Jenseits des Schattentores - Beate Teresa Hanika - E-Book

Jenseits des Schattentores E-Book

Beate Teresa Hanika

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Beschreibung

Romantisch, spannend, witzig, phantastisch – Romantasy vom Feinsten! Rom, die ewige Stadt: Eigentlich sucht die siebzehnjährige Aurora nur eine Wohnung, doch die Besichtigung läuft anders als erwartet ... »Komm rein, wurde ja auch Zeit! Es ist was schiefgegangen, und jetzt liegt er tot da drin«, wird sie von der ein paar Jahre älteren Luna begrüßt. Und bevor Aurora das Missverständnis aufklären kann, hilft sie schon, die Leiche zu beseitigen. Hals über Kopf gerät sie in ein rasantes Abenteuer, das selbst vor den Toren der Unterwelt nicht Halt macht, und verliebt sich auch noch in einen ungehobelten Kerl. Das alles beobachtet die uralte Göttin Persephone – und kann einfach nicht anders, als in die Irrungen und Wirrungen dort unten einzugreifen! Packende Romantasy von dem erfolgreichen deutschen Autorinnenteam Beate und Susanne Hanika! Für alle Fans von Kai Meyer und Josephine Angelini

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Seitenzahl: 494

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Beate Teresa Hanika | Susanne Hanika

Jenseits des Schattentores

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Inhalt

PrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelEpilog

Prolog

»Dies ist das letzte Mal!« Der Gott der Unterwelt ließ einen so gewaltigen Blitz durch die Steinhalle fahren, dass der Mann vor ihm erschrocken den Kopf einzog.

»Er ist doch noch so jung …«, wagte er einzuwenden, als sich der Rauch verzogen hatte und nur noch der Geruch nach Schwefel und verbranntem Horn zurückblieb.

»Was tut er jetzt?«

»Er schläft, Herr, ich habe versucht, ihn zu wecken, doch er hat nur mit einem Schuh nach mir geworfen.«

Die Miene des Gottes umwölkte sich.

»Nicht schlimm, nicht schlimm. Er hat mich verfehlt. Aber er wollte nicht zu seiner Griechischstunde erscheinen. Er ist zu müde, um seine Lektionen zu lernen. Das können wir beizeiten nachholen. Wenn der junge Gott …«

»Müde, weil er sich auf der Erde herumtreibt. Dieser Nichtsnutz!«

»… wenn der junge Gott ausgeschlafen hat«, beendete der Mann seinen Satz mit einem beschwichtigenden Lächeln.

Der Gott sprang auf und schubste den riesigen schwarzen Hund von den zahlreichen Fellen, die um seinen Thron herumlagen.

»Wir werden ihn bestrafen, Präfektor!«, kündigte er an.

»Nennt mich nicht Präfektor!«, wagte es der Lehrer einzuwenden.

Ein Schnauben war die einzige Antwort.

Der Mann trippelte dem Gott hinterher, so schnell er nur konnte, doch trotz großer Anstrengung gelang es ihm kaum, Schritt zu halten. Sie durchquerten die Halle, liefen eilig durch zahlreiche Gänge, der schwarze Hund immer dicht auf ihren Fersen. Schließlich erreichten sie die Schlafgemächer, und der Gott der Unterwelt riss entschlossen die Tür zum Zimmer seines Sohnes auf. Wutschnaubend starrte er auf das Bild, das sich ihm bot: Der junge Gott lag ausgestreckt und nackt auf unzähligen Kissen, sein Mund war im Schlaf leicht geöffnet, die Stirn gerunzelt, seine Lippen entfachten ein seltsames Gefühl in der Magengegend seines Vaters.

Er hat die Lippen seiner Mutter, dachte er. Dieselbe Nase. Denselben Dickkopf.

»Seid nicht zu hart zu ihm«, jammerte der Präfektor und wandte sich beschämt ab, um nicht den nackten jungen Gott ansehen zu müssen.

»Er wird seine Göttlichkeit verlieren, wenn er weiter nichts im Sinn hat, als sich zu amüsieren und herumzuhuren! Und weißt du, was das bedeutet?«

Der Lehrer knickte ein, sein flächiges Gesicht wurde noch blasser und sorgenvoller, und er hob Einhalt gebietend seine Arme.

