Jb '23. Das Jahrbuch für Literatur aus dem Main-Tauber-Kreis - Armin Hambrecht - E-Book

Jb '23. Das Jahrbuch für Literatur aus dem Main-Tauber-Kreis E-Book

Armin Hambrecht

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Beschreibung

Der Main-Tauber-Kreis: 1.302 Quadratkilometer in der Fläche, rund 132.000 Einwohner, damit vergleichsweise dünn besiedelt. Seine 18 Städte und Gemeinden, von Freudenberg im Norden bis Creglingen im Süden, „eine Kette mit 18 Perlen, jede individuell verschieden, jede besonders“. Namensgebend die Tauber im 120 Kilometer langen Taubertal. Ein Idyll, wie Gott es in einer besonderen Stunde geschaffen hat, ein reizvolles Fleckchen Erde. Kultur? Klar doch. Nicht nur die der Reben! Und Literatur? Nicht unbedingt der Hotspot der Avantgarde in Deutschland. Bis jetzt noch. Aber das soll sich ändern! Vier befreundete Autorinnen und Autoren, Marion Betz, Armin Hambrecht, Martin Köhler und Brigitte Volz, haben zusammen mit dem Niederstettener Verlag Günther Emigs Literatur-Betrieb ein Jahrbuch für Literatur herausgegeben. Entstanden ist eine eine Dokumentationen des Ist-Zustands mit Beiträgen von Martin Bartholme, Marion Betz, Bernd Marcel Gonner, Carlheinz Gräter, Walter Häberle, Armin Hambrecht, Ulrich Hefner, Tobias Herold, Uwe Klausner, Martin Köhler, V. L., Beate Ludewig, Willi Mönikheim, Horst-Dieter Radke, Regina Rothengast, Eva Rottmann, Ulrich Rüdenauer, Gunter Schmidt, Karl-Heinz Schmidt, Frank Schwartz, Maite Scott Backes, Detlef Scott Backes, Peter-Michael Sperlich, M. Tauber, Matthias Ulrich, Brigitte Volz, Wolf Wiechert, Jochen Wobser und Heike Wolpert. Im Anhang ein Aufsatz von Hartwig Behr über Autoren als Kurgäste in Bad Mergentheim sowie ein "Vorläufiges Taubertäler Autorenalphabet"

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Jb ’23

Das Jahrbuch für Literaturaus dem Main-Tauber-Kreis

Herausgegeben vom Lyriksündikat(Marion Betz, Armin Hambrecht, Martin Köhler und Brigitte Volz)

eBook ISBN 978-3-948371-01-2

Buchausgabe ISBN 978-3-948371-96-8

Verlegt in Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten

© 2023 für die einzelnen Texte bei den Autoren

Inhaltsverzeichnis
Liebe Leserinnen und Leser,
Vorwort
Martin Bartholme
Provinzmonarchen
Schokolade zum Frühstück
Ein roter Fleck im weißen Schnee
Marion Betz
Wohn gemein schafft
Zwielicht
Sommerabend
maienmond
Fragment
Ohne Titel
Winterwölfe
Schöne Geräusche
Ein Freund
Lebensmitte
Später, im Herbst
Räume verlassen
Im Dorf
Du weißt warum
Bernd Marcel Gonner
Poujuw steigt aus
Carlheinz Gräter
Im Taubergrund
Weinbergweg
Weinbergmäuerle
Wertheim
Im Steinekranz lohte das Weinfass
Walter Häberle
Rache ist sauer
Armin Hambrecht
Wirrungen
Heiliger Martin
Herbstblut
Gerlachsheim Sommer
Ein Psycholog
Elegie über die Zitrone (Zitronenelegie)
Poetae laureati
Mariä Himmelfahrt
Gerlachsheim Herbst
Gerlachsheim Winter
Ulrich Hefner
Die überaus honorigen Mahlsteine und der alte Esel
Tobias Herold
Hier gab es Schlecker...
Tauber, immer Tauber...
Ja, ich bin den Weg gegangen...
Uwe Klausner
Die Hüter der Gralsburg
Martin Köhler
Abpfiff/Nachspielzeit
V. L.
Die Großen Gefühle
Neues vom heilige Martin
Beate Ludewig
Wintermorgen
Winterende
Maientag
Johanni
Sommerabend
Das Gewitter
Herbst
Herbstwind
Novembertag
Advent
Willi Mönikheim
Es woar amol
Horst-Dieter Radke
Eduards Nachtgang
Regina Rothengast
Tiefflieger
Eva Rottmann
Am Ende der Welt
Ulrich Rüdenauer
28 Wellington Street
Gunter Schmidt
Euro-Soccer
Begegnung mit – denen
Karl-Heinz Schmidt
Wendepunkt
Die Insignien der Macht
Frank Schwartz
Aus: Der Händlerbub
Maite Scott Backes
Die Welt der Bücher
Detlef Scott Backes
Roth?-Wein!
Die Turteltauben
Peter-Michael Sperlich
Am Tauberfall
An der Gamburger Kapelle
Eulschirbenmühle
Im Hinterhof
Wertheim
Weg nach Lauda
Was für ein Erbe
Dichtkunst
Lächler
M. Tauber
Therese. Im Sommer.
Matthias Ulrich
Brigitte Volz
Taubermond
Tauberbischofsheim
Steinkreuze
Marien
Laudate Lauda
Fremdgehen
Eulschirbenmühle
Wolf Wiechert
Der Besuch
Jochen Wobser
Antisahara in St. Georgen
Heike Wolpert
Abserviert!
Hartwig Behr
Kur und Literatur Das Mergentheimer Karlsbad gesehen von Schriftstellern
Günther Emig
Vorläufiges Taubertäler Autorenalphabet (Geboren, gelebt, gewirkt, gestorben)
Die Autoren
Hinweise auf weitere Bücher

Liebe Leserinnen und Leser,

Literatur und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft.

Der Main-Tauber-Kreis ist eine Kulturregion, deren Städte und Gemeinden viel zu bieten haben. Mit seinen kulturellen Höhepunkten ist er bis weit über die Kreisgrenzen hinaus bekannt. Darauf sind wir im Landkreis auch zu Recht sehr stolz. Ich denke hierbei beispielsweise an das Kulturdenkmal von nationalem Rang, das Kloster Bronnbach, die Burg Wertheim, das Kurmainzische Schloss in Tauberbischofsheim, die Kurstadt Bad Mergentheim mit einem der schönsten Kurparks in Deutschland oder die Tauberphilharmonie in Weikersheim sowie das Schloss Weikersheim.

Es freut mich, dass die Literatur, als weitere Facette der Kultur des Landkreises, mit dem Literarischen Jahrbuch neu beleuchtet wird.

Ich schätze den Einsatz aller an diesem Werk beteiligten Personen sehr und danke ihnen herzlich dafür. Zudem trägt das Literarische Jahrbuch dazu bei, den Main-Tauber-Kreis und dessen Schönheit noch bekannter zu machen.

Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste: »Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.«

Genießen Sie die Eindrücke, die Sie beim Lesen gewinnen. Viel Spaß beim Eintauchen in den »literarischen Main-Tauber-Kreis«.

Ihr Christoph Schauder

Landrat des Main-Tauber-Kreises

Vorwort

Der Main-Tauber-Kreis: 1.302 Quadratkilometer in der Fläche, rund 132.000 Einwohner, damit vergleichsweise dünn besiedelt. Seine 18 Städte und Gemeinden, von Freudenberg im Norden bis Creglingen im Süden, »eine Kette mit 18 Perlen, jede individuell verschieden, jede besonders«. Namengebend die Tauber im 120 Kilometer langen Taubertal. Ein Idyll, wie Gott es in einer besonderen Stunde geschaffen hat. Radfahren, Wandern, Kulinarisches, den Wein dabei nicht zu vergessen, so präsentiert sich dieses reizvolle Fleckchen Erde.

Kultur? Klar doch. Und nicht nur die der Reben! Literatur? Nicht unbedingt der Hotspot der Avantgarde in Deutschland. Bis jetzt noch. Ob das bleiben muss? Was denkbar ist, ist möglich, so jedenfalls der Philosoph Ludwig Wittgenstein.

Vier befreundete Autorinnen und Autoren, Marion Betz, Armin Hambrecht, Martin Köhler und Brigitte Volz, legen den ersten Band des Literarischen Jahrbuchs aus dem Main-Tauber-Kreis vor. Gefragt waren literarische Texte jeglicher Gattung. Hier also ist die Dokumentation, ergänzt um einen regionalen literaturhistorischen Anhang.

Ob diesem Band weitere folgen werden? It depends!

Martin Bartholme

Provinzmonarchen

Da saßen wir nun. Auf den schmalen Treppenstufen am Hang des kleinen Weinberges. Jung und besoffen, gefühlsduselig und melancholisch. Eigentlich war doch alles gut. Das Abitur hatten wir seit zwei Wochen in den Taschen. Die Pläne für die Zukunft standen festgeschrieben unter Kapitel drei unseres Lebensbuches. Wir freuten uns auf neue Herausforderungen, neue Erfahrungen, neue Orte. Trotzdem tobte in dir und in mir auch die Angst. Wir sehnten uns nach etwas Unbekanntem, wollten aber auch das Vertraute nicht verlieren. Die Gefühle vermischten sich und machten uns stumm. Pampablues.

Unten im Tal zelebrierten die Menschen ihren Höhepunkt des Jahres. Das örtliche Weinfest – die Sause des Grauens. Eine Coverband spielte die größten Hits der letzten Jahrzehnte. Bunte Scheinwerfer bewegten sich zu den Klängen von Smoke on the Water und ließen die klare Frühsommernacht hell erleuchten. Nur noch ein paar Wochen, dann würden wir das alles hinter uns lassen. Keine beschissenen Dorffeste, langweilige Stufenfeten oder öde Jahrmärkte mehr. Weg mit der Intimität der ländlichen Gegend. Endlich coole Großstadt-Kids. Eine verlockende Aussicht.

Aber das Leben würde uns auch auseinanderreißen. Ein Freundschaftsband, das über neunzehn Jahre geknüpft worden war. Keine losen Fäden, sondern ein Netz aus festen Seilen. Vom Kindergarten über die Grundschule bis hin zum Hier und Jetzt. Alles gemeinsam durchlebt, durchlitten, durchrauscht. Endstation örtliches Weinfest. Bitte alles aussteigen.

Du warst immer anders als ich. Hattest andere Interessen, andere Ansichten. Du warst ein Bastler, ein Technikfreak. Der MacGyver des Lieblichen Taubertals. Wenige Jahre zuvor hattest du von einigen Freunden einen Lötkolben geschenkt bekommen und konntest dich darüber freuen, wie ich mich über die Limited Edition der neuen Kettcar-CD. Ein Problem war das nie. Auf dich war stets Verlass – du standest treu an meiner Seite.

Ich blickte dich an. Dein glattes, schulterlanges Haar sah aus wie die Frisur von Prinz Eisenherz aus den Comics meiner Kindheit. In wenigen Wochen würde die Bundeswehr deine schöne Haarpracht kappen. Du würdest dein gammeliges Nirvana-Shirt gegen eine straffe Uniform tauschen. Deinen alten Parka gegen die Einheitsmontur der Armee.

Und ich? Ich würde meinen Zivildienst ableisten in einem Internat weit oben im Norden der Republik. Uns blieb also nicht mehr viel Zeit. Anfang September musste jeder zum ersten Mal eigene Wege gehen. Raus aus dem heimatlichen Schoß, Aufbruch zu neuen Ufern. Leise durchbrach ich die Stille und stellte fest: »Eigentlich doch ganz schön hier.«

Um uns herum wuchsen die Reben dicht an dicht in engen Reihen, der Kalkstein, auf dem wir saßen, war noch warm von der Hitze des Tages und vom Dorfplatz herüber ertönte das Lachen und Grölen der Zecher.

Ohne eine Miene zu verziehen, entgegnetest du ernst: »Woanders is auch scheiße!«

Ich musste herzhaft lachen. Der Spruch war aus einem unserer Lieblingsfilme. Eine Ruhrpottkomödie. Wie unpassend. Nachdem ich mich beruhigt hatte, schaute ich dich an und fragte vorsichtig: »Meinst du, dass wir uns verlieren?«

Ohne jegliche Bedenken und mit fester Stimme antwortetest du: »Niemals!«

Die Entschlossenheit in deinem Blick, die Deutlichkeit des Wortes nahmen mir meine Zweifel. Das Leben konnte uns mal! Wir waren wie Pech und Schwefel, wie Siegfried und Roy – uns bekam man nicht auseinander. Stumm blickten wir hinab in das Tal und fühlten uns wie Könige. Zwei junge Provinzmonarchen kurz vor dem Aufbruch ins Ungewisse. Bald würden wir unser geliebtes und gleichzeitig verhasstes Königreich verlassen. Die Welt lag uns zu Füßen.

Schokolade zum Frühstück

Ein lautes Poltern an der Haustür. »Aufmachen! Sofort aufmachen!«, keifte eine Stimme.

Sannchen Heumann schreckte hoch. Eben noch im Land der Träume, knipste sie nun das Licht an und blickte verschlafen hinüber zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch. Sechs Uhr früh. Die Sonne war noch nicht am Himmel zu sehen. Durch ihr Schlafzimmerfenster schaute sie in die Finsternis. Wer könnte das sein? Sannchen brachte sich noch einmal das Datum und den Wochentag ins Gedächtnis. Heute war ein ganz normaler Dienstag, der 22. Oktober 1940. Die frühe Uhrzeit und die Dringlichkeit der Worte konnten nichts Gutes bedeuten. Sie schlug die Decke beiseite und erhob sich mühsam. Sannchen ließ kurz ihre Schultern kreisen. Am Morgen waren ihre Knochen meist besonders eingerostet. Schnell zog sie sich ihren grünen Bademantel über und ging hinaus in den Flur. Zwei Türen weiter lugte Ruth aus ihrem Zimmer.

»Tantchen was los? Lärm!«, sagte sie in ihrer nuscheligen, abgehackten Art.

Sannchen beruhigte ihre Nichte.

»Nichts, mein Kind, geh’ wieder in dein Bett, eine halbe Stunde kannst du noch schlafen!«

Sannchen stieg die Treppen hinab und öffnete ängstlich die Haustür. Durch den Spalt blickte sie in vier strenge Gesichter. Die Männer hatten Helme auf ihren Köpfen und braune Uniformen an. Mit seinem Schlagstock stieß der Vorderste ohne Vorwarnung die Tür nach innen. Ein kalter Windstoß kam Sannchen entgegen.

Der Mann blökte sie an. »Na, du Judensau, haste noch geschlafen? Ihr faulen Nichtsnutze denkt auch, das Leben besteht nur aus Müßiggang. Packt eure Sachen! In drei Stunden trefft ihr euch gegenüber von eurem Gemeindehaus. Dann dürft ihr in den Urlaub fahren.«

Seine drei Kumpanen lachten lauthals.

»Wenn ihr nicht pünktlich seid, kommen wir wieder und machen euch Beine!« Während er den Schlagstock leicht in seine linke Handfläche schlug, drohte er: »Also kommt besser nicht zu spät!«

Bereits im Umdrehen mahnte er über seine Schultern hinweg: »Und nehmt nicht zu viel Gepäck mit! 50 Kilogramm für jeden, nicht mehr als 100 Reichsmark. Solltet ihr mehr Geld dabeihaben, wird es konfisziert!«

Damit waren sie in der Dunkelheit verschwunden. Sannchen stand auf der Türschwelle, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fühlte sich innerlich taub, die Beine zitterten, ihre Finger waren zu einer Faust geballt. Die Aussagen der SS-Männer konnten nur eines bedeuten: Der Tag war gekommen! Nach den Geschehnissen der letzten Jahre wusste sie, diese Verbrecher konnten alles mit ihnen machen. Sie waren für diese Menschen nichts weiter als Abschaum, der Dreck unter ihren dunkelbraunen Stiefeln. Immer wieder hatte sie Gerüchte vernommen über Arbeits- und Vernichtungslager, in die ihresgleichen gebracht wurden – Orte, von denen nie wieder jemand zurückkam. Todesfabriken mit Gaskammern und rauchenden Öfen.

Viele Freunde und Bekannte waren in den letzten Jahren geflohen. Hatten die Schmach und die Repressionen nicht mehr ausgehalten. Die tagtägliche Angst und Ausweglosigkeit. Auch ihre Familie war gegangen. Alle außer Ruth. Für ihre Nichte musste sie jetzt stark sein! Vielleicht könnte sich doch alles noch zum Guten wenden! Der Herr würde sicher seine schützenden Hände über sie halten. Leise sprach Sannchen das Schacharit, ihr Morgengebet, drückte entschlossen die Tür hinter sich zu und blickte zum Treppenhaus empor. Dort stand Ruth mit verschränkten Armen und streckte ihre lange Zunge heraus.

»Böse Männer!«, giftete sie.

Nun galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren und Zuversicht auszustrahlen. Sie hatten nicht viel Zeit. Was würde auf sie zukommen? Was sollten sie mitnehmen?

Freundlich, aber bestimmt dirigierte sie: »Ruth, zieh dich bitte an und packe einige Kleidungsstücke zusammen – wir machen eine Reise!«

»Reise? Wohin?«, fragte ihre Nichte.

Sannchen rang sich ein Lächeln ab und entgegnete wahrheitsgetreu: »Das wird eine Überraschung!«

In den nächsten Stunden richteten sie aufgeregt ihre Habseligkeiten. Da die beiden nur einen Koffer besaßen, verstauten sie das Nötigste zusätzlich in einer alten Waschpulverschachtel. Den Deckel band Sannchen an dem Karton mit einer Schnur fest, an die sie einen Holzgriff einhängte. Bevor sie sich zum Sammelplatz aufmachten, durchschritt Sannchen noch einmal ihre Wohnung. Sie musste so vieles zurücklassen. Ihr ganzes bisheriges Leben. Hunderte Erinnerungen kamen ihr in den Sinn. Bruchstücke der Vergangenheit. Fragmente kleinen Glücks und großer Verzweiflung.

Niedergeschlagen setzte sie sich auf einen der Küchenstühle. Auf dem Tisch standen eine Schüssel, eine Packung Mehl, einige Eier und ein Glas mit eingelegten Kirschen aus dem letzten Sommer. Eigentlich wollte sie heute für Ruth ihren Lieblingskuchen backen. Die junge Frau hatte morgen ihren 18. Geburtstag. Als Sannchen daran denken musste, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Ruth hatte sich so auf diesen Tag gefreut, auch wenn in ihrer Religion eigentlich kein Geburtstag gefeiert wurde. Ihre Nichte kannte diesen Brauch von ihren alten christlichen Freunden und hatte ihn für sich übernommen. In den letzten Jahren wurde er ihr immer wichtiger. Jetzt würde es zu keiner Feier kommen. Mühsam erhob sich Sannchen, stieg auf den Stuhl und suchte im Küchenschrank nach der letzten Tafel Schokolade. Im hintersten Eck fand sie die Süßigkeit. Sie stammte aus einer Zeit, als man noch leichter solche Leckereien bekam. Sannchen steckte die Tafel in ihren Koffer.

Ihr Blick wanderte weiter. An der Küchenwand hing eine Postkarte aus New York. Die letzte, die sie von ihrer Schwester Rina, ihrem Schwager Louis und den Kindern Norbert und Margot, Ruths Eltern und Geschwister, erhalten hatten. Ihnen gelang vor wenigen Monaten noch die Auswanderung aus dem Deutschen Reich. Wie sehr vermissten Sannchen und Ruth ihre Verwandten! Nun waren sie nur noch zu zweit. Unvollständig und auseinandergerissen. Ein Familienpuzzle ohne seine wichtigsten Teile. Auf der Ansichtskarte sah man die hohen Wolkenkratzer der amerikanischen Metropole. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die endlose Freiheit hinter dem großen Teich. Sehnsucht kroch in Sannchen empor. Hätte sie damals auch ihre Heimat verlassen sollen? Die Zweifel verflogen, als sie Ruth im Türrahmen stehen sah.

Auf dem Sammelplatz waren alle noch übrigen jüdischen Gemeindemitglieder eingetroffen. 22 Personen einschließlich ihr selbst, zählte Sannchen. Vor der Machtergreifung Hitlers lebten über hundert ihrer Brüder und Schwestern in der kleinen Stadt. Dies hier war der bedauerliche Rest. Die letzten verlorenen Seelen des auserwählten Volkes. Vornehmlich ältere Menschen ihrer Generation. Für diese paar verbliebenen Schafe würde vermutlich nicht einmal Moses das Meer teilen, um sie vor den vermaledeiten Braunhemden zu retten.

Das Wetter war neblig und kühl. Die Kälte kroch in ihren Mantel und ließ sie frösteln. Sannchen hatte Ruth überredet, die alte Strickmütze aufzuziehen. Ihre Nichte mochte diese nicht sonderlich.

»Kratzig!«, nörgelte sie.

Sannchen selbst trug ihren schwarzen, eleganten Hut. Um ihre Würde ein wenig zu bewahren, könnte etwas Eleganz sicherlich nicht schaden, dachte sie.

Drei große Lastwagen fuhren um die Ecke. Die Verladung von Mensch und Gepäck begann. Die 80-jährige Bertha Brückheimer konnte nicht mehr allein auf die Pritsche des Lastwagens steigen. Rücksichtslos schmissen die SS-Männer sie wie ein Gepäckstück auf den Wagen hinauf. Um den Platz herum hatten sich einige Schaulustige eingefunden. Vertraute Gesichter – Nachbarn, Anwohner und ehemalige Kunden des Fell- und Ledergeschäftes ihrer Familie. In den meisten Augen konnte Sannchen kein Mitgefühl erkennen. Kein Protest, nur stillschweigende Zustimmung oder verschämte Blicke.

Sie schaute hinüber zum jüdischen Gemeindehaus. Vor einem Jahr waren sie alle über Monate hinweg dort eingesperrt worden. Auf engstem Raum, bei geschlossenen Fenstern und Türen. Sannchen musste damals auf dem Boden schlafen, da es zu wenige Betten gab.

Die Aussage eines SA-Mannes an jenen Tagen würde sie nie vergessen: »Ihr seid am Krieg schuld, wegen euch müssen unsere Söhne kämpfen, wir sollten euch umbringen, aber ihr seid weder eine Kugel noch ein Seil wert und auch nicht, dass wir unsere Hände schmutzig machen. Ihr Schweine, wir werden euch im Gemeindehaus einsperren, dort könnt ihr verrecken und euch gegenseitig die Augen auskratzen.«

Bevor sie eingesperrt wurden, quälte und erniedrigte man sie. Unter Peitschenhieben wurden damals alle Juden wie Vieh durch die Stadt getrieben. Man hängte ihnen Plakate mit der Aufschrift ›Wir sind die Kriegshetzer‹ um. Sündenböcke für einen vom Führer angezettelten Krieg gegen Polen. Die Männer mussten die Treppenstufen der Synagoge ablecken und wurden gezwungen, in einem Bach Liegestütze zu machen. Sie hatten die Anweisung, sich für dieses Freibad zu bedanken. Wer seine Liegestütze nicht tief genug machte, wurde von den SA-Männern mit den Füßen noch tiefer unter Wasser gedrückt. Schlimme Tage, furchtbare Wochen, grausame Jahre.

Sannchen schob die Gedanken beiseite, so wie immer. Nur durch Verdrängung konnte sie die ständigen Demütigungen ertragen. Ruth schmiegte sich an sie. Ihre Nichte verstand die Situation nicht richtig. Sannchen spürte ihre Furcht und Nervosität. Um Ruth zu beruhigen, begann sie mit leiser Stimme zu erzählen. Geschichten aus den guten Tagen. Vom Festessen an Rosch Haschana, dem Tunken von Challa in den großen Honigtopf und den spannenden Spieleabenden mit Onkel Max vor dem prasselnden Kaminofen. Ruth lauschte mit geschlossenen Augen. Mit der Zeit entspannte sie sich. Die Motoren starteten, die Lastwagen fuhren los. Die Hauptstraße entlang, am Gymnasium vorbei, in Richtung Westen. Als sie das Ortsschild passierten, schaute Sannchen nicht mehr zurück.

Zur Mittagszeit erreichten die Lastwagen Heidelberg. Dort mussten sie in einen langen Zug umsteigen. Sie waren nicht allein. Tausende Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saargebiet säumten die Gleise. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sich die Bahn in Bewegung setzte. Dicht gedrängt kauerten Ruth und Sannchen in einem der hinteren Waggons. Ohne Zwischenhalt fuhr der Zug in Richtung Südwesten. Immer weiter. Vorbei an Wiesen und Wäldern, an Dörfern und Seen. Irgendwann brach die Nacht an. Durch das monotone Hämmern der Räder auf den Schienen sank Ruth in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte die junge Frau durch die anschwellende Lautstärke im Abteil. Sie blickte aus dem Fenster. Die Gegend sah anders aus als zu Hause. Das Klima war wärmer und freundlicher.

Sannchen küsste ihre Nichte auf die Stirn und sagte: »Guten Morgen, mein liebes Kind. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

Aus ihrer Tasche holte sie die Schokoladentafel. Ruth biss genüsslich ein Rippchen ab.

»Schokolade zum Frühstück, wann hatte es sowas schon mal gegeben?«, grübelte sie.

Während das Stückchen langsam auf ihrer Zunge schmolz und der süße Geschmack sich ausbreitete, betrachtete sie die aufgehende Sonne. Was für ein wunderschöner Start in den Tag!

Sannchen Heumann und ihre Nichte Ruth Kraft wurden 1940 nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Aufgrund ihrer Behinderung (Trisomie 21) wurde Ruth Kraft eine Einreise in die USA verwehrt. Obwohl Sannchen Heumann bereits die Einreiseerlaubnis hatte, blieb sie aus Solidarität zu ihrer Nichte in ihrer Heimatstadt. Beide wurden 1942 in Auschwitz ermordet. Von den letzten 22 jüdischen Bürgern aus Tauberbischofsheim, die am 22. Oktober 1940 nach Gurs verschleppt worden sind, überlebten nur vier den Holocaust.

Ein roter Fleck im weißen Schnee

Die Sonne kitzelte an seinem Schnabel. Verbissen versuchte Charlie die Augen noch ein paar Sekunden geschlossen zu halten, ehe er dem Drang nachgab und in die grelle runde Scheibe blinzelte. Ein Morgen wie ein Gemälde. Draußen tobte der Frühling und dopte die Flora mit heiteren und warmen Sonnenstrahlen. Durch die Zimmerscheibe blickte Charlie auf ein grünes Paradies, getüpfelt nur durch ein Meer aus bunten Blüten. Seine gefiederten Kameraden flogen um die Wette, labten sich am Nahrungsüberfluss oder gaben sich dem Liebesspiel hin. Unmengen von Kompagnons, die ganze Vogelschar. Amsel, Drossel, Fink und Star.

Eine Weile schaute er sich dieses fröhliche Spektakel an, ehe er mit seinem Morgenritual begann. Zum Frühstück ein paar Körner, so wie immer. Anschließend folgten Dehnübungen, langsames Kopfkreisen, die Fittiche auf und ab bewegen. Sein Zuhause hatte 60 Zentimeter Durchmesser und eine Höhe von einem Meter. Zwei Sitzstangen, eine Trinkschale und der Napf für die Körner. Das war’s. Sein Platz auf Erden, für ihn ganz allein, seit nunmehr neun Jahren. Groß genug für zwei Flügelschläge, klein genug, um innerlich zu erfrieren.

Charlie putzte sein Federkleid und riss ein paar Daunen heraus. Bald sah er aus wie ein gerupftes Huhn, aber was sollte man sonst auch den ganzen Tag über machen? So spürte er wenigstens noch, dass er am Leben war. Während die letzte rote Daune langsam zum Käfigboden fiel, verschwanden die Gedanken einmal mehr zum Ort seiner Träume. Er sah sich fliegend mit einem Schwarm seiner Artgenossen, empor zu den höchsten Bäumen. Dort landeten sie schließlich und ließen ihre roten Federn leicht im Wind wehen. Ein majestätischer Anblick. Die schönsten Bewohner des Dschungels.

Plötzlich hörte Charlie nebenan ein Geräusch. Die idyllischen Bilder entschwanden nur langsam, aber unwiederbringlich.

Sein Besitzer betrat das Zimmer und ging zum Fenster. »Was ist das für eine schlechter Geruch? Hier muss dringend mal wieder ein wenig gelüftet werden.« Er öffnete das Fenster und trat an den Käfig. »Na, Charlie, mein alter Freund, hast du Hunger? Hier habe ich ein paar Apfelschnitze für dich.« Der Mann öffnete die Tür der kleinen Voliere und legte die Obststückchen in den Napf. In diesem Moment läutete das Telefon. »Wer ruft denn so früh am Tag schon an?«, fragte sich sein Besitzer. Abrupt und in Gedanken versunken verließ er wieder den Raum.

Charlie machte sich über den Apfel her. Seine Leibspeise. Mit solch einem Frühstück war sogar ein deprimierender Morgen wie dieser mehr als erträglich. Nach einigen Bissen wanderte sein Blick nach oben. Er erschrak. Die Käfigtür war nur angelehnt. In der Hektik hatte sein Halter wohl vergessen, den Riegel vorzuschieben. Im Hintergrund sah er das offene Fenster und zählte eins und eins zusammen. Dies war seine Chance! Die Möglichkeit, auf die Charlie seit Jahren hoffte und an die er eigentlich nicht mehr zu glauben gewagt hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, flog er mit zwei kräftigen Flügelschlägen und vollem Karacho gegen die kleine Pforte. Die Öffnung gab nach und schnellte nach außen. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung, wenige Meter bis in die Freiheit. Charlie flatterte, so schnell er konnte, hinaus und hinauf, der Sonne entgegen. Er spürte den sanften Wind in seinen Federn und sah zum ersten Mal in seinem Leben die Weite der Welt direkt vor den Augen. Charlie wusste: Vögel in Käfigen sprechen nur vom Fliegen, freie Vögel fliegen einfach. Weiter und immer weiter.

In den nächsten Tagen und Wochen erkundete er die Gegend. Hunderte neuer Eindrücke prasselten auf Charlie ein und ließen ihn freudig erstaunen. Die Farben und Konturen, die Geräusche und Düfte. Der Nebel am Morgen, die ersten Regentropfen auf seinem roten Federkleid. Charlie kostete die neu gewonnene Freiheit aus, gleichzeitig machte sie ihm aber auch etwas Angst. Ein Leben lang war er bisher auf engstem Raum mit Gittern vor den Augen eingesperrt gewesen, nun gab es keine Grenzen mehr. Aber die Freiheit beginnt dort, wo die Angst endet. Und so drehte er neugierig immer größere Runden über der kleinen Stadt. Hier gab es allerhand zu sehen. Am Morgen winkten ihm die Kinder auf dem Weg zur Schule freudig zu. Von oben herab blickte er in eine Vielzahl von ausgelassenen Gesichtern. Am Mittag beobachtete er das Verkehrschaos auf der breiten Durchgangsstraße. Wild gestikulierend beschimpften sich zwei der Autofahrer. Und in der Nacht schaute er vom Kirchturm aus auf die tausend künstlichen Lichter der Menschen. Eine erhabene und friedliche Aussicht.

Am liebsten besuchte Charlie allerdings die Hühner auf dem Bauernhof am Stadtrand. Ihnen fühlte er sich verbunden. Bei ihnen empfand er die Einsamkeit nicht so erdrückend. Sie waren eingesperrt – genau wie er vor nicht allzu langer Zeit, hatten aber trotzdem einen gewissen Stolz, der Charlie sehr beeindruckte. Hier war immer etwas los und frische Körner gab es im Überfluss. So gut wie zu jener Zeit ging es ihm noch nie. Selbst seine ausgerupften Daunen wuchsen langsam wieder nach.

Einige Male versuchten die Menschen ihn wieder einzufangen. Probierten ihn mit billigen Tricks zu ködern, aber er war ja nicht von gestern und durchschaute ihre plumpen Winkelzüge.

So zogen die Monate ins Land. Langsam wurde es merklich kühler. Die Blätter färbten sich allmählich gelb und rot, bevor sie lautlos zur Erde segelten. Ende November begann es zu schneien. Dicke Flocken fielen vom Firmament und färbten die Landschaft in ein endloses Weiß. Charlie fror am ganzen Körper. Er fand nichts mehr zu essen. Selbst seine Freunde, die Hühner, blieben nun im Stall. Einsam und kraftlos saß er auf einem Baum im Stadtpark und ergab sich seinem Schicksal. Er war für diesen Breitengrad einfach nicht gemacht. Bevor sein Herz aufhörte zu schlagen, durchströmte Charlie eine tiefe Überzeugung: Da gab es keinen Zweifel, kein Bereuen. Er würde sein Leben zu jeder Zeit wieder für einen einzigen Tag in Freiheit eintauschen. Ein Vogel im Käfig ist ein unvollständiges Geschöpf, nur hier unter freiem Himmel war er in seinem Element. Mit einem Lächeln auf dem Schnabel stürzte er hinab, tief und tiefer, dem Boden entgegen. Am Ende blieb von ihm nur ein roter Fleck im weißen Schnee.

Marion Betz

Wohn gemein schafft

I: Der Aktivist

Als Bernd als sechster und letzter Bewohner in unsere WG zog, dachten wir, er sei harmlos. Leicht untersetzt, besonnene Stimme, das Haar lag wie ein glatter, blonder Helm auf seinem runden Kopf. Er studierte Politikwissenschaft und noch irgendwas, wahrscheinlich Soziologie. Seine Freundin war einige Jahre älter und eine sehr mütterliche Erscheinung. Offenbar hatte sie ihn bisher bekocht, denn Bernd ging wie selbstverständlich davon aus, dass wir fünf anderen WG-Bewohner diese Rolle übernehmen würden.

Er kam zielsicher immer dann aus der Uni, wenn gerade das Essen auf dem Tisch stand. »Hmmm, das riecht aber gut«, sagte er, um nach kurzer Pause ein Is da was übrig??« anzuhängen, womit er uns die nächsten zwei Jahre nerven sollte.

Wir merkten bald, dass »Is da was übrig?« keine Frage, sondern eine Forderung war, die, wenn sie mit »Nein« beantwortet wurde, zu großer Verstimmung beim Fragenden führte. Da Bernd mit Nachnamen Ubrich hieß, nannten wir ihn bald heimlich den »Übrig-Bernd«.

Heute gab es Rouladen mit Kartoffelbrei und Gemüse. Ein aufwändiges Gericht, das wir zu dritt gekocht hatten und auch zu dritt essen wollten.

»Oh nein«, stöhnte Isabell, als sie Bernds träge Schritte auf der Treppe hörte. Angespannt saßen wir am Tisch und warteten.

»Boah, lecker. Is da was übrig?«

Keiner antwortete.

»Eigentlich nicht«, sagte Clemens standhaft, »jeder hat eine Roulade.«

»Hmmm, schaaade«, meinte Bernd schmollend und setzte sich mit Leidensmiene zu uns.

Unser Gespräch verstummte. Doch Bernd starrte unverhohlen auf unsere Teller. »Ich habe schon lange keine Rouladen mehr gegessen.«

»Hmmm«, machte Clemens, der als Mathematik- und Philosophiestudent um die entspannende Wirkung reduzierter Kommunikation wusste.

Übrig-Bernd stand auf und öffnete und schloss den Kühlschrank mehrmals, als ob er dadurch etwas hineinzaubern könnte.

»Mann, da ist ja nur noch Joghurt«, maulte er.

»Du hast diese Woche eigentlich Einkaufsdienst, Bernd!« erinnerte ich ihn.

»Oh Mann, ich hab wichtige Vorlesungen und geh auf zwei Demos zum Nato-Doppelbeschiss«, herrschte er mich an. »Einkaufen ist was für Spießer!«

»Klar, genau wie Essen!«, zischte Isabell. Und ich war ihr dankbar, weil sprachlos angesichts dieser Logik.

»Habt ihr euch schon zu den sozialistischen Fachschaftstreffen angemeldet?«, fragte Bernd mit forderndem Unterton und schaltete, ohne die Antwort abzuwarten, den Fernseher ein.

»Mensch Bernd, du nervst!«, entfuhr es Isabell.

Bernd rückte sich einen Stuhl vor den Bildschirm, drehte die Rückenlehne vor den Bauch. Klar, normales Sitzen war nur was für Langweiler.

»Sei mal ruhig! Jetzt kommen Nachrichten! – Mein Gott, ihr seid so unpolitisch!«

Er drehte sich eine Zigarette und blies den Rauch wie zufällig über den Tisch. Irgendwie war mir der Hunger vergangen.

»Das Geschirr spült ihr aber selber, ne?!«

»Bernd, wir spülen unser Geschirr immer selber«, stellte Clemens geduldig klar.

Bernd wackelte nervös auf seinem Stuhl herum, während er Kommentare zum politischen Geschehen abgab.

»Mensch Bernd, du nervst!«, wiederholte Isabell.

Nun ließ sich Bernds Hunger nicht mehr länger unterdrücken. Polternd schmiss er einige Kartoffeln in einen Topf, kippte Wasser darüber. Als das Wasser endlich kochte, prüfte er minütlich mit einer Gabel, ob sie gar seien. Er schüttete das Wasser aus und wollte sie schälen.

»Aua, sind die Scheißdinger heiß!«, empörte er sich.

Er lief in sein Zimmer und kam mit einem Föhn wieder.

»Das glaub ich jetzt nicht«, sagte ich. »Du föhnst die Kartoffeln?«

»Das geht mir sonst zu langsam. Mensch, ich hab Hunger!!!«

Seine Freundin kam zur Tür herein.

»Hallo Schatz, hast du sonst nichts zu essen?«

»Nö. Die andern haben gerade richtig bourgeoise getafelt und ich muss hier Kartoffeln mit altem Joghurt fressen.«

»Ich mach dir gleich was, du armer Schatz,« tröstete sie den Unglücklichen.

»Wenn so die Revolution aussieht, wird sie ohne mich ablaufen«, flüsterte ich Clemens zu.

»Hmmm«, brummte er.

II: Eine absurde Geschichte

Sie hatte einen markanten Gang, an den ich mich noch heute erinnere. Straff und energisch wie ein junger Soldat. Dieser Gang ließ ihre roten Locken auf und ab wippen. Ihre schulterlange Haarmasse stand in reizvollem Kontrast zu den schwarzen, figurbetonten Kleidern, die sie trug, wenn sie ausging.

Ines hatte sich bei uns erst vor ein paar Wochen als neue WG-Bewohnerin vorgestellt, und ehe ich es schaffte, mein spontan ungutes Gefühl in Worte fassen zu können, war ich schon von den drei jungen Männern meiner WG überstimmt. »Die ist doch witzig«, schmunzelte Clemens. Birgit hatte mal wieder keine Meinung und Isabell war nicht da.

Mit Ines waren wir also wieder sieben Personen in der Wohngemeinschaft, verteilt auf drei Etagen. Die Neuen kamen zuerst immer in die sogenannten »Wohnklos«, drei winzige Zimmer im Dachgeschoss des Jugendstilhauses, aus denen die Vermieterin, eine betuliche Heilpraktikerin mit zwei ungeratenen Teenagern, jede Menge Geld scheffelte.

Ines war mir einfach zu frech. Vielleicht war ich auch nur neidisch auf ihre Haarpracht. Oder auf ihr Selbstbewusstsein, womit ich weniger gesegnet war.

Täglich telefonierte Ines mit ihrer Mutter, die ihren Spross offenbar vergötterte. Von einem Vater hörte man nie etwas. Kein Wunder, dass sie da Nachholbedarf hatte und ständig mit Jungs abhing.

Ines ging gerne aus. Man könnte sagen, es war ihr ­Hobby, sich, meist mit einem verliebten Typen am Arm, in der Heidelberger Fußgängerzone zu zeigen. Sie wusste, dass sie auffiel, und genoss es. Sie lachte laut und benahm sich exaltiert wie Madonna. Niemand hätte vermutet, dass sie ausgerechnet Theologie studierte. Wie eine zukünftige Pfarrerin sah sie jedenfalls nicht aus. Die Jungs in unserer WG nannte sie »Schatz« und kommandierte sie herum. Unfassbar – diese Trottel folgten ihr aufs Wort.

Der jüngste Student bei uns hieß Günter. Günter hatte den Wohnklo-Status bereits verlassen und residierte im zweitgrößten Zimmer. Dort stand auch sein Klavier, auf dem er für Ines Lieder komponierte. Er seufzte jedesmal, wenn sie den Raum verließ. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, ihn zu bekommen. Weiß der Teufel, warum sie es nicht tat. Er war hübsch und unschuldig. Hatte sie Skrupel?

Eines Tages brachte ich aus dem Urlaub in Mallorca einen kleinen Kater mit. Ich hatte ihn in einer Reisetasche geschmuggelt, wo er dank Schlaftablette vom Tierarzt friedlich bis zur Landung schlummerte. Abgemagert bis aufs Skelett hatte ich den armen Kerl in einer Tiefgarage gefunden. Er wehrte sich mit allen verbliebenen Kräften, als ich ihn einfing. Schnell nahm er an Gewicht und Frechheit zu und wegen seines spanischen Temperaments taufte ich ihn auf den Namen Zorro.

Der kleinwüchsige Zorro wurde unser WG-Kater. Man konnte herrlich mit ihm kämpfen. Er stürzte sich wie ein Irrer auf meine mit einem Arbeitshandschuh geschützte Hand und strampelte mit seinen kleinen Beinchen dagegen. Zorro wurde mein Ein und Alles.

Alle fanden ihn süß. Nur Ines sagte nichts.

Ich stand kurz vor Abschluss meiner Magisterarbeit. Täglich hatte ich sieben bis zehn Stunden daran gesessen und war nur noch im Forschermodus. Aufstehen, Bibliothek, schreiben, schlafen.

Ich fühlte mich wie ein Zombie, zitierte beim Essen irgendwelche Autoren oder vergaß das Essen ganz. Vom üblichen Uni-Trubel kriegte ich längst nichts mehr mit und traf keine Freunde mehr. Mein Zorro reichte mir. Er lag auf meinem Schreibtisch, wenn ich schrieb oder nachdachte. Bei Grippe wärmte er meine Füße.

Die Wochen gingen dahin, die Papierstapel wuchsen. Zorro war seit den letzten drei Tagen nicht mehr in meinem Zimmer.

»Wenn du deinen Kater suchst – er ist bei mir!«, zwitscherte Ines, als sie merkte, dass ich nach ihm suchte.

Ich bemühte mich, gleichgültig zu wirken. »Er ist mal hier, mal mal da, wie Kater eben sind.«

»Falsch!«, belehrte sie mich, »er ist besonders oft bei mir! Ich gehe gleich in die Bibliothek, dann kannst du ihn haben.«

Ihr gönnerhafter Ton verschlug mir die Sprache.

Als Ines weg war, ging ich in ihr Zimmer. Ich untersuchte ihr Kosmetikregal, schnupperte an ihrem Körperpuder. Ein übles Zeug aus Italien, aber auf ihrer blassen Haut roch auch das noch gut.

Da lag mein Zorro schnurrend auf ihrem neuen schwarzen Spitzenkleid! Ich zog den Fetzen unter ihm weg. Erschrocken fiel er vom Sessel. Ich hielt mir das Kleid vor den Leib und stellte mich vor Ines’ Spiegel. Obwohl ich schlank war, würde ich niemals da hineinpassen!

Dennoch stieg ich wie unter Zwang in den Spitzenschlauch. Mit einem Knacken riss der Reißverschluss am Rücken auseinander. Ich steckte meine Arme in die engen Ärmel, bis der Stoff platzte. Dann zog ich ihre schwarzen Nylonstrümpfe in Größe 34 über meine 38er-Beine.

Ich inspizierte ihr Schuhregal. Sie hatte einen erlesenen Geschmack. Wie konnte sie sich solche Designerschuhe leisten? Neben den reizenden kleinen Stiefelchen fiel mir ein anderes, offenbar neues Paar ins Auge. Schwarze Wildlederpumps mit sanft zulaufender Spitze, einem Absatz in beinschmeichelnder Höhe und einer herrlichen, breiten Satinschleife, die an barocke Zeiten erinnerte. Da mein Fuß nicht rein passte, steckte ich meine Hände hinein. Kein Schweißgeruch, nur dezenter Lederduft.

Ich gab nicht auf und zwängte schließlich doch noch meinen Fuß hinein. Es klappte. Zumindest vorne. Mit der Ferse stand ich auf dem hinteren Rand, was diesen ordentlich platt machte.

»Ruckedigu, Blut ist im Schuh.« So geht doch der Märchenspruch. – Blut haben wir hier!

Mit Ines’ Lippenstift malte ich zuerst meine Lippen dunkelrot, dann mit dem Rest eine Karikatur von Ines auf den Spiegel. Den leeren Stift schmiss ich nach Zorro, der gequält miaute. Dann nahm ich ihre Nagelschere und schnitt mir das Kleid so zurecht, bis es bequem war. Den Puder verteilte ich großzügig auf meine Arme, bevor ich mein Outfit mit Ines’ Schmuck komplettierte. Jetzt konnte ich ausgehen. Nach Wochen der Isolation endlich wieder unter Leute!

Vor der Haustür begegnete ich Günter, der gerade sein Fahrrad an den Zaun schloss.

»Hallo Schatzi, heute schon was komponiert? – Willst du mit mir ausgehen? – Günter? – Nein? – Macht nichts. Wenn ich heimkomme, will ich was zu essen auf dem Tisch sehen, hörst du? Bis bald, Schatzi!«

Mit den Schuhen kam ich nicht weit. Barfuß würde es auch gehen; wär doch gelacht!

Ich riss mir die Pumps vom Fuß und warf sie in Günters offenes Fenster. Sie landeten auf den Klaviertasten, die ein absurdes Geräusch von sich gaben. Der linke und dann noch der rechte.

III: Die Unbekannte

Am Ende des Flures stand in einer alten Badewanne, die als Relikt eines ehemaligen Badezimmers vom Vermieter einfach dort belassen worden war, unsere Wäschespinne. Immer wenn man auf die Toilette wollte, musste man an dieser Wanne samt Spinne vorbei. Diesmal hing Pamelas Wäsche dort. Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass in mindestens zwei Unterhosen Löcher waren. Zudem waren die Slips viel zu groß für eine junge Frau von einundzwanzig Jahren. Richtige Zelte, aus verschlissener Baumwolle. Etwas wie Mitleid wallte in mir auf. Wer musste heute noch löchrige Wäsche tragen? Es konnte natürlich auch sein, dass sie keinen Wert auf solche Sachen legte und mein Mitleid hier völlig fehl am Platze war. Und doch sollten diese löchrigen Unterhosen mir später, wenn ich an sie dachte, wieder einfallen.

Pamela kam lautstark die Treppe heruntergestampft. Sie wohnte im Dachgeschoss, in einem der sogenannten Wohnklos.

»Was soll ich noch einkaufen? Habt ihr ’ne Liste gemacht?«, fragte Pamela, den Kopf nur kurz zur Küchentür hereinsteckend. Clemens gab ihr die Liste und flüsterte ihr etwas zu, worauf sie »Haha« machte und die Augen verdrehte.

»Clemens, musst du sie immer verarschen?«, rügte Isabell in gespielter Strenge.

Clemens nickte begeistert. »Sie ist so naiv, echt süß.«

»Das bedeutet ihr Name: Die Honigsüße«, belehrte ihn Johannes.

»Ich studier’ Mathe und kein Latein«, rechtfertigte sich Clemens.

Pamela bekam fast täglich Besuch von Daniel. War wohl ein guter Kumpel, einen halben Kopf kleiner als Pam. Oft kam auch die ebenso kleine Martina mit, typische Theologiestudentin, ungeschminkt, mit Topfschnitt und Ökotretern, aber sympathisch.

Auch wenn Pamela ähnliche Klamotten trug, war ihre Wirkung anders. Die Wangengrübchen und das goldbraune lange Haar, das war wie Frühling auf dem Lande. Man musste sie einfach gern haben. Leider verbrachte sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer und an der Uni, kam eher selten in die Küche. Ich weiß gar nicht, ob wir gemeinsame Interessen gehabt hätten. Ich erinnere mich, dass sie ständig Musik von Joe Cocker hörte.

Pamelas große Schwäche war der Abwasch. Sie schrubbte lieblos mit der Spülbürste im lauwarmen Wasser herum, sodass die Teller beinahe so fettig wie zuvor und die Töpfe noch voller Essensreste waren.

»Pamela, man sollte die Töpfe auch außen putzen. Nimm doch mal einen Spülschwamm«, riet ich. »Ich mach das immer mit der Bürste!«, war ihre wenig erhellende Antwort. Das Geschirr blieb also schmutzig, wenn Pamela Spüldienst hatte.

Niemand wollte dieses freundliche Mädchen kränken. Beim Essen stopfte sie sich den Mund immer ziemlich voll, ihre Kaubewegung belustigte uns. Kaum war ihr Teller leer, verschwand sie auch wieder.

Einmal kam ihre Mutter zu Besuch, eine Holländerin. »Mama, de Tee is fertich«, rief sie die Mutter zum Frühstück. Das Wenige, was die beiden zusammen sprachen, tauschten sie auf Niederländisch aus. Eine bedrückte Stimmung lag in der Luft, solange die Mutter da war.

Als Pam eineinhalb Jahre bei uns wohnte, kam ihre Zwillingsschwester zu Besuch. Pamela hatte uns vorher Fotos von ihr gezeigt und ich Trottel rief spontan »Wow«, als ich die Schwester auf dem Bild sah; merkte zu spät, dass sich dabei Pamela eventuell zurückgesetzt fühlen würde. Doch meine Befürchtung war unbegründet.

»Wir sind zweieiig«, sagte sie fröhlich.

Um meinen Fauxpas dennoch wiedergutzumachen, sagte ich irgendwas Nettes über ihre Augen. Eine Laune der Natur hatte Pamela zwei verschiedene Augenfarben geschenkt. Das linke Auge war braun, das rechte grün. Oder war es umgekehrt? Ist nicht das Gesicht ein Spiegel der Seele?

Der Wow-Effekt bei der Schwester, die übrigens gleichmäßig blauäugig war, ergab sich einzig durch das natur-platinblonde Haar. Das hübschere Gesicht hatte eigentlich Pamela, die Honigsüße. Die schlechte Spülerin, von der wir eigentlich nichts wussten, außer dass sie freundlich war und fröhlich wirkte. Und verschlossen. Und Joe Cocker hörte und auf Treppen trampelte.

Und im Nachhinein muss ich sagen, dass ich gar nicht auf Platinblond stehe, aber es ist halt ein Hingucker wie bei Jean Harlow, die eigentlich ja recht ordinär aussah, oder wie bei Marilyn, die natürlich wunderschön aussah, aber unglücklich war und – ja, unglücklich, das war es, worum es eigentlich ging, aber es wurde mir nicht bewusst damals, Scheiße, ich hab’s nicht gemerkt, hinter ihrer Naivität, ihrer Herzlichkeit und seltsamen Distanziertheit. Und eigentlich kannte ich sie gar nicht und wir alle kannten sie nicht. Sie kam ja auch nie zu uns ins Zimmer, wie sollte man da …

Und als sie dann weg war, so ohne jede Nachricht, einfach gegangen von einem Tag auf den anderen, da kamen wir uns schon komisch vor, wussten nicht wann und wie.

Sie hinterließ keine Adresse. Nicht an uns, an die WG, das war ja klar, aber auch nicht an ihre zwei besten Freunde, Martina und Daniel, die eines Abends in unserer Küche standen und uns fragten, wo sie sei. Da erst merkten wir, dass sie weg war. Ihr Zimmer war leer.

Daniel schüttelte den Kopf, als er hineinschaute. Nur das Bett stand noch da und eine abgebrannte Kerze lag auf dem Boden. Er hob mit zitternden Fingern den Bettvorleger hoch, als hoffe er dort eine Nachricht zu finden. Pams Mutter hatte er schon angerufen. Auch die wusste nur, dass sie in ein Kibbuz nach Israel auswandern wollte. Wo das lag, hatte sie nur ihrer Schwester mit der Bitte um strengste Geheimhaltung mitgeteilt.

»Pam ist so schrecklich unglücklich hier gewesen«, hätte die Schwester gesagt. Alle grübelten, was »hier« heißen sollte. In Deutschland, in Heidelberg oder in der WG? Letzteres konnte man ausschließen.

Gab es einen Vorfall an der Uni oder war sie unglücklich verliebt? Wir alle hatten nicht den Hauch einer Vermutung. Wenn schon ihre besten Freunde nichts wussten, wie konnten wir …?

Daniel saß starr und stumm auf dem Stuhl in der Küche und blickte ins Nichts. Allmählich kapierten wir, dass da einer saß, der jemanden verloren hatte … Die Martina, die hatte es wohl geahnt, dass da mehr war als Kameradschaft. Sie legte ihren Arm auf seine Schulter und dann standen wir alle um die beiden herum und zwölf Hände lagen auf Schultern und Köpfen.

Keiner sagte was. Und vielleicht dachte ich: »Was für Freunde! Solche Freunde würde ich nicht verlassen.«

Aber vielleicht war ich nur nicht so unglücklich wie Pamela. Und ich habe nicht zwei verschiedene Augenfarben.

Zwielicht

Abend schickt seine Dämmerlichtboten

über Gezweig kriechend

kauernd in jeder Ecke

Silhouetten huschen

verweilen selig auf Treppenstufen

welken ins tonlose Laub

Dunkelheit heißt die Katze

die schlendert auf vergess’nen Pfaden

die blitzenden Augen zeigt sie nur nachts

Sommerabend

Schmale Zeichen am Himmel

Über dem Fluss hängt

ein Abend ohne Temperatur

Ein Radio durchdringt

die Stille nicht

nur das Kaugeräusch der Pferde

Dämmrige Lichter im Dorf

halten mühsam

die Augen offen

Schweigende Baumsilhouetten

Zwielichtiger Karnevalszug:

ein Schwein, ein Flötenspieler, ein Dachs

Einzig die Linde sendet

ein Versprechen

aus Honig

Man hört

das stille Reifen

der Kirschen

Das Fallen

eines einzelnen Blatts

beendet den Tag

maienmond

du erscheinst

gehst auf wie teig in schwarzer schüssel

wanderst du weiter

hältst du auch inne

für mich?

maienmond

lege dein licht

nicht nur über die felder – lege dich

her zu mir

Fragment

Auf der Autobahn

liegt ein Bündel aus Fell

Was du sagst

drückt mich beständig nieder

Besser wir sehen uns

nicht wieder

Im Osten wird es langsam

hell

Ohne Titel

Nägel mit Köpfen

Wolltest du machen

Und ich fragte mich

Wozu eigentlich

Wozu brauchen Nägel Köpfe

Wenn sie schon Menschen

Nichts nützen

Winterwölfe

Winde rollend brüllen

Frost niesig rieselt auf alte Pfade

Graue Pfoten

Knacken Eis

Schreiten gierigheiter ohne Eile

Wittern

Dort unten

Das letzte Futter

Infrarot-Warmwesen

Rennen

Flüchten in morsche Häuser

Schutz suchend im Feuerschein

Hungrig wie jene

Verzehren feige geduckt

Nahrungssommerreste

Suchen Gemeinschaft

Klammern frierend sich an

Wenn Winterwölfe heulen

Beten sie beten sie

Wenn Winterwölfe heulen

Gefriert nicht nur der Regen

Schöne Geräusche

Abends im Garten

kann man sie hören,

die kleinen Geräusche

der Heimkehr

Nachbarn parken ein

zentimergenau

Der Schlüssel, den du morgens

noch suchtest

springt nun von selbst ins Schloss,

Wie war dein Tag

Ach

Wirf die Antwort

in den klappernden Mülleimer

Streitende Kinder beim Abendbrot

dazu in seiner Hütte

vergeblich schnuppernd

der Hund

Bierflaschen genau meine Marke

entkorken die Tagesschau

Wer jetzt noch anruft

ist dein Feind

Klospülungen seufzen

zahnpflegeperfekt

Letzte Verrichtungen

in ewiger Wiederholung

Schließ die Tür heute nicht ab

Was für einen Trost

brauchst du noch außer

schöne Geräusche?

Ein Freund

Wenn ich nach Hause kam, von der Schule oder später von woanders, strecktest du deinen Halbglatzenkopf aus dem kleinen Giebelfenster des Nachbarhauses. Du nörgeltest ein bisschen herum, liebevoll. Zogst mich auf mit missglückten Provokationen, deren Komik im Scheitern lag. Meine Mutter und ich gaben es dir stets dreifach zurück, und mit einem ergebenen Seufzer sahst du schließlich ein, dass du uns nicht Paroli bieten konntest. Dachte nie, dass mir das fehlen würde.

Dachte nicht so oft an dich. Wusste nicht, dass ich dich mochte. Und dachte erst recht nicht darüber nach, wie es sein würde ohne dich, das Leben. Du stiller Beobachter sahst mehr, als du zugabst. Wenn ich traurig war, stand dein unaufdringlicher Trost schon neben mir. Ohne Worte.

Bei unserem letzten Spaziergang am Seeufer gingst du auf meinen Arm gestützt. Ein starker Mann mit Atemnot. Du erlaubtest mir, dich so zu sehen. Schenktest mir ein letztes Gespräch; deine Lungen schon zerfressen vom Asbest­staub mit 47 Jahren. A working class hero is something to be.

Du gingst mit mir, um mir eine Freude zu machen. Ich verdrängte den Gedanken, dass du nicht mehr gesund würdest. Meine Eltern besuchen, ohne dass mein Wächter aus dem Fenster guckt? Das war unmöglich! Und ich – Entfernung und fortgeschrittene Schwangerschaft waren keine Entschuldigung – besuchte dich nicht am Krankenbett.

Man nannte dich einen einfachen Menschen. Leise, leise war deine Freundschaft. So leise, dass ich sie erst bemerkte, als du tot warst.

Für Bernd Ubrich

Lebensmitte

Als man noch Kind ihn nannte

Schatten Tagesende markierten

Er nicht zum Abendbrot kam

Fand er ohne zu suchen:

Kaninchen im Stall

Blumen im Hof

Katzenkinder im Stroh

Von Fern ein Lied

Fand ohne zu suchen – damals

Vergaß es

Älter werdend

Ganz allmählich