Jedes Ding an seinem Platz - Anneloes Timmerije - E-Book

Jedes Ding an seinem Platz E-Book

Anneloes Timmerije

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Beschreibung

Wenn Anneloes Timmerije erzählt, wirkt die Welt zunächst ganz normal. Aber der Alltag, den sie uns zeigt, hat Risse. Die Leerstellen sind es, durch die das Menschliche scheint: Schweigen, Unterlassenes, fehlender Mut. Man wünscht den Figuren förmlich ein Beben, das ihre Lebendigkeit wachrüttelt. Wenn sie doch nur auf die Zeichen reagieren würden, könnten sie dann zu etwas Neuem aufbrechen, das mehr dem entspricht, was das Leben vom Menschen will? So laut wird diese Frage nie gestellt, aber sie schwingt stets mit, wenn man von dem alten Mann liest, der erst nach 50 Jahren erzählt, dass er große Schuld auf sich geladen hat; wenn zwei, die sich eigentlich mögen, nie über ihren Schatten springen; wenn bei einer Wanderung am Andreasspalt tatsächlich die Erde bebt, als hätte die Wahrheit seismische Kraft. Neun Erzählungen, zusammengestellt aus zwei Bänden, über die Verheißung, doch einmal die Dinge zu verrücken, und dem, was dann käme, ins Auge zu sehen.

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Seitenzahl: 203

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© Eveline Renaud

Anneloes Timmerije

1955 in Amsterdam geboren, ist Journalistin und Autorin, mit einem besonderen Gespür für verborgene Wahrheiten. In vielen ihrer Texte klingen Erfahrungen an, die von ihrer bikulturellen niederländisch-indischen Familiengeschichte herrühren. Ihr literarisches Debüt, der Erzählband Zwartzuur, erhielt 2006 den Vrouw & Kultuur Debuutprijs und wurde zudem für den Anton Wachterprijs und den Debutanten Prijs nominiert. Die gleichnamige Geschichte erschien bei edition fünf unter dem Titel »Ente schwarzsauer« in der Anthologie Wär mein Klavier doch ein Pferd. 2010 folgte der Roman De grote Joseph sowie 2013 ein weiterer Band mit Erzählungen, Slaapwandelen bij daglicht. Zusammen mit Charles den Tex schrieb sie Het vergeten verhaal van een onwankelbare liefde in oorlogstijd (2014).

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

Originalausgabe 2018

Für die Zusammenstellung:

© 2018

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburg

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Gestaltung: Kathleen Bernsdorf

Cover: Kathleen Bernsdorf, Abbildung: iStock.com/Thepalmer

ISBN 978-3-942374-96-5

eISBN 978-3-942374-96-5

www.editionfuenf.de

Die Erzählungen in diesem Buch stammen aus:

De plaats der dingen, De Geus, © Anneloes Timmerije, zuerst erschienen unter dem Titel Zwartzuur (Augustus, Amsterdam 2005) Slaapwandelen bij daglicht, De Geus, © Anneloes Timmerije 2013

Die Rolling-Stones-Zitate in der Erzählung »Jedes Ding an seinem Platz« sind dem Song »Sympathy for the Devil« auf dem Album »Beggars Banquet« (ABKCO Records, 1968) entnommen.

Inhalt

Die letzte Buchhandlung

Jedes Ding an seinem Platz

Lügen ist erlaubt

Raben

Nach Hause

Der Andreaspfad

Kontaktaufnahme

Tanzen

Augentrost

Interview – Anneloes Timmerije im Gespräch mit Carien Touwen

Zur Übersetzerin

Die letzte Buchhandlung

Wenn es so weitergeht, braucht Jan Berend bald mehr Platz. Was bemerkenswert ist, denn er ist Inhaber und alleiniger Mitarbeiter von »Jan Berend«, der letzten Buchhandlung der Niederlande. Jahre nach dem Konkurs der Verlage in Amsterdam und der einzig verbliebenen Druckerei im Osten des Landes kann man bei Herrn Berend – denn so wird er genannt – immer noch Bücher kaufen. Neue wohlgemerkt, ungelesene, sorgfältig und liebevoll herausgegebene Bücher. Im Selbstverlag erschienene Titel kommen ihm nicht ins Haus, das Wort »E-Book« gilt in seinem Geschäft als Schimpfwort.

Jan Berend ist vor dreiundsechzig Jahren unter einem anderen Namen in der Wohnung über dem Geschäft zur Welt gekommen. Damals nannte man seinen Vater solange man sich erinnern konnte Jan Berend, nach dem goldenen Schriftzug auf dem Schaufenster, und seine Mutter war selbstverständlich als Frau Berend bekannt. Er wurde bald der kleine Jan, der geborene Buchhändler, und er war sicher, dass er, wie seine Eltern, als solcher sterben würde. Wenn es so weit wäre, wenn er nicht mehr in Büchern denken und atmen könnte, dann würde ein Anwalt seine Wünsche buchstabengetreu umsetzen. Das hat Herr Berend so geregelt, weil er diese Dinge aus praktischer Sicht wichtig, aber nicht interessant genug findet, um sich eingehend mit ihnen zu befassen. Außerdem hat er niemanden, dem er so etwas anvertrauen könnte, zurzeit jedenfalls nicht.

Der Grund, weshalb ihn die absurde Idee einer Ladenvergrößerung beschäftigt, ist, dass die Kunden bis vor seine Tür Schlange stehen. Manchmal geht es so hoch her, dass er sich insgeheim fragt, wie lange er sich dem Wachstum noch widersetzen kann. Samstags schließt er derzeit zu, sobald die maximale Raumauslastung erreicht ist. Den nächsten Kunden lässt er erst herein, wenn ein anderer geht. Sogar zur Blütezeit des Buches, als die Tische sich unter stapelweise Bestsellern bogen, war bei ihm der Andrang nicht so groß wie heute. »Alle wollen haben, was es nicht gibt«, sagte sein Vater schon vor vierzig Jahren, und er hatte Recht. Herr Berend verkauft Bücher, als wären es seltene Weinrömer aus dem siebzehnten Jahrhundert, und fast für denselben Gegenwert, denn die Buchpreisbindung ist wegen mangelnden Nachschubs aufgehoben worden. Solange keine neuen Bücher auf den Markt kommen – und wer würde es heutzutage noch wagen? –, sinkt der Preis nicht.

Um zu verhindern, dass seine Kunden beim Kauf der Ware erdrückt werden, tritt Herr Berend im Fall eines Falles als Auktionator auf. Das findet er lächerlich, doch er sieht sich dazu gezwungen, denn er musste schon dreimal Hilfe herbeirufen, damit die Lage nicht vollends eskalierte und um Verletzte (eine gebrochene Nase, ein ausgeschlagener Zahn und ein Tritt in die Hoden) zu versorgen. Die fraglichen Bücher – Bougainville von F. Springer, Die Zelle von Charles den Tex und das garantiert allerallerletzte Exemplar auf Erden von Kluuns Mitten ins Gesicht – hat er vor lauter Wut nicht verkauft, sondern in den Tresor gelegt und verkündet, das neue Verkaufsdatum werde rechtzeitig bekanntgegeben.

An den wenigen ruhigen Tagen wischt er Staub. Man trifft ihn dann mit dem Staubtuch und einer weichen Bürste auf der Leiter vor einem Bücherregal an. Von oben herab fragt er, ob er helfen könne. Die Kunden, die ihn gut kennen, wissen, dass er sich nur ungern bei dieser Tätigkeit stören lässt, und begnügen sich damit, sich umzusehen und Dinge zu notieren. Ein Buch in die Hand zu nehmen und darin zu blättern ist längst nicht mehr drin. Sogar als noch eine Handvoll Verleger allen Hindernissen zum Trotz weiterhin Bücher herausbrachten und es mehr oder weniger stetigen Nachschub gab, hatte Jan Berend zusammen mit einigen tapferen Kollegen neue Verhaltensregeln für Kunden aufgestellt:

Nur schauen, nicht berühren.

Einsicht nur auf Anfrage und im Beisein des Buchhändlers.

Ankaufsrecht: ein Buch je Kunde und Woche.

Diese Regeln gelten weniger streng bei einer neuen Kundin, die den Laden höchstens alle vierzehn Tage betritt, aber dennoch bei Herrn Berend in hohem Ansehen steht. Für sie steigt er ohne Zögern von der Leiter, mit ihr bespricht er den Untergang der Buchbranche, und an ihrer umfassenden Kenntnis der Literatur schärft er gern seinen Geist. Sollte er mit dem Rücken an der Wand stehen, sollte er nicht umhinkommen, doch zu vergrößern, wüsste er, wen er zu seiner Unterstützung einstellen würde. Aber er vergrößert nicht, lieber lässt er sich von der Straßenbahn überfahren.

Die große Frage ist natürlich, wo Herr Berend seine Bücher hernimmt. Seit ewigen Zeiten machen die wildesten Gerüchte die Runde, aber keines kommt der Wahrheit auch nur nahe. Sogar die Autoren, die am Autorentag im Wechsel grüppchenweise zu Herrn Berend in den Laden dürfen, haben keine Ahnung, wie er es anstellt, dass man ihre Bücher bei ihm bekommt und wo er sein Lager hat.

Der Autorentag findet jeden letzten Montag im Monat statt. Damit die Treffen frisch und fesselnd bleiben, hat Herr Berend ein einfaches, aber wirkungsvolles System entwickelt. Er lädt nur Autoren von der alten Garde ein, also liegt das Durchschnittsalter der Runde weit über fünfzig. Die jungen, großen E-Autoren sind bei ihm nicht willkommen. Das trifft sich gut, denn die wären lieber tot, als sich in der letzten Buchhandlung der Niederlande blicken zu lassen. Herr Berend wählt mal nach Alphabet, mal nach Genre aus. Je nach Lust und Laune bringt er Autoren gediegener wissenschaftlicher Werke mit Schreibern von Groschenromanen zusammen, Belletristen mit Biografen oder Thrillerautoren mit Literaturpreisträgern. Die alljährliche »Brot & Rosen«-Lesung am internationalen Frauentag ist natürlich weiblichen Autoren vorbehalten. Alle Schriftsteller kommen, jedes Mal. Seit Einführung der Autorentage vor gut fünf Jahren hat ihn ein Mal jemand versetzt, aber auch nur, weil er unterwegs einen Herzinfarkt bekommen hatte. Wenige Monate später war er wieder dabei, mit Herzschrittmacher.

Worüber sprechen die Autoren an diesen eigens für sie organisierten Tagen? Darüber ist bedauerlicherweise nichts bekannt, weil es geschlossene Veranstaltungen sind und die geladenen Gäste sich nie darüber auslassen. Also machen die wildesten Geschichten die Runde, denn, wie eine Variante von Jan Berend Seniors Weisheit lauten könnte: Alle wollen wissen, was verschwiegen wird.

Weil Herr Berend auch nur ein Mensch ist, hilft ihm an Autorentagen immer eine seiner sechs Exfrauen – alles ehemalige Verkäuferinnen. Alle Exfrauen kommen gut miteinander aus und er mit ihnen, sonst würden sie nicht an jedem ersten Montag im Monat, wenn der Laden geschlossen bleibt, zusammen darüber sprechen, wie die Geschäfte laufen. Die wiederkehrenden Diskussionen über eine mögliche Vergrößerung verderben Herrn Berend allerdings schon die Laune. Genauso wie die Tatsache, dass seine dritte Exfrau ihn zur Rede gestellt hat, weil ihr zugetragen wurde, dass er dieser besonderen Kundin ein Buch geschenkt hat. Einfach so geschenkt! Alle anderen Exfrauen wollten natürlich sofort wissen, was es damit auf sich hat.

Früher musste man aus gutem Hause sein, um bei Herrn Berend arbeiten zu dürfen. Er verlangte ein abgeschlossenes Niederlandistikstudium oder zumindest einen Abschluss in einer Fremdsprache. Historikerinnen hatten ebenfalls gute Aussichten, auch die Bereitschaft, für einen Hungerlohn viele unbezahlte Überstunden zu machen, war ein großer Pluspunkt. Männer durften sich natürlich ebenfalls bewerben, hatten aber keinerlei Chance.

In den stillen Vormittagsstunden, bevor der Laden öffnet, schwelgt Herr Berend gelegentlich in Erinnerungen an seine erste Ex, die Einzige, die ihn loswerden wollte statt umgekehrt. Sie las alles, hatte ein fotografisches Gedächtnis und war die beste Buch- und Lagerhalterin, die er kannte. Die Verkäuferinnen nach ihr blieben durchweg ein Jahr im Laden, bevor aus der beruflichen Verbindung eine Liebes- oder eine rein körperliche Beziehung zum Chef wurde. Auch für diese Beziehungen hatte Herr Berend ein System entwickelt. Wenn es, im Bett und im Laden, frisch und fesselnd blieb, machte er der Verkäuferin einen Heiratsantrag. Ihr brachte es Sicherheit, er sparte die Lohnkosten. Nach ein paar Jahren, wenn der Lack ab war, ließ er sich dann scheiden – anständig, ohne Scherereien, dafür aber mit ein paar Anteilen zum Ausgleich. Wenn ein Kunde nach seiner Frau / Verkäuferin fragte, antwortete Herr Berend, er habe dieses Buch ausgelesen und es eigne sich nicht für eine erneute Lektüre. Nach der Auflösung seiner vierten Ehe wurden im Laden endlos Sprüche geklopft. Man riet ihm, es doch mal mit Spannungsliteratur oder einem Comic zu versuchen. Und so wurden noch viele weitere Variationen dieses Themas an ihn herangetragen. Herr Berend fand es weder besonders geistreich, noch ärgerte er sich darüber, er ließ den gut gemeinten Spott einfach mit einem gequälten Lächeln über sich ergehen. Bloß ein einziger Mann – der ihm einen E-Reader ans Herz legte und schelmisch von den unendlichen Möglichkeiten auf wirklich jedem Gebiet erzählte – bekam lebenslänglich Ladenverbot.

Herr Berend würde nie schlecht über eine Ex reden, egal welche, obwohl die letzte Scheidung weniger glattging, als er es gewohnt war. Das hatte ihn gehörig aus dem Konzept gebracht, und darum war er in Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen, als er die Scheidungsurkunde unterschrieb. Erst in der Abgeschiedenheit seiner Ladenwohnung, nachdem die letzten vergeblichen Worte gesprochen und die letzten vergessenen Sachen abgeholt waren, wurde ihm bewusst, dass er nicht länger der mehrheitliche Anteilseigner seines Ladens war.

Der beunruhigende Gedanke an eine Ladenvergrößerung kommt immer wieder auf, weil sie möglich wäre. Das benachbarte Geschäft steht, zur großen Freude seiner Exfrauen, seit acht Monaten zum Verkauf. Der Aufschwung der E-Anprobe bedeutete innerhalb kürzester Zeit das Aus für das Modegeschäft, das ohnehin schwer unter dem beständig wachsenden Onlinehandel gelitten hatte. Herr Berend, der nichts mehr hasst, als Kleidung zu kaufen, hat so bald wie möglich sein Hologramm auf diverse Webseiten hochgeladen und ist besonders angetan vom Potenzial und der Einfachheit dessen, was er ein Paradebeispiel für den Fortschritt nennt. Man sollte meinen, dass jemand wie er aus Prinzip jede E-Findung ablehnt, doch so starrsinnig ist er nicht. Herr Berend hat keine Prinzipien, was die materielle Seite des Lebens betrifft. Einzige Ausnahme ist die Tatsache, dass er nie einen Cent mehr ausgibt als unbedingt nötig. Dieses Prinzip nährt seinen Widerstand, obwohl die Preise gewerblicher Immobilien in der Hauptstraße auf einem Tiefstand sind und Herr Berend sich den Raum vermutlich mit Leichtigkeit leisten könnte. Sein Laden und die dazugehörige Wohnung sind seit Urzeiten abbezahlt, und die Buchhandlung weist zudem eine mehr als gesunde Einnahmenüberschussrechnung auf. Woher also sein Widerstand?

Vielleicht sollte man sich zunächst fragen, wie man in dieser Zeit überhaupt bergeweise Geld mit dem Verkauf von Büchern verdienen kann – denn das scheint Herr Berend zu haben, bergeweise Geld. Die Knappheit hat dazu geführt, dass der Preis eines simplen Taschenbuchs inzwischen auf durchschnittlich dreihundert Euro angestiegen ist, in der vergangenen Woche ist noch ein gebundenes Exemplar von Connie Palmen für satte fünfhundert Euro an einen überglücklichen Kunden gegangen, und es ist kein Ende in Sicht. Bücher sind das neue Gold, allerdings mit dem großen Unterschied, dass es bei Gold noch Vorräte gibt. Bücher gibt es dagegen nicht mehr, außer dem Lagerbestand von Herrn Berend. Und niemand weiß, wie groß oder klein dieser Bestand ist: das Patentrezept für eine wilde Hausse.

Herrn Berends erste Ex, die beste Lagerhalterin der westlichen Hemisphäre, die einen weit vorausschauenden Blick hatte, fing früh an, die unverkauften Exemplare beiseitezuschaffen, statt sie den Verlegern zurückzusenden, die damals alle noch einer lauter als der andere tönten, das Papierbuch werde niemals untergehen. Wie sie es fertiggebracht hatte, wusste Herr Berend nicht, aber sie hatte jeder folgenden Exfrau eine Reihe Anweisungen gegeben, wie man Remittenden verschwinden ließ. Sobald es aus war mit dem P-Buch, kaufte sie zu einem Schnäppchenpreis einen Teil der (leerstehenden) Lagerhallen des Centraal Boekhuis. Dort, in dem einst so berühmten CB, das sie nicht ganz ohne Witz in JB umtaufte, liegen also die Bestände, die alle sechs Exfrauen in den letzten zwanzig Lebensjahren des Buches gehortet haben.

Ganz gleich, wer wissen will, wie viele Bücher er noch besitze, ob Kunde, Journalist oder Finanzprüfer, Herr Berend gibt immer dieselbe Antwort: Betriebsgeheimnis. Damit kommt er bei allen durch, und weil es stimmt, kann man ihn nicht beschuldigen zu lügen. Er selbst weiß aber bis auf den Cent genau, mit wie vielen Büchern er jeden Monat wie viel Umsatz macht. Genug, um sechs Anteilseignerinnen einen bescheidenen Wohlstand zu ermöglichen, genau genommen. Für ihn bleibt immer noch reichlich übrig. Und er würde sich mit weniger begnügen, denn das Einzige, was für ihn zählt, ist ein Leben mit Büchern. Und seit es die neue Kundin gibt, ist dieses Leben glanzvoller geworden. Nachdem seine letzte Ehefrau mit den entscheidenden Anteilen in der Tasche gegangen war, hatte Herr Berend in seiner verlassenen Wohnung aus voller Kehle gerufen: »Das war das sechste Mal, nie wieder!« Was ihn aber nicht daran hindert, den Rücken durchzudrücken und den Hals lang zu machen, sobald besagte Frau den Laden betritt. Obwohl er es nicht von den Dächern schreit, ist er tief in seinem Innern ein Romantiker, und an manchen Tagen ahnt er ihren Besuch voraus. Dann läuft Herr Berend zu Hochform auf, und alle Kunden profitieren davon. Bis sie tatsächlich den Laden betritt und er keinen Blick mehr für andere hat. Ihr Interesse an ihm bleibt nicht unbemerkt, zu Herrn Berends großer Freude und zum Neid seiner Exfrauen. Die sind dann neuerdings alle sechs ziemlich geladen.

Bei der letzten Anteilseignerversammlung, wo die »Ladenvergrößerung« als einziger Punkt auf der Tagesordnung stand, brachte Herr Berend seinen Widerstand erneut offenherzig zur Sprache: Ein größeres Geschäft würde noch viel mehr Kunden anziehen, mehr Kunden würden mehr Verkäufe mit sich bringen, und der Vorrat würde schneller zur Neige gehen. Ironischerweise war das Berend-Argument gegen die Vergrößerung dasselbe wie das seiner Exfrauen dafür. Seine erste Ex nannte, nicht zum ersten Mal, eine astronomische Summe. So viel könnten sie zu siebt noch einfahren, und das ganz ohne Extrapolation der Wertsteigerung der allerallerletzten Exemplare. Herr Berend ließ sich davon nicht beeindrucken, ihm ging es nicht um den Marktwert der Bücher. Er war realistisch genug zu wissen, dass der Tag kommen würde, an dem er seinen Kunden sagen musste: »Mehr gibt es nicht«, doch er würde alles tun, was er konnte, um diesen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Leider hatte er als Minderheitsanteilseigner keine Chance, schon gar nicht, als nach einer hitzigen Debatte über den Tagesordnungspunkt abgestimmt wurde.

»Für die Vergrößerung?«, fragte Ex Nummer eins und zugleich Vorsitzende der Versammlung.

Auf der anderen Seite des Tischs, Herrn Berend gegenüber, gingen sechs Arme in die Luft.

Womit niemand gerechnet hatte – nicht in seinen kühnsten Träumen hätte Herr Berend gewagt, es sich vorzustellen –, war, dass das Nachbarhaus den Exfrauen vor der Nase weggeschnappt wurde. Die dritte Ex kam es Herrn Berend erzählen und fügte gleich, auch im Namen der anderen fünf, hinzu, es sei seine Schuld, mit seiner ewigen Zögerlichkeit. Herr Berend hörte ihr schweigend zu, wartete, bis sie wieder draußen war, und machte dann vor den Augen ein paar entgeisterter Kunden laut jubelnd erst einen Freudensprung, dann noch einen und noch einen. Er hörte erst damit auf, als seine Stimme und seine Beine versagten.

Das wäre dann erledigt, dachte er kurz vor Ladenschluss, gerade als seine Lieblingskundin ans Schaufenster klopfte und ihm bedeutete, mitzukommen. Er ging hinaus, schloss die Tür ab und folgte ihr. Was hatte sie vor? Sie drehte sich um, presste die Lippen aufeinander, als täte sie etwas, was sie nicht durfte. Herr Berend ahnte, dass ihn heute mehr erwartete als eine bloße Plauderei über Bücher. Jungenhaft lächelte er zurück, wollte nach ihrer Hand greifen, erwischte sie jedoch nicht, weil die Frau sich zur Seite wandte und das ehemalige Modegeschäft betrat.

Vor sich sah Herr Berend ein völlig leergeräumtes, blütenweiß gestrichenes Geschäft. Mittendrin standen auf einem kleinen Tisch zwei Kelche und eine Flasche Champagner. Seine Lieblingskundin wickelte geübt mit sechs Umdrehungen (»Das bringt Glück«, sagte sie) die Agraffe auf, entfernte die Kapsel von der Flasche und erzählte währenddessen, dass sie das Gebäude gekauft habe, um hier, an diesem Ort, einen neuartigen Verlag mit eigenen Verkaufsräumen zu gründen, in denen alte und neue Titel in jeder Form, also auch gedruckte Bücher, verkauft werden sollten. Prompt trank Herr Berend sein Glas in einem Zug leer. Er vergaß sogar, sie zu beglückwünschen, doch das machte er später angeblich mehr als wett. Ihm rauchte der Kopf, innerhalb kürzester Zeit ordnete er die Ereignisse der vergangenen Monate neu und sah die Frau mit anderen Augen. Seinem Beispiel folgend, kippte sie ihr Glas ebenfalls auf ex und sah ihn wiederum an, als hätte sie es mit niemandem so gut treffen können wie mit sich selbst. Er musste lachen, über ihren Mut und seine Voreingenommenheit. Wenn jemand ihn seiner Einkommensquelle berauben durfte, dann sie. Herr Berend gönnte es ihr, und er gönnte es, mit diebischer Freude, allen sechs Exfrauen. Der Preis seiner Bücher würde aus dem schönsten denkbaren Grund purzeln: weil es neue Bücher gäbe, richtige Bücher. Ihm wurde ein wenig schwindlig, als die neue Inhaberin ihm einen imaginären Fussel vom Sakko wischte und sagte: »Ich bin noch auf der Suche nach einem begnadeten Verkäufer und, bei erwiesener Kompetenz, auch nach mehr.«

Herr Berend hielt die Luft an, betrachtete auch den leeren, jungfräulich weißen Raum mit anderen Augen und dachte zum ersten Mal in seinem Leben an einen Umzug: keine Exfrauen mehr, keine Vergangenheit. Er trat nach draußen, starrte eine Weile mit den Händen in den Taschen auf die Gehwegplatten, blickte zum Fenster des Zimmers hoch, wo er geboren worden war, und ging wieder ins Geschäft zurück. Ich werde verrückt, dachte er, gleich bin ich im Himmel – nein, nein, noch besser, es ist eine Wiedergeburt. Darum gab er seiner neuen Chefin einen langen und innigen Kuss und stellte sich anschließend vor, zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren mit seinem eigenen Namen.

Jedes Ding an seinem Platz

Er braucht die Augen nicht zu schließen, um zu sehen, wie es früher war, denn alles ist unverändert geblieben. Das Wohn-Esszimmer mit den Lampenschirmen aus Kunstseide und dem ausziehbaren Tisch aus Eichenholz, das Elternschlafzimmer, jetzt das seine, die kleine Küche und das Bad – die Balkontür klemmt wie eh und je. Zwar hat er kürzlich eine neue Matratze fürs Doppelbett gekauft, aber das ist nicht zu sehen, wenn es bezogen ist.

Seit seine Eltern kurz hintereinander gestorben sind, hat kaum ein Mensch mehr einen Fuß in die Wohnung über dem Geschäft gesetzt. Außer ihm natürlich, und Johanna. Jeden Dienstag und jeden Freitag nimmt er die Räume, nachdem sie da gewesen ist, gründlich in Augenschein, um sicherzugehen, dass alles noch ist, wie es war. So will er es haben, und sie weiß es, denn seit sie bei ihm arbeitet, ist alles immer an seinem Platz geblieben.

Er nennt sie schlicht Jo, und sie sagt Herr Lucas zu ihm. So will sie es haben. Im Gegensatz zur letzten Putzfrau versteckt sich Jo nicht unter einer Kittelschürze. Sie ist eine Frau ihrer Zeit und kleidet sich entsprechend. Wenn sie hereinkommt, tauscht sie ihre Schuhe gegen ein Paar alter Hausschlappen von Mutter aus, was bei ihm jedes Mal einen starken Juckreiz an den Oberarmen auslöst. Dennoch hat er es bisher mit keinem Wort erwähnt, weil sie es offensichtlich angenehm findet und er sie gern zufrieden sieht. Im Übrigen schwört Jo auf Gummihandschuhe, blaue für alle nassen Tätigkeiten, gelbe für die trockenen – man sieht sie nur selten ohne. Doch das Auffälligste an ihr sind ihre Lippen, die sie alle halbe Stunde mit einer neuen Schicht glänzend roten Lippenstifts versieht, als fühlte sie sich ohne nackt.

Ihre Gespräche beim Kaffee am Nachmittag drehen sich in der Regel nur um den Füllstand der Putzmittel und das Neueste aus der Nachbarschaft. Dabei interessiert sich Jo sehr für die Gesundheit ihres Arbeitgebers, von Anfang an war das so. Anscheinend verfügt sie über einen sechsten Sinn für die Leiden anderer, denn sie legt jedes Mal treffsicher den Finger auf die Wunde, im übertragenen Sinn jedenfalls. Dann tippt sie sich an die Schläfe und sagt ganz nebenbei, viel Wasser zu trinken sei gut gegen Kopfweh. Das ist bemerkenswert, denn Lucas ist nichts anzusehen, schließlich ist er mit einem Kundengesicht groß geworden.

Vater war stolz darauf, unter allen Umständen unbewegt hinter der Theke zu stehen, sogar nach der Beerdigung von Mutter. Auch ihr Leiden hatte keiner bemerkt. »Die Frau ist kurz weg«, sagte Vater immer, wenn ein Kunde nach ihr fragte.

Auch in der Abgeschiedenheit der Wohnung über dem Geschäft wahrte Vater diese Haltung. Nach vierzig Jahren »Darf’s sonst noch was sein?« war ihm nur noch das Lächeln geblieben. Dass Mutters Ausflüge in die Krebsklinik führten, merkte man bloß an seinen stillen Seufzern nach dem Abendessen, wenn ihre Abwesenheit den ganzen Raum füllte. Jeden anderen Ausdruck, einschließlich des dazugehörigen Gefühls, verbarg er hinter der einzigen Seite, die »die Leute« sehen durften. Seine andere Seite war ihm wohl im Lauf der Zeit abhandengekommen.

Mutter hätte es allerdings nicht anders gewollt, im Gegenteil. Sogar nachdem ihr rechtes Bein oberhalb des Kniegelenks amputiert und durch eine fleischfarbene Scharnierprothese ersetzt worden war, blieb sie beharrlich dabei: »Wir sind nie krank.« Sie versteckte das künstliche Bein unter Mullbinden, und wenn jemand im Laden fragte, was sie denn habe, sagte sie nur: »Krampfadern.«

Johanna hatte eigentlich Schönheitspflegerin werden wollen, hauptsächlich wegen der klangvollen Berufsbezeichnung. Ihr Ehrgeiz war, sich auf irgendeinem Fachgebiet hervorzutun. Leider machte ihr bereits in der dritten Ausbildungswoche das Leben einen Strich durch die Rechnung, als sie die Hände nach einem Topf ausstreckte, der vom Feuer zu kippen drohte.

Den Ärzten des Verbrennungszentrums zufolge hatte sie noch Glück gehabt, doch Johanna hätte das, was ihr zugestoßen war, mit ganz anderen Worten beschrieben. Ihre Gedanken kehrten stets von neuem zu diesem Moment zurück, und immer wieder sah sie vor sich, wie die Haut ihrer Hände unter dem glühend heißen Enthaarungswachs Blasen warf und aufplatzte. Und sie spürte es, zu jeder Tagesund Nachtzeit. Ich koche, hatte sie damals gedacht, und so war es auch.

Heute sieht ein Nichtsahnender nur, dass ihre Hände von chaotischem violettem Narbengewebe überzogen sind. Doch Johannas Finger spüren kaum mehr etwas, jedenfalls nicht genug für die zarten Bewegungen, die nötig sind, um ein Gesicht zu verschönern. Das ist nicht sichtbar. Sie wäre niemals von selbst auf diese Idee gekommen, aber als sie die Anzeige sah, erschien ihr rohes Fleisch als passender neuer Arbeitsplatz. Darum zögerte sie nur kurz, als sie den Zettel »Mitarbeiterin gesucht« in der Schaufensterscheibe der Metzgerei Lucas van der Voort sah, wo man bei bestimmtem Licht noch die Umrisse des abgekratzten »& Sohn« erkennen konnte.

Sie wurden sich schnell einig, obwohl Johanna ihre Enttäuschung hinunterschlucken musste, als sie erfuhr, dass die gesuchte Mitarbeiterin im Haushalt arbeiten sollte. Sie könnte sich also auf keinem Fachgebiet mehr hervortun, außerdem wäre sie genauso wie ihre Freundinnen. Auch sie würde sich mit ihrem offensichtlich unausweichlichen Los arrangieren.

Der einzige Vorteil, dachte sie einigermaßen resigniert, war, dass ihr in dieser Position keiner auf die Finger schaute. So etwas fand sie neuerdings wichtig, obwohl sie es nicht aussprach. Genauso wenig, wie sie aussprechen konnte, dass die Arbeit ihr leicht von der Hand ging (das tat sie), sie eine offene Hand hatte (das hatte sie) oder dass sie jemanden um den Finger wickeln wollte (das traute sie sich nicht mehr).