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"Mach dir nichts vor. Das ist kein Zufall. Du steckst knietief in der Scheiße, mein Freund. Aber niemand weiß von unserem kleinen Geheimnis. Und wir wollen doch, dass es so bleibt, oder nicht? Also reiß dich zusammen und sei endlich ein Mann!" *** Der "jedermann" erzählt von Betrug und Selbstbetrug, von Lebenskrise und Flucht, von Fahrstühlen und Priapismus.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Erster Teil
Kapitel: 1
Kapitel: 2
Kapitel: 3
Kapitel: 4
Kapitel: 5
Kapitel: 6
Kapitel: 7
Kapitel: 8
Kapitel: 9
Kapitel: 10
Kapitel: 11
Kapitel: 12
Kapitel: 13
Kapitel: 14
Kapitel: 15
Kapitel: 16
Kapitel: 17
Kapitel: 18
Kapitel: 19
Kapitel: 20
Kapitel: 21
Kapitel: 22
Kapitel: 23
Kapitel: 24
Kapitel: 25
Kapitel: 26
Kapitel: 27
Kapitel: 28
Kapitel: 29
Kapitel: 30
Kapitel: 31
Zweiter Teil
Kapitel: 1
Kapitel: 2
Kapitel: 3
Kapitel: 4
Kapitel: 5
Kapitel: 6
Kapitel: 7
Kapitel: 8
Kapitel: 9
Kapitel: 10
Kapitel: 11
Kapitel: 12
Kapitel: 13
Kapitel: 14
Kapitel: 15
Kapitel: 16
Kapitel: 17
Kapitel: 18
Kapitel: 19
Kapitel: 20
Kapitel: 21
Pfad der Tragödie
Kapitel: 22
Kapitel: 23
Dritter Teil
Kapitel: 1
Kapitel: 2
Kapitel: 3
Kapitel: 4
Kapitel: 5
Kapitel: 6
Kapitel: 7
Kapitel: 8
Kapitel: 9
Kapitel: 10
Kapitel: 11
Kapitel: 12
Kapitel: 13
Kapitel: 14
Kapitel: 15
Kapitel: 16
Kapitel: 17
Kapitel: 18
Kapitel: 19
Kapitel: 20
Kapitel: 21
Kapitel: 22
Kapitel: 23
Kapitel: 24
Kapitel: 25
Kapitel: 26
Kapitel: 27
Kapitel: 28
Kapitel: 29
Kapitel: 30
Kapitel: 31
Kapitel: 32
Kapitel: 33
Vierter Teil
Kapitel: 1
Kapitel: 2
Kapitel: 3
Kapitel: 4
Kapitel: 5
Kapitel: 6
Kapitel: 7
Kapitel: 8
Dank an
Erster Teil
Der California Zephyr gleitet langsam über die Schienen. Vor dir breitet sich die Sierra Nevada aus. Die Sonne steht hoch am Himmel und brennt braun herab. Alles ist ausgetrocknet. An den Hängen wachsen vereinzelt Pflanzen. Weißkiefern lassen schlaff ihre Nadeln hängen.
Du hattest nie viel übrig für Nadelbäume. Diese verdammten Nadeln vom Weihnachtsbaum findest du noch im April in irgendwelchen Wohnzimmerritzen! Es ärgert dich, dass du ausgerechnet jetzt daran denken musst. Hier soll alles anders sein.
Das ist Natur. Die rohe, ungebundene Natur. Tief unten im American River wurde damals der erste Goldnugget gefunden. Die Bergkette vor dir ist mit Schnee bedeckt. Du starrst auf die Landschaft. Bedrohliches Weiß vor pixeligem Himmel. Du siehst abgetrennte Körperteile, die über dem Feuer gebraten und halb roh von Mäulern zerkaut werden.
Diese Bilder sind nicht programmiert, aber nötig.
»Papa, können wir nicht was Richtiges zocken? Das ist total langweilig!«
Ich blickte vom Monitor auf. Mein Sohn hatte sich mein Smartphone geschnappt und versuchte nun frustriert, die Tastensperre zu umgehen. Ich sah durch das Kellerfenster. Draußen dämmerte es bereits. Ich seufzte. »Dann lass uns mal nach oben gehen. Wir essen gleich. Und Händewaschen nicht vergessen.«
»Warum spielen wir nie die Spiele, die ich spielen will? Papa, ich will eine Playstation. Außerdem habe ich mir eben erst die Hände gewaschen, als wir nach Hause gekommen sind.«
»Dann wäschst du sie bitte noch mal, Finn. Das hatten wir doch schon. Wir brauchen keine Konsole.«
»Aber wir spielen immer nur diesen ollen Zugsimulator. Immer nur diesen langweiligen Kack.«
»Finn!«
»Was denn? Ich habe nicht Scheiße gesagt.«
»Finn, es reicht mir langsam. Es gibt keine Playstation.«
»Das ist total unfair. Max hat auch eine.«
»Es ist mir egal, was Max hat. Wir gehen jetzt nach oben zum Essen, und du wäschst dir vorher die Hände. Schluss. Aus. Ende. Keine Diskussion.«
»Du bist total unfair.« Finn schmiss mein Smartphone auf den Schreibtisch und lief aus dem Keller nach oben.
Noch vor einer Woche hätte ich jetzt die Kellertür zuknallen hören müssen. Ich hatte jedoch vor ein paar Tagen einen Zugluftstopper an der Tür installiert, der nun seine Bewährungsprobe bestand. Dabei hatte ich das Ding nur mit größter Mühe an der Tür festbekommen. Im Baumarkt hatte mich einer der bärtigen Mitarbeiter stirnrunzelnd angesehen und dann belustigt mit dem Kopf geschüttelt, als er verstand, was ich zu kaufen beabsichtigte. ›Wieder so ein Pantoffelheld‹, hatten seine Augen gesagt, um mir dann das teuerste Ding anzudrehen. Aber das war mir egal. Zumindest konnte Finn jetzt nicht die Kellertür zuknallen.
Als ich auf den Monitor blickte, schlängelte sich der Zephyr langsam den schneebedeckten Donnerpass hinauf. Überall weiß. Der Anblick ließ eine merkwürdige Übelkeit in mir aufsteigen. Ich beendete schnell den Train Simulator, fuhr den Computer herunter und ging nach oben in die Küche. Zufrieden stellte ich fest, dass hinter mir die Kellertür geräuschlos ins Schloss fiel.
Ich stellte den Saab auf dem Parkplatz ab und ging zum Anmeldeschalter. Meine Frau wollte schon lange einen neuen Wagen kaufen. »Einen Kombi mit viel Platz. Wegen der Kinder«, wie sie sagte. Bisher hatte ich dem Drängen meiner Frau stets standhalten können. Ich hoffte inständig, dass es mir ein weiteres Mal gelang. Seit einiger Zeit kam aus dem Motorraum ein Geräusch, das dort nicht hingehörte. Ein merkwürdiges Klacken. Ich kannte mein Auto seit über zwei Jahrzehnten. Dieses Geräusch hatte ich vorher noch nie gehört und es versprach nichts Gutes.
Ich hatte mir eine Filiale einer möglichst großen und damit unpersönlichen Werkstattkette ausgesucht. Zuvor war ich bei einer Reihe von kleineren Werkstätten gewesen. Doch deren Mitarbeiter wollten mich alle für dumm verkaufen. Mal spotteten sie darüber, dass ich zu viel Öl nachgefüllt hatte und sie das Auto hatten abschleppen müssen. Andere versuchten mich übers Ohr zu hauen, in dem sie Sachen am Wagen reparierten, die meiner Meinung nach gar nicht kaputt gewesen waren. Werkstätten, Baumärkte und Tankstellen waren wirklich keine Orte, an denen ich mich wohlfühlte.
Unbehaglich betätigte ich die Klingel und ein bärtiger Mitarbeiter kam zum Tresen. Ich überreichte ihm den Zettel mit dem Auftrag, den ich ein paar Tage zuvor von einem seiner Kollegen erhalten hatte.
»Okay«, sagte er und reichte mir ein Formular. »Hier noch Ihre Unterschrift.«
Er setzte mich in einen der roten Kunstledersessel, die im Eingangsbereich der Filiale standen. Natürlich lagen Autozeitschriften auf dem kleinen Beistelltisch, um den herum zwei Sessel und ein ebenfalls rotes Sofa angeordnet waren. Ich nahm die Magazine nacheinander in die Hand. Merkwürdigerweise befand sich weit unten im Stapel eine Frauenzeitschrift. Das schien mir die verlockendste Lektüre zu sein. Ich sah mich um. Glücklicherweise wartete außer mir niemand auf sein Auto und die Mitarbeiter achteten nicht weiter auf mich. Ich konnte das Frauenmagazin unbemerkt an mich nehmen und steckte es in eine Autowelt.
Das Privatleben der Hollywoodstars oder die Intrigen und Geheimnisse der Königshäuser hatten mich noch nie sonderlich interessiert. Meine Frau kannte sich auf diesem Gebiet sehr gut aus, denn in ihrer Praxis hatten immer Unmengen dieses Lesestoffs ausgelegen und ich hatte sie deswegen oft mit ihrem Wissen aufgezogen. Ich blätterte durch Artikel über Botoxlippen und Brustvergrößerungen, was mich gut unterhielt.
Ich blickte nach draußen, wo gerade mein Auto in die Werkstatt gefahren wurde. Der Mitarbeiter gab entschieden zu viel Gas. Das Silber des Wagens verschwand hinter einer grauen Betonwand und ich hoffte, dass es nicht zu teuer werden würde. Jede Reparatur musste ich schließlich vor meiner Frau rechtfertigen.
Eine Sängerin trauerte um ihren Hund und hatte sich schon eine exakte Kopie ihres Lieblings angeschafft, dem sie den gleichen Namen gegeben hatte. Auf zwei nebeneinander angeordneten Fotos waren die Tiere abgebildet, die genau wie ihr Frauchen toupiert waren. Ein deutscher Schauspieler warb für seinen Film, der ihm persönlich ganz neue Perspektiven auf sich selbst und auf das Leben im Allgemeinen eröffnet habe. Es handelte sich um eine seichte Komödie, die bald in die Kinos kam.
»Ist hier noch frei«, fragte eine Frauenstimme.
Ich fuhr so ruckartig zusammen, dass beinahe das Frauenmagazin aus seiner Autoweltummantelung gefallen wäre. Vor mir stand eine Polizistin. Blond, im mittleren Alter, die sich in den Sessel gegenüber setzte, ohne auf eine Antwort von mir zu warten.
»Natürlich«, stammelte ich und rückte mich aufrecht in meinem Sessel zurecht.
Die Polizistin trug einen breiten Gürtel, an dem ihre Dienstwaffe hing, und über ihrer blauen Uniform eine schutzsichere Weste. Sie nahm sich eines der Automagazine und blätterte interessiert darin herum. Hatte die Polizei keine eigene Werkstatt, in der sie ihre Dienstwagen reparieren ließ?
Draußen beobachtete ich, wie eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der höchstens zwei Jahre alt war, mit einem Mechaniker um ihr Auto herum ging. Der glatzköpfige Mann im Overall zeigte dem fast ebenso glatzköpfigen Jungen etwas an den vorderen Scheinwerfern. Der Junge war begeistert, zeigte ebenfalls mit ausgestrecktem Arm auf die besagte Stelle und lief seinem eigenen Zeigefinger nach.
Die Polizistin räusperte sich. Meine Lektüre neigte sich verräterisch aus ihrer Tarnung. Ich nahm das Heft auf und legte es mit der Rückseite nach oben zurück auf den Stapel. Ich versuchte ein Lächeln. Sie verdrehte die Augen und schaute wieder in ihr Magazin.
»Sind Sie der Saab?«, rief mir ein Angestellter zu.
»Ja, hier«, sagte ich, erhob mich umständlich aus dem Sessel und ging erleichtert zum Schalter.
»Also, bei Ihnen ist leider mehr kaputt, als wir anfangs angenommen haben. Da müssten wir einiges neu machen.« Er schob mir einen Kostenvoranschlag herüber.
Ich überflog eine lange Liste, an deren Ende eine fett gedruckte Zahl stand. Vierstellig.
»Ob sich das für das alte Schätzchen noch lohnt?«, fragte er und lehnte sich auf einem Arm zu mir nach vorn. »Ich würde mir das überlegen. Also privat jetzt.«
Ich ließ die Schultern sinken. »Kann ich mit dem Auto denn noch fahren? Jetzt auch wegen meiner Frau und den Kindern.«
Der Mechaniker sah mich an, wie Männer, die etwas von Autos verstehen, Männer, die offensichtlich gar nichts von Autos verstehen, anschauen. »Kurze Strecken. Aber in den Urlaub würde ich nicht mehr fahren.« Er lachte, aber das Lachen war nicht freundlich.
Ich bedankte mich mit einem Seufzer, bezahlte für die schlechten Nachrichten und verließ die Filiale. Mein treuer Saab. Silbern stand er da. Irgendwie traurig, so als wüsste er, wie es um ihn stand.
Ich setzte mich auf den Fahrersitz und strich über das Lenkrad. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Was war das doch für ein bescheuertes Lied! Aber so war es wohl. Da konnte man nichts machen.
Lange vor der entsprechenden Ausfahrt sahen wir alle das Unheil auf uns zukommen. Ich hütete mich davor, etwas zu sagen, spürte jedoch den finsteren Blick meiner Frau. Zu Hause hatte es einen Disput zwischen uns gegeben, wie die Wochenendgestaltung auszusehen habe. Ich hätte mich gern in meinen Keller und vor den PC zurückgezogen und mit dem Zephyr den Donnerpass erklommen. Aber meine Frau hatte die Ansicht vertreten, dass wir etwas als Familie unternehmen sollten. Und natürlich hatte sie sich durchgesetzt. Dabei musste man kein Prophet sein, um zu erahnen, dass die halbe Stadt an einem Samstag hier sein würde.
Schweigend fuhr ich an das Ende der Schlange, die sich Kilometer vor der Ausfahrt auf der A661 gebildet hatte. Es ging weder vor noch zurück. So saßen wir über eine Dreiviertelstunde lang im Auto, bis wir schließlich auf den überfüllten Parkplatz des Möbelhauses fuhren. Ich ließ meine Familie aussteigen, um mich allein auf die Suche nach einem Parkplatz zu begeben.
Als ich meine Familie schließlich nach einer Stunde in der Wohnzimmerabteilung wiederfand, hatte sich meine Frau bereits für ein Sofa entschieden. Sie hatte sich während des Aufenthaltes im Möbelhaus sichtlich beruhigt und lächelte mir zu, als ich auf dem ausgewählten Sofa Platz nahm. Mir war es ein Rätsel, wie man sich unter diesen Menschenmassen wohlfühlen und eine bessere Laune bekommen konnte. Das Polster war ausgesprochen unbequem, aber ich wollte meiner Frau die gute Laune nicht verderben. Also bestätigte ich die Auswahl des Sofas mit einem Nicken.
Auf dem Parkplatz standen wir ratlos vor unserem Auto. Das heißt, ich war ratlos, während meine Kinder damit beschäftigt waren, die letzten Reste ihrer Hotdogs in sich hineinzustopfen. Die großen hässlichen Pakete lagen vor meinem kleinen schönen Saab. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Kartons zu öffnen und die Teile des Sofas einzeln zu transportieren. Bei der Arbeit riss ich mir die Hände auf, Blut tropfte auf die Kartons und den Parkplatz. Lilly zappelte, als meine Frau ihr Ketchup und Hotdogsoße aus dem Gesicht wischte. Ich fluchte innerlich, schaffte es aber, ein Drittel der Sofateile zu verstauen. Das würde also bedeuten, dass ich drei Fuhren brauchte, um das Sofa nach Hause zu bringen. Dann würde ich ein letztes Mal fahren müssen, um meine Familie einzusammeln, und dass bei dem Verkehr rund um das Möbelhaus. Das versprach ein schöner Samstag zu werden. Aber was blieb mir anderes übrig?
Ich sagte meiner Frau, dass sie noch einmal in die Cafeteria des Möbelhauses gehen sollten. Das würde hier etwas dauern.
»Und wer passt dann auf die Sachen auf, die hier noch liegen?«, fragte sie. »Wir hätten schon längst einen Kombi kaufen sollen.« Ihre gute Laune war damit wieder verflogen.
»Ich beeile mich«, sagte ich und räumte die übrigen Kartons zur Seite, um mit dem Auto unsere Parklücke verlassen zu können.
Ein Mann wies uns im Vorübergehen darauf hin, dass man auch Anhänger mieten könnte. »Nur so als Tipp«, sagte er und sah meine Frau herausfordernd an. »Aber da müssen Sie schon reservieren, sonst wirds eng. Logisch. Am Wochenende.«
Meine Frau schaute ihm finster hinterher, sagte aber nichts.
Stumm stieg ich in den Saab, um meine erste Fahrt anzutreten. Im Rückspiegel sah ich meine Familie auf dem Parkplatz vor den zerfetzten Kartons stehen. Ein BMW-Kombi wollte in die freigewordene Parklücke, wurde aber von den Paketen und Sofateilen daran gehindert. Der Fahrer beschwerte sich wild gestikulierend. Ich sah, wie meine Frau ihr Gesicht in den Händen vergrub. Das würde für uns alle ein langer Nachmittag werden.
Tatsächlich war ich fünfmal an diesem Nachmittag zwischen unserem Reihenhaus und dem Möbelhaus hin und her gefahren. Jedes Mal wenn ich in die Straße unserer Wohnsiedlung bog, krampfte sich mein Rücken zusammen. Ich schleppte die Pakete und Teile des neuen Sofas unter den Carport, um sie dann später in unser Wohnzimmer zu tragen. Zu allem Überfluss bot mir auch noch Sven Neumann seine Hilfe an. Zum Glück schaffte ich es, ihn abzuwehren. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Mir von diesem Arschloch von Nachbar helfen zu lassen.
Als ich ein letztes Mal an diesem Tag auf den Parkplatz des Möbelhauses fuhr, rief ich meine Frau an. Sie war mit den Kindern weitere Hotdogs essen gegangen. Ich sah alle drei müde aus dem Eingang kommen. Die Menschenmassen teilten sich zwischen ihnen, wie sich das Meer vor Moses geteilt hatte. Vermutlich wollte sich niemand mit meiner Frau anlegen. Als dann alle im Auto saßen, herrschte Totenstille. Niemand sagte ein Wort und wir fuhren schweigend nach Hause.
Zu Hause verzog sich Finn in sein Zimmer und meine Frau verschwand ebenfalls. Ich trug sämtliche Teile des Sofas in unser Wohnzimmer und machte mich daran, sie zu sortieren. Lilly holte ihre Wachsmalstifte aus der Malecke und malte Türen und Fenster auf einen der großen Pappkartons. Hinten schnitt ich für sie eine Ladeluke in den Karton, die Lilly öffnen und schließen konnte.
Während ich das Sofa aufbaute, spielte sie mit ihrem Kartonauto. Sie imitierte mich erstaunlich gut. Sie räumte die übrigen Kartons und Papierfetzen ein und aus und stieß dabei unterdrückte Flüche aus, von denen sie hoffentlich nicht wusste, was sie bedeuteten. Gut, dass meine Frau nicht in der Nähe war. Wider Erwarten fehlte kein einziges Teil und so baute ich das Sofa für meine Verhältnisse erstaunlich schnell zusammen.
Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis. Jetzt musste ich nur noch das Altpapier entsorgen, und der Tag hätte doch noch ein gutes Ende genommen. Da hast du was geschafft, mein Freund! Herzlichen Glückwunsch! Darauf sollten wir anstoßen, findest du nicht? Zwinker, zwinker. Ist doch nur Spaß! Entspann dich, alter Kumpel. Besorgt schaute ich zu Lilly hinüber. Sie würde sich nur schwerlich davon überzeugen lassen, sich von ihrem neuen Automobil zu trennen. Ich überließ ihr den Karton und schleppte das übrige Altpapier in den Keller, um es von dort anderntags wieder durch den Kellerausgang ins Auto zu tragen und dann zum Wertstoffhof zu bringen. All die Kartons passten unmöglich in unsere Altpapiertonne.
Als ich die Treppe endlich wieder hinaufstieg, um mein Tagewerk in einer aufgeräumten Umgebung zu betrachten, überfiel mich ein ungeheurer Schmerz. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er in alle Richtungen auseinander- und gleichzeitig zusammengedrückt. Ich konnte mich nicht rühren und hielt mich am Treppengeländer fest, um nicht rücklings in den Keller zurückzufallen. Seit dem Tod meiner kleinen Schwester hatte ich häufig unter Migräneanfällen gelitten. Aber dieser Schmerz war anders. So etwas hatte ich noch nie gespürt. Ich schloss die Augen. Der Schmerz wurde weder stärker noch schwächer. Er war einfach da. Unerbittlich. Und es schien nicht so, als wollte er wieder verschwinden. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich die Augen öffnen, mich in Bewegung setzen und die oberste Treppenstufe erreichen konnte.
Im Wohnzimmer legte ich mich auf das neue Sofa und schloss wieder die Augen. Ich hörte die Vögel draußen im Garten und das Rattern der Geschirrspülmaschine aus der Küche. Von Lilly fehlte jede Spur, zumindest hörte ich sie nicht spielen. Vielleicht war sie in ihr Zimmer gegangen. Ich sah den Blitzen und Formen zu, wie sie durch die Schwärze meiner geschlossenen Augen herumwirbelten.
»Liegst du Probe?« Die Stimme meiner Frau drang wie aus weiter Ferne zu mir herüber.
Ich versuchte, die Augen zu öffnen, schloss sie aber gleich wieder. Ein stechender Schmerz pochte hinter meinem rechten Auge.
»Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Ich weiß auch nicht. Ich habe Kopfschmerzen. Ich will nur für einen Moment hier liegen.«
»Ich hole dir einen kalten Waschlappen und eine Aspirin«, sagte meine Frau und ging ins Gästebadezimmer.
Ich hörte den Wasserhahn.
»Papa, ich habe Doktor S-af mitgebracht. Der will mit im Auto fahren. Ins Sofage-säft.« Lilly hielt mir ihr Kuschelschaf hin. Ich spürte das Fell an meinem Gesicht und zuckte erschrocken zurück.
»Toll«, sagte ich und nickte. Ich hörte, wie sie zum Karton-Auto lief und mit Doktor S-af hineinkrabbelte.
»Papa, wir wollten doch noch an den PC. Was zocken. Kommst du?«, fragte Finn.
»Mir geht es gerade nicht so gut.« Ich versuchte, mich aufzusetzen, ließ es dann aber bleiben.
»Wir können auch das mit den Zügen zocken.«
»Ich muss mich einen Moment ausruhen. Später, Finn. Okay?«
»Aber du hast es versprochen.«
Seine Stimme hallte in meinem Kopf wider. Der Schmerz wollte nicht aufhören.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Aber du hast es versprochen.«
»Ich weiß.«
»Und versprochen ist versprochen.«
»Das stimmt.«
»Lass Papa mal in Ruhe, Schatz«, sagte meine Frau und legte einen nassen Waschlappen auf meine Stirn. Er war angenehm kühl. »Papa geht es gerade nicht gut. Vielleicht spielst du was mit Lilly?«
»Ich bin doch kein Baby mehr!«, schrie Finn, lief nach oben und knallte seine Zimmertür hinter sich zu.
Ich sparte mir eine Bemerkung über fehlende Zugluftstopper und spülte stattdessen mit einem Schluck Wasser die Aspirin hinunter. Ich hatte nur eine vage Hoffnung, dass sie helfen würde.
»Wir lassen dich jetzt mal allein. Lilly und ich gehen nach oben und legen die Wäsche zusammen. Hilfst du mir, Lilly?«
Ich schloss die Augen und hörte, wie meine Frau und Lilly nach oben gingen. Ich musste an Baumärkte denken und schlief auf der Stelle ein.
Als ich aufwachte, war es ungewöhnlich still im Haus. Ich richtete mich mühsam auf und erhob mich langsam vom Sofa. Der Schlaf hatte den hämmernden Schmerz weder abgemildert noch verstärkt. Ich stöhnte und ging in die Küche, um ein Glas Leitungswasser zu trinken. Wenn ich die Augen schloss, flimmerten unaufhörlich Sterne vor einer schwarzen Fläche. Ich entschied, die Vorhänge im Schlafzimmer zuzuziehen und mich ins Bett zu legen, so wie ich es damals bei meinen Migräneanfällen getan hatte. Auf dem Display meines Smartphones sah ich eine eingegangene Nachricht. Meine Frau und die Kinder waren auf dem Spielplatz.
Ich schloss die Augen. Schneeflocken zitterten umher. Ich hoffte inständig, dass es mir am nächsten Tag besser gehen würde.
Du sitzt im Vorgarten deiner Eltern. Du bist vierzehn. Die Sonne brennt, der Rattansessel pikst. Du trägst eine blaue Badehose, ein weißes Unterhemd und den lächerlichen Sonnenhut, den du im Urlaub am Balaton gekauft hast. Deine Eltern unterhalten sich mit einer Nachbarin. Alle wohnen schon immer hier in dieser Straße. Du liest weiter in deinem Comicheft.
Als du wieder zu deinen Eltern schaust, sind sie verschwunden. Die Nachbarin ist noch da. Aber es ist nicht die Nachbarin.
Es ist eine junge Frau. Sie hat lange rote Haare und die grünsten Augen, die du je gesehen hast. Diese Augen sehen dich unverwandt an. Du schaust dich um, ob sie vielleicht jemand anderen meint. Aber da ist niemand außer euch beiden. Das Grün brennt sich in dir fest, brennt sich tief in dir ein.
Sie trägt eine Lederjacke, sonst ist sie nackt. Blut schießt dir ins Gesicht. Du kannst ihre vollen, roten Schamhaare sehen.
Ihre langen glatten Beine kommen auf dich zu. Auf dich, den Vierzehnjährigen. Ihre grazilen weißen Füße berühren das grüne Gras. Der Himmel ist blau. Die Sonne weiß.
Ihre Nase mustert dich belustigt. Ihre Wangenknochen verspotten dich. Die roten Lippen lassen sich zu einem Lächeln herab.
Du kennst sie.
Sie steht direkt vor dir. Sie öffnet den Reißverschluss ihrer Lederjacke. Du siehst ihren Bauchnabel und ihre schlanke Taille. Du siehst die Ansätze ihrer Brüste und schließlich ihre kleinen, harten Brustwarzen.
Du kennst sie. Du kennst die rothaarige Frau.
Schweißgebadet wachte ich am nächsten Morgen auf. Der Schmerz in meinem Kopf war unverändert. Neu war hingegen, dass sich meine rechte Gesichtshälfte taub anfühlte. Als ich meine rechte Wange und den Kiefer massierte, kribbelte die Haut unangenehm. So als würden Feuerameisen auf meinem Gesicht eine Revue aufführen. Das war bei einer Migräne damals nie vorgekommen. Ich beschloss, in eine Notfallpraxis zu gehen, denn mein Hausarzt hatte sonntags geschlossen. Meine Frau machte erst Anstalten mich mit dem Auto zu fahren, aber ich zog es vor, allein zu gehen. So hatte ich zumindest meine Ruhe.
Glücklicherweise war die Notfallpraxis an diesem Morgen so gut wie leer und ich kam nach zwei anderen Patienten an die Reihe.
»Wonach sieht das denn aus?«, fragte mich der behandelnde Arzt mit italienischem Akzent.
Ich wusste darauf keine Antwort und sah ihn stumm an. Der Behandlungsstuhl quietschte, was mich an den Sessel in der Autowerkstatt und die Polizistin erinnerte. Ich fühlte mich unwohl.
»Eine Nasennebenhöhlenentzündung? Nein«, korrigierte er sich selbst sofort.
Das grelle Licht der Arztleuchte stach mir in die Augen, und besonders das rechte Auge schmerzte.
»Nein, das ist etwas anderes.« Er schien zu überlegen. »Das sieht mir nach einer Gürtelrose aus. Aber in Ihrem Alter? Und dann noch im Gesicht?« Er sah mich eindringlich über den Rand seiner Brille an.
Ich hatte noch nie etwas von einer Gürtelrose gehört, doch sein Blick verhieß nichts Gutes. Er schaute mich vorwurfsvoll und mitleidig zugleich an. Ich war nun ernsthaft besorgt. Ich hörte stumm zu und verstand nur noch die Hälfte der Worte, die folgten. Der Arzt sprach von einem Herpes Zosta und betonte, wie wichtig eine Schmerztherapie sei. Ich sollte umgehend meinen Hausarzt aufsuchen. Er verschrieb mir verschiedene Medikamente und notierte die Dosierung auf den Rezepten. Ich bedankte mich und ging irritiert und mit einem schlechten Gefühl nach Hause.
»Eine Gürtelrose?«, fragte meine Frau. Die Besorgnis stand ihr ins Gesicht geschrieben. Offensichtlich wusste sie mehr als ich. »Ach du Scheiße. Mein armer Mann.«
»Mama, du hast Scheiße gesagt.« Finn freute sich. »Fünfzig Cent ins Fluchglas.«
»S-eiße, S-eiße, S-eiße«, trällerte Lilly.
Meine Frau reagierte nicht auf die Kinder und schaute mir in die Augen. »Du gehst morgen früh gleich zu Doktor Schmelling. Und jetzt ab ins Bett. Wir lassen dich in Ruhe und machen das Mittagessen.«
»Ts-üß Papa.« Lilly gab mir einen Kuss auf die Nase.
Ich fuhr erschrocken zurück. Lillys Lippen brannten wie Feuer. Mein Kind sah mich verdutzt an und drehte sich dann belustigt zur Küchenzeile um. Ich nickte meiner Frau zu und ging nach oben ins Schlafzimmer.
Als ich das Bett erreichte, setzte ich mich auf den Rand und wusste immer noch nicht so recht, was ich von all dem halten sollte.
Anstatt zu Doktor Schmelling ging ich am nächsten Tag zur Arbeit. Die Schmerzen waren stärker geworden und ich beschloss, auf dem Weg zum Bahnhof einen Umweg zur nächsten Apotheke zu machen, um die Rezepte aus der Notfallpraxis einzulösen.
Eine junge Apothekerin schaute mich irritiert und auch etwas angewidert an. Oder bildete ich mir das nur ein? Sie musste doch regelmäßig Kunden bedienen, die wesentlich schlimmer aussahen als ich. Sie entschuldigte sich für einen Moment und ging zu einer älteren Kollegin, die eine elegante Hochsteckfrisur trug. Sie zeigte zunächst auf mich und dann auf die Rezepte. Die ältere der beiden flüsterte ihrer jungen Kollegin etwas ins Ohr, die daraufhin entsetzt eine Hand vor den Mund nahm.
Ich kam mir vor, wie der Elefantenmensch. Mein Erscheinungsbild musste sich, seit ich am Morgen in den Spiegel geschaut hatte, verschlechtert haben. Meine rechte Gesichtshälfte war über Nacht weiter angeschwollen und hatte einen dunklen Rotton angenommen. Als ich mit dem Zeigefinger über meine Wange fuhr, brannte die Haut und war gleichzeitig betäubt. Sonst war mir an dem Morgen nichts weiter aufgefallen.
Die junge Apothekerin kam unter dem strengen Blick ihrer Kollegin zurück und sah mich bemüht professionell an. Sie scannte die Medikamente an der Kasse, packte sie in eine kleine Plastiktüte und überreichte sie mir mit einem gezwungenen Lächeln. Ich bezahlte und verließ die Apotheke Richtung Bahnhof.
Als ich im Regionalexpress Richtung Frankfurt Hauptbahnhof saß, schaute mich mein Spiegelbild aus dem Fenster an. Meine linke Gesichtshälfte sah aus wie immer. Doch wenn ich den Kopf drehte, dann blickte mich eine Fratze an, die tatsächlich an den Elefantenmenschen erinnerte.
Die Haut der rechten Gesichtshälfte war von der Stirn bis zum Mund weiter angeschwollen. Das rechte Auge sah aus, als hätte ich einen Boxkampf hinter mir. Auf der knallroten, rechten Wange hatten sich weiße Bläschen gebildet, die mir beim Blick in den Spiegel morgens noch nicht aufgefallen waren. Ich dachte an das entsetzte Gesicht der Apothekerin. Hoffentlich fiel ich im Büro nicht zu sehr auf.
Ich seufzte und holte die Medikamente aus der kleinen Plastiktüte. Der Arzt hatte mir eine Tinktur verschrieben, die ich gegen den Juckreiz auf die Haut auftragen sollte. Daneben fand ich ein Schmerzmittel, von dem ich direkt zwei Tabletten mit viel zu heißem Tee aus meiner Thermoskanne herunterspülte.
Ich schaute benommen auf die Signale und hoffte, dass das Medikament bald seine Wirkung zeigte. Bäume, Sträucher und Wiesen zogen zunächst langsam, dann schneller an mir vorüber. Der Zug konnte seine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h noch nicht erreicht haben, und dennoch verschwamm alles in meinem Blickfeld.
Ich schloss die Augen und ließ mich tiefer in den Sitz sinken. Das rechte Augenlid fing furchtbar an zu jucken. Ein Schmerz durchzog plötzlich meine Nase. Ich zuckte zusammen. Vielleicht hätte ich doch lieber zu Doktor Schmelling gehen sollen. Aber daran ließ sich jetzt auch nichts mehr ändern. Ich saß im Zug und war auf dem Weg zur Arbeit.
Wir erreichten Maintal Ost und eine Lautsprecherstimme teilte allen Fahrgästen mit, dass wir auf die Durchfahrt eines ICEs warten müssten und sich die Weiterfahrt daher um wenige Minuten verzögerte. Das kam auf dieser Strecke nur äußerst selten vor.
Ich öffnete die Augen und sah mich zum ersten Mal im Abteil um. Die übrigen Passagiere schauten entweder müde auf ihre Smartphones oder hielten die Augen geschlossen. Niemand schien mich irritiert oder angeekelt anzusehen. Ich schaute auf den erst kürzlich renovierten Bahnsteig, der lächerlich deplatziert vor dem maroden Bahnhofsgebäude wirkte. Die Schmerzmittel fingen langsam an zu wirken.
Mit einem Ruck rauschte der ICE an uns vorbei. Ich schaute in die an mir vorbeiziehenden Fenster, in denen ich die vagen Umrisse der Passagiere erkennen konnte. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag. Ich sah deutlich die Frau aus meinem Traum hinter einem der Fenster. Ihre roten Haare funkelten. Ihre grünen Augen sahen mich kühl an und ein Lächeln huschte über ihre rot geschminkten Lippen. Dann verschwand die rothaarige Frau aus meinem Blickfeld.
Das alles konnte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben. Ich sah ihr Gesicht noch immer vor mir. Regungslos saß ich da und sah dem ICE hinterher, dessen Rücklichter hinter den vollgesprayten Gebäuden an den Gleisanlagen verschwanden.
Die Lautsprecher verkündeten die Weiterfahrt, doch sie waren dumpf, wie in Watte gepackt. Irgendwann ratterte der Zug über die Main-Neckar-Brücke und nach einer langen Rechtskurve zeichnete sich die Skyline von Frankfurt ab.
Das konnte nicht real sein. Ich konnte die Frau aus meinem Traum nicht in der wirklichen Welt gesehen haben. Es war unmöglich und komplett lächerlich. Meine Fantasie hatte mir einen Streich gespielt. Ich hatte heute Morgen nichts gegessen und die Schmerzmittel auf nüchternen Magen genommen. Man musste nicht Medizin studiert haben, um zu erkennen, dass ich mir die rothaarige Frau lediglich eingebildet hatte. Sie war eine Wahnvorstellung, nichts weiter.
Ach ja? Bist du da ganz sicher, mein Freund? Ihre grünen Augen haben dich angefunkelt. Ihre roten Haare und ihre roten Lippen, mit denen sie ihr bittersüßes Lächeln formte. Kann dieses Lächeln nur eine Fantasie sein? Oder wirst du langsam verrückt, mein Lieber?
Ich schüttelte den Kopf. Ich würde beim nächsten Mal darauf achten, die Medikamente nicht auf nüchternen Magen einzunehmen. Und damit hatte es sich. Schluss. Aus. Ende. Keine Diskussion.
Der Zug fuhr über das Überwerfungsbauwerk, bis er schließlich den Hauptbahnhof erreichte und wie erwartet an Gleis 3 hielt. Ich stieg aus und ging Richtung Ausgang. Der Schmerz in meinem Kopf war wieder stärker geworden.
In der Bahnhofshalle blieb ich stehen und sah mich um. Das übliche Gewimmel. Menschen stießen mich mit finsteren Blicken beiseite, ohne sich zu entschuldigen. Alle waren irgendwohin unterwegs. Alles war im Fluss, folgte lediglich unterschiedlichen Strömungen. Nur die Obdachlosen sahen ebenfalls dem Treiben zu. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nach der rothaarigen Frau Ausschau hielt.
Ich sah auf meine Armbanduhr. Dann verließ ich schnell den Bahnhof, um noch halbwegs pünktlich ins Büro zu kommen.
Unser Großraumbüro war ein Übel der modernen Arbeitswelt. Traurige Zimmerpflanzen teilten sich ein Schicksal mit Angestellten, die ihren Zustand jedoch besser zu überspielen wussten. Durch Wände abgetrennt standen grüppchenweise Schreibtische beieinander.
Ich teilte mir eine Nische mit einem jungen Kollegen, dessen Namen ich mir nicht merken konnte. Es war möglich, dass er Lars oder Lukas hieß. Ich versuchte ihn so gut wie möglich nicht mit seinem Namen anzusprechen. Er trug einen lächerlichen Männerdutt, wie ihn Hipster heute bevorzugten.
Und dann saß in meiner Nische noch die Geißel meines Lebens. Das Aas, wie ich sie insgeheim nannte. Anna Lena Henrichs. Zunächst hatte ich mich damals gefreut, als sie eine alte, dicke Kollegin abgelöst und sich an den Schreibtisch mir gegenüber gesetzt hatte. Doch schon nach kürzester Zeit hatte ich festgestellt, dass sie eine furchtbare Person war. Anna Lena Henrichs war frisch von der Uni in unser Unternehmen gekommen, stellte jeden infrage und wusste alles besser. Bei einem Meeting mit einem Großkunden hatte sie es tatsächlich gewagt, mich für meine Strategie vor allen zu kritisieren. Und meiner Chefin hatte das gefallen.
Ohnehin schien das Aas eine Förderin in ihr gefunden zu haben. Trotzdem hatte mir die Chefin die Stelle der Teamleitung zugesagt, die bald vakant würde. Sie hatte mich vor zwei Wochen in ihr Büro gebeten und mir kurz mitgeteilt, dass meiner Vorgängerin die Familienplanung wichtiger sei als die Karriere. Nach der Elternzeit würde meine Kollegin sich ein neues Unternehmen suchen müssen. Meine Frau und ich hatten an jenem Abend mit alkoholfreiem Sekt angestoßen. Sie hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, mir überschwänglich gratuliert und sich wirklich für mich gefreut.
»Siehst du«, hatte ich zu ihr gesagt. »Ich schaffe das. Wir schaffen das gemeinsam. Wir lassen das hinter uns. Wir sind eine Familie.«
Jetzt stand ich in der Tür, sah dem Treiben im Büro zu und wünschte mich an einen anderen Ort. Die Schmerzen waren seit meinem Eintreffen am Bahnhof nicht weniger geworden und ich hatte gehofft, mich hier einfach an meinem Schreibtisch zu verkriechen und so den Tag zu überstehen. Ausgerechnet heute jedoch herrschte im Büro Chaos.
Arbeiter schleppten Sichtschutzelemente durch die Flure. Blumenvasen, Tische und Bürostühle wurden aus dem Trakt getragen. Alles flirrte vor meinen Augen. Benommen stand ich in der Tür und sah dem Durcheinander von Menschen zu, die wie Insekten einem natürlichen Plan zu folgen schienen. Einem Plan, über den ich nicht unterrichtet worden war. Ich war ein Ahnungsloser unter Eingeweihten. Ein Arbeiter stieß mich geschäftig zur Seite und ich erwachte aus meiner Trance. Ich war überall im Weg.
Ich erinnerte mich. Das Radlertasting. Üblicherweise beauftragten wir Studios mit der Durchführung von Umfragen. Für das Radlertasting war uns plötzlich der Veranstalter abgesprungen und unsere Chefin hatte beschlossen, das Tasting einfach in unseren Büroräumen durchzuführen. Schließlich war die Brauerei ein langjähriger Kunde.
Im Besprechungsraum waren provisorisch etwa zwanzig Kabinen installiert worden. Links und rechts von einem Sichtschutz getrennt, sollten hier die dicht an dicht sitzenden Probanden die Produkte verköstigen. Ich selbst hatte nur kurz an der Entwicklung des Fragenkatalogs mitgearbeitet. Routinearbeit. Nicht besonders umfangreich. Auf Tablets würden die Teilnehmer eintragen, wie ihnen Geschmack, Farbe, Trübung und Design der Schaumkrone gefiel.
Einige Probanden hatten sich bereits in unserer Teeküche eingefunden und hörten den Instruktionen von Anna Lena Henrichs zu. Ich konnte sehen, wie sie an ihren Lippen hingen. Sie war eine attraktive Frau Ende zwanzig und hatte eine umwerfende Figur. Und dazu noch dreißig Euro für eine Stunde Radler trinken. Die Männer grinsten.
Noch hatte mich keiner meiner Kollegen gesehen. Ich flüchtete auf die Herrentoilette und schloss mich in die hinterste Kabine ein. Benommen saß ich auf der zugeklappten Toilette. Durch die Kabinentür drang das aufgeregte Treiben aus dem Büro gedämpft zu mir herein. Ich holte die Schmerzmittel hervor und öffnete zitternd die Packung. Die Kopfschmerzen breiteten sich jetzt auch über Nase und Ohren bis zum Oberkiefer aus. Ich nahm die doppelte Menge der empfohlenen Dosis und schluckte sie ohne Wasser herunter.
Ich blieb sitzen und wartete. Irgendwann mussten die Schmerzen nachlassen. Dann würde ich es schaffen, von der Toilette aufzustehen, durch die Kabinentür zu gehen und den Arbeitstag aufzunehmen. Ich musste mich nur zusammenreißen und den Tag überstehen. Und morgen würde es mir bestimmt besser gehen.
Ich starrte auf die bunten Kacheln am Boden. Das Stockwerk des Bürogebäudes war kurz vor dem Einzug unseres Unternehmens komplett renoviert worden. Glas und Beton waren vorherrschend. Nur die Marmorfliesen in der Lobby und die Kacheln in den Toiletten hatte man erhalten. Kleine Kacheln in Ocker, Braun und Weiß wechselten sich ab. Es gelang mir nicht, irgendein Muster zu erkennen. Sie tauchten in beliebiger Reihenfolge vor meinen Augen auf.
Für das Tasting waren täglich mehrere Durchläufe geplant, und zwar für die nächsten drei Tage. Das würde zur Folge haben, dass ich erst am Freitag wieder in einer ruhigen Umgebung meiner Arbeit nachgehen konnte. Die kribbelnden Schmerzen in meiner rechten Gesichtshälfte ließen allmählich nach. Ich packte meine Sachen zusammen und verließ die Kabine.
Morgen wäre alles wieder, wie es vorher war. Bis dahin musste ich den Tag überstehen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und wagte es nicht, die Fratze im Spiegel anzusehen, als ich mich von dem Waschbecken aufrichtete. Ich hoffte inständig, dass ich für meine Kollegen kein allzu abweisendes Bild abgeben würde. Vermutlich würde sich das Aas Anna Lena Henrichs über mich das Maul zerreißen. Ich konnte nur versuchen, ihr so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Ich verließ die Herrentoilette und stieß auf dem Flur mit jemanden zusammen. Ausgerechnet das Aas stand vor mir. Sie wollte erst eine Entschuldigung anbringen. Doch als sie mich erkannte, starrte sie mich angewidert an. Ich konnte erkennen, wie sich ihrem Ekel eine Schadenfreude hinzugesellte. Sie machte hämisch den Mund auf, um etwas zu sagen. Das würde ein langer Tag im Büro werden.
Du kommst an diesem Tag erschöpft nach Hause und lässt deinen Mantel und deine Aktentasche auf die Bank im Hausflur fallen. Dabei besitzt du keine Aktentasche. Niemand ist zu Hause. Vermutlich holt deine Frau gerade Finn aus der Schule ab und hat auch Lilly mitgenommen.
Du setzt dich an den Küchentisch und leerst in einem Zug ein Glas Milch. Obwohl du keine Milch magst. Du deckst den Tisch und wartest darauf, dass deine Familie nach Hause kommt.
Du siehst ein Schimmern im Besteck. Du nimmst Lillys silbernen Bärenlöffel vom Tisch und schaust hinein. Du siehst ein Spiegelbild. Du siehst genauer hin, nimmst den Löffel ganz dicht vor dein Auge. Doch du kannst es nicht richtig erkennen. Wenn du versuchst, deine Augen auf den Löffel zu fokussieren, dann verspringt das Bild. Du drehst den Löffel ins Licht. Hin und her. Aber das Spiegelbild lässt sich einfach nicht fassen. Ist es dein Spiegelbild?
Du lachst nervös und legst den Löffel zurück auf den Küchentisch. Du schließt die Augen. Aber du musst hinsehen. Es gibt ab jetzt kein Zurück mehr. Es gibt Dinge, die sich nicht aufhalten lassen.
Du gehst in den Flur. Du hast beschlossen, in den großen Wandspiegel im Flur zu schauen. Du weißt genau, dass dir nicht gefallen wird, was du dort sehen wirst. Aber du kannst nicht anders.
Langsam näherst du dich dem schweren Holzrahmen. Du drehst dich zum Spiegel und blickst hinein. Du siehst dein gewohntes Spiegelbild. Was hattest du auch erwartet? Monster? Gespenster? Du siehst deinen erstaunten Blick. Du schüttelst den Kopf und schaust dir in die Augen. Jetzt belustigt und erleichtert.
Alles ist wie vorher. Es wird sich nichts ändern. Gleich wird deine Familie nach Hause kommen und ihr werdet zusammen Spaghetti essen, so wie ihr es jeden Montagabend tut. Danach werdet ihr die Kinder ins Bett bringen und noch etwas im Fernsehen schauen. Nicht zu lange, denn morgen müssen alle wieder früh raus.
Du blinzelst dir zu. Du bemerkst, wie ein Tropfen an deiner Stirn herunterläuft. Er bahnt sich einen Weg an deinem rechten Auge vorbei, über die Nase und tropft auf den Fliesenboden. Was ist das? Ein nächster Tropfen beginnt von der Stirn über die Wange zu laufen. Dann ein Nächster. Du fasst dir an die Stirn. Sie gibt nach. Erst zittert sie wie ein Spinnennetz, um dann zu zerfließen. Die Stirn läuft über dein rechtes Auge die Wange hinunter. Das Auge wird mitgerissen und rinnt über die Wange Richtung Kiefer.
Du versuchst, den Fluss aufzuhalten, aber er lässt sich nicht aufhalten, er lässt sich nicht stoppen. Dein Gesicht tropft auf den Boden. Aber du fühlst nichts. Keine Schmerzen. Nur Entsetzen.
Du versuchst zu schreien, aber ein Zahn nach dem anderen fällt auf den Boden in die Pfütze vor dir. Deine Zunge ist nur noch halb zu sehen und dort, wo einst dein Gesicht war, ist nur noch ein klaffendes Loch. Eine Leere. Ein schwarzes Nichts.
Wieder wachte ich schweißgebadet auf. Der Digitalwecker zeigte 3:43 Uhr. Meine Frau schlief wie ein Stein und Lilly schlummerte friedlich mit ihrem Kuschelschaf im Arm. Die Haut meiner rechten Gesichtshälfte juckte fürchterlich. Ich stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken.
Ich drehte den Wasserhahn in der Küche zu und tropfte ein Schmerzmittel in das Wasserglas. Ich hatte die Tropfen im Schrank mit den Medikamenten gefunden. Vermutlich waren sie ein Überbleibsel meiner Frau, die vor der Geburt unserer Kinder gelegentlich unter Migräne gelitten hatte. Die Tropfen verschwammen vor meinen Augen. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich die Tropfen beim Austreten aus der Flasche oder beim Aufprall auf das Wasser im Glas zählen sollte. Ich schüttete die bittere Flüssigkeit hinunter und spülte ausgiebig mit Wasser nach. Plötzlich überkam mich der Impuls, in den Keller zu gehen und den Train Simulator zu starten. Es war kein Gedanke, sondern ein unbestimmtes Gefühl, eine Ahnung. Ich schlich möglichst leise die Kellertreppe hinunter, um meine Familie nicht zu wecken.
Im Keller schaltete ich zuerst das Licht und dann den PC an, setzte mich vor den Monitor, stellte die Wasserflasche und das Glas auf den Schreibtisch und wartete, bis das Betriebssystem hochgefahren war. Ich startete den Train Simulator und nach dem Ladebildschirm erschien das vertraute Auswahlmenü auf dem Monitor. Ich wählte den Zug und die Strecke aus und wartete, bis das Szenario geladen war. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug leer. Ich hoffte, dass die Schmerzen bald nachließen.
Endlich erschien vor mir der Führerstand des ICE4 und ich machte den Zug mit wenigen Handgriffen fahrbereit. Schließlich löste ich die Federspeicherbremse und beschleunigte den Zug aus dem Frankfurter Hauptbahnhof hinaus. Der Zug passierte die Umschlagwerke am Bahnhofsgelände und schlängelte sich über die Rhein-Neckar-Brücke. Auf der linken Seite tauchte der Skytower auf und der Zug machte eine lange Rechtskurve. Ich erreichte den Bahnhof Frankfurt Ost und hielt den Zug an.
Das Szenario sah hier keinen Halt vor und machte mich auf die zu erwartenden Verspätungen an den nächsten Stationen aufmerksam. Ich zoomte die Kamera aus dem ICE heraus und sah mich auf dem Bahnsteig um. Die Haltestelle war sehr detailliert modelliert. In der Simulation fehlten lediglich die Sprayereien am Bahnsteig. Die Stahlstützen, ohne die das baufällige Bahnhofsgebäude auch in der Realität längst eingestürzt wäre, waren ebenfalls sehr realistisch nachgebaut. Ich ließ die Kamera zu der Stelle schweben, an der die rothaarige Frau am Morgen an mir vorbeigefahren war. Ich sah nichts Besonderes. Der Monitor flirrte. Ich zoomte vor und zurück. Ich starrte weiter auf die Pixel. Nichts. Es war lächerlich.
Du bist lächerlich. Wie ein pubertierender Junge bist du mitten in der Nacht in den kalten Keller hinabgestiegen und hast was erwartet? Eine rothaarige Frau aus Bits und Bytes, die in einer Simulation auf dich wartet? Die dich mit ihren grünen Pixelaugen ansieht und langsam ihre Lederjacke auszieht? Bis du ihren perfekt modellierten Bauchnabel und ihre Brüste sehen kannst? Du bist ein Freak!
»Kannst du nicht schlafen?«
Ich fuhr zusammen und drehte mich erschrocken um. Meine Frau stand in der Tür und sah mich mit müden Augen an.
»Hast du solche Schmerzen? Ich will nicht wieder streiten, aber morgen gehst du wirklich zu Doktor Schmelling. Okay?«
»Es geht schon«, log ich. »Ich konnte nur nicht mehr schlafen.«
»Gleich morgen gehst du zu ihm..«
Ich nickte und warf einen letzten Blick auf das leere Bahngleis vor mir auf dem Monitor. Die rothaarige Frau gab es weder in der virtuellen noch in der realen Welt. Ich hatte mich selbst zum Narren gehalten. Wie ein kleiner Junge war ich einer Fantasie hinterhergerannt. Es hatte mit mir und meinem Leben nicht das Mindeste zu tun.
Ich beendete den Train Simulator und fuhr den PC herunter. Dann ergriff ich die Hand meiner Frau und folgte ihr zurück ins Schlafzimmer.
Doktor Schmelling sah mich über seine randlose Brille ernst an. Er war ein alter Freund meiner Schwiegereltern, die ein paar Nachbardörfer weiter wohnten. Da ich nie ernsthaft krank war und nur selten einen Arzt benötigte, war er kurzerhand auch mein Hausarzt geworden. Doktor Schmelling musste ungefähr im Alter meines Vaters sein, dachte aber gar nicht daran, in den Ruhestand zu gehen. Ständig hatte er eine Zigarette im Mundwinkel, verzichtete aber darauf, sie anzustecken.
»Da hattest du aber Glück, dass du bei Lorenzo in der Notfallpraxis gelandet bist. Er hat das ganz richtig erkannt und dir das richtige Medikament verschrieben. Du hast das doch gleich genommen.« Er formulierte es nicht als Frage.
Trotzdem nickte ich und hörte mich ein Ja murmeln.
»Damit ist nicht zu spaßen. Je später die Behandlung beginnt, desto langwieriger und schwerer ist der Verlauf. Ich hatte mal eine ältere Dame, die bei zig Ärzten war. Keiner hat es erkannt. Da half kein Medikament mehr. Die musste das komplett aussitzen.«
»Wie lange kann das denn dauern?«
»Es ist folgendermaßen«, er setzte seine Brille ab und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. »Das ist eine Zweitinfektion des Varizella-Zoster-Virus. Beim ersten Mal bescherte dir das Virus die Windpocken, und seitdem hast du das im Körper. Das lauert dort jahrelang auf eine Schwächung seines Opfers. Und dann –«, er stieß mit seinem hageren Körper nach vorne und haute mit einer Faust auf den Tisch. »Dann schlägt es zu. Auf die Nervenwurzeln.« Er machte eine künstliche Pause, bevor er mit seinen Ausführungen fortfuhr. »Der Verlauf ist eine typische Entzündung. Heftige brennende und ziehende Schmerzen gehen einem Ausschlag voraus. Anschließend entwickeln sich Bläschen, streng auf das Ausbreitungsgebiet des betroffenen Nervs beschränkt. Oder wie ich in deinem Fall fürchte, auf die betroffenen Nerven. Plural. Da hast du richtig einen mitgekriegt. Die Bläschen trocknen schließlich ein und verkrusten, meist ohne Narben zu hinterlassen.«
»Also ist irgendwann wieder alles okay?«
»Die Schmerzen müssen wir in den Griff kriegen. Die müssen so lange mit Schmerzmitteln bekämpft werden, bis sie verschwunden sind. Denn wir wollen doch nicht, dass die Schmerzen chronisch werden?«
»Nein, das wollen wir nicht.«
»Das denke ich mir.«
»Und wie lange dauert das?«, fragte ich.
»Der Zoster ist ein Schweinehund. In deinem Alter ist das ungewöhnlich. Normalerweise befällt die Gürtelrose eher ältere Menschen. Die körperliche Schwächung ist das eine.« Er sah mich mit einem Ärzteblick an, den ich bisher bei ihm nicht gesehen hatte. »Das andere ist die seelische Situation des Patienten. Für dieses Krankheitsbild ist das von enormer Bedeutung. Wie geht es denn der Familie? Den Kindern? Was macht der Beruf?«
»Da ist alles in Ordnung, denke ich.«
»Gut, gut.« Er nickte und setzte seine Brille wieder auf die dünne Nase. »Vielleicht nimmst du mal eine Auszeit. Jeder ist etwas gestresst heutzutage. Ich schreibe dich erst einmal für einen Monat krank.«
»Einen Monat?« Ich war entsetzt.
»Und dann schauen wir nach dem weiteren Verlauf. Der ist bei dem Zoster ganz unterschiedlich. Spätestens wenn die Schmerzmittel zur Neige gehen, kommst du wieder rein. In Ordnung?«
Ich nickte und ließ den Kopf sinken.
»Ach, und noch was. Die Jüngste, wie alt ist sie noch gleich? Sind die Kinder gegen Windpocken geimpft?«