Jennings - Markus Türk - E-Book

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Markus Türk

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Beschreibung

Amanda wacht in ihrem Bett, mit mehreren Prellungen und einem Kopfverband, auf. Sie kann sich nicht erinnern, woher die Verletzungen stammen. Ihr Mann Tim erzählt ihr, dass sie einen Autounfall unter Alkoholeinfluss hatte. Dabei war sie seit über vier Jahren trocken. Darüber hinaus kann sie sich nicht deutlich im Spiegel erkennen, alle ihre Kleider sind mindestens eine Nummer zu groß und die Nachbarn verhalten sich ihr gegenüber merkwürdig. Obwohl Tim ihr überaus fürsorglich begegnet, kommen ihr mehr und mehr Zweifel.

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EPUB
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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dieses Buch erzählt eine fiktive Geschichte. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit Personen des öffentlichen Lebens sind nicht gewollt bzw. beabsichtigt.

Markus Türk

Jennings

Louisiana

© 2021 Markus Türk

Fotografien von: Daniel Imwalle

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-47375-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-47378-2

ISBN E-Book: 978-3-347-47379-9

ISBN Großdruck: 978-3-347-47387-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Ein helles Licht holte sie aus der Dämmerung. Erst als es nach und nach dunkler wurde, versuchten Amandas Lider sich langsam zu öffnen. Helligkeit drang durch diese kleinen Schlitze und weckte ihre

Lebensgeister. Sie erkannte ihre Bettdecke und den großen Schlafzimmerschrank an der gegenüberliegenden Wand des Bettes. Es war Sonnenlicht, das durch die Fenster in den Raum strömte und bei ihr starke Kopfschmerzen verursachte. Amanda schloss instinktiv wieder die Augen. Neben den Schmerzen im Kopf durchströmten noch weitere ihren Körper. Der rechte Ellenbogen, das Kinn, das linke Jochbein und auch die rechte Hüfte machten sich bemerkbar und Amanda tastete sich nach und nach ab. Bei jeder Berührung dieser Körperteile wurden die Schmerzen intensiver. Außerdem war irgendetwas an ihrem Kopf und ihre Finger ertasteten den groben Stoff eines Kopfverbandes.

„Was war passiert?“

Als sie erneut ihre Augen öffnete, versuchte sie die Schmerzen zu unterdrücken, und schaute sich weiter um. Sie lag in ihrem Schlafzimmer, so viel war sicher. Sie hatte ihren Seidenschlafanzug an und lag rechts auf ihrer Bettseite. Der Digitalwecker zeigte ihr 11.16 Uhr vormittags. Tims Seite war kalt und unberührt. Sie schob die Decke beiseite und drehte sich zum rechten Bettrand, um aufzustehen. Der Ellenbogen und die Hüfte meldeten sich sofort und Amanda kehrte wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Verdammt, dachte sie, schob den Bund ihrer Pyjamahose etwas herunter und erkannte ein großes Hämatom am rechten Becken. Daraufhin richtete sie sich ganz langsam gerade auf und schob ihre Beine seitlich über die Bettkante hinaus, um schmerzfrei aufstehen zu können. Als sie so auf der Bettkante saß, wurde ihr etwas schwindelig. Sie schloss erneut die Augen und atmete ruhig ein und aus. Nach wenigen Atemzügen ging es ihr besser und sie stand vorsichtig auf. Der steigende Pulsschlag erhöhte ihre Schmerzen im Kopf. Amanda glitt in ihre Hausschuhe, die akkurat neben dem Bett platziert waren, und ging vorsichtig zur Tür. Sie hielt sich dabei an dem Highboard fest. Abermals brachte ein leichter Schwindel sie ins Wanken, doch auch den konnte sie durch eine kurze Pause überwinden. Über dem Highboard hing ein Spiegel und Amanda wollte sehen, was mit ihr passiert war. Nur noch ein kleiner Schritt und sie stand vor ihm. Doch auf einmal wurde ihr Blick völlig trüb. Sie konnte sich nur schemenhaft darin erkennen, so als ob man durch eine Ornamentscheibe sah. Sie erblickte eine blonde Person, einen beigen Verband und nahm auch die parallelen Bewegungen vor sich wahr. Doch es war extrem verschwommen. Amanda rieb sich die Augen, in der Hoffnung, dass ein Morgenschleier ihr diese Trübung verursachte. Doch auch danach blieb der Blick verschwommen. Sie sah sich weiter im Raum um. Alles andere konnte sie klar erkennen. Auf einmal ertönte ein Geräusch von unten. Amanda horchte und verließ das Schlafzimmer. Sie stand in dem Flur im Obergeschoss, von dem die anderen Räume und die Treppe abgingen. Der weiche Velours ließ sie geräuschlos die Treppe erreichen. Ein Blick nach unten, zeigte ihr die sonnendurchflutete Haustür und die weißen Bodenfliesen davor. Sie hörte wieder ein Geräusch. Es klang nach dem Umblättern einer Zeitungsseite. Amanda schlich Stufe für Stufe nach unten. Das Hämmern in den Schläfen wurde mit jedem Schritt schlimmer und sie ärgerte sich, dass sie nicht vorher ins Bad gegangen war, um sich eine Aspirin zu holen. Doch wenige Sekunden später stand sie bereits auf der untersten Stufe der Treppe und lugte vorsichtig nach rechts in die Küche. Am Tisch saß ihr Ehemann Tim und las in der Zeitung. Er bemerkte sie anfangs nicht. Erst als sie die Fliesen betrat und einen Schatten in den unteren Flur warf, schaute er ruckartig hoch und senkte die Zeitung. Ihre Blicke trafen sich. Er schluckte vorsichtig und stand langsam auf. Beide sahen sich eine Zeit lang wortlos an. Dann endlich löste sich Tim aus seiner Starre.