»Nein! Nur das nicht! Das bedeutet seinen Tod! Ich als sein Lehrer, sein Fürsprecher, kann dies nicht zulassen!«

»Und was schlägst du vor, du Wicht?«

»Gebt ihm noch eine Chance! Eine einzige!«

Der Gott legte überlegend seine Hand ans Kinn. Sein Sohn atmete tief und gleichmäßig. Vor seiner Ruhestätte lagen Weinflaschen, die nachlässig geformte Skulptur einer Nackten ohne Kopf und ein überquellender Aschenbecher.

»Er hat es nicht verdient«, sagte der Gott düster, »aber ich werde ihm drei Aufgaben geben, die er erfüllen muss, sonst ist sein Leben verwirkt …«

Erstes Kapitel

Einunddreißigster März, der Tag, an dem Aurora auf den höchsten Punkt des Kolosseums kletterte, von Carabinieri bis in die Via di San Saba verfolgt wurde und durch die Küche eines vietnamesischen Restaurants auf der Piazza Bernini entkommen konnte.

Für eine alte Göttin wie mich ist es nicht leicht, dem Treiben der Menschen zuzusehen. Sie sind unvernünftig und aufbrausend, streiten wegen Kleinigkeiten und machen sich das Leben durch andere Unzulänglichkeiten schwerer, als es sein müsste. Es ist nicht leicht, ihnen zuzusehen, ich kann nicht über jeden von ihnen wachen, und wenn ich ehrlich bin, hänge ich oft tagsüber ein dunkles Tuch über meine Silberkugel, weil ich von ihrer Geschwätzigkeit, ihrem Hang zu unangemessener Dramatik und ihren Tollpatschigkeiten mittlerweile stechende Kopfschmerzen bekomme. Obwohl ich weiß, dass ich meine Aufgaben vernachlässige, liebe ich es viel mehr, die Wolken anzusehen, in der Ruhe des Meeres zu versinken oder eine sternenklare Nacht zu genießen.

Nicht so am Morgen des zwölften Augusts des Jahres 2013 nach Christus.

Allein ihre Zeitrechnung lässt mich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. 2013 nach Jesus Christus! Götter des Olymp! Die Zeit lässt sich nicht berechnen, nicht festhalten, nicht nummerieren wie Gerstenkörner, die man in einer Hand halten kann. Selbst ich, die ich älter bin als die Welt und älter als vieles, was das Universum zu bieten hat, kann mich nicht an den Anfang der Zeit erinnern.

Wie dem auch sei. Am zwölften August, nur der Einfachheit halber, zog ich das Tuch von der Silberkugel, um einen vorsichtigen Blick auf die Welt zu werfen, bevor ich in aller Ruhe etwas vor meinem Turm dösen wollte. Zugegeben, schon die letzten Wochen war mir das Mädchen mit dem Namen Aurora Perrini aufgefallen. Nicht, dass ich mich normalerweise für einzelne Menschen interessiere. Nein.

Ich entdeckte Aurora Perrini in der Stadt, der einzigen richtigen Stadt dieses Planeten, in der Metropole, in der mein Herz schlägt. Ich entdeckte Aurora Perrini in Rom.

Der pulsierendste Punkt Roms ist für mich das Pantheon, ein von außen wuchtiger Bau aus grob behauenen Ziegeln, von Tausenden von Menschen mühevoll aufgeschichtet, ein architektonisches Wunderwerk. Über tausend Jahre lang hatte es die größte Kuppel der Welt, und es ist den alten Göttern geweiht. Daran kann auch nichts ändern, dass die katholische Kirche diesen Bau an sich riss und ihn in ihrer Verzweiflung der heiligen Maria weihte. Nichts gegen die heilige Maria, aber im Pantheon schweben Mars und Athene, und Zeus und Neptun reichen sich die Hand. Es ist kein Ort für Heilige, sondern für Diebe, Bettler und Ganoven.

In alten Zeiten standen die Menschen in der Mitte des Pantheons und hoben ihren Blick, denn von dort aus kann man durch eine Öffnung in der Kuppel den Himmel über Rom sehen, und sie spürten die Energie der Götter durch ihre Körper spülen. Wünsche wurden ins Universum gesogen und erfüllt, Schmerzen gelindert, Krankheiten geheilt.

Und heute? Heute ist dieser Punkt abgesperrt mit roten dicken Kordeln. Es ist verboten, sich auf der Erde niederzulegen, obwohl es normal ist, dass ein menschliches Wesen dieser Energie nicht standhalten kann. Es ist verboten, nackt zu sein – o ihr Unwissenden! Die Götter lieben nackte Körper, sind sie doch selbst meist nackt und vergnügt, oder waren es zumindest früher, als die Erde noch jung war.

Da sah ich sie.

Sie kam durch die von Säulen gesäumte Pforte herein, etwas eilig, sie stolperte fast über eine kniende Bettlerin, ihr Haar, pechschwarz, lockig und offen, hing ihr fast bis zur Taille. Ich gebe zu, es war ihr Haar, das mich stutzen und ihr nachblicken ließ, denn es war wie mein eigenes, früher, bevor sich immer mehr weiße Fäden wie Silber hindurchzogen.

Perrini. Aurora. Siebzehn Jahre und sechs Monate alt. Wie viele siebzehnjährige Mädchen gibt es auf Erden? Wie viele Wirrungen und Katastrophen entstehen durch diese siebzehnjährigen Wesen auf dem Weg zum langweiligen Erwachsenendasein, in dem sie gezähmt und traumlos an der Seite eines Mannes enden, der ihrer Anmut nicht würdig ist?

Aber genug davon.

 

11:55 Uhr. Genau fünf Minuten vor der vollen Stunde.

Alles lief nach Plan. Obwohl Aurora Perrini das Pantheon gerne mied – jedes Mal baute sich dort in ihrem rechten Ohr ein Druck auf, als würde sie krank werden –, hatte sie die Hoffnung, dass es auch diesmal gutgehen würde. Sie huschte an dem Aufseher vorbei, die grüne Samttasche an ihren Bauch gedrückt, als hätte sie Angst vor Dieben, den Blick nach oben gewandt, wie all die Menschen um sie herum. Unbeirrt strebte sie dem zentralsten Punkt dieses gewaltigen Raumes entgegen, der mit roten Kordeln abgesperrt war. Den Aufseher ignorierend, schlüpfte sie darunter hindurch, stellte sich genau in die Mitte und sah hinauf. Das gehörte nicht zum Plan, aber sie liebte diesen majestätischen Blick nach oben, die Sonnenstrahlen, die direkt aus dem Himmel durch die Öffnung des Daches zu brechen schienen, dazu die sirrenden Rufe der Mauersegler, die sich an keine Verbote halten mussten, durch diese Öffnung stürzten und im nächsten Moment schon wieder verschwanden.

Als sie den Aufseher auf sich zukommen sah, duckte sie sich rasch unter dem Absperrband hindurch und rempelte ihn an. Trotzdem packte er sie kurz an der Schulter, ließ sie dann aber gehen, als er in ihr schmales, ovales Gesicht mit den dichtbewimperten Augen blickte. Er schüttelte warnend den Kopf, aber sie verschwand wortlos in der Menge, mit klopfendem Herzen.

Aurora musste nicht mehr nachlesen, wie ihr Auftrag dieses Mal lautete.

Zwölfter August. Zwölf Uhr. Das Pantheon sei dein Ziel. Suche das Grab Raffaels, berühre den Boden. Berühre die Zehen der Heiligen Gottesmutter Maria, deren Statue direkt darüber steht, und vor allen Dingen, berühre den Boden hinter ihr.

Diese Nachrichten hörten sich immer höchst mysteriös und gelegentlich leider auch höchst sinnlos an, aber tief in ihrem Inneren wusste Aurora, dass das nicht so war. Sie bekam keine sinnlosen Aufträge. Nach jedem hatte sie das Gefühl, etwas Wichtiges erledigt zu haben. Irgendwann würde sie den ersten losen Faden mit dem letzten verknüpfen, und sie würde erstaunt sein, weshalb sie es nicht gleich verstanden hatte.

Der Aufseher war verschwunden.

Das Grab Raffaels war beleuchtet.

Darüber stand mit gütigem Blick Maria del Sasso.

Aurora drehte sich nicht mehr um. Sie schlüpfte auch unter diesem Absperrband hindurch, berührte in schneller Folge die Zehen der Statue und den Boden dahinter. Danach hatte sie ein Centstück in der Hand und ein Lächeln im Gesicht. Für mehrere Herzschläge starrte sie in das Antlitz der Maria, und obwohl sie wusste, wie unklug es war, die Zeit verstreichen zu lassen, ließ sie es zu, dass mit dem Pulsieren des Blutes in ihrem Kopf ihr Vater ihre Gedanken zu beherrschen begann, sein beunruhigend abwesendes Verhalten der letzten Tagen. Sein hinkender Gang schien schlimmer geworden zu sein, und er war schon länger nicht mehr in der Universität gewesen.

Wieso?

Im selben Moment schrillten Trillerpfeifen, das allgemeine Gemurmel schwoll an, und mit ihrem eigenen Herzschlag im Ