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Nach außen hin ist der zwanzigjährige Unternehmersohn Janusz Karajev ein blasser, klavierspielender Junge mit einem Diagnose-Cocktail auf Latein, der in einem gedanklichen Schneckenhaus lebt. Niemand ahnt, dass er sich selbst innerhalb dieser Gedankenwelt zu einem Geheimagenten ausbildet, der andere Menschen ausspioniert. Als sein Onkel ihn auf eine Kreuzfahrt aufs Mittelmeer mitnimmt, um ihm "das wahre Leben" zu zeigen, rasselt Janusz prompt von einem haarsträubenden Abenteuer ins nächste: So muss er Drogendealer abzocken, eine ausgebüxte Oma einfangen, Karaoke singen und ein Schwein schmuggeln! Als jedoch ausgerechnet seine große Schwester auf dem Kreuzfahrtschiff Verhandlungen mit einem Rüstungskonzern führt, muss Janusz sich plötzlich mit Fragen um Krieg, Frieden und mit seiner eigenen Herkunft auseinandersetzen… Atemberaubende Landschaften, viel eisgekühlte Zitronenlimonade und die erste Liebe machen diesen Urlaub für Janusz zu einem Erlebnis, bei dem er ungeahnte Seiten an sich entdeckt.
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hinweise vorab
Die Erlöse dieses Buches fließen in gemeinnützige Projekte zugunsten der ukrainischen Bevölkerung, die sich im Frühjahr 2022 mit einem brutalen Angriffskrieg durch russische Truppen konfrontiert sah. Dieser Krieg tobte zum Erscheinungsdatum des Buches noch immer in schlimmster Form und verursachte unfassbares Leid. Es sei an dieser Stelle all jener gedacht, die sich an diesem Krieg nicht beteiligen wollten, deren Schicksal er aber dennoch geworden ist.
Mehr zur Entstehung dieses Buches findet sich im Nachwort.
Für besondere Begriffe, Namen und Ereignisse gibt es ein kleines Glossar im Anhang. Auf explizites und regelmäßiges Gendern wurde im Fließtext bewusst verzichtet. Wer aufmerksam genug ist, mag dennoch den Wunsch erkennen, eine Welt zu gestalten, in der Unterschiedlichkeit zur Basis eines Miteinanders wird.
Über den Autor: Mart Rutkowski, Jahrgang 1979, lebt mit seiner Familie im Raum Freiburg. Konstruktivist, Individualist und Skeptiker. Liebt Situationskomik. Arbeitet im Bildungsbereich. Begleitet Menschen und Arbeitsteams durch Phasen von Orientierungssuche und Veränderung. Schreibt zum Ausgleich.
Mart Rutkowski
Januszs Kreuzfahrt
~ ein Reiseroman ~
© 2023 Mart Rutkowski
Umschlaggestaltung: Judah Alze; Kontakt: [email protected]
Lektorat: Shantala Bracht; Kontakt: [email protected]
Layout-Vorlage: Johann-Christian Hanke; www.jchanke.de
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
Printed in Germany
ISBN
Paperback
ISBN Paperback 978-3-347-91229-8
e-Book
ISBN e-Book 978-3-347-91231-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Für Anne, die mir Leichtigkeit, Mut und Inspiration geschenkt und mir stundenlang zugehört hat.
Besondere Danksagungen für Unterstützung, Rat und Rückmeldung gehen an
Rebekka, meine Lebensgefährtin, Stella, meine feministische Zenmeisterin, Maria, die mich korrigierende Theologin, Shantala für Lektorat und Korrektorat, Judah für die Umschlagsgestaltung und alle anderen, die mir beim Schreiben mit Neugier und Zuwendung zur Seite standen.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Zur Identifikation
Kapitel 1: Auftakt in der Nordsee
Kapitel 2: Das Seil an der Reling
Kapitel 3: Amsterdam
Kapitel 4: Wake up!
Kapitel 5: Plymouth
Kapitel 6: Erholung auf See
Kapitel 7: Porto
Kapitel 8: Iberien quer durch
Kapitel 9: Nördlich von Malaga
Kapitel 10: Operation Nordwand
Kapitel 11: Sunset-Suite
Kapitel 12: Eivissa
Kapitel 13: Formentera
Kapitel 14: Die WestStahl-Affäre
Kapitel 15: Das Schamanenklavier
Kapitel 16: Von Genua bis Mitternacht
Kapitel 17: Hamburg
Nachwort des Autors [ 13.04.2023 ]
Ein kleines Glossar
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Zur Identifikation
Ein kleines Glossar
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Zur Identifikation
Janusz Sergejevič Karajev: [sprich: „Janusch Sergejewitsch Karajew“]
Jung-Pianist und angehender Agent. Derzeit im Einsatz auf einem Kreuzfahrtschiff.
Der Kommandant:
gibt Anweisungen. Nur Janusz kennt ihn.
Thekla Maja:
militante Friedensaktivistin.
Anna:
Januszs Schwester. Selbstbewusst.
Valentin:
Januszs Onkel. Psychologe.
Kerstin:
Valentins Urlaubsflirt.
Sergej:
Januszs Vater. Unternehmer. Er kennt deine Adresse.
Hartmuth:
übergewichtiger Partylöwe.
Aimée:
verführerisch, aber nicht sehr helle.
Albert Groschwitzkirinski:
Star-Designer.
Dodong:
verzweifeltes Crewmitglied.
Klaus:
mixt exzellente Cocktails.
Dr. Walter Hartberg:
CEO eines Rüstungskonzerns.
Herr Gelowani:
bleibt lieber dezent im Hintergrund.
Alex und Micha:
zwei glücklose Kriminelle.
Daniel Kleve:
deren glückloser Boss.
Oma Agathe:
lebt in ihrer eigenen Welt.
Tom und Inge:
wollten eigentlich nur Urlaub machen.
Klein-Lisa:
ist mit ihrem Papa unterwegs und ziemlich clever.
Außerdem: zahlreiche Crewmitglieder und Polizisten, eine alte Wahrsagerin, eine hilfsbereite Prostituierte, zwei Dromedare, eine stolze Kunsthändlerin, ein Kampfsport-Trainer, ein Outdoor-Guide, ein iberisches Schwein, viele spirituelle Hippies und eine ziemlich ominöse Delle.
…last, but not least: die MS Culture!
Ein monströses Kreuzfahrtschiff mit siebzehn Decks.
- Kapitel 1 -
Auftakt in der Nordsee
Janusz, ich bin dann an der Bar. Schachbar. Eins runter auf Deck 6. Hab’ da einen neuen Kollegen kennengelernt und bin mit ihm auf ein Schach“, sagt mein Onkel.
Die letzte Information war redundant: Ich bin in der Schachbar auf ein Schach. Kann auch Skat spielen, wen juckt’s? Außerdem heißt das Ding Schachcafé!
„Ist gut“, nicke ich.
Ich bin ganz froh, nicht die ganze Zeit mit ihm zusammen sein zu müssen. Auf einer Kreuzfahrt hängt man notgedrungen immer etwas aufeinander. Da tut Entzerrung gut. Außerdem ist mein Onkel Psychologe und denkt dauernd, er müsse mich therapieren. Dabei kann ich nichts Seltsames daran finden, die Umwelt zu durchschauen und zu analysieren, so wie ich es tue. Hm, vielleicht muss ich mich jetzt doch einmal kurz vorstellen: Karajev, Janusz Karajev. Genau genommen: Janusz Sergejevič Karajev. Doch so heiße ich nur für die Verwandtschaft. Ich bevorzuge einfach „Karajev, Janusz Karajev“.
Zwanzig Jahre alt und ich arbeite NICHT in geheimer Mission für irgendeine Regierung. Besser gesagt: NOCH nicht. Aber ich bin quasi in einer Spezial-Ausbildung zum Agenten. Also, ich bilde mich selbst aus. Meine Eltern wissen nichts davon, eigentlich niemand. Ich wohne ganz unauffällig in einer Einrichtung für Menschen mit ‘besonderem Betreuungsbedarf’. Ein Irrtum sondergleichen, denn ich bin überhaupt nicht therapiebedürftig. Wenn ich mir die Welt so anschaue, glaube ich eher, der Großteil der Menschheit sollte sich mal eine Auszeit nehmen und dort ein paar Wochen verbringen. Ich bin überraschenderweise ganz gerne in der Einrichtung – nirgendwo lernt man so viel über Menschen. Und es ist eine gute Tarnung. Außer mir weiß niemand von meiner Geheimausbildung. Sie ist also quasi doppelt geheim. Nur die Besten sind in der Lage, meine Tarnung zu durchschauen – mein Psycho-Onkel gehört eindeutig nicht dazu. Nach außen hin spiele ich einen blassen, stillen, zwanzigjährigen Jungen, der gerne Klavier spielt, bevorzugt Chopin, Yachshenko und Vlastoyevsky, einen sibirischen Komponisten. Ich spiele gar nicht einmal schlecht: Mit sechszehn habe ich in Kyiv gespielt und mit achtzehn Jahren sogar einen Preis bei der Kulturwoche in Brixen abgesahnt. So viel Öffentlichkeit ist für eine erfolgreiche Agententätigkeit natürlich durchaus zwiespältig. Wenn man eine Tarnung – wir Profis sagen ‘Legende’ – hat, besteht die Kunst darin, diese nicht zu arg aufzublähen. So mag meine Tarnung zum Beispiel gerne Zitronenlimonade mit Eis – und ich mag das auch! Das ist praktisch: Wenn ich mal enttarnt werde, muss ich das nicht ablegen. Es sei denn, ich flüchte ins Ausland und muss meine Spuren verwischen. Derzeit operiere ich noch unter meinem Klarnamen: Karajev, Janusz Karajev. Ich kann mir das leisten, denn mich kennt keiner. Zum Beispiel hier auf Kreuzfahrt: Keiner weiß, wer oder was ich bin – ICH hingegen weiß schon einiges über die Passagiere hier.
Nehmen wir den Typen, mit dem mein Onkel Schach spielt: Besitzer einer Billigladenkette. Kein beruflicher Kollege also. Mein Onkel sagt immer „Kollege“, wenn er jemanden nett findet. Der „Kollege“ also: wohlhabend, aber niveaulos, übergewichtig mit Bluthochdruck, herablassend im Gehabe, männlich-chauvinistisch, trinkt türkischen Mokka, raucht hin und wieder, liebt Goldkettchen, Bräunungslampen und die Farbe Weiß, Tennisspieler, pseudo-lustig. Er ist der Typ Mensch, der sich bei einer Party ein Papierhütchen auf den Kopf setzt, sich in eine Polonaise einreiht und voller Enthusiasmus „Da steht ein Pferd auf’m Flur“ singt. Mein Onkel dazu: Psychologe, zweiundfünfzig Jahre alt, trinkt gerne Bier, spielt Billard, puzzelt in seiner Freizeit, manchmal etwas zerstreut, politisch sehr im Mainstream. Ein Gutmensch, Optimist und Weichei – dauernd in gut gemeinter Sorge um mich. Glaubt, er höre das Gras wachsen. Im Grunde mag ich ihn gerne, sonst wäre ich ja nicht mitgekommen. Aber ich muss höllisch aufpassen, dass er mein Doppelleben nicht durchschaut. Genügt das erst einmal? Jetzt muss ich nämlich los. Ich schnappe mir mein Handy, überprüfe die Synchronisation mit meiner Smartwatch, checke, ob ich mein Überlebensset am Gürtel trage, mache das übliche Raum-Screening, stecke die Schlüsselkarte ein und verlasse die Kabine. Es ist der zweite Tag auf dem Schiff. Zeit für den nächsten Aufklärungsgang: Feldüberprüfung II, Vervollständigung des Umfeld-Clearings und der Umgebungs-Map, Analyse der Protagonisten, Identifikation möglicher Zielpersonen. Ich habe jetzt etwa zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Mittagessen.
Ob ich wohl ein paar Fakten zur Ausgangslage festhalten soll? In einem Agentenfilm käme jetzt ein Zoom auf die Location – in unserem Fall ein Schiff – und dazu spannungsgeladene Hintergrundmusik. Dann würde am Bildrand eine Art Laserschrift auftauchen:
MS Culture
position: 57.039644661105015, 6.681347501134086
North Sea
destination: Genoa, Italy
Doch wir sind in keinem Agentenfilm – das Leben ist aufregender, die Grafik besser, alle Informationen sind sehr viel genauer und die Mission ist echt. Zur Kreuzfahrt: Stationen sind Kiel, Amsterdam, Plymouth, Porto, Malaga, die Balearen, Genua. Dauer: sechszehn Tage. Reiseform: Hybrid aus Fun-Cruising und Kultur-Tourismus. Schiff: MS Culture, Heimathafen Kiel, deutscher Kapitän, fährt jedoch unter maltesischer Flagge. 333,5 Meter Länge, 41 Meter Breite und etwa 9 Meter Tiefgang. Geschwindigkeit liegt im Schnitt bei etwa 20 Knoten. Maximale Anzahl der Reisenden: 2400; Anzahl des Personals: 1048 Personen. 17 Decks mit maximaler Bespaßung:
Freibad (ein Freibad auf dem Meer – etwas lächerlich, wie ich finde…), Kino, Theater, Clubs, Sporträume, Minigolfanlage, Wellnessangebote, FKK-Deck, Fitness-studio und eine Kletterwand. Ferner eine Squash-Halle, eine Billard-Lounge, mehrere Friseur-Salons, unzählige Schicki-Micki-Läden, exotische Restaurants, coole Bars (mit eisgekühlten Limonaden im Angebot – wichtig!) und witzigerweise auch eine Kinder-Urlaubs-Krippe, damit die geplagten Eltern in Ruhe shoppen gehen können. Daneben gibt es für alles mögliche Schnupperkurse: Klettern und Selbstverteidigung (Pflichtprogramm für angehende Agenten wie mich), Töpfern (nützlich, um Gespräche zu belauschen), Ausdrucksmalen (nützlich, um attraktive, junge Informantinnen kennen zu lernen – hoffe ich zumindest…). Bester Rückzugsort: die Sinatra-Cocktail-Bar mit stilvoller Schiffsbibliothek.
Zugegeben: Dieses Monstrum ist kein Schiff. Es ist eine Stadt.
Mein Onkel hat mir einen kleinen Anhänger mit unserer Kabinennummer gegeben. 7250. Leicht zu merken. „Für alle Fälle“, hat er gesagt und mich dabei besorgt angesehen. Von wegen Psychologe! Meine Legende ist einfach zu perfekt. Denkt er etwa, nur weil ich in einer Einrichtung für Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf wohne, hätte ich einen Dachschaden? Offensichtlich durchschaut er nicht, dass all dies nur Teil meiner Tarnung ist. Als ob ich mir keine Zahlen merken könnte! Ob er weiß, dass ich die ersten dreißig Nach-Komma-Ziffern der Zahl PI auswendig kenne? Wohl kaum. Bitte sehr: 3,141592653589793238462643383279. Na? Was aufgefallen? Innerhalb der ersten dreißig Ziffern kommt keine 0 vor. So etwas wie PI ist einfach: Man lernt einfach Zweier- und Dreierkombinationen und merkt sich die Zahlen, welche nicht reinpassen. Ich habe bei der Folge 279 aufgehört, weil ich sie optisch einfach ansprechend finde. Und weil ich Neuner mag. Man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist. Als Kind habe ich Ziffernfolgen im Bett aufgesagt, wenn ich nicht schlafen konnte, meistens Telefonnummern. Das hält das Gehirn gesund. Das Schiff kenne ich zumindest in der Theorie in- und auswendig. Ich habe einfach die siebzehn Deckpläne auswendig gelernt. Es fehlen dann nur noch die Details. Wo war ich gerade? Ach ja, richtig: Feldüberprüfung II. Das Schiff will erkundet werden. Over and out.
Leute, Leute, Leute. Wo man hinblickt: Leute. Überdurchschnittlich viele beleibte Herren über sechzig, mit Goldkettchen und Edel-Tennis-Shirts, manchmal mit Gattin, etwas seltener mit zwanzig Jahre jüngerer Geliebten. Mittvierziger-Frauen, braungebrannt, goldbeklunkert – ehemals schön, nun sich an ihrer welken Attraktivität festklammernd: mit Beauty-Kuren, Fitness und Pilateskursen; mit Partys, bei denen sie aber nicht angesprochen werden, außer von bereits erwähnten, beleibten Sechziger-Herren. Junge Paare in den Flitterwochen, mal turtelnd, mal bei irgendwelchen Sportangeboten. Dafür kaum Familien, und wenn, dann erstaunlich unauffällig. Viele junge Menschen aus Südostasien mit Crew-T-Shirt; stets unterwegs, immer in Bewegung, immer an der Arbeit. Sie lächeln höflich, zeigen sich hilfsbereit und sprechen ein gutes Englisch. Dennoch wittere ich Unstimmigkeiten. Schlechte Bezahlung vielleicht?
–Karajev: merken! Ihre nächste Undercover-Mission!–
Ansonsten wenig Uniformierte unterwegs. Die Technikfachkräfte, Bootsmänner (und vermutlich Bootsfrauen), alle Mitglieder der Brücke und der Kapitän machen sich rar. Ob das nur mir auffällt?
Ich gleite durch mein Deck – Treppe runter, Deck 6, Amüsierzone: Bars, Restaurants, Shops – die wirklich interessanten Sachen sind ein paar Decks weiter oben. Da: zwei hübsche Ladies, so um die achtzehn.
–Achtung, Karajev, nicht ablenken lassen, vielleicht eine Falle!–
Beide schauen zu mir herüber, die eine kichert. Sie hat Ringellöckchen und Ringelsöckchen. Zurücklächeln? Mein Onkel sagt immer:
„Charmant zu den Damen sein, mein Junge, das ist gute, alte Schule!“
Ich lächele zurück, drehe den Kopf und laufe in eine Bananenpalme. Wo kommt die denn plötzlich her? Gehört wohl zu der Bar dahinter. Die beiden Schönheiten schütten sich aus vor Lachen.
–Karajev, Karajev – schon mal was von dem Wort „unauffällig“ gehört? Womit mühen wir uns eigentlich seit zwei Jahren ab, was glauben Sie?–
Ich klopfe der Palme versöhnlich auf den Stamm und drehe mich noch einmal um. Die Süße mit den Löckchen lächelt mich richtig an, ich lächele zurück und gehe weiter. Ob ich sie mal irgendwann einem Verhör unterziehen kann?
Ist übrigens alles Teil der Tarnung, Genosse Kommandant.
Was ist das eigentlich für eine Bar? Ah, Fruchtsäfte, Smoothies und so.
Mental-Map-Eintrag: Deck 6, Sektor B, Position 4: gesunde Smoothie-Bar mit Bananenpalme, nonverbaler Erstkontakt mit möglicher Informantin. Ich drehe mich nochmal um, leider ist sie schon weg. Nun ja. Die Reise geht ja gerade erst los. Da vorne ist das Schachcafé. Und da sind auch mein Onkel und der „Kollege“; das Schachbrett zwischen sich, die Partie allerdings noch nicht angefangen. Mokka-Tasse vor dem Billig-Laden-Typ, Russisch-Kaffee-Glas vor meinem Onkel. So so: Der Wodka tarnt sich als Kaffee, sehr unauffällig.
„Janusz, Janusz. Wolltest du zu mir?“
Er sagt immer zweimal „Janusz“, wenn er sich Sorgen macht. Ich lächele und schüttele den Kopf.
„Ich schaue mich nur um, mir war langweilig.“
Der Billig-Typ mustert mich interessiert mit jovialem Lächeln. „So, jetzt nochmal offiziell: Hallo Janusz, ich bin Hartmuth. Nice to meet you.“
Er schüttelt mir kräftig die Hand. Ich wette, er ist der Typ Mensch, der von sich glaubt, den Charakter eines anderen am Händedruck ablesen zu können. Das pseudo-weltmännische Englisch mit schlechtem, deutschem Akzent soll wohl lässig wirken. Ich entscheide mich für Händedruck Nummer 8, „standhaft-männlich“. Er nickt befriedigt.
„Wir sind noch nicht weit gekommen“, spottet er leicht und weist auf das Schachbrett.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragt mein Onkel immer noch besorgt. Es ist ihm unangenehm, dass ich aufgetaucht bin.
Ich schüttele abermals den Kopf.
„Ich mache mich nur mal mit der Lage vertraut“, antworte ich lässig, was letztlich ja überhaupt nichts aussagt. Mein Onkel nickt. „In zwei Stunden Mittagessen im OceanView? Du weißt wo?“
Warum zweifelt er?
Im tiefsten Inneren glaubt er an mich, sonst wäre ich nicht hier!
Ich schüttele den Kopf, was mein Onkel witzigerweise als „Ja“ auffasst, und genau so ist es ja auch gemeint.
„Hast du deine Tabletten genommen?“
Jetzt nicke ich, meine DIESMAL damit jedoch „Nein“; mein Onkel fasst es allerdings erneut als „Ja“ auf.
Onkel, Onkel: Psycho, aber nicht logisch.
„Na, dann ist ja alles gut“, atmet er auf.
Ich nicke wieder, meine diesmal „Ja“, mache ein Victory-Zeichen.
„Wir sehen uns dann. Viel Erfolg beim Schach!“
War das jetzt gemein?
„Hartmuth?“, sage ich höflich, wie im Agentenfilm.
Handshake Nummer 8, er klopft mir gönnerhaft auf die Schulter, grinst. Ich grinse zurück und mache mich vom Acker. Muss noch dies und das überprüfen.
Agent für einen Geheimdienst zu werden, das klingt, ich gebe es zu, verrückt. Offiziell bin ich ja auch verrückt. Aber was ist das schon: verrückt? Ich meine, wenn ich Feuerwehrmann werden wollte, wäre das weniger verrückt? Eine Jugendfeuerwehr gibt es – einen Jugendnachrichtendienst nicht. Aber da ist die Stimme meines Kommandanten, die mir sagt, was ich machen soll. Also bereite ich mich selbst vor. Ich weiß, was eine Jarygina von einer Walther PPK unterscheidet, auch wenn ich weder die eine noch die andere Waffe je in die Hand bekommen habe. Ich kenne alle gängigen Funk-Codes. Übe mit meinem Spezialmaterial. Beobachte Menschen und höre Gespräche ab. Ich habe meinen Einrichtungsleiter beschattet und herausgefunden, dass er eine Affäre hat. Ich habe Geschäftsbriefe meines Vaters abgefangen, über einem selbstgebauten Dampfgerät geöffnet und nach der – leider vollkommen unspektakulären – Lektüre wieder verschlossen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Gestern, bei der obligatorischen Schiffs-Evakuierungs-Übung, habe ich es, dank meiner Kenntnis aller Schleichwege und Personaltreppen, in sieben Minuten aufs oberste Außendeck geschafft; anstatt in Schafsmentalität irgendeinen lächerlichen Sammelpunkt anzusteuern und darauf zu warten, dass unser Schiff Schlagseite kassiert. Eigentlich fehlt mir jetzt nur noch der Zugang zu einem Dienst, der mich gebrauchen kann. Einem Dienst, der weiß, dass meine Meise keine Störung, sondern eine Fähigkeit darstellt.
Meine Familie hat, das sollte vielleicht noch erwähnt werden, Geld. Zum Teil hat das mit altem Adel mütterlicherseits zu tun, zum Teil mit Tätigkeit in der Wirtschaft. Mir war Geld nie besonders wichtig. Zugegebenermaßen sagt sich das leicht, wenn man keines braucht. Mein Vater Sergej predigt immer, er lege Wert auf „harte, ehrliche Arbeit“, wobei ich ihm in seiner Stellung als Oberboss eines internationalen Logistik-Unternehmens („Karajev Logistics – WIR KENNEN DEINE ADRESSE!“) das „hart“ durchaus abnehme, das „ehrlich“ nicht immer. Für ihn war es schmerzlich, einen verrückten Sohn wie mich zu bekommen. Ich werde dem „guten Namen der Familie“ nicht gerecht, darum nach der Hauptschule die Einrichtung – aus den Augen, aus dem Sinn. Meine Einrichtung hat eine eigene Schule, wo ich mich nun auf den mittleren Abschluss vorbereite. Ich weiß, dass ich ein Gymnasium hätte besuchen können – zumindest, was meinen IQ betrifft. Doch ich verzettele mich oft in komplexen Gedankenketten, weil ich die Kontrolle über mein Umfeld nicht verlieren will und darum alles dauernd beobachten muss. Aus diesem Grund fällt es mir auch schwer, mich auf „den Lerninhalt“ zu konzentrieren. Nein, es ist nicht so, dass ich dumm bin oder nicht klarkäme. Klassischer Schulstoff bleibt bei mir einfach nicht hängen. Ich beschäftige mich lieber mit meinen Themen. Das gilt als dumm.
Aber es liegt nicht an der Schule, dass meine Alten mich mit Erreichen der Volljährigkeit aus dem Haus haben wollten. Mein Vater behauptet, es sei zu meiner „Verselbstständigung“ und zu meinem Besten. Ich vermute, es ist lediglich zu seinem. Ob Sergej mich mag?
Ich glaube, sein Weltbild ist mit meiner Existenz überfordert. Und Karyna, meine Mutter, will vielleicht wirklich mein Bestes, doch sie weiß leider nicht, was das ist. Weil sie generell wenig weiß oder zu wissen glaubt. Sie wirkt nicht gerade selbstbewusst, spricht kaum und hat eine scheue Art des Respekts vor meinem Vater. Ob das immer schon so war? Ich weiß es nicht. Manchmal erscheint sie mir undurchschaubarer als Sergej. Wie eine graue Maus in Nobelklamotten. Vielleicht aber, denke ich gerade, vielleicht hat Karyna auf ihre stille Weise großen Einfluss auf Sergej. Als ich zwölf war, ist Karyna alleine zur Revolution der Würde nach Kyiv gereist. Ich erinnere mich daran, wie sie Sergej ansah und mit leiser, aber bestimmter Stimme „Ich fahre“ gesagt hat. Da hat er nur genickt und fast etwas eingeschüchtert ausgesehen. Gut möglich also, dass es etwas zwischen ihnen gibt, das ich nicht sehen kann. Immerhin hat irgendetwas Sergej dazu verleitet, ihr über Monate hinweg den Hof zu machen.
Siebenhundertsiebenundsiebzig Rosen hat er ihr vor die Tür gelegt, in Odessa damals, Karynas Heimatstadt, vor ziemlich genau dreißig Jahren. Wenn er auch sonst nicht viel redet und lieber einen auf rustikal macht: Diese Episode erzählt Sergej immer gerne.
Jetzt noch zu meiner Schwester Anna; sie ist blond, hübsch, drei Jahre älter als ich und sie mag mich. Anna ist bereits weg von zuhause und studiert Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsrecht. Sie wird dereinst ganz untraditionell die Chefin im Laden sein. Mein Vater hält sich selbst zwar für konservativ, ist aber noch viel lieber Pragmatiker und akzeptiert darum auch ein weibliches Wesen als Führung seines Unternehmens. Wenn Anna mich sieht, strubbelt sie mir durchs Haar – das hat sie schon immer, immer gemacht, seit wir ganz klein waren. Letztes Weihnachten hat sie mich irgendwann beiseite genommen, mich verschwörerisch angeguckt und geflüstert:
„Wir halten zusammen, Janusz. Die Alten haben die Meise, nicht du!“ Da habe ich mich gefreut.
Ja, die Meise. Angeblich habe ich eine solche, irgendeine obskure „Verzögerung“, mitsamt einem Diagnose-Cocktail auf Latein. Das haben sie irgendwann vor Jahren ausgeknobelt. Weil ich außerdem schnell überreizt bin, muss ich Tabletten nehmen. Genauer gesagt: müsste ich. Ich habe das eine Weile lang gemacht und mir war sofort klar, dass das Ganze ein Trick ist, damit ich nicht mitkriege, was so läuft. Eine Verschwörung! Die Drogen haben mein Gehirn total schwammig gemacht. Als ob ich so nachrichtendienstliche Ermittlungen erfolgreich durchführen könnte! Doch ich habe eine geheime Verbündete. Just an Weihnachten hat mir Anna eine blaue Dose in die Tasche gesteckt.
„Falls du mal ein Mädchen küssen willst, Januszka“, hat sie gesagt, dabei gezwinkert und mir wieder durch die Haare gestrubbelt. Alle haben gelächelt, mein Vater spöttisch, meine Mutter wehleidig, Anna spitzbübisch und ich überlegen, als mir Annas Strategie aufging. Sie ist so intelligent! Die Pfefferminzpastillen in der blauen Dose haben nämlich „zufälligerweise“ genau das Aussehen und die Größe meiner „Medizin“. Und ich bekomme in jedem Supermarkt Nachschub. Seitdem bin ich wieder klar im Kopf. Danke, Schwesterherz!
Die Kreuzfahrt ist das Ergebnis eines Streits zwischen meinem Onkel und meinem Vater, ebenfalls an Weihnachten. Davon hätte ich nichts mitkriegen sollen. Habe ich aber doch. Denn ich habe das Billardzimmer verwanzt. Es ist heutzutage kein Problem mehr, an gute Überwachungselektronik zu kommen. Seit dem Versuch, mich mit Tabletten in Dauerdämmerung zu versetzen, will ich wissen, was gesprochen wird.
„Du behandelst den Jungen, als sei er vollkommen krank, Sergej!“
„Ach ja? Du bist der Psychologe hier – hältst du ihn etwa für gesund?“
„Nein, ich gebe zu, er hat einen kleinen Klaps und ist in seiner Reifeentwicklung hintendran. Aber du entziehst ihm das Leben. Du denkst, er wäre total unfähig und unselbstständig. Dabei ist der Junge hoch-intelligent. Ja, er ist sozial entwicklungsverzögert und hat komische Vorstellungen von der Welt, mag sein. Bloß: Was tragt ihr denn zu seiner Entwicklung bei?“
„So, ist das deine Meinung? Wir tun für ihn alles und erwarten nichts. Seit zwei Jahrzehnten. Jetzt ist er formal erwachsen – was soll er uns am Schürzchen hängen? Wir bieten ihm das Beste, was unter diesen Umständen geht. Soll er in der Einrichtung lernen, unter Menschen zu sein. Er hat alles, was er braucht. Wir kümmern uns darum, dass er lesen kann und Klavier spielen. Seinen Abschluss wird er auch machen und dann kann er Buchhalter werden oder Buchhändler oder Pianist. Er ist ein zurückgebliebener Träumer, Valentin, so sieht es aus. Und ich habe nie etwas gesagt. Was willst du also?“
„Gesagt nicht, Sergej, gesagt nicht. Du sagst nie etwas. Aber du respektierst ihn nicht. Die Einzige, die ihn hier respektiert, ist Anna. Du hast dir nie Zeit genommen, ihn zu verstehen. Sergej, er ist dein Sohn. Er ist klug, glaub mir, selbst wenn er nicht dein Logistik-Unternehmen leiten wird. Er kommt in komplexen Situationen zurecht. Janusz muss sein Leben entdecken. Er kann es selbst gestalten. Ich werde es dir beweisen!“
„Ach ja? Durak! Wie denn, Herzensbrüderchen?“
Immer, wenn er sich aufregt, verfällt mein Vater ins Russische. Dabei ist er seit knapp dreißig Jahren kein Russe mehr. Manchmal agiert er sogar deutscher als die Deutschen selbst. In den Nachwendejahren verschlug es ihn zunächst für ein paar Jahre in die Ukraine, anschließend nach Deutschland, wo er sein Unternehmen gründete. Sergej ist, entgegen jedem gängigen Klischee, weder Sowjet-Nostalgiker, noch Nationalist – dafür fühlt er sich im westlichen Kapitalismus und im internationalen Handel einfach viel zu wohl. Emigrierter Russe zu sein, das ist – oder war zumindest bislang – für ihn eher eine Art Markenzeichen, ein Teil seiner imaginären Visitenkarte, mit wenig konkreter Bedeutung für sein Geschäft, welches für ihn stets an erster Stelle steht. Danach kommen, meiner Vermutung nach, Karyna, Anna, sein Polestar 1 und ich – in genau dieser Reihenfolge. Aber imaginäre Visitenkarte hin oder her: Als die russischen Streitkräfte dieses Jahr im Februar anfingen, die fruchtbaren Äcker von Karynas Heimat mit Blut zu tränken, wurde es Sergej eindeutig zu viel.
„Was will dieser Spinner eigentlich? Was?!“, hat er unseren riesigen Flachbildschirm mitsamt den Tagesnachrichten angebrüllt und seine Socken dagegen geworfen, während Karyna weinend meine Großeltern in Odessa anrief.
Ich weiß, dass Sergej sich mit Karynas Heimat verbunden fühlt. Und natürlich ist er wütend darüber, wie ihm Väterchen Kremls Allmachtsphantasien das internationale Geschäft versalzen – sogar das mit der eigenen Heimat! Plötzlich wird der Name Karajev kritisch betrachtet. Langjährige Fahrer kündigen ihre Verträge. Die Spritpreise sind ein Fluch für die Branche. Entsprechend laut flucht jetzt Sergej über Moskau und bricht mit alten Kontakten. Er liest Metro 2033 von Glukhovsky, bekommt seine News vom Dekoder und hat vor lauter Frust sogar die Wodka-Marke gewechselt! Innerhalb von nur wenigen Wochen hat er alle Karajev-Logistik-Standorte in Mütterchen Heimat schließen lassen, was ihm nah gegangen ist, auch wenn er das nicht sagt. Sergej sagt nie etwas. Kurz vor Ostern habe ich jedoch bei einer Übung ein entsprechendes Geschäftstelefonat belauscht, diesmal ohne Wanze, dafür mit einer Endoskopkamera. Das Gespräch verlief im Originaltext auf Russisch und beinhaltete noch einige Flüche, die ich hier nicht wiedergeben will. Mit wem er telefonierte, weiß ich nicht. Es muss aber jemand ziemlich Wichtiges gewesen sein.
„Soll er doch sehen, wo er bleibt!“, hat Sergej ins Telefon gebrüllt. „Es gibt Grenzen, auch für ihn, auch für euch! Herzensbrüderchen, ich ziehe unsere Leute und Wagen ab und mache alles dicht! Was? Ach wirklich? Nennt mich doch, wie ihr wollt! Erzähl mir nicht, ihr hättet keine Verwandten drüben! Damit schneidet ihr euch ins eigene Fleisch, der Heimat, uns allen! Was? Die besten Leute werden gehen, verstehst du?! Wie? Pah! Wer verrät hier wen? Schimpfst du jetzt mit deinem Spiegel, weil dein Gesicht schief ist? Nein, ich sehe diese glorreiche Zukunft nicht! Ihr macht euch nur selbst kaputt und uns auch! Nein, wir ziehen uns raus, fertig. Sogar der Zar wird sterben irgendwann, begreift das mal! Do swidanja!“
Dann hat er sein Smartphone auf den Tisch gepfeffert, geflucht und sich einen doppelten Nemiroff eingegossen. Runtergekippt. Eine Weile still herumgesessen. Spöttisch die ersten Takte von Wind of Change gepfiffen. Plötzlich gelacht.
„I follow the Moskwa… Scheiße!“
Erneut geflucht und das berüchtigte Schlangeninsel-Zitat drangehängt. Wieder jemanden angeklingelt. Anweisungen auf Russisch gegeben. Sich noch einen weiteren Nemiroff eingegossen. Mit Karynas Eltern telefoniert und sie ohne langes Fackeln nach Deutschland geholt. Sergej mag ein harter Hund sein, aber er hat so seine Prinzipien. Trotzdem – oder genau deswegen – gefällt er sich gut in der Rolle des Möchtegern-Oligarchen. Irgendwie mag er dieses leicht anrüchige Image als Patriarch und Macho; nach außen traditionalistisch, mit einem Hauch von russischer Mafia und manchmal etwas gebrochenem Deutsch. Doch letzten Endes ist das alles nur Show. Vielleicht, denke ich, vielleicht ein bisschen Sehnsucht nach einem Gefühl von früher. Etwas Macht-Kick. Und etwas Einsamkeit. Fest steht: Sergej flucht gerne auf Russisch. Ich hingegen habe ziemliche Hemmungen, unflätig zu sein, egal in welcher Sprache. Das macht der Erziehungsanteil meiner Mutter. Doch ich schweife schon wieder ab. Ist eine blöde Angewohnheit von mir. Habe manchmal Borschtsch in der Birne, da haben die Psychotypen wohl leider recht. Wo war ich eigentlich? Ach ja: beim Lauschangriff auf das Billardzimmer.
„Also? Wie willst du mir das beweisen?“
Mein Vater ist dann doch neugierig. Onkel Valentin lässt sich Zeit mit der Antwort. Eine Kugel klackert.
„Rede mit der Einrichtung. Gib ihn mir mit, für zwei oder drei Wochen. Auf Urlaub. Damit er die Welt sieht; neue Erfahrungen macht. Mein Gott, er hat noch nicht mal eine Freundin!“
„Pah! Kann ja ein Buch darüber lesen. Was soll das überhaupt für ein Urlaub sein?“
„Ich gehe auf Kreuzfahrt nächstes Jahr.“
Spöttisches Pfeifen. Wieder Billard-Klackern. Schweigen. Eiswürfel. Eingießgeräusch, vermutlich jener sehr teure Wodka, der ebenso Teil der Show ist. Mein Onkel lehnt dankend ab. Ungeschickt, Onkel!
„Großes Schiff, große Fahrt. Gib ihm eine Chance, Sergej.“
Wieder Schweigen. Dann mein Vater, aufbrausend:
„Du denkst, ich bin erfolgreich im Beruf und privat ein Versager, so ist es doch, oder? Du willst bloß, dass Mamotschka recht hat. Gib es zu!“
Mein Onkel schweigt. Das ist klug. Etwas fällt auf den Teppich, ich tippe auf Wodka-Glas.
„Gavno!“ Scheiße. Mein Vater ist beleidigt. Irgendetwas liegt in der Luft. Sergej schnaubt verächtlich wie ein Ochse.
„Kreuzfahrt! Pah!“
Gießt sich sein Glas wieder voll. Trinkt. Lacht auf einmal schallend. „Sind zwei Spinner auf einem Bootchen! Du bist ein Träumer, Valentin! Auf deine Verantwortung. Und auf deine Kosten!“
Das Meer. In dieses Wort interpretiert man viel hinein: Weite, Sehnsucht, Kraft. Ich stehe auf dem Außenbereich von Deck 15 und schaue in die Weite. Wir haben Dänemark hinter uns gelassen und bewegen uns auf der offenen Nordsee in Richtung Süd-Süd-West. Es ist 12.00 Uhr vorbei. Das Meer ist stahlblau mit weißem Schaum, unruhig gewellt, der Horizont diesig, das Wetter grauwolkig und trocken. Der Wind weht mir salzig-scharf um die Ohren.
Die Außendecks: nur dünn besucht. Weite, Sehnsucht, Kraft? Kaum jemand verbindet mit dem Meer als erstes das Naheliegendste: Langeweile. Ich muss zugeben, dass ich ein gewisses Maß an gediegener Langeweile durchaus schätze – mein Leben ist aufregend genug. Als nächste Mission habe ich die Verwanzung sensibler Bereiche auf dem Schiff vorgesehen. ‘Sensible Bereiche’ sind überall da, wo man sich interessante Informationen erhoffen darf. Das kann auf einem Schiff dieser Größe überall sein und ich habe nur sechs Wanzen. Reichlich wenig. Ich muss gut überlegen, was ich mir davon verspreche, außer der Übung. Das Meer bringt mich in nachdenkliche Stimmung. Was verspreche ich mir überhaupt von irgendwas? Ich weiß tief in mir, dass es gar nicht so einfach ist, WIRKLICH für einen Nachrichtendienst zu arbeiten. Bin ich nicht vielleicht doch nur ein blasser, Klavier spielender Spinner mit Entwicklungsproblem? Manchmal macht es mir Angst, so klar nachzudenken. Anna könnte mir jetzt helfen, doch die ist weit weg. Ich muss alleine klarkommen.
Wenn ich so auf die Außendecks weiter unten schaue und die Menschen dort betrachte, so fällt mir auf, wie unterschiedlich sie sind. Sie alle suchen etwas: Erholung vom Alltag, den perfekten Urlaub, Ablenkung, eine Romanze oder vielleicht auch nur das Deck mit der Smoothie-Bar. Wer sagt ihnen, wo es lang geht? Das war eine rhetorische Frage – die gesamte Crew kann Antwort auf die Frage nach der Smoothie-Bar geben. Worauf ich hinaus will, ist: Irgendwie ist doch dieses ganze Ding hier ein Spiel und möglicherweise ist es total belanglos, was und wie viel wir spielen. Zumindest denke ich jetzt so, wenn ich auf das Meer blicke.
„Es ist DEIN Spiel, DEINE Interpretation!“, hat mich meine Klavierlehrerin immer wieder ermahnt. Aus genau diesem Grund kann ich spielen, so viel und so sinnfrei, wie ich will. So lange ich gut spiele. Mit diesem Gedanken reiße ich mich von der Reling los und begebe mich wieder ins Innere des Schiffes.
Ich mache einen Abstecher in die Sinatra-Bar, inoffizielles Hauptquartier, Strategie- und Kommandozentrale. Meine Kabine bleibt Materiallager. Wo ich in Ruhe Daten auswerte, weiß ich noch nicht. Man sollte immer Privates und Berufliches trennen. Ich bin geneigt, die Kabine als privaten Rückzugsort zu nutzen, aber mal sehen.
Die Sinatra-Bar ist genau so, wie sie sein sollte: blauer, dicker Teppich, Tische aus warmem, poliertem Holz, die lange Bar mit Goldrändern, wuchtige Ledersessel, ein Billardtisch ganz hinten links, ein Bibliotheksbereich ganz hinten rechts. Alles glatt, dunkel, sauber, dazu passend: reinstes Tageslicht aus Oberlichtfenstern, dezent platzierte Grünpflanzen, Jazz im Hintergrund. Der Barmann, ein Mittzwanziger mit dunkelrandiger Brille, füllt gerade Teignüsse in ein Schälchen.
„Na, womit kann ich dem Herrn eine Freude machen?“, fragt er freundlich und souverän, ohne jegliche Ironie, maximal Selbstironie.
Meine Güte, „dem Herrn“. Gute Ausbildung, denke ich.
„Bringen Sie mir bitte eine hausgemachte Zitronenlimonade; drei Eiswürfel, drei Minzblätter, einen Schnitz Zitronenschale und ohne Strohhalm“, bestelle ich selbstsicher. Ich habe diese Bestellung exakt siebenundzwanzig Mal geübt, bis ich den richtigen Tonfall draufhatte.
„Aber selbstverständlich“, nickt der Bartyp, ohne mit der Wimper zu zucken und macht sich ans Werk. Gute Ausbildung.
Früher war ich noch so kindisch und habe James Bond nachgeäfft;
„Eine Zitronenlimonade, geschüttelt, nicht gerührt!“
Das währte zum Glück nur so lange, bis mich eine verständnisvolle Cocktailmixerin darauf hinwies, dass „Zitronenlimonade gerührt“ ja enorm wenig Effekt hätte, da sich das Getränk ja nur auf EINE zu rührende Komponente beschränke, und dass das Schütteln jedweder Limonade hingegen generell keine besonders zielführende Idee sei. Außerdem machte sie mir ein für alle Mal klar, dass sogar James Bond regelmäßig gegen den guten Geschmack verstieße, da man einen Gordon’s nicht mit einem Wodka verhunzen und man – so oder so – das Getränk in diesem speziellen Fall NIEMALS schütteln dürfe, weil das Eis den Geschmack verwässern würde. Einen Wermut zu schütteln sei schlicht und ergreifend kulturlos und unanständig, mit anderen Worten: Vergiss James Bond! Ich schämte mich in Grund und Boden und nahm mir zu Herzen, original Karajev zu sein und zu bleiben.
Janusz Karajev. Und der trinkt nun mal gerne…
„Eine hausgemachte Zitronenlimonade; drei Eiswürfel, drei Minzblätter, einen Schnitz Zitronenschale und ohne Strohhalm!“
Mit exakt diesen Worten stellt nun der Barmann die Limonade auf den Tresen. Ich halte ihm meine Bordkarte zur Bezahlung hin und frage ihn nach seinem Namen. Bartender gelten als gute Informationsquellen. „Klaus. Einfach nur Klaus.“
„Karajev, Janusz Karajev“, erwidere ich. „Gute Arbeit, Klaus.“
Klaus nickt, ohne eine Miene zu verziehen und widmet sich wieder seinen Teignuss-Schälchen. Nun lehne ich lässig am Tresen und denke über meine Pläne nach. Ich beschließe, klein anzufangen mit der Verwanzung: drei Wanzen für drei Tage, dann sehen wir weiter. Nüchtern betrachtet haben die Dinger maximal hundert Meter Reichweite und ich bekomme vermutlich eh nichts Interessantes. Eine lasse ich gleich hier am Tresen; an der ruhigsten Stelle, weitab vom Barkeeper. Ganz rechts. Und klick. Mit Hilfe eines Magneten angebracht. Eine kommt in den VIP-Saal im Deck 11. Irgendein Summit eines großen Unternehmens soll da bald stattfinden. Die dritte? In die Schachbar, will meinen: Schachcafé! Vermutlich sogar die ertragreichste Idee! Und die Reise? In Amsterdam werde ich mich einer Ausflugsgruppe anschließen, vermutlich sogar gemeinsam mit meinem Onkel. Das flößt ihm Vertrauen ein, dem alten, nervösen Psychologen.
Und in Plymouth werden wir uns ein wenig ‘Familienzeit’ nehmen: bummeln, English Tea Time, gerne die Titanic-Ausstellung. Für Porto und Malaga habe ich noch keine Ideen. Für die Balearen erhoffe ich mir entweder einen wilden Flirt mit einer feindlichen Agentin oder irgendeine Mission im exotischen Hinterland – oder beides? Bis dahin ist noch Zeit. In Genua dann auschecken und Eis essen. Klingt gut. Blick auf meine Smartwatch: 12.38 Uhr. Onkel Valentin bewegt sich in Richtung OceanView. Ja, ich gebe es zu: Ich habe ihn getrackt. Mit einem Mini-GPS-Tracker, den ich ihm – getarnt als Schlüsselanhänger in Schiffs-Form, aufschraubbar – geschenkt habe. Er geht nie ohne Schlüssel, auch wenn er ihn nicht braucht. Mit Hilfe der Tracking-Software und meiner Smartwatch bekomme ich jederzeit seine Position auf fünfzehn Meter genau, zumindest horizontal. Ich seufze. Solch einen Anhänger hätte ich dem hübschen Ringellöckchen-Mädchen anheften sollen. Vergiss sie, Karajev, so toll war sie nun auch wieder nicht. Mittagessen? Mittagessen!
„Was planst du heute Nachmittag?“
Mein Onkel säbelt an einem Schnitzel herum, dazu gibt es Rosmarin-Kartoffeln. Ich habe es bislang nicht geschafft, ihn zum Vegetarier zu bekehren; er kontert dann immer mit so irrelevanten Sprüchen wie: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft!“
Ich schlucke meine Gabel Reis hinunter, da man ja bekanntlich mit vollem Mund nicht sprechen soll.
„Heute Nachmittag gibt es einen Selbstverteidigungs-Workshop im Sportcenter auf Deck 14. Den schaue ich mir mal an.“
„Soll ich dich begleiten?“
Ich schüttele den Kopf. Wie sieht denn das aus? Agent Karajev braucht Begleitschutz auf dem Weg zum Selbstverteidigungskurs? Dann frage ich unumwunden:
„Valentin, glaubst du, ich könnte wegziehen und alleine leben?“
Er verschluckt sich am Bier und hustet. Habe ich ihn jetzt schockiert? „Janusz, Janusz“, sagt er abwiegelnd.
„Im Ernst!“, beharre ich. „Du bist Psychologe. Immer heißt es, es wäre alles gut so, wie es ist. Wie verrückt bin ich denn so im Vergleich?“
„Janusz!“ Er wird streng. Seufzt. Schaut auf seinen Teller. Nimmt noch einen langen Schluck Bier. Fängt dann einen langen Monolog an.
Alles sei kompliziert, meine Diagnose Ansichtssache, Sergej stünde hinter meiner Einrichtung und überhaupt: Was für Pläne ich denn hätte? Mein Kommandant erinnert mich an meine Geheimhaltungspflicht, also zucke ich nur mit den Schultern und schweige.
Valentin überlegt kurz, schaut mich dann lange an.
„Ich sag’ dir was: Du wirst irgendwann dein Leben eigenständig gestalten. Ich kann dir nicht sagen, wann. Ich kann dir nur sagen, dass du es tun wirst. Genügt dir das?“
Ich nicke und meine damit: „Eigentlich nicht, aber was soll’s.“
Valentin seufzt erneut.
„Du verrätst mir nicht, was du den ganzen Tag so machst, richtig?“ Ich schüttele den Kopf und meine „Nein“ damit.
„Habe ich mir schon gedacht. Versprichst du mir, dich zu melden, wenn es irgendwelche Probleme gibt?“
Ich nicke und meine „Vielleicht“, was mein Onkel als „Ja“ auffasst.
„Na dann. Hab’ viel Spaß auf unserem Bootchen. Nachtisch?“ Im Grunde ist mein Onkel ganz in Ordnung.
„Ich bin der Thomas. Willkommen, wilde Kämpferinnen und Kämpfer! Lasst mich ein lautes ‘HA!’ hören!!!“
„HA.“
„Das soll ein ‘HA!’ sein?! Ich sagte: Willkommen wilde Kämpferinnen und Kämpfer!!! Lasst mich ein LAUTES ‘HA!’ hören!!!“
„HAA!!!“, brüllen wir.
Der Selbstverteidigungstrainer nickt befriedigt. „So muss das sein! Schön selbstbewusst! Wer will etwas über Selbstverteidigung lernen?“
„HAA!!!“, brüllen wir automatisch und merken erst dann, dass wir nicht richtig aufgepasst haben. Einige kichern. Scheint aber egal zu sein. Trainer Thomas will bloß seine Show.
„Jetzt machen wir uns zackig warm, ihr wilden Kämpferinnen und Kämpfer, und dann zeige ich euch, wie man angreifenden Piraten ordentlich eins auf die Mütze gibt! Habt ihr da Bock drauf?“
„JA!!!“, blöken wir brav – diesmal haben wir aufgepasst.
„Dann los – mit Musik!“
Wir sind ein Grüppchen von vierzehn Leuten – vier braungebranntverblühte Mittvierzigerinnen sind da, ein dicker Typ mit Schnauzbart, ein Kleiderschrank à la Wacken-Festival mit langen Haaren, zwei Paare vom Typ Hochzeitsreise, drei Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts in meinem Alter und ich. Trainer Thomas ist geradezu anstrengend gut gelaunt und gefällt sich offenbar sehr in seiner Rolle.
„So, und jetzt hüpfen! Ganz locker hüpfen! Als wärt ihr Kängurus mit Flummis im Bauch!“
Oh je, er versucht auch noch witzig zu sein! Wie kommt man bloß auf solche Vergleiche? Endlich ist das Aufwärmen vorbei.
„So, als Erstes lernen wir eine wichtige Grundtechnik. Nehmen wir an, dass uns kurz vor Plymouth die Piraten kapern…“
Was hat der nur immer mit seinen Piraten?
„Das Wichtigste ist, IMMER locker und beweglich zu bleiben. Hey du da, du, ja genau. Wie heißt du?“
Er meint MICH!
„Karajev, Janusz Karajev.“
„Der tschechische James Bond, hm? Sehr gut. Komm doch mal her!“
Ich rolle mit den Augen. Tschechischer James Bond! Aber zugegeben: Ein deutscher junger Mann mit russisch-ukrainischen Eltern kann schon verwirrend sein. Besonders für durchschnittliche Deutsche, die ja eh alles östlich der Oder durcheinanderbringen. Außer Deutschen wie mir natürlich. Ich sagte ja, es ist verwirrend. Alles Teil meiner Tarnung.
Vor versammelter Mannschaft – na ja, vorwiegend Frauschaft – und zu Demozwecken steht jetzt Agent Karajev, getarnt als blasser, zwanzigjähriger Junge neben einem Kämpftrainer, der vor Testosteron, Protein und Selbstdarstellungsbedürfnis nur so trieft.
„Also, kleine Demonstration. Du musst keine Angst haben, James, ist ganz harmlos.“
Zur Gruppe gewandt, fährt er fort:
„Für das erste Bewegungsprinzip ist es entscheidend, dass ihr nicht einfach nur überfordert stehen bleibt, wenn euch jemand angreift.“ Ach wirklich? Welch göttliche Weisheit! Didaktik war wohl gerade ausverkauft, als der Typ an die Reihe kam.
„Pass auf, James.“
„Janusz!“
„Oder so. Ich laufe jetzt gleich mit Tempo auf dich zu. Ich möchte, dass du ganz spontan reagierst, O.K.? Mach einfach das, was dir als erstes in den Sinn kommt.“
Trainer Thomas nimmt Anlauf und sprintet los. Ehe ich nachdenken kann, habe ich mich aus der Angriffslinie gedreht und das Systema-Programm aus der Grundschulzeit übernimmt meinen Kopf. Ich gebe ihm einen Impuls in den Rücken, gekoppelt mit einer Fußangel. Er schreit verblüfft „He!“, stolpert und segelt kraftvoll zwei Meter weiter auf die Matte. Die ganze Gruppe klatscht.
Trainer Thomas rappelt sich etwas irritiert auf und versucht, seine Souveränität wiederzuerlangen, was ihm scheinbar schwerfällt. „Das war nicht schlecht, äh…“ „Janusz“, sage ich zuvorkommend und verneige mich leicht.
„Gut. Janusz, äh, danke. Wie ihr alle seht: So kann man es auch machen. Worum es mir gerade eigentlich ging, war das Ausweichen.“
Er nickt dem fetten Schnurrbartträger zu.
„Darf ich es nochmal an DIR demonstrieren? Ähm….?“
„Herbert“, nickt dieser zurück.
„Herbert. Komm doch mal bitte nach vorne.“
Kurze Zeit später trainieren wir alle das Ausweichen mit einem etwa gleich schweren Gegenüber. MEIN Gegenüber ist eine Art Hippie-Mädchen mit dunklen Dreadlocks, einem kleinen Ring im Nasenflügel und schalkhaftem Grinsen. Meine Vorerfahrung hat sie wohl neugierig gemacht, jedenfalls üben wir jetzt zusammen.
„Du machst das nicht zum ersten Mal, richtig?“, will sie wissen.
–Achtung, Karajev! Wer fragt, führt! Lassen Sie sich nicht ausfragen! –
„Damals in der Grundschule habe ich ein wenig russische Kampfkunst geübt. Mein Vater ist da immer sehr, äh, nostalgisch. Ist aber lange her.“
„Kommst du aus Russland?“
Sie runzelt die Stirn. Es ist gerade wirklich keine Auszeichnung, irgendwas mit Russland zu tun zu haben.
„Mein Vater kommt von dort. Er ist aber vor allem im Herzen Russe.“
„Und du? Bist du auch im Herzen Russe? Wie stehst du zur aktuellen Politik des Kremls?“
Ihre direkte Art schockiert mich. Was würde James Bond antworten? „Die Geschichte verachtet Männer, die Gott spielen“, zitiere ich. „Ich habe in Moskau nie Gott gespielt und in Kyiv nie Krieg. Nur Klavier.“ Wow, das war verdammt schlagfertig! Wo kam denn das jetzt her? „Immerhin nennst du es ‘Krieg’. Und was spielst du dann so?“
„Jedenfalls nicht Wagner. Vlastoyevsky, falls dir das etwas sagt. Meinen Lieblingskomponisten“, erläutere ich stolz.
„Den Pazifisten? Frühes zwanzigstes Jahrhundert?“
„Kaum jemand kennt ihn. Kaum jemand versteht ihn. Woher bist du?“
„Hamburg. Habe Semesterferien und brauchte mal eine Auszeit allein.“
„Da bist du ja goldrichtig auf dem großen Schiff. Was studierst du?“
„Friedensforschung. Übrigens: Nimm deine Deckung höher!“
„Danke. Wie heißt du überhaupt?“
„Wird das hier ein Verhör? Thekla. Mit Zweitnamen Maja. Mit Drittnamen Kassandra. Glaube mir: Meine Eltern hatten echt ’nen Knall!“
„Das kenn’ ich…“, seufze ich. Erstaunlich! Ich unterhalte mich richtig normal mit einer jungen Frau! Wenn das mein Vater wüsste!
Na ja, vielleicht besser, er weiß es nicht. Thomas hat sich übrigens dafür entschieden, mich nicht mehr als Demonstrationsobjekt zu verwenden. Jetzt zeigt er uns eine Abwehrtechnik, die man aus jedem mittelmäßigen Actionfilm kennt. Verdammt, ich bin in einem Anfängerkurs! Nun gut, das hätte ich ja wissen müssen. War wohl wieder verspult. Der Borschtsch im Kopf. Ich werfe einen Blick auf Thekla Maja. Sie ist nicht so sexy wie das Ringelsöckchen-Mädchen, aber irgendwie hat sie was. Wirkt knuffig. Sympathisch. Ob sie wohl gemerkt hat, dass ich eine Meise habe? Von meiner geheimen Tätigkeit kann sie ja nichts erahnen.
„So, jetzt wieder ran an den Speck!“, motiviert Thomas.
Was soll denn dieser deplazierte Spruch jetzt bedeuten?
„Und du? Was führt dich auf das Schiff?“, will Thekla wissen.
„Ich mache Ferien mit meinem Onkel. Ich, äh, bin in einer Art… äh…
Elite-Internat und mache dort meinen mittleren Abschluss…“
„Ach so? Wie alt bist du denn?“
Wahrheit oder Pflicht? Was ist denn jetzt taktisch klüger?
Hallo, Zentrale? Meine Legende enthält hier unpräzise Vorgaben…
„Verhörst du jetzt mich? Zwanzig. Mein Abschluss enthält noch ein paar, äh, Elite-Zusatz-Gimmiks, deshalb bin ich so alt… Es ist kompliziert. Ich darf nicht darüber reden.“
„Oh James, wie geheimnisvoll!“, spottet sie lächelnd.
Oder lächelt sie spöttisch? Ich bin irritiert. Mit solchen Reaktionen kann ich nie richtig umgehen; also, mit zweideutigen Reaktionen von Menschen. Ich habe ja quasi auch nie mit Frauen in meinem Alter zu tun. In diesem Moment bin ich unkonzentriert, vergesse die Abwehr und bekomme, patsch!, eine Ohrfeige von Thekla.
„Ups!“, macht sie erschrocken und kichert peinlich berührt.
„’Tschuldigung!“
Die Trainierenden neben uns grinsen amüsiert.
„Schon O.K., ich war gerade von dir abgelenkt. Äh, darf ich dich nach dem Training zu einer hausgemachten Zitronenlimonade mit Eis, Minzblättern, Zitronenschale und ohne Strohhalm einladen?“, lenke nun ich rasch ab.
„Was wird denn das jetzt? Entweder ist das die fragwürdigste Anmache, die ich je gehört habe“, grinst Thekla, „oder du hast eine Vollmeise!“
„Das, äh… nennt sich nicht Anmache, sondern Einladung“, rücke ich zurecht. „Mein Onkel sagt immer, man solle charmant zu den jungen Damen sein.“
„Dein Onkel ist witzig – den musst du mir unbedingt mal zeigen!“, prustet Thekla und kriegt sich kaum noch ein.
„Also?“, hake ich nach. Sie schüttelt den Kopf und grinst.
„Hat dein Onkel dir nicht gesagt, dass man eine junge Dame erst zur Zitronenlimonade einlädt, wenn man mindestens einmal mit ihr spazieren war und sich von ihr hat zutexten lassen?“
Nein, davon hatte Valentin nichts gesagt. Ich schweige betroffen. Thekla grinst schon wieder.
„Oh, jetzt ist aber einer enttäuscht! Bist du morgen auf Landgang?“ Ich nicke und meine „Ja!“ damit.
„Dann sehen wir uns da. Das wird sicher enorm unterhaltsam, wenn du so weitermachst.“
Sie boxt mir in den Bauch und schüttelt ungläubig grinsend den Kopf. „Zitronenlimo! Echt!“
- Kapitel 2 -
Das Seil an der Reling
MS Culture
position: 54.52630316100198, 6.613240846630392
destination: Amsterdam, Netherlands
speed: 18 knots
time: 4.22 p.m. / 05-05-22
Ich schaue Thekla Maja nach, wie sie nach dem Workshop verschwindet. Soll ich sie observieren und ihre Kabinennummer ermitteln? Ich hätte ihr einen meiner kleinen Tracking-Schlüsselanhänger schenken sollen. Noch immer bin ich verwirrt: Das war das erste richtige Gespräch mit einer richtigen Frau. Ja, O.K., ich weiß, was heißt „richtig“? Ich meine mit „richtig“: nicht Mutter, nicht Betreuerin, nicht Lehrerin, nicht Psychiaterin, sondern einfach ein weibliches Wesen in meinem Alter. Wow!
–Karajev, Sie alter Schwerenöter! Lassen Sie sich nicht von den Röcken aus dem Konzept bringen! Das ist unprofessionell und gefährdet die Mission!–
Ja, aber Thekla trägt Skaterpants! Und ich weiß immer noch nicht, worin die Mission auf diesem Schiff eigentlich besteht, Genosse Kommandant.
–Das ist ja schließlich geheim, Karajev! Und jetzt Marsch auf Ihren Posten! Erledigen Sie endlich den Auftrag mit den Wanzen!–
Auflistung meiner geheimen Operations-Ausrüstung
► Sechs Wanzen, ein Abhörkugelschreiber und eine Empfangsstation, welche automatisch alle Signale auffängt und Mitschnitte anlegt. Die Speicherkapazität ist auf zehn Stunden begrenzt.
► Vier Tracking-Schlüsselanhänger. Problem dabei: Genauigkeit nur auf fünfzehn Meter und ich bekomme lediglich Informationen über die Horizontale, was auf einem Schiff mit siebzehn Decks ziemlich unpraktisch ist. Zudem schwankt die Genauigkeit, da sich das Schiff ja ständig bewegt.
► Smartwatch und Handy – synchronisiert mit meinem Tablet und versehen mit allen Apps, die mir meine geheimen Tätigkeiten erleichtern.
► Verschiedene Kameras, versteckt in Sonnenbrille und Baseballmütze („BaseCam“).
► Zwei In-Ear-Funksysteme, so wie sie Bodyguards und Antiterroreinheiten haben. Problem: Es gibt niemanden, mit dem ich funken könnte.
► Eine externe Festplatte mit so viel Speicherkapazität, dass alle James Bond- und Mission Impossible-Filme draufgepasst haben, nebst meinem Lieblingsagentenfilm ANNA, der mich immerhin an meine Schwester erinnert. All dies zur Entspannung an Regentagen. Unnötig, ich weiß…
► Flexibel einsetzbare Kleidung für jeden Anlass.
► diverse Oberlippenbärtchen und eine Klarglas-Brille zum Verkleiden.
► Eine Stirnlampe.
► Ein kleines Fernglas.
► Kabelbinder und Klebeband zum Fesseln feindlicher Kräfte.
► Mein Survival-Set inklusive Miniaturmesser.
Ja, ich gebe zu, diese Ausrüstung hat viel Geld verschlungen. Komplex war die Beschaffung an sich – weder meine Einrichtung noch meine Eltern durften davon etwas mitkriegen. Wie ich das gemacht habe? Das wäre eine eigene Geschichte.
Es ist Kaffee-Zeit. Ich mache einen Abstecher zum Schachcafé, setze mich an jenen Tisch, an dem mein Onkel heute saß, und bestelle KEINE Zitronenlimonade – ich bin nur verrückt, nicht besessen –, sondern eine russische Schokolade. Meine Güte: Alkohol im Dienst! Wenn das irgendjemand wüsste! Doch der Genosse Kommandant bekommt gerade nichts mit. Säuft vermutlich selbst, der alte Sack. Hick. Jetzt habe ich Schluckauf. Hick. Hick. Klick