„Amanda?“, kam es zögernd über seine Lippe.

„Hallo!“, antwortete sie und hielt sich am Treppengeländer fest.

„Wie geht es dir?“, fragte er und stand noch immer wie angewurzelt auf der Stelle.

„Ich habe extreme Kopfschmerzen, aber im Großen und Ganzen ganz gut. Was ist passiert?“

Jetzt kam Tim langsam auf sie zu. Seine Augen schauten sie aufgeregt aber mit Tränen gefüllt zugleich an. Jetzt kam auch Amanda ihm entgegen und lächelte.

„Du hattest einen Autounfall!“, erklärte er ihr.

„Was?“

Sie erreichten sich nach wenigen Schritten und Tim nahm sie vorsichtig, fast zaghaft, in den Arm.

„Einen Unfall? Was ist mit dem Auto?“, fragte Amanda sofort.

Tim sah sie erstaunt an.

„Was?“

„Wie schlimm ist es mit meinem Auto?“

Er blickte irritiert.

„Das äh… Auto. Ein Totalschaden! Aber das ist doch unwichtig. Komm´ setz dich erst einmal. Hast du starke Schmerzen? Vielleicht solltest du dich besser wieder hinlegen!“

Tim ging voran in die Küche und zog einen Stuhl zurück. Sie kam hinterher und setzte sich darauf.

„Wenn du mir bitte ein zwei Aspirin von oben holen würdest, wäre das prima. Und haben wir etwas zu essen? Ich habe einen Megahunger! Und dann erzähl´ mir alles!“

Tim ging an ihr vorbei nach oben ins Badezimmer und war kurze Augenblicke später wieder zurück. Er legte ihr die Packung mit den Aspirin-Tabletten auf den Tisch, holte ein Glas aus einem Hängeschrank und füllte es mit Leitungswasser.

„Was möchtest du denn Essen? Sind Spiegeleier okay?“ Er wirkte aufgeregt und schaute sie immer wieder fragend an.

„Klar, das ist perfekt. Mach´ aber gleich drei davon!“

Amanda hatte ihn noch nie so fürsorglich erlebt. Aufgrund ihrer leichten Schmerzen und ihrem Allgemeinzustand konnte der Unfall doch gar nicht so schlimm gewesen sein, dass er sich so um sie sorgte. Irgendwie war das süß.

„Nun erzähl´ schon! Was ist passiert?“, fragte sie ihn, während sie zwei Tabletten aus dem Blister drückte und diese einnahm.

Tim schlug die Eier auf und begann zu erzählen:

„Du bist mit dem Auto los gefahren, aber schon nach wenigen Hundert Metern von der Straße abgekommen. Der Wagen rutschte die Böschung runter und prallte gegen einen Baum.“

Tim stockte bei der Erklärung und starrte in die Pfanne.

„Es geht mir doch gut. Das siehst du doch. Erzähl´ weiter!“, forderte Amanda ihn erneut auf und lächelte.

Tim sah sie an. Wieder hatte er Tränen in den Augen.

„Du hättest tot sein können!“, sagte er.

„Bin ich aber nicht. Also. Wie bin ich dann ins Bett gekommen? Und warum überhaupt? Warum liege ich nicht in einem Krankenhaus?“

„Die Paxtons sind dir, kurz vor dem Unfall, entgegengekommen und haben dann deine Rücklichter im Spiegel verschwinden sehen. Sie sind sofort umgedreht und haben dich entdeckt. Aus dem Motorraum sind bereits Flammen gekommen und daher haben sie dich aus dem Fahrzeug gezogen. Adam hat sofort George und anschließend mich angerufen. Wir sind beide zeitgleich beim Unfallort angekommen. George hatte dich kurz untersucht und festgestellt, dass du nicht ernsthaft verletzt warst. Du hattest eine Gehirnerschütterung, einige Schürfwunden und Prellungen. Er hatte dich zuerst in seine Praxis mitgenommen, aber schon am nächsten Tag zu uns nach Hause gebracht.“

George war einer ihrer Nachbarn. Er war Stationsarzt in einem Krankenhaus, in dem er aber nur noch eine beratende Tätigkeit hatte. Nebenbei war ihm erlaubt, eine kleine Praxis im Ort zu betreiben. Tim und George kannten sich schon von Kindertagen her und waren bereits damals gute Freunde gewesen.

„Wäre es nicht dennoch sicherer gewesen, mich in einer Klinik untersuchen zu lassen?“, wollte Amanda wissen.

Tim zögerte und schabte dabei zwischen den drei Spiegeleiern herum. Er atmete tief ein, bevor er antwortete:

„George konnte das Risiko abschätzen und war sich sicher, dass keine inneren Verletzungen vorlagen! Außerdem war er der Auffassung, dass es besser wäre, wenn man dort bei den Untersuchungen keinen Bluttest bei dir durchführt.“

Amanda hob den Kopf und fragte mit ruhiger Stimme nach:

„Wieso sollten keine Untersuchungen bei mir unternommen werden?“

Tim starrte immer noch in die Pfanne und kratzte darin herum. Er hing seinen Gedanken nach und führte den Pfannenwender unbewusst. Er wusste nicht, welche Worte er benutzen sollte, sagte es dann aber gerade heraus.

„Du hattest eine Fahne!“, erklärte er.

Amanda drückte ihren Rücken gegen die Stuhllehne und starrte auf die Tischplatte vor sich. Sie konnte sich nicht an den Unfall erinnern und vor allem nicht daran, Alkohol getrunken zu haben. Sie hatte seit über vier Jahren keinen Schluck mehr zu sich genommen. Tim war bestimmt enttäuscht von ihr, doch vielmehr war sie von sich selbst enttäuscht. Seit über vier Jahren. Sie hatte in den letzten Jahren auch glücklicherweise kaum Anlass gehabt, wieder rückfällig zu werden. Ihr Leben war geordnet, stressfrei und glücklich. Warum also sollte sie wieder getrunken haben? In Momenten der Erinnerung an ihre Sucht holte sie immer ihre Jahresmünze hervor. Doch sie hatte ihren Pyjama an.

„Tim. Warum hatte ich getrunken?“

Die Spiegeleier waren schon durch gebraten, dennoch schabte Tim weiter in der Pfanne.

„Ich weiß es nicht! Ich war erst nach deiner Abreise nach Hause gekommen.“

Amanda sah auf das Wasserglas vor sich. Hatte sie deswegen Schwierigkeiten ihr Spiegelbild klar zu sehen? Die Tatsache, dass sie getrunken hatte, überlagerte die Gedanken an den Unfall gänzlich. Erst als Tim ihr den Teller mit den Spiegeleiern präsentierte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Er setzte sich ihr gegenüber, legte seine Hand vorsichtig auf ihre und lächelte sie an.

„Mach dir keine Sorgen. Hauptsache du wirst wieder gesund!“

„Du weißt, was das bedeutet. Ich muss die Münze zurückgeben!“, erklärte Amanda ihm.

„Es muss doch niemand wissen! Das war bestimmt nur ein Ausrutscher. Du hast doch jetzt auch kein Verlangen danach, oder?“, fragte Tim sie.

Amanda sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Nein, aber wer weiß? Vielleicht unterdrücken die Schmerzmittel mein Verlangen?“

Während sie aß, beobachtete sie Tim fasziniert. Er lächelte sie durchgehend an. Amanda schlug die Tatsache des Rückfalles auf den Magen.

„Ich werde gleich mal bei George anrufen, dass du wach bist. Er wird dich bestimmt untersuchen wollen!“, sagte Tim.

Nach dem Essen, ging Amanda nach oben ins Badezimmer. Beim Duschen betrachtete sie ihren Ellenbogen und ihre Hüfte genauer. Sie waren blau und grün marmoriert und noch leicht geschwollen, daher trocknete sie sich ganz vorsichtig ab, bevor sie in eine Trainingshose und einem Hoodie schlüpfte. Auch der Blick in dem Badezimmerspiegel war, ganz abgesehen von dem Kondensnebel darauf, ebenfalls trüb, sodass Amanda von einem Schminkversuch Abstand nahm. Sie föhnte sich blind die Haare und setzte anschließend eine Basecap auf. Tim hatte nach ihrem Gespräch George angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie aufgewacht war. George wollte sie sofort untersuchen und bat darum, dass sie in seine Praxis kamen. Amanda wollte, die knapp hundert Meter, zu Fuß gehen, aber Tim bestand darauf, sie mit dem Auto zu fahren. Als sie gerade das Haus verlassen wollte, fiel ihr das leere Körbchen im Wohnzimmer auf.

„Wo ist Denver eigentlich?“

Tim nahm den Schlüssel aus der Schale, die auf der Kommode stand. Er blickte ebenfalls zum Körbchen ihres Haustieres. Denver war ihr zweijähriger Ridgebackrüde.

„Den habe ich am Abend des Unfalls zu Thomas und Martha gebracht. Ich war so besorgt wegen dir, und hatte daher keine Zeit mich um ihn zu kümmern. Da boten die beiden sich an, ihn für kurze Zeit zu nehmen!“

Sie blickte Tim an und anschließend wieder zum Korb.

„Wir sollten ihn schnell wieder abholen und nicht die ganze Nachbarschaft in Beschlag nehmen!“, bat Amanda ihn.

Das große Garagentor öffnete sich automatisch und sie sah den weißen Buick von Tim. Der Platz daneben, auf dem sonst ihr Golf Cabriolet stand, war leer. Sie blieb stehen und starrte auf den nackten Beton. Tim kam zu ihr rüber.

„Es war nur ein Auto!“

„Aber mein Auto. Mein Blaubeerkörbchen!“ So nannte sie das europäische Auto, das wegen der Farbe und dem Überrollbügel so einem Korb ähnlich sah.

„Wir finden einen neuen für dich!“

Amanda ging zur Beifahrerseite des Buick und stieg ein. Die Fahrt dauerte keine zwei Minuten, als sie bereits auf die Einfahrt der kleinen Praxis zufuhren. Das Wohnhaus der Klines war ein sonnengelbes holzvertäfeltes Domizil mit weißen Holzfenstern. Landestypisch hatte es eine Vorder- und eine hintere Veranda, auf denen weiße Holzschaukelstühle standen. Amanda erinnerte sich an Abende, an denen sie hier kühle Margarithas getrunken hatten. Tim und George verstanden sich gut, wobei Amanda und George Ehefrau noch nicht richtig grün miteinander waren. George hatte seine Praxis direkt neben seinem Wohnhaus bauen lassen. Sie war nicht sehr groß und hatte neben dem Empfang nur ein kleines Wartezimmer, Sanitärräume und ein Behandlungszimmer. Samantha, seine dunkelhäutige Frau, die ihn in den wenigen Sprechzeiten am Empfang, bei den Abrechnungen und teilweise in den Untersuchungsräumen half, war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Praxis. Es war keine reguläre Sprechzeit. George, der sie dennoch zu sich gebeten hatte, stand bereits am Eingang und kam auf Amanda zu. Er hatte weniger Bedenken als Tim bei ihrer Begegnung nach dem Unfall, und umarmte sie herzlich.

„Amanda, schön dich so zu sehen! Komm´ rein. Wir gehen gleich durch ins Behandlungszimmer!“

George war siebenunddreißig Jahre alt, hatte volle blonde Haare, die bis über die Ohren gingen und kurz vor den Schultern endeten. Er war etwas größer als Tim und trug unter seinem geöffneten weißen Kittel ein türkisfarbenes Poloshirt und eine beige Hose. Er bot Amanda die Liege an, während er sich den Rollhocker holte. Auch Tim betrat das Behandlungszimmer und stellte sich in den hinteren Bereich des Raumes.

„Tim erzählte mir, du hättest noch Schmerzen?“ Das nur leicht gebräunte Gesicht des Mediziners umrahmte die makellosen Zähne.

„Ja, die Prellungen und der Kopf tun noch weh!“, gab sie von sich.

George nahm den geprellten Arm und betrachtete ihn fachmännisch. Bei leichtem Druck auf die Schwellung und der Reaktion seines Patienten, nickte er nur zustimmend.

„Das ist alles normal. Das wird auch noch ein paar Tage so sein. Die Farbe wird sich auch noch ändern. Das wird noch ein komisches grün-gelb werden, bevor es ganz verschwindet. Was macht die Hüfte?“

Amanda hob den Hoodie an ihrer rechten Seite und zog den Bund der Trainingshose etwas runter.

„Ja, auch hier das gleiche. Ich werde dir eben intravenös ein Schmerzmittel verabreichen, das wirkt dann schneller. Außerdem bekommst du nachher noch Retard-Tabletten von mir. Die überbrücken einen längeren Zeitraum! Jetzt lass´ uns auch eben noch deinen Kopf anschauen.“

Während George vorsichtig den Verband abwickelte, wollte Amanda mehr über den Unfall erfahren.

„Tim erzählte mir, du warst beim Unfall auch vor Ort?“

„Ja, man hatte mich sofort angerufen. Als ich ankam, habe ich sofort deinen Puls und die Atmung kontrolliert. Du hattest eine kleine Platzwunde am Kopf und leichte Abschürfungen und Prellungen. Da du nicht ansprechbar warst, hatten wir dich sofort aus dem Wagen gezogen, denn aus dem Motorraum war Qualm zu erkennen. Kurz darauf fing der Motor auch schon an zu brennen. Zum Glück haben Pat und Michael den Unfall gesehen und waren gleich vor Ort. Naja, auf jeden Fall warst du bewusstlos. Wir brachten dich hier in meine Praxis, in der ich einen gründlichen Check durchführen konnte. Du hattest keine inneren Verletzungen, sodass ich nur die Platzwunde und kleine Verletzungen behandeln musste!“

Amanda wartete darauf, dass er es zur Sprache brachte, doch George konzentrierte sich weiterhin auf das Abwickeln des Verbandes.

„Tim hatte mir den Grund genannt, warum ich nicht ins Krankenhaus gebracht wurde.“

George sagte nichts, betrachtete stattdessen den Schorf der Platzwunde.

„Stimmt es?“, wollte sie dennoch von ihm bestätigt haben.

George tupfte mit einem kleinen getränkten Stoffstück auf die Wunde, bevor er sich wieder auf seinen gepolsterten Hocker setzte und sie ansah. Er blinzelte zweimal und senkte dann den Blick.

„Ja, du hattest getrunken. Ich habe eine Fahne bemerkt und auch die spätere Blutanalyse hatte einen Alkoholkonsum bestätigt.“

Amandas Blick veränderte sich von hoffnungsvoll zu abwesend.

„Ich habe die Blutprobe entsorgt, keine Sorge. Es wird jedoch ein Bluttest von der Versicherung verlangt, daher nehme ich dir jetzt Neues ab und datiere es zurück. Das mit dem Unfall ist schlimm genug, da braucht niemand noch zusätzlich eine Anklage oder finanzielle Nachteile von haben.“

Amanda hörte die Worte nur schwach. Ihre Gedanken überwältigten sie gerade. Vier Jahre Abstinenz. Was bedeutet das jetzt wieder für ihren Körper? Das Verlangen der Organe und vielmehr das Verlangen im Kopf wurden wieder geweckt. Der schlafende Drache ist wieder aktiv und brennt. Während ihrer damaligen Therapie sollte sie der Sucht ein Tier zuordnen und beschreiben, was es mit ihr macht. Sie verglich ihre Krankheit damals mit einem Drachen. Das Drachenei schlummerte damals irgendwo in ihrem Körper. Unbemerkt, eingebettet und kühl gelagert. Doch anfängliche Drinks ließen das Ei hervortreten, und wärmten es leicht. Die Regelmäßigkeit des Konsums umschloss es dann, wie eine Heizdecke, sodass das Ei irgendwann kleine Risse bekam. Die hochprozentigen Genüssen ließen den Drachen dann endlich schlüpfen, und von dem Tag an, verlangte er Feuer. Es war wie ein innerliches Tamagotchi. Er wuchs von Tag zu Tag, wurde größer und größer und brauchte immer mehr Feuer. Amanda konnte diesen Drachen nur mit fremder Hilfe bekämpfen. Sie musste den Drachen fangen und in Ketten legen. Es war damals ein schier unmögliches Unterfangen, doch es gelang ihr. Nur war es so, dass sie ihn nicht töten konnte. Sie konnte ihn nur einsperren. Er war immer noch da und wartete. Er wurde zwar schwächer, doch sterben würde er nie. Das teuflische an dem Geschöpf war, das nur ein kleiner Funke ihn wieder enorme Größe und Kraft verleihen würde. Davor hatte sie stets Angst, und genau jetzt dachte Amanda wieder an diesen Drachen. Spürte sie etwa schon wieder sein Verlangen nach Feuer?

„Legst` du dich bitte hin. Ich nehme dir jetzt etwas Blut ab.“, erklärte George ihr und holte den Stauschlauch und die Kanüle.

„Ach. Außerdem sagte Tim, dass du Beeinträchtigungen bei deinem Spiegelbild hast?“, fragte er beiläufig.

Amanda löste sich wieder von ihren Gedanken. Sie brauchte einen Moment, um die Frage nochmal innerlich zu wiederholen. Erst dann antwortete sie.

„Ja! Ich sehe alles ganz klar. Nur im Spiegel nicht. Weder im Schlafzimmer noch im Bad. Das ist schon beängstigend!“

„Ich kannte das auch noch nicht, habe aber vorhin, als Tim mir das berichtete, dieses Phänomen recherchiert. Dabei kommt es häufig bei Patienten mit einer Bewusstlosigkeit und einem Schleudertrauma vor, dass das Gehirn anfangs Schwierigkeiten mit reflektierenden Flächen hat. Das ist wie bei einer Festplatte. Es muss viele Eindrücke in sehr kurzer Zeit verarbeiten. Dein Gehirn, also deine Festplatte, ist geschüttelt und alle Funktionselemente erst einmal durcheinander gebracht worden. Bei einer Festplatte führt man dann eine Defragmentierung durch. Das bedeutet, dass die Vielzahl der Dateien im Speicher so geordnet und ihrem Speicherplatz zugewiesen werden müssen, um letztendlich wieder eine schnelle Zugriffsgeschwindigkeit zu erhalten. Nach einer Gehirnerschütterung verhält es sich ähnlich. Das Gehirn muss sich wieder neu ordnen. Jetzt ist dein Gehirn noch in der Ordnungsphase und da kommen optische Daten vom Sehnerv rein. Der Mensch ist ein Fluchttier, also müssen die einfachen optischen Sehfunktionen schnell funktionieren. Das sind sogenannte Basisdaten. Ein Spiegelbild passt jetzt nicht in ein räumliches Sehen. Das Gehirn denkt, zeige dem Menschen den Umgebungsraum, damit er weiß, wohin er ausweichen kann. Die Spiegelung verwirrt das Gehirn in dem jetzigen Zustand völlig und verarbeitet es nicht richtig. Das kann es einfach zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Also werden diese Informationen schemenhaft dargestellt. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn dein Gehirn wieder vollends geordnet ist, wird diese Fähigkeit wieder zurückkehren. Gib´ dir also etwas Zeit!“

Amanda hatte anfangs Schwierigkeiten, der Erklärung zu folgen. Doch die letzten Sätze gaben ihr die Zuversicht, dass sie sich später wieder im Spiegel erkennen konnte. Sie fragte daher nicht weiter, da ihre größte Sorge im Moment bei ihrem Drachen war.

Nachdem George die Blutampullen gefüllt hatte, setzte er ihr einen Butterflyzugang und hängte eine Infusionsflasche daran.

„Du bekommst von mir jetzt Kochsalz mit dem Schmerzmittel zusammen, damit du heute zumindest schmerzfrei den Tag beendest. Die Retard-Tabletten gebe ich…“, hörte Amanda noch George Erklärung, während sie kurz darauf einschlief.

„Da bist du ja wieder!“, sagte Tim und schaute sie von oben an.

Amanda öffnete die schweren Lider und sah sich im Raum um. Sie war immer noch im Behandlungszimmer von George. Die Infusionsflasche war leer, doch der Zugang noch in ihrer Armbeuge.

„Kaum hatte George das Kochsalz angehängt, bist du eingeschlafen. Ich glaube, das ist doch alles sehr anstrengend für dich. Komm´ wir bringen dich nach Hause.“ Tim lächelte sie an und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne zur Seite. Kurz darauf fiel Amanda wieder in den Schlaf.

Amanda wachte wieder in ihrem Bett auf. Die Sonne strahlte erneut durch das Fenster und die linke Seite des Bettes war schon wieder leer. Das Kissen und die Decke von Tim waren gemacht. Amanda schob die Hand unter seine Decke. Auch das Laken und die Matratze waren kühl. Der Wecker zeigte ihr 08.17 Uhr. Mit geschickten Bewegungen und wenigen Schmerzen, gelang es ihr aufzustehen. Scheinbar halfen ihr die Schmerzmittel. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich. Der Blick in den Spiegel war immer noch getrübt, doch sie hatte das Gefühl, schon einen klareren Blick gegenüber gestern zu haben. Die Silhouette war deutlicher. Sie beugte sich nach vorne, in der Hoffnung, dadurch klarere Kontraste zu erkennen. Ihre Haare schienen kürzer zu sein. Sie gingen ihr nur noch bis zum Kinn. Das hatte sie gestern nach dem Duschen schon bemerkt, war aber mit den Gedanken woanders gewesen. Nun aber zog sie daran, bis die Spitzen durch ihre Finger rutschten. Im glatten Zustand endeten sie bei der Hälfte ihres Halses. Vor dem Unfall gingen sie ihr bis zu den Schulterblättern. Vielleicht sieht das ja ganz hübsch aus? Aber sie wird Tim danach fragen.

Amanda kam aus dem Badezimmer zurück ins Schlafzimmer. Die Sonne strahlte und sie wollte nicht wieder in den Schlabbersachen herumlaufen, also öffnete sie den Kleiderschrank. Nach wenigen Sekunden holte sie das blaue Sommerkleid heraus, welches sie vor drei Wochen gekauft hatte. Die Schmerzen des rechten Ellenbogens, hatten sich bei dem Versuch durchsetzen können und den Vorgang vereitelt. Daher versuchte sie es diesmal mit der linken Hand, den Reißverschluss am Rücken zu schließen. Es fiel ihr wesentlich schwerer. Doch dann hatte sie es geschafft. Sie zupfte ein paarmal an den Trägern und an dem Bund und blickte anschließend an sich herunter. Irgendwie saß es nicht richtig. Oben am Dekolleté klappte es nach vorne und auch an der Hüfte schlabberte es etwas. Beim Kauf hatte es ihr einwandfrei gepasst. Sie versuchte, es im Schlafzimmerspiegel anzuschauen. Doch wieder sah sie nur verschwommene Farben und Umrisse.

Amanda griff unter das Bett und holte die Körperwaage hervor. Schnell stellte sie sich darauf und wartete auf das Ergebnis.

„Das kann doch nicht sein!“

Sie hatte fast acht Kilo abgenommen. Wie lange war sie bewusstlos oder vielmehr am Schlafen? Hatte Tim was von drei Tagen gesagt? Acht Kilo! Dieses Gewicht hatte sie zu ihren Bestzeiten. Als der Konsum von Wodka ihren Hauptbestandteil der Nahrung einnahm, konnte sie damals auch mit so einem Körpergewicht prahlen. Doch die letzten Jahre brachten ihr nach und nach eine langsame Gewichtszunahme. Amanda freute sich über den kleinen Nebeneffekt des Unfalls. Sie strich sich über den flachen Bauch, stieg von der Waage runter und sah wieder in den geöffneten Schrank. Sie erinnerte sich an ihr weißes Lieblingskleid, mit den blassen kleinen Blumen darauf. Sie liebte dieses Kleid, konnte es aber seit über drei Jahren nicht mehr tragen, da es ihr –zu klein- wurde, wie sie es gerne umschrieb. Dennoch hatte sie sich nicht davon trennen können. Sie hatte sich vorgenommen, es irgendwann mal wieder tragen zu können, nach einem straffen Diätplan, der ihr bisher noch nicht geholfen hatte. Schnell schob sie alle Bügel nach links. Ganz am rechten Stangenende hing es. Dort wartete es die letzten Jahre und wurde nur zweimal im Jahr rausgeholt und angeschaut. Doch jetzt hoffte Amanda auf mehr. Sie zog das blaue Kleid aus und legte das geblümte weiße auf den Boden, stellte beide Füße in die Mitte des Kleidungsstückes und zog es dann nach oben. Der Stoff glitt über ihren Körper und schob sich an keiner Stelle auf. Sie schlüpfte mit den Armen durch die leichten Träger und platzierte sie auf den Schultern. Abermals musste sie mit der linken Hand auf dem Rücken den Reißverschluss nach oben ziehen. Langsam, aber stetig zog er Öse für Öse nach oben und stoppte am Ende. Amanda atmete tief ein, fühlte wie der Stoff dieser Bewegung folgte, sie aber nicht beengte. Es passte ihr einwandfrei. Sie sah an sich herunter und strahlte. Schnell verließ sie das Schlafzimmer und ging die Treppe herunter. Sie wollte es Tim unbedingt zeigen.

„Hey Tim, schau mal!“

Sie ging in die Küche. Sie war leer. Auch das Büro und das Wohnzimmer. Tim war nicht zu Hause. Musste er in die Kanzlei?

Tim hatte das glückliche Angebot seines Vorgesetzten erhalten, seine Tätigkeit auch von zu Hause erledigen zu können. Tim war Rechtsanwalt und in der Kanzlei für die Abteilung Vertragsrecht mit verantwortlich. In diesem Bereich ging es ausschließlich um Satzungen, Paragraphen, interne und allgemeinrechtliche Geschäftsbedingungen. Also in der Regel, um das Deuten und oder Verdrehen von schriftlichen Vereinbarungen. Er musste nicht mit Mandanten in kleinen Räumen sitzen und durch Fragen und Beweismittelsicherung Rechtsfälle lösen. Nein, in seinem Bereich war alles schriftlich belegt. Er musste diese Bestimmungen lesen, verstehen, auslegen oder widerlegen, auf ihre Ethik und deren Verstöße prüfen und gegebenenfalls ändern oder anklagen. So hatte er es Amanda erklärt. Das konnte er in der Kanzlei, aber genauso gut auch in seinem Homeoffice. Nur ein- bis zweimal im Monat hatten sie eine Besprechung in der Kanzlei, an der Tim persönlich teilnehmen musste. Diese Termine waren unregelmäßig und durch Amandas Unfall hatte sie die aktuellen Termine nicht mehr in Erinnerung. In der Regel hinterließ er ihr jedoch immer eine schriftliche Nachricht auf dem Küchentisch. Doch der war dieses Mal leer. Amanda ging durch das Wohnzimmer und sah sich dort um. Sie lächelte und freute sich noch immer über ihr jetziges Gewicht und das Tragen ihres Lieblingskleides. Ihr Blick glitt über das helle Highboard an der Wand. Irgendetwas war anders. Irgendetwas fehlte. Aber was? Sie überlegte und ließ den Blick erneut über das Board wandern. Genau! Das Bild war weg. Ihr Hochzeitsbild. Es stand, leicht schräg, auf der rechten Seite und hatte einen weißen Holzrahmen. Amanda schaute sich weiter um. Hatte Tim es genommen und betrachtet, als sie die letzten Tage dort oben gelegen hatte? Wollte er sich an die schönen Tage erinnern? Sie ging wieder in die Küche und sah sich dort um. Hier war es auch nicht. Anschließend betrat sie sein Büro. Erst jetzt bemerkte sie das kleine Kissen und die zerwühlte Wolldecke auf dem beigen Sofa. Hatte Tim hier geschlafen? Instinktiv griff sie die Wolldecke und legte sie sorgfältig zusammen. Das Bild konnte sie auch in diesem Raum nicht finden. Amanda ging ins Wohnzimmer zurück und öffnete eine Schranktür, hinter der ihre alten Fotos aufbewahrt wurden. Sie nahm die Schachtel heraus, setzte sich auf das Sofa und öffnete den Deckel. Sie hatten die Fotos nicht geordnet. Stattdessen lagen sie wild durcheinander vor ihr. Sie holte eines heraus und musste sofort lächeln. Es war ein Kinderfoto von ihr, auf dem sie vorsichtig einer Ente ein Stück reichte. Nach und nach zog sie weitere Fotos heraus und betrachtete sie glücklich. Es verging eine halbe Stunde, in der sie sich der Erinnerungen hingab. Doch allmählich fiel ihr auf, dass dort nur Kinderfotos von ihr zu finden waren. Fotos von Tim waren alle vorhanden, sowohl aus Kindertagen als auch aktuelle. Nur von ihr oder gemeinsame Fotos von Tim und ihr, waren nicht mehr in der Schachtel. Ganz zum Schluss entdeckte sie eines von ihnen beiden. Es war auf einer Grillparty bei den Franklyns. Da stand sie mit Tim neben der Bierzeltgarnitur am Grill. Tim hielt sie im Arm und schaute sie an, während Amanda nur von hinten zu erkennen war. Sie betrachtete gerade die Würstchen auf dem Grill. Das war das einzige Foto in der Schachtel von ihr aus den letzten Jahren. Amanda betrachtete es lange, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Das Surren des Garagenmotors setzte ein. Wenige Minuten später wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt und gedreht. Tim trat in den Flur.

„Hallo, guten Morgen. Zeit zum Aufstehen. Du wirst erwartet!“, rief er die Treppe hoch.

Er blickte ins Wohnzimmer und zuckte zusammen, als er Amanda sah. Der Hund, den Tim an der Leine bei sich hatte, begann sofort zu Bellen. Amanda sah Denver und strahlte.

„Ich hatte ihn eben abgeholt, weil du ja sagtest, dass es okay wäre!“, erklärte Tim.

Amanda nickte und sah den Hund an.

„Hey, mein Kleiner. Komm´ mal her!“, forderte sie den Ridgebackrüden auf.

Der Hund stand neben Tim und sah sie an. Nach ihrer Aufforderung blickte er zuerst zu seinem Herrchen.

„Hey Denver. Hier!“, kam erneut der Befehl von Amanda.

Langsam trottete der Hund auf sie zu und behielt sie dabei im Auge. Amanda öffnete ihre Hände und ließ ihn schnüffeln.

„Du dunstest bestimmt die Schmerzmittel aus, daher riechst du anders.“, erklärte Tim ihr.

Vorsichtig berührte Amanda Denvers Kopf, der sich vor ihr hinsetzte und die Streicheleinheiten annahm.

„Was machst du da?“, fragte Tim und setzte sich neben sie.

„Ich habe unser Hochzeitsfoto gesucht!“ Sie sah zum Highboard und Tim folgte dem Blick.

„Da es dort nicht mehr steht, wollte ich mir die anderen Fotos ansehen, aber sie sind alle weg!“

Amanda wollte keine Frage stellen. Sie hoffte, Tim würde es ihr von sich aus erzählen. Er schwieg einen Moment und nahm ihre linke Hand in seine.

„Sie sind verbrannt!“

„Was?“, fragte sie ungläubig.

„George hatte die ganzen Fotos wild verteilt im Auto gesehen, als sie dich dort raus gezogen haben. Kurz danach ist es dann in Flammen aufgegangen und leider auch die Fotos!“

„Warum sollte ich denn alle Fotos und auch das Hochzeitsbild ins Auto mitnehmen?“, fragte Amanda.

„Ich weiß es nicht genau. Ich war den Tag über nicht da. Ich weiß nur noch, dass wir am Vorabend telefoniert hatten. Du hattest am Nachmittag versucht, mit deiner Mutter zu telefonieren, aber es hat wohl nicht so gut geklappt. Sie hatte dich nicht erkannt und dich mit ihrer ehemaligen Freundin aus Kindertagen verwechselt. Daraufhin hattest du mit der Pflegerin gesprochen, die dir mitteilte, dass sich ihr Zustand extrem verschlechtert hat. Du warst sehr traurig und hattest ein schlechtes Gewissen.“ Tim drückte Amandas Hand fester und sah weg. Sie erkannte, wie er ihren Blick mied und es ihm schwer fiel, weiter zu reden. Nun trottete der Hund einen Schritt weiter und setzte sich vor Tim. Er legte seinen Kopf auf dessen Knie.

„Hätte ich geahnt, dass es dich so sehr mitnimmt, wäre ich sofort nach Hause gekommen. Ich hatte die Situation nicht richtig gedeutet!“

Amanda überlegte. War das der Grund des Rückfalls? War das schlechte Gewissen der Auslöser, wieder zum Alkohol zu greifen?

„Ich glaube, du wolltest sie besuchen. Du hattest alle Fotos von dir zusammen gesucht, um sie ihr zu zeigen. Damit sie sich wieder an dich erinnert. An unsere Hochzeit. An die schönsten Momente in deinem Leben!“, erklärte Tim ihr seine Vermutung.

Amandas Magen grummelte. Auf einmal erklärte sich alles. Sie hatte ihre Mutter in guter Obhut gedacht. Sie konnte sie nicht mehr pflegen. Sie hatte sie nie gepflegt. Schon die abendlichen Besuche damals, nach der Arbeit, waren ihr zu viel. Sie musste bei ihr aufräumen, wischen, kleine Brände löschen. Jeder Abend musste sie sich neu Zugang in ihre Wohnung und in ihre Erinnerung schaffen, bevor sie richtig miteinander sprechen konnten. Es war ein Kampf gegen Windmühlen. Die Einweisung in ein Pflegeheim hatte ihr wieder Ruhe gebracht. Sie wusste, dass man sich dort die ganze Zeit um sie kümmert. Ihre Sorgen und ihr schlechtes Gewissen verringerten sich mit jedem Scheck, den sie monatlich für das Pflegeheim ausstellte. Die Belastung hatte sie damals in die Abhängigkeit getrieben. Die Entlastung half ihr daraus. Was hatte der Anruf bei ihr ausgelöst? Was war an dem Tag passiert? Amandas Gedanken versuchten sich zu erinnern. Versuchten das Telefongespräch zu rekonstruieren, doch sie konnte sich nicht erinnern. Die Worte von Tim brachten ihr die Erklärung, jedoch nicht die Erinnerung.

„Auch deine Handtasche und die darin befindlichen Papiere und Ausweise sind den Flammen zum Opfer gefallen. Wir müssen die in den nächsten Tagen alle wieder neu beantragen!“, sagte Tim.

Amanda nickte. Im Moment wusste sie nicht, welche Baustelle ihre größte war. Der Unfall und seine Folgen? Die fehlenden Erinnerungen an dem Tag oder doch der Alkoholrückfall?

„Ich hatte das Pflegeheim deiner Mutter nicht über deinen Unfall informiert. Ich dachte mir, wem hilft es, wenn sich noch jemand Sorgen macht. Vielleicht hätte deine Mutter es ja auch nicht verstanden. Ich weiß auch nicht!“ Tim grub das Gesicht in seine Hände. Was hatte er die letzten Tage durchgemacht? Erst jetzt begriff sie, dass auch er mit der Situation zu kämpfen hatte. Seine Frau hatte einen Autounfall und ist knapp den Flammen entkommen. Er erfährt, dass seine seit vier Jahren trockene Frau unter Alkohol den Unfall verursacht hatte. Er war an dem Tag, der sich für sie so dramatisch entwickelt hatte, meilenweit entfernt, und nicht für sie da. Amanda legte ihren Arm um seine Schultern.

Am späten Nachmittag waren sie bei Sebastian und Juliette Williams eingeladen. Sie wohnten nur einige Häuser weiter die Straße entlang. Tim hatte einen Rotwein aus dem Keller geholt und Amanda einen gemischten Salat in einer Glasschüssel zubereitet. Sie gingen zu Fuß. Amanda hatte den ganzen Tag ihr Kleid an und ärgerte sich, dass Tim es nicht bemerkt hatte, dennoch freute sie sich auf den Abend. Ihre Nachbarn waren freundliche Menschen. Da sie eine –Zugezogene- war, hatte sie es nicht so leicht, da sich scheinbar alle schon über Jahrzehnte kannten. Irgendetwas verband die Bewohner in Jennings miteinander. Man hatte das Gefühl, dass jeder alles von dem anderen wusste und man sich daher nicht zu verstellen brauchte. Da haben es Personen, die später dazu gezogen waren schwieriger. Bei denen versuchte man sich noch interessanter zu geben. Man war zu diesen Menschen etwas verschlossener, aber nicht unhöflich, nur irgendwie reservierter. Dieser Zustand hatte sich jedoch von Jahr zu Jahr verbessert. Tim und Amanda erreichten den Vorgarten der Williams und hörten bereits die Gesprächsfetzen der Nachbarn. Als sie um das Haus kamen und sich ankündigten, verstummten die Gespräche. Alle Augen waren auf die Neuankömmlinge gerichtet. Sebastian kam auf sie zu, gefolgt von seiner Frau.

„Tim, Amanda, da seid ihr ja!“ Er schüttelte Tims Hand und nahm die Flasche Rotwein dankend entgegen.

Juliette kam zu Tim, umarmte ihn sanft und begrüßte Amanda ebenfalls. Als Sebastian vor Amanda stand, lächelte er sie an. War jedoch etwas reserviert.

„Amanda. Ich weiß gar nicht, ob ich dich umarmen darf?“ Er schluckte kurz und sprach dann weiter:

„Ich meine, geht es dir wieder gut? Wegen der Verletzungen und so!“ Er betrachtete ihre Schürfwunden und Prellungen in ihrem Gesicht und den geschwollenem Ellenbogen.

„Nein, das ist nicht so schlimm. Ich werde ja fürsorglich gepflegt!“, antwortete Amanda und lächelte zurück.

Juliette schob sich an ihren Mann vorbei.

„Nun nimm´ ihr doch den schweren Salat ab und schau´ nicht nur!“ Juliette nahm ihr die Schüssel aus der Hand und umarmte auch sie.

„Komm´ zu den Anderen. Wir wollen alles über den Unfall erfahren. Übrigens schickes Kleid. Hast du das neu?“ Sie hakte sich bei Amanda unter und zog sie zu einen der Biergartengarnituren.