Kin­der hät­ten für mich ein freund­li­che­res Ge­fühl der Ge­mein­sam­keit ge­hegt; die Dienst­bo­ten wä­ren we­ni­ger ge­neigt ge­we­sen, mich zum Sün­den­bock der Kin­der­stu­be zu ma­chen.

Das Ta­ges­licht be­gann aus dem ro­ten Zim­mer zu schwin­den; es war nach vier Uhr, und auf den be­wölk­ten Nach­mit­tag folg­te die trü­be Däm­me­rung. Ich hör­te, wie der Re­gen noch un­auf­hör­lich ge­gen das Fens­ter der Trep­pe schlug, wie der Wind in den Laub­gän­gen hin­ter dem Her­ren­hau­se heul­te; nach und nach wur­de ich so kalt wie Mar­mor, und dann be­gann mein Mut zu sin­ken. Die ge­wöhn­li­che Stim­mung des Ge­de­mü­tigt­seins, Zwei­fel an mir selbst, hilflo­se Trau­rig­keit be­mäch­tig­ten sich mei­ner und fie­len dämp­fend auf die Asche mei­ner da­hin­schwin­den­den Wut. Alle sag­ten ja, dass ich bos­haft sei – viel­leicht war es der Fall, denn hat­te ich nicht so­eben den Ge­dan­ken ge­hegt, mich zu Tode zu hun­gern? Das war doch ge­wiss ein Ver­bre­chen: denn war ich be­reit zu ster­ben? oder war das Ge­wöl­be un­ter der Kan­zel in der Kir­che von Ga­tes­head ein so ein­la­den­des Ende? In die­sem Ge­wöl­be lag Mr. Reed be­gra­ben, wie man mir ge­sagt hat­te; die­ser Ge­dan­ke führ­te mich dazu, sein An­den­ken her­auf zu be­schwö­ren; und mit wach­sen­dem Grau­en ver­weil­te ich bei dem­sel­ben. Ich konn­te mich sei­ner nicht er­in­nern; aber ich wuss­te, dass er mein On­kel ge­we­sen, – der ein­zi­ge Bru­der mei­ner Mut­ter – dass er mich in sein Haus auf­ge­nom­men, als ich ein ar­mes, el­tern­lo­ses Kind ge­we­sen; und dass er noch in sei­nen letz­ten Au­gen­bli­cken Mrs. Reed das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men hat­te, mich wie ihr ei­ge­nes Kind zu er­zie­hen und zu ver­sor­gen. Mrs. Reed war höchst­wahr­schein­lich der Über­zeu­gung, dass sie die­ses Ver­spre­chen ge­hal­ten habe, und so weit ihre Na­tur ihr dies er­laub­te, hat­te sie es auch ge­tan; aber wie soll­te sie denn auch in Wirk­lich­keit für einen Ein­dring­ling Lie­be he­gen, der nicht zu ih­rer Fa­mi­lie ge­hör­te und nach dem Tode ih­res Gat­ten durch kei­ne Ban­de mehr an sie ge­ket­tet war? Es muss­te al­ler­dings är­ger­lich sein, sich durch ein un­ter sol­chen Um­stän­den ge­ge­be­nes Ver­spre­chen ge­nö­tigt zu se­hen, ei­nem frem­den Kin­de, das sie nicht lie­ben konn­te, die El­tern zu er­set­zen, und es er­tra­gen zu müs­sen, dass eine un­sym­pa­thi­sche Frem­de sich un­auf­hör­lich in ih­ren Fa­mi­li­en­kreis dräng­te.

Eine son­der­ba­re Idee be­mäch­tig­te sich mei­ner. Ich zwei­fel­te nicht – hat­te es nie­mals be­zwei­felt – dass Mr. Reed, wenn er am Le­ben ge­blie­ben, mich mit Güte be­han­delt ha­ben wür­de; und jetzt, als ich so da­saß und auf die dunklen Wän­de und das wei­ße Bett blick­te, zu­wei­len auch wie ge­bannt ein Auge auf den trü­be blin­ken­den Spie­gel warf – da be­gann ich mich an das zu er­in­nern, was ich von To­ten ge­hört hat­te, die im Gra­be kei­ne Ruhe fin­den konn­ten, weil man ihre letz­ten Wün­sche un­er­füllt ge­las­sen, und jetzt auf die Erde zu­rück­kehr­ten, um die Mein­ei­di­gen zu stra­fen und die Be­drück­ten zu rä­chen; ich dach­te, wie Mr. Reeds Geist, ge­quält durch das Un­recht, wel­ches man dem Kin­de sei­ner Schwes­ter zu­füg­te, sei­ne Ru­he­stät­te ver­ließ – ent­we­der in dem Ge­wöl­be der Kir­che oder in dem un­be­kann­ten Lan­de der Ab­ge­schie­de­nen – und in die­sem Zim­mer vor mir er­schei­nen kön­ne. Ich trock­ne­te mei­ne Trä­nen und un­ter­drück­te mein Schluch­zen; denn ich fürch­te­te, dass die­se lau­ten Äu­ße­run­gen mei­nes Grams eine über­na­tür­li­che Stim­me zu mei­nem Tros­te er­we­cken oder aus dem mich um­ge­ben­den Dun­kel ein Ant­litz mit ei­nem Hei­li­gen­schein her­vor­leuch­ten las­sen kön­ne, das sich mit wun­der­sa­mem Mit­leid über mich beug­te. Die­ser Ge­dan­ke, der in der Theo­rie viel­leicht ganz trost­reich, wür­de ent­setz­lich sein, wenn er zur Wirk­lich­keit wer­den könn­te, das fühl­te ich: mit al­ler Ge­walt ver­such­te ich, ihn zu un­ter­drücken – ich be­müh­te mich, ru­hig und ge­fasst zu sein. In­dem ich mir das Haar von Stirn und Au­gen strich, er­hob ich den Kopf und ver­such­te in dem dunklen Zim­mer um­her zu bli­cken: in die­sem Au­gen­blick sah ich den Wie­der­schein ei­nes Lich­tes an der Wand! – War es viel­leicht der Mon­dess­trahl, der durch eine Öff­nung in dem Vor­hang drang, frag­te ich mich? Nein, die Mon­dess­trah­len wa­ren ru­hig und dies Licht be­weg­te sich; wäh­rend ich noch hin­blick­te, glitt es zur De­cke hin­auf und er­zit­ter­te über mei­nem Kop­fe. Jetzt kann ich frei­lich be­grei­fen, dass die­ser Licht­strei­fen al­ler Wahr­schein­lich­keit nach der Schim­mer ei­ner La­ter­ne war, wel­che je­mand über den frei­en Platz vor dem Hau­se trug; aber da­mals, mit dem auf Schre­cken und Ent­set­zen vor­be­rei­te­ten Ge­müt, mit mei­nen vor Auf­re­gung be­ben­den Ner­ven, hielt ich den sich schnell be­we­gen­den Strahl für den He­rold ei­ner Er­schei­nung, die aus ei­ner an­de­ren Welt zu mir kam. Mein Herz poch­te laut, mein Kopf wur­de heiß; in mei­nen Ohren spür­te ich ein Brau­sen, das ich für das Rau­schen der Flü­gel hielt; ein Et­was schi­en sich mir zu nä­hern; ich fühl­te mich be­drückt, er­stickt; mein Wi­der­stands­ver­mö­gen gab nach; ich stürz­te auf die Tür zu und rüt­tel­te mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung am Schlos­se. Ei­len­de Schrit­te ka­men durch den äu­ße­ren Kor­ri­dor da­her; der Schlüs­sel wur­de im Schlos­se um­ge­dreht, Bes­sie und Miss Ab­bot tra­ten ein.

»Miss Eyre, sind Sie krank?« frag­te Bes­sie.

»Welch ein fürch­ter­li­cher Lärm! Ich bin ganz au­ßer mir!« rief Ab­bot aus.

»Nehmt mich mit hin­aus! Lasst mich in die Kin­der­stu­be ge­hen!« schrie ich un­un­ter­bro­chen.

»Wes­halb denn? Ist Ih­nen ir­gend et­was ge­sche­hen? Ha­ben Sie et­was ge­se­hen?« frag­te Bes­sie wie­der­um.

»O, ich sah ein Licht und ich mein­te, dass ein Geist kom­men wür­de.« Ich hat­te mich jetzt Bes­sies Hand be­mäch­tigt, und sie ent­wand sie mir nicht.

»Sie hat mit Ab­sicht so ge­schri­en«, er­klär­te Ab­bot mit ei­ni­gem Ab­scheu. »Und welch ein Ge­schrei! Wenn sie große Schmer­zen ge­habt hät­te, so könn­te man es noch ent­schul­di­gen, aber sie woll­te wei­ter nichts, als uns alle her­bei­lo­cken. Ich ken­ne ihre bö­sen Strei­che schon.«

»Was gibt es denn hier?« frag­te eine an­de­re Stim­me ge­bie­te­risch; und Mrs. Reed kam mit flat­tern­den Hau­ben­bän­dern und we­hen­dem Klei­de durch den Kor­ri­dor da­her. »Ab­bot und Bes­sie, ich glau­be, dass ich Be­fehl ge­ge­ben habe, Jane Eyre in dem ro­ten Zim­mer zu las­sen, bis ich selbst sie ho­len wür­de?«

»Miss Jane schrie so laut, Ma­da­me«, wand­te Bes­sie zö­gernd ein.

»Lasst sie los«, war die ein­zi­ge Ant­wort. »Lass Bes­sies Hand los, Kind: ver­lass dich dar­auf, auf die­se Wei­se wirst du nicht hin­aus ge­lan­gen. Ich ver­ab­scheue sol­che List, be­son­ders bei Kin­dern; es ist mei­ne Pf­licht, dir zu be­wei­sen, dass du mit der­ar­ti­gen Rän­ken und Sch­li­chen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine gan­ze Stun­de hier­blei­ben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Ver­spre­chen gibst, voll­kom­men ru­hig und un­ter­wür­fig zu sein.«

»O, Tan­te, hab Er­bar­men! Ver­gib mir doch! Ich kann, ich kann es nicht er­tra­gen. – Be­stra­fe mich doch auf an­de­re Wei­se! Ich kom­me um, wenn …«

»Sei still! Die­se Hef­tig­keit ist ganz wi­der­lich und em­pö­rend!« und ohne Zwei­fel heg­te sie auch Ab­scheu ge­gen mein Be­tra­gen. In ih­ren Au­gen war ich eine früh­rei­fe Schau­spie­le­rin; sie sah in der Tat auf mich wie auf eine Zu­sam­men­set­zung der hef­tigs­ten Lei­den­schaf­ten, ei­nes nied­ri­gen, ge­mei­nen Geis­tes und ge­fähr­li­cher Falsch­heit.

Als Bes­sie und Ab­bot sich zu­rück­ge­zo­gen hat­ten, warf Mrs. Reed, die mei­ner wil­den Angst und mei­nes lau­ten Schluch­zens wohl müde ge­wor­den sein moch­te, mich rasch in das Zim­mer zu­rück und schloss mich ohne wei­te­re Er­klä­run­gen und Wor­te wie­der ein. Ich hör­te noch, wie sie da­von rausch­te; und bald nach­dem sie ge­gan­gen war, muss ich in Krämp­fe ver­fal­len sein: Be­wusst­lo­sig­keit mach­te der Sze­ne ein Ende!

Drittes Kapitel

Dann er­in­ner­te ich mich an nichts mehr. Als ich er­wach­te, war es mit dem Ge­fühl ei­nes schreck­li­chen Alp­drückens, vor mir sah ich eine un­heim­li­che rote Glut, von der sich di­cke, schwar­ze Stan­gen ab­ho­ben. Ich hör­te Stim­men, die hohl an mein Ohr klan­gen, als wür­den sie durch das Rau­schen des Was­sers oder To­ben des Win­des über­tönt. Auf­re­gung, Un­ge­wiss­heit und ein al­les be­herr­schen­des Ge­fühl des Ent­set­zens hielt alle mei­ne Sin­ne ge­fan­gen. Es ver­gin­gen nur we­ni­ge Au­gen­bli­cke, und dann ge­wahr­te ich, dass je­mand mich be­rühr­te, mich auf­hob und mich in eine sit­zen­de Stel­lung brach­te, und zwar viel zärt­li­cher und sorg­sa­mer, als mich bis jetzt ir­gend­je­mand ge­stützt oder em­por­ge­ho­ben hat­te. Ich lehn­te mei­nen Kopf ge­gen einen Arm oder ein Pols­ter und fühl­te mich un­end­lich wohl.

Noch fünf Mi­nu­ten und die Wol­ken der Be­wusst­lo­sig­keit be­gan­nen zu schwin­den. Jetzt wuss­te ich sehr wohl, dass ich in mei­nem ei­ge­nen Bet­te lag, und dass die rote Glut nichts an­de­res war, als das Feu­er im Ka­min der Kin­der­stu­be. Es war Nacht, eine Ker­ze brann­te auf dem Ti­sche; Bes­sie stand am Fu­ßen­de mei­nes Bet­tes und hielt eine Wasch­schüs­sel in der Hand, ein Herr saß auf ei­nem Lehn­stuh­le ne­ben mir und beug­te sich über mich.

Ich emp­fand eine un­be­schreib­li­che Er­leich­te­rung, eine wohl­tu­en­de Über­zeu­gung der Si­cher­heit und des Be­schützt­seins, als ich sah, dass sich ein Frem­der im Zim­mer be­fand, ein Mensch, der nicht zum Haus­halt von Ga­tes­head, nicht zu den Ver­wand­ten von Mrs. Reed ge­hör­te. – Mich von Bes­sie ab­wen­dend – ob­gleich ihre Ge­gen­wart mir weit we­ni­ger un­an­ge­nehm war, als mir zum Bei­spiel Ab­bots Ge­sell­schaft ge­we­sen wäre – prüf­te ich die Ge­sichts­zü­ge des Herrn; ich kann­te ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apo­the­ker, den Mrs. Reed zu­wei­len ru­fen ließ, wenn ihre Dienst­bo­ten krank wa­ren. Für sich selbst und ihre Kin­der nahm sie im­mer nur die Hil­fe des Arz­tes in An­spruch.

»Nun, wer bin ich?« frag­te er.

Ich sprach sei­nen Na­men aus und streck­te ihm zu glei­cher Zeit mei­ne Hand ent­ge­gen; er nahm sie, lä­chel­te und sag­te: »Ah, wir wer­den uns jetzt lang­sam er­ho­len.« Dann leg­te er mich nie­der, wand­te sich zu Bes­sie, emp­fahl ihr, sehr vor­sich­tig zu sein und mich wäh­rend der Nacht nicht zu stö­ren. Nach­dem er noch wei­te­re Wei­sun­gen er­teilt und ge­sagt hat­te, dass er am fol­gen­den Tage wie­der­kom­men wür­de, ging er fort; zu mei­ner größ­ten Be­trüb­nis; wäh­rend er auf dem Stuhl ne­ben mei­nem Kopf­kis­sen saß, fühl­te ich mich so be­schützt, so si­cher, und als die Tür sich hin­ter ihm schloss, wur­de das gan­ze Zim­mer dun­kel und mein Herz ver­zag­te von neu­em, es un­ter­lag der Last ei­nes un­be­schreib­li­chen Grams.

»Glau­ben Sie, dass Sie schla­fen kön­nen, Miss?« frag­te Bes­sie mich un­ge­wöhn­lich sanft.

Kaum wag­te ich, ihr zu ant­wor­ten, denn ich fürch­te­te, dass ihre nächs­ten Wor­te wie­der rau klin­gen wür­den. »Ich will es ver­su­chen«, sag­te ich lei­se.

»Möch­ten Sie nicht ir­gend et­was es­sen oder trin­ken?«

»Nein, ich dan­ke, Bes­sie.«

»Nun, dann wer­de ich auch schla­fen ge­hen, denn es ist schon nach Mit­ter­nacht; aber Sie kön­nen mich ru­fen, wenn Sie wäh­rend der Nacht ir­gend et­was brau­chen.«

Wel­che sel­te­ne Höf­lich­keit! Sie er­mu­tig­te mich, eine Fra­ge zu stel­len.

»Bes­sie, was ist denn mit mir ge­sche­hen? Bin ich sehr krank?«

»Ich ver­mu­te, dass Sie vor Schrei­en im ro­ten Zim­mer krank ge­wor­den sind; aber Sie wer­den ohne Zwei­fel bald wie­der ganz ge­sund sein.«

Bes­sie ging in das an­sto­ßen­de Zim­mer der Haus­mäd­chen. Ich hör­te, wie sie dort sag­te:

»Sa­rah, komm und schlaf bei mir in der Kin­der­stu­be, und wenn es mein Le­ben gäl­te, so könn­te ich die­se Nacht nicht mit dem ar­men Kin­de al­lein blei­ben; es könn­te ster­ben! Wie son­der­bar, dass Miss Jane einen sol­chen An­fall ha­ben muss­te! Ich möch­te doch wis­sen, ob sie ir­gend et­was ge­se­hen hat. Mrs. Reed war die­ses Mal aber auch zu hart ge­gen sie.«

Sa­rah kam mit ihr zu­rück; bei­de gin­gen zu Bett; sie flüs­ter­ten we­nigs­tens noch eine hal­be Stun­de mit­ein­an­der, be­vor sie ein­sch­lie­fen. Ich hör­te ei­ni­ge Bruch­stücke ih­rer Un­ter­hal­tung, und aus die­sen schloss ich auf den Haupt­ge­gen­stand ih­rer Dis­kus­si­on.

»Et­was ist an ihr vor­über­ge­schwebt, ganz in Weiß ge­klei­det, dann ist es ver­schwun­den.« – – »Ein großer, schwar­zer Hund hin­ter ihm.« – »Drei­mal hat es laut an der Zim­mer­tür ge­klopft.« – »Ein Licht auf dem Fried­ho­fe ge­ra­de über sei­nem Gra­be« – u.s.w., u.s.w.

End­lich schlie­fen bei­de ein. Feu­er und Licht er­lo­schen. In schau­ri­gem Wa­chen ging die Nacht für mich lang­sam hin; Ent­set­zen und Angst hiel­ten Ohren, Au­gen und Sin­ne wach. – Ent­set­zen und Angst, wie nur Kin­der es zu emp­fin­den im­stan­de sind.

Die­sem Zwi­schen­fall im ro­ten Zim­mer folg­te kei­ne lan­ge, erns­te, kör­per­li­che Krank­heit; nur eine hef­ti­ge Er­schüt­te­rung mei­ner Ner­ven, de­ren Wi­der­hall ich noch bis auf den heu­ti­gen Tag emp­fin­de. Ja, Mrs. Reed, Ih­nen ver­dan­ke ich gar man­chen qual­vol­len Schmerz der See­le. Aber ich soll­te Ih­nen ver­zei­hen, denn Sie wuss­ten nicht, was Sie ta­ten, wäh­rend Sie jede Fa­ser mei­nes Her­zens zer­ris­sen, glaub­ten Sie nur mei­ne bö­sen Nei­gun­gen und An­la­gen zu er­sti­cken.

Am nächs­ten Tage ge­gen Mit­tag war ich be­reits auf­ge­stan­den und an­ge­klei­det und saß in einen war­men Shawl gehüllt vor dem Ka­min­feu­er. Ich fühl­te mich kör­per­lich schwach und ge­bro­chen, aber mein schlimms­tes Übel war ein un­aus­sprech­li­cher Jam­mer der See­le, ein Jam­mer, der mir fort­wäh­rend stil­le Trä­nen ent­lock­te, kaum hat­te ich einen sal­zi­gen Trop­fen von mei­ner Wan­ge ge­trock­net, als auch schon ein an­de­rer folg­te. Und doch mein­te ich, dass ich au­gen­blick­lich glück­lich sein müss­te, denn kei­ner von den Reeds war da, alle wa­ren mit ih­rer Mama im großen Wa­gen spa­zie­ren ge­fah­ren; auch Ab­bot näh­te in ei­nem an­de­ren Zim­mer, und wäh­rend Bes­sie hin und her ging, Spiel­sa­chen fort­räum­te und Schieb­la­den ord­ne­te, rich­te­te sie dann und wann ein un­ge­wöhn­lich freund­li­ches Wort an mich. Die­se Lage der Din­ge wäre für mich ein Pa­ra­dies des Frie­dens ge­we­sen, für mich, die ich nur an ein Da­sein voll un­auf­hör­li­chen Ta­dels und grau­sa­me Skla­ve­rei ge­wöhnt war, – aber in der Tat wa­ren mei­ne Ner­ven jetzt in ei­nem sol­chen Zu­stan­de, dass kei­ne Ruhe sie mehr sänf­ti­gen, kein Ver­gnü­gen sie mehr freu­dig er­re­gen konn­te.

Bes­sie war un­ten in der Kü­che ge­we­sen und brach­te mir jetzt einen Ku­chen her­auf, der auf ei­nem ge­wis­sen, bunt ge­mal­ten Por­zel­lan­tel­ler lag, des­sen Pa­ra­dies­vo­gel, wel­cher sich auf ei­nem Kranz von Maiglöck­chen und Ro­sen­knos­pen schau­kel­te, stets eine en­thu­sias­ti­sche Be­wun­de­rung in mir wach ge­ru­fen hat­te. Gar oft hat­te ich in­nig ge­be­ten, die­sen Tel­ler in die Hand neh­men zu dür­fen, um ihn ge­nau­er be­trach­ten zu kön­nen, bis jetzt hat­te man mich aber stets ei­ner sol­chen Gunst für un­wür­dig ge­hal­ten. Jetzt stell­te man mir nun die­sen kost­ba­ren Tel­ler auf den Schoß und bat mich freund­lich, das Stück­chen aus­er­le­se­nen Ge­bäcks, wel­ches auf dem­sel­ben lag, zu es­sen. Eit­le Gunst! Sie kam zu spät, wie so man­che an­de­re, die so in­nig er­wünscht, und so lan­ge ver­sagt wor­den war! Ich konn­te den Ku­chen nicht es­sen, und das Ge­fie­der des Vo­gels, die Far­ben der Blu­men schie­nen mir selt­sam ver­blasst – ich schob so­wohl Tel­ler wie Ge­bäck von mir. Bes­sie frag­te mich, ob ich ein Buch ha­ben wol­le. Das Wort Buch wirk­te wie ein vor­über­ge­hen­des Reiz­mit­tel, und ich bat sie, mir »Gul­li­vers Rei­sen« aus der Biblio­thek zu ho­len. Die­ses Buch hat­te ich schon un­zäh­li­ge Male mit Ent­zücken ge­le­sen; ich hielt es für eine Er­zäh­lung von Tat­sa­chen und ent­deck­te in ihm eine Ader, die ein weit tiefe­res In­ter­es­se für mich hat­te, als das­je­ni­ge, wel­ches ich in Mär­chen ge­fun­den hat­te; denn nach­dem ich die El­fen ver­ge­bens un­ter den Blät­tern des Fin­ger­huts und der Glo­cken­blu­me, un­ter Pil­zen und al­tem, von Epheu um­rank­ten Ge­mäu­er ge­sucht, hat­te ich mein Ge­müt mit der trau­ri­gen Wahr­heit aus­ge­söhnt, dass sie alle Eng­land ver­las­sen hät­ten, um in ein un­be­kann­tes Land zu ge­hen, wo die Wäl­der noch stil­ler und wil­der und di­cker, die Men­schen noch spär­li­cher ge­sä­et sei­en. Li­li­put hin­ge­gen und Brob­di­g­nag wa­ren nach mei­nem Glau­ben so­li­de Be­stand­tei­le der Erd­ober­flä­che; ich zwei­fel­te gar nicht, dass, wenn ich ei­nes Ta­ges eine wei­te Rei­se ma­chen könn­te, ich mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen die klei­nen Fel­der und Häu­ser, die win­zi­gen Men­schen, die zier­li­chen Kühe, Scha­fe und Vö­gel des ei­nen Kö­nig­reichs se­hen wür­de, und eben­so die baum­ho­hen Korn­fel­der, die mäch­ti­gen Bul­len­bei­ßer, die Kat­zen-Un­ge­heu­er, die turm­ho­hen Män­ner und Frau­en des an­de­ren. Und doch, als ich den ge­lieb­ten Band jetzt in Hän­den hielt – als ich die Sei­ten um­blät­ter­te und in den wun­der­sa­men Bil­dern den Reiz such­te, wel­chen sie mir bis jetzt stets ge­währt hat­ten – da war al­les alt und trüb­se­lig; die Rie­sen wa­ren ha­ge­re Ko­bol­de; die Pig­mä­en bos­haf­te und scheuß­li­che Gno­men, Gul­li­ver ein trüb­se­li­ger Wan­de­rer in öden und ge­fähr­li­chen Re­gio­nen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht län­ger zu le­sen wag­te und leg­te es auf den Tisch ne­ben das un­be­rühr­te Stück Ku­chen.

Bes­sie war jetzt mit dem Ab­stau­ben und Auf­räu­men des Zim­mers zu Ende, und nach­dem sie ihre Hän­de ge­wa­schen hat­te, öff­ne­te sie eine ge­wis­se klei­ne Schieb­la­de, wel­che mit den schöns­ten, präch­tigs­ten Lap­pen von Sei­de und At­las an­ge­füllt war, und be­gann einen Hut für Ge­or­gi­nas neue Pup­pe zu ma­chen. Dann be­gann sie zu sin­gen; das Lied lau­te­te:

»Als wir durch Wald und Flur streif­ten. Vor lan­ger, lan­ger Zeit.«

Wie oft hat­te ich dies Lied schon ge­hört, und im­mer mit dem größ­ten Ent­zücken; denn Bes­sie hat­te eine süße Stim­me – we­nigs­tens nach mei­nem Ge­schmack. Aber jetzt, ob­gleich ihre Stim­me noch im­mer lieb­lich klang, lag für mich eine un­be­schreib­li­che Trau­rig­keit in die­ser Me­lo­die. Zu­wei­len, wenn ihre Ar­beit sie ganz in An­spruch nahm, sang sie den Re­frain sehr lei­se, sehr lang­sam: »Vor lan­ger, lan­ger Zeit«; dann klang es wie die Schluss­ka­denz ei­nes Gra­b­lie­des. End­lich be­gann sie eine an­de­re Bal­la­de zu sin­gen, dies­mal eine wirk­lich trau­ri­ge.

Mein Kör­per ist müd und wund ist mein Fuß, Weit ist der Weg, den ich wan­dern muss. Bald wird es Nacht, und den Weg ich nicht fin­d’. Den ich wan­dern muss, ar­mes Wai­sen­kind! Wes­halb sand­ten sie mich so weit, so weit, Durch Feld und Wald, auf die Ber­g’, wo es schneit? Die Men­schen sind hart! Doch En­gel so lind. Be­wa­chen mich ar­mes Wai­sen­kind. Die Ster­ne, sie schei­nen her­ab so klar. Die Luft ist mild! Es ist doch wahr: Gott ist barm­her­zig, er steu­ert dem Wind, Dass er nicht er­fas­se das Wai­sen­kind. Und wenn ich nun strauch­le am Wal­des­rand Oder ins Meer ver­sink, wo mich führt kei­ne Han­d’, So weiß ich doch, dass den Va­ter ich fin­d’, Er nimmt an sein Herz das Wai­sen­kind! Das ist mei­ne Hoff­nung, die Kraft mir gibt. Dass Gott da dro­ben sein Kind doch liebt. Bei ihm dort oben die Hei­mat ich fin­d’. Er liebt auch das arme Wai­sen­kind!

»Kom­men Sie, Miss Jane, wei­nen Sie nicht«, sag­te Bes­sie, als sie zu Ende war. Eben­so­gut hät­te sie dem Feu­er sa­gen kön­nen »bren­ne nicht!« aber wie hät­te sie denn auch eine Ah­nung von dem herz­zer­rei­ßen­den Schmerz ha­ben kön­nen, des­sen Beu­te ich war? – Im Lau­fe des Mor­gens kam Mr. Lloyd wie­der.

»Wie? Schon auf­ge­stan­den?« rief er, als er in die Kin­der­stu­be trat. »Nun, Wär­te­rin, wie geht es ihr denn ei­gent­lich?«

Bes­sie ent­geg­ne­te, dass es mir au­ßer­or­dent­lich gut gehe.

»Dann soll­te sie aber fröh­li­cher aus­se­hen. Kom­men Sie her, Miss Jane. Sie hei­ßen Jane, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr, Jane Eyre!«

»Nun, Sie ha­ben ge­weint, Miss Jane Eyre, wol­len Sie mir nicht sa­gen, wes­halb? Ha­ben Sie Schmer­zen?«

»Nein, Herr.«

»Ah, ich ver­mu­te, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spa­zie­ren fah­ren durf­te«, warf Bes­sie hier ein.

»O nein, ge­wiss nicht, für sol­che Al­bern­heit ist sie denn doch zu alt.«

Das dach­te ich auch; und da mei­ne Selb­st­ach­tung durch die falsche Be­schul­di­gung ver­letzt war, ant­wor­te­te ich schnell: »In mei­nem gan­zen Le­ben habe ich noch kei­ne Trä­nen um sol­che Din­ge ver­gos­sen. Ich has­se die Spa­zier­fahr­ten. Ich wei­ne, weil ich so un­glück­lich bin.«

»Schä­men Sie sich, Miss!« rief Bes­sie.

Der gute Apo­the­ker schi­en ein we­nig ver­wirrt. Ich stand vor ihm; er hef­te­te sei­ne Au­gen fest auf mich. Die­se Au­gen wa­ren klein und grau, nicht sehr leuch­tend, aber ich glau­be, dass ich sie jetzt sehr klug fin­den wür­de. Trotz der har­ten Züge hat­te er ein gut­mü­ti­ges Ge­sicht. Nach­dem er mich lan­ge mit Muße be­trach­tet hat­te, sag­te er: »Was hat Sie ges­tern krank ge­macht?«

»Sie ist ge­fal­len«, sag­te Bes­sie wie­der ein­fal­lend.

»Ge­fal­len! Nun, das ist ge­ra­de wie­der wie ein Kind! Kann sie bei ih­rem Al­ter denn noch nicht al­lein ge­hen? Sie muss doch acht oder neun Jah­re alt sein?«

»Je­mand hat mich zu Bo­den ge­schla­gen«, lau­te­te die der­be Er­klä­rung, wel­che der Schmerz ge­kränk­ten Stol­zes mir wie­der­um ent­riss, »aber das hat mich nicht krank ge­macht«, füg­te ich hin­zu, wäh­rend Mr. Lloyd be­däch­tig eine Pri­se Ta­bak nahm.

Als er die Ta­baks­do­se wie­der in sei­ne Wes­ten­ta­sche schob, rief der lau­te Klang ei­ner Glo­cke die Dienst­bo­ten zum Mit­ta­ges­sen; er wuss­te, was es be­deu­te­te: »Das gilt Ih­nen, Wär­te­rin«, sag­te er, »Sie kön­nen hin­un­ter ge­hen; ich wer­de Miss Jane ei­ni­ge Leh­ren ge­ben, bis Sie zu­rück­keh­ren.«

Bes­sie wäre lie­ber ge­blie­ben, aber sie war ge­zwun­gen zu ge­hen, weil die Pünkt­lich­keit bei den Mahl­zei­ten eine Sa­che war, auf wel­che in Ga­tes­head-Hall stren­ge ge­hal­ten wur­de.

»Der Fall hat Sie nicht krank ge­macht? Nun, was war es denn?« frag­te Mr. Lloyd wei­ter, nach­dem Bes­sie ge­gan­gen war.

»Ich war in ei­nem Zim­mer ein­ge­sperrt, wo ein Geist um­geht – und es war schon lan­ge dun­kel.«

Ich sah, wie Mr. Lloyd lä­chel­te und zu­gleich die Stirn run­zel­te. »Ein Geist! Was! Sie sind am Ende doch nichts an­de­res, als ein klei­nes Kind! Sie fürch­ten sich vor Geis­tern?«

»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürch­te ich mich. Er starb in je­nem Zim­mer und lag dort auf der Bah­re. We­der Bes­sie noch sonst je­mand geht am Abend hin­ein, wenn es nicht drin­gend not­wen­dig ist; und es war so furcht­bar grau­sam, mich dort al­lein, ohne Licht, ein­zu­schlie­ßen – so grau­sam, dass ich glau­be, ich wer­de es nie­mals ver­ges­sen kön­nen.«

»Un­sinn! Und macht das Sie so elend? Fürch­ten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«

»Nein. Aber es dau­ert nicht lan­ge und dann wird es wie­der Nacht. Und au­ßer­dem, ich bin un­glück­lich, sehr un­glück­lich um an­de­rer Din­ge wil­len.«

»Was für Din­ge denn? Kön­nen Sie mir die nicht nen­nen?«

Wie sehr wünsch­te ich, of­fen und ehr­lich auf die­se Fra­ge zu ant­wor­ten! Wie schwer war es aber, Wor­te für eine sol­che Ant­wort zu fin­den! Kin­der kön­nen wohl emp­fin­den, aber sie kön­nen ihr Emp­fin­den nicht zer­glie­dern; und wenn ih­nen die Zer­glie­de­rung zum Teil auch in Ge­dan­ken ge­lingt, so wis­sen sie nicht, wie sie das Re­sul­tat die­ses Vor­gan­ges in Wor­te klei­den sol­len. Da ich aber fürch­te­te, dass ich die­se ers­te und ein­zi­ge Ge­le­gen­heit, mei­nen Kum­mer durch Mit­tei­lung zu er­leich­tern, un­ge­nützt vor­über­ge­hen las­sen könn­te, ge­lang es mir nach ei­ner un­ru­hi­gen Pau­se, eine un­zu­läng­li­che, aber wah­re Ant­wort her­vor­zu­brin­gen.

»Ers­tens habe ich kei­nen Va­ter, kei­ne Mut­ter, kei­nen Bru­der, kei­ne Schwes­ter.«

»Aber Sie ha­ben eine gü­ti­ge Tan­te und lie­be Vet­tern und Cou­si­nen.«

Wie­de­r­um hielt ich inne, dann rief ich kin­disch aus:

»Aber John Reed hat mich zu Bo­den ge­schla­gen und mei­ne Tan­te hat mich im ro­ten Zim­mer ein­ge­sperrt.«

Zum zwei­ten Mal hol­te Mr. Lloyd sei­ne Schnupf­ta­baks­do­se her­vor.

»Fin­den Sie denn nicht, dass Ga­tes­head-Hall ein wun­der­schö­nes Haus ist?« frag­te er. »Sind Sie nicht dank­bar, an ei­nem so schö­nen Orte le­ben zu kön­nen?«

»Es ist nicht mein ei­ge­nes Haus, Sir; und Ab­bot sagt, dass ich we­ni­ger recht habe, hier zu sein, als ein Dienst­bo­te.«

»Dum­mes Zeug! Sie kön­nen doch nicht so dumm sein, zu wün­schen, dass Sie einen so herr­li­chen Ort wie die­sen ver­las­sen dürf­ten?«

»Wenn ich nur wüss­te, wo­hin ich ge­hen soll­te, ich wäre wahr­haf­tig froh zu ge­hen; aber ich darf Ga­tes­head erst ver­las­sen, wenn ich er­wach­sen bin.«

»Vi­el­leicht doch frü­her – wer weiß? Ha­ben Sie au­ßer Mrs. Reed kei­ne Ver­wand­te?«

»Ich glau­be nicht, Sir.«

»Nie­man­den, der mit Ihrem Va­ter ver­wandt war?«

»Ich weiß es nicht. Ein­mal frag­te ich Tan­te Reed, und da sag­te sie, dass ich mög­li­cher­wei­se ir­gend­wel­che arme, her­un­ter­ge­kom­me­ne Ver­wand­te, na­mens Eyre, ha­ben kön­ne, dass sie aber nichts über sie wis­se.«

»Möch­ten Sie denn zu ih­nen ge­hen, wenn Sie sol­che An­ge­hö­ri­ge hät­ten?«

Ich be­sann mich. Ar­mut hat et­was ab­schre­cken­des für er­wach­se­ne Men­schen; für Kin­der aber noch mehr; sie ha­ben nicht viel Sinn für flei­ßi­ge, ar­beit­sa­me, eh­ren­haf­te Ar­mut; dies Wort er­weckt in ih­nen nur den Ge­dan­ken an zer­lump­te Klei­der, kärg­li­che Nah­rung, einen kal­ten Ofen, rohe Ma­nie­ren und ent­wür­di­gen­de Las­ter: auch für mich war Ar­mut gleich­be­deu­tend mit Ent­eh­rung.

»Nein. Ich möch­te nicht bei ar­men Leu­ten le­ben«, war mei­ne Ant­wort.

»Auch nicht, wenn sie gü­tig ge­gen Sie wä­ren?«

Ich schüt­tel­te den Kopf. Ich konn­te nicht be­grei­fen, wie arme Leu­te über­haupt die Mit­tel ha­ben, gü­tig zu sein. Und dann – spre­chen ler­nen wie sie – ihre Ma­nie­ren an­neh­men – schlecht er­zo­gen wer­den – auf­wach­sen wie eins je­ner ar­men Wei­ber, die ich zu­wei­len vor den Tü­ren der Hüt­ten ihre Kin­der war­ten und ihre Klei­der wa­schen sah? – nein, ich war nicht he­ro­isch ge­nug, mei­ne Frei­heit um den Preis mei­ner Kas­te zu er­kau­fen.

»Aber sind Ihre Ver­wand­ten denn so arm? Ge­hö­ren sie zur ar­bei­ten­den Klas­se?«

»Das weiß ich nicht; Tan­te Reed sagt, wenn ich über­haupt An­ge­hö­ri­ge habe, so müs­sen sie Bettl­er­ge­sin­del sein. Nein, nein, ich möch­te nicht bet­teln ge­hen.«

»Möch­ten Sie nicht in die Schu­le ge­hen?«

Wie­de­r­um dach­te ich nach; kaum wuss­te ich, was eine Schu­le denn ei­gent­lich sei; Bes­sie sprach zu­wei­len da­von wie von ei­nem Orte, an dem man von jun­gen Da­men er­war­tet, dass sie au­ßer­or­dent­lich ma­nier­lich und ge­ziert sind; John Reed hass­te sei­ne Schu­le und schmäh­te sei­nen Leh­rer, aber John Reeds An­sich­ten und Ge­schmack wa­ren kei­ne Re­gel für die mei­nen, und wenn Bes­sies Be­rich­te über Schul­dis­zi­plin (die­se stamm­ten von den Töch­tern ei­ner Fa­mi­lie, in wel­cher sie ge­dient hat­te, be­vor sie nach Ga­tes­head kam) et­was ab­schre­ckend lau­te­ten, so wa­ren ihre Er­zäh­lun­gen von ver­schie­de­nen Ta­len­ten und Kennt­nis­sen, wel­che die­se sel­ben jun­gen Da­men sich an­ge­eig­net hat­ten, an­de­rer­seits höchst ver­lo­ckend. Sie prahl­te von wun­der­schö­nen Ge­mäl­den, von Land­schaf­ten und Blu­men, wel­che sie vollen­det, von Lie­dern, die sie sin­gen und Kla­vier­pie­cen, die sie spie­len, von Geld­bör­sen, die sie hä­keln, von fran­zö­si­schen Bü­chern, die sie über­set­zen konn­ten, bis mein Ge­müt, wäh­rend ich ihr lausch­te, zur Nach­ah­mung auf­ge­sta­chelt wur­de. Au­ßer­dem wäre die Schu­le doch eine gründ­li­che Ab­wech­se­lung: da­mit war eine lan­ge Rei­se ver­knüpft, eine gänz­li­che Tren­nung von Ga­tes­head, ein Ein­tritt in ein neu­es Le­ben.

»Ich möch­te in der Tat in eine Schu­le ge­hen«, war die hör­ba­re Schluss­fol­ge­rung mei­nes Nach­sin­nens.

»Nun, nun, wer weiß denn, was ge­schieht!« sag­te Mr. Lloyd, in­dem er sich er­hob. »Das Kind braucht Luft- und Orts­ver­än­de­rung«, füg­te er hin­zu, mit sich selbst re­dend, »die Ner­ven sind in ei­ner bö­sen Ver­fas­sung.«

Jetzt kam Bes­sie zu­rück; in dem­sel­ben Au­gen­blick hör­te man Mrs. Reeds Wa­gen über den Kies der Gar­ten­we­ge rol­len.

»Ist das Ihre Her­rin, Wär­te­rin?« frag­te Mr. Lloyd, »ich möch­te noch mit ihr re­den be­vor ich gehe.«

Bes­sie for­der­te ihn auf, ins Früh­stücks­zim­mer zu ge­hen und ge­lei­te­te ihn hin­aus. Wie ich aus den nach­fol­gen­den Be­ge­ben­hei­ten schloss, wag­te der Apo­the­ker wäh­rend der Un­ter­re­dung mit Mrs. Reed ihr an­zu­emp­feh­len, dass sie mich in eine Schu­le schi­cke; und ohne Zwei­fel wur­de die­ser Rat sehr be­reit­wil­lig an­ge­nom­men, denn als ich an ei­nem der fol­gen­den Aben­de im Bet­te lag, und Bes­sie und Ab­bot mich schla­fend glaub­ten, sag­te letz­te­re: »Ich glau­be, die gnä­di­ge Frau ist nur zu froh, solch ein lang­wei­li­ges, bos­haf­tes Kind los zu wer­den; sie sieht im­mer aus, als be­ob­ach­te sie je­den Men­schen und schmie­de heim­li­che Plä­ne.« – Ich glau­be wahr­haf­tig, dass Ab­bot mich für eine Art kind­li­chen Guy Fawkes1 hielt.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit er­fuhr ich auch aus Miss Ab­bots Mit­tei­lun­gen an Bes­sie, dass mein Va­ter ein ar­mer Pre­di­ger ge­we­sen; dass mei­ne Mut­ter ihn ge­gen den Wil­len ih­rer An­ge­hö­ri­gen ge­hei­ra­tet habe, wel­che die­se Hei­rat für er­nied­ri­gend ge­hal­ten; dass mein Groß­va­ter Reed so er­zürnt über ih­ren Un­ge­hor­sam ge­we­sen, dass er sie gänz­lich ent­erb­te; dass mein Va­ter, nach­dem er kaum ein Jahr mit mei­ner Mut­ter ver­hei­ra­tet ge­we­sen, ein ty­phöses Fie­ber be­kom­men, wäh­rend er die arme Be­völ­ke­rung ei­ner großen Fa­brik­stadt, in wel­cher sei­ne Pfar­re lag, be­such­te; und dass mei­ne arme Mut­ter kaum einen Mo­nat spä­ter ih­rem Gat­ten ins Grab folg­te.

Als Bes­sie die­se Er­zäh­lung mit an­hör­te, seufz­te sie und sag­te: »Ab­bot, die arme Miss Jane ist auch zu be­dau­ern.«

»Ja, ja«, ent­geg­ne­te Ab­bot, »wenn sie ein lie­bes, gu­tes, hüb­sches Kind wäre, so könn­te man Mit­leid mit ihr ha­ben, weil sie so gänz­lich ver­las­sen ist; aber solch eine scheuß­li­che klei­ne Krö­te kann ei­nem doch un­mög­lich Er­bar­men ein­flö­ßen.«

»Nein, nicht viel«, stimm­te Bes­sie ihr bei, »auf je­den Fall wür­de eine so präch­ti­ge Schön­heit wie Miss Ge­or­gia­na in ei­ner sol­chen Lage viel rüh­ren­der sein.«

»Ja, ja, ich bete Miss Ge­or­gia­na an!« rief die be­geis­ter­te Ab­bot. »Der klei­ne süße Lieb­ling! – Mit ih­ren lan­gen Lo­cken und blau­en Au­gen, und den sü­ßen, lieb­li­chen Far­ben, ge­ra­de als ob sie an­ge­malt wäre! – Bes­sie, ich hät­te wahr­haf­tig Ap­pe­tit auf einen ge­rös­te­ten Käse zum Abend­brot.«

»Ich auch, ich auch – mit ge­schmor­ten Zwie­beln. Kom­men Sie, wir wol­len hin­un­ter ge­hen.«

Und sie gin­gen.

Guy Fawkes, ge­bo­ren 1570, Haupt der Pul­ver­ver­schwö­rung in Lon­don, 1605 hin­ge­rich­tet.  <<<

Viertes Kapitel

Aus mei­ner Un­ter­re­dung mit Mr. Lloyd und der so­eben wie­der­hol­ten Kon­fe­renz zwi­schen Ab­bot und Bes­sie schöpf­te ich Hoff­nung ge­nug, um den Wunsch nach Ge­ne­sung zu he­gen; eine Ver­än­de­rung schi­en be­vor­ste­hend – ich wünsch­te und war­te­te im Stil­len. Die Sa­che ver­zö­ger­te sich in­des­sen. Tage und Wo­chen ver­gin­gen; mein Ge­sund­heits­zu­stand war wie­der ein nor­ma­ler, aber ich ver­nahm kei­ne An­spie­lung mehr auf den Ge­gen­stand, über wel­chen ich brü­te­te. Oft be­trach­te­te Mrs. Reed mich mit stren­gen, fins­te­ren Bli­cken, aber nur sel­ten sprach sie zu mir. Seit mei­ner Krank­heit hat­te sie eine schär­fe­re Grenz­li­nie denn je zwi­schen mir und ih­ren ei­ge­nen Kin­dern ge­zo­gen; mir war eine klei­ne Kam­mer als Schlaf­ge­mach an­ge­wie­sen wor­den; man hat­te mich ver­dammt, mei­ne Mahl­zei­ten al­lein ein­zu­neh­men, und ich muss­te al­lein in der Kin­der­stu­be ver­wei­len, wäh­rend mei­ne Vet­tern und Cou­si­nen sich stets im Wohn­zim­mer auf­hiel­ten. In­des­sen fiel noch im­mer kein Wink über den Plan, mich in ein Er­zie­hungs­in­sti­tut zu schi­cken; und doch heg­te ich die in­stink­ti­ve Ge­wiss­heit, dass sie mich nicht mehr lan­ge un­ter ih­rem Da­che dul­den wür­de; denn mehr als je drück­te ihr Blick, wenn er auf mich fiel, einen un­über­wind­li­chen und ein­ge­wur­zel­ten Ab­scheu aus.

Eli­za und Ge­or­gia­na han­del­ten au­gen­schein­lich nach In­struk­tio­nen, in­dem sie so we­nig wie mög­lich mit mir spra­chen; John streck­te die Zun­ge aus so­bald er mich er­blick­te und ver­such­te so­gar ein­mal mich zu züch­ti­gen; da ich mich aber au­gen­blick­lich ge­gen ihn wand­te und er in mei­nen Bli­cken die­sel­be Wut wahr­nahm, in wel­cher ich mich schon ein­mal ge­gen ihn auf­ge­lehnt hat­te, hielt er es für bes­ser, ab­zu­las­sen und un­ter lau­ten Ver­wün­schun­gen da­von zu lau­fen, wäh­rend er schrie, ich habe ihm das Na­sen­bein zer­trüm­mert. Al­ler­dings hat­te ich nach die­sem her­vor­ra­gends­ten Ge­sichts­zu­ge einen Schlag ge­führt, so hef­tig wie mei­ne Knö­chel ihn aus­zu­tei­len ver­moch­ten; und als ich sah, dass ent­we­der die­ser Schlag oder mei­ne Bli­cke ihn ein­ge­schüch­tert hat­ten, spür­te ich die größ­te Nei­gung, mei­nen Vor­teil noch wei­ter aus­zu­beu­ten; er war in­des­sen schon zu sei­ner Mut­ter ge­lau­fen. Ich hör­te, wie er mit stam­meln­den Lau­ten eine Ge­schich­te be­gann »wie die­se ab­scheu­li­che Jane Eyre« ei­ner wil­den Kat­ze gleich auf ihn ge­sprun­gen sei; mit stren­ger Stim­me un­ter­brach ihn sei­ne Mut­ter.

»Sprich mir nicht von ihr, John; ich habe dir ge­sagt, dass du ihr nicht zu nahe kom­men sollst; sie ist nicht ein­mal dei­ner Be­ach­tung wert; ich will nicht, dass du oder eine dei­ner Schwes­tern mit ihr et­was zu tun ha­ben.«

In die­sem Au­gen­blick lehn­te ich mich über das Trep­pen­ge­län­der und schrie plötz­lich ohne im ge­rings­ten über mei­ne Wor­te nach­zu­den­ken:

»Sie sind nicht wert, mit mir zu ver­keh­ren.«

Mrs. Reed war eine ziem­lich star­ke Frau; als sie in­des­sen die­se selt­sa­men und fre­chen Wor­te ver­nahm, kam sie ganz leicht­fü­ßig die Trep­pe her­auf ge­lau­fen, zog mich mit Win­desei­le in die Kin­der­stu­be und in­dem sie mich an die Sei­te mei­nes klei­nen Bet­tes drück­te, ver­bot sie mir mit pa­the­ti­scher Stim­me, mich von die­ser Stel­le fort­zu­rüh­ren und wäh­rend des gan­zen Ta­ges auch nur noch ein ein­zi­ges Wort zu spre­chen.

»Was wür­de On­kel Reed jetzt sa­gen, wenn er noch leb­te?« war mei­ne fast wil­len­los ge­ta­ne Fra­ge. Ich sage, »fast wil­len­los«, denn es war, als sprä­che mei­ne Zun­ge die­se Wor­te aus, ohne dass mein Wil­le dar­um wuss­te. – Es sprach et­was aus mir, wor­über ich kei­ne Ge­walt hat­te.

»Was?« zisch­te Mrs. Reed fast un­hör­bar; in ih­rem sonst so kal­ten, ru­hi­gen, grau­en Auge blitz­te et­was auf, das der Furcht glich; sie ließ mei­nen Arm los und blick­te mich an, als wis­se sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teu­fel sei. Jetzt fass­te ich Mut.

»Mein On­kel Reed ist im Him­mel und kann al­les se­hen, was Sie tun und sa­gen; und mein Va­ter und mei­ne Mut­ter auch; sie wis­sen, dass Sie mich den gan­zen Tag ein­sper­ren und dass Sie nur wün­schen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed war schnell wie­der ge­fasst; sie schüt­tel­te mich hef­tig, sie ohr­feig­te mich aus al­len Kräf­ten und ver­ließ mich dann ohne eine Sil­be zu spre­chen. Bes­sie füll­te die­se Lücke aus, in­dem sie mir eine stun­den­lan­ge Straf­pre­digt hielt, in wel­cher sie mir ohne je­den Zwei­fel be­wies, dass ich das elen­des­te und pflicht­ver­ges­sens­te Kind sei, das je­mals un­ter ei­nem Da­che er­zo­gen wor­den. Halb und halb glaub­te ich ihr; denn ich emp­fand selbst, wie in die­sem Au­gen­blick nur böse Ge­füh­le in mei­ner Brust tob­ten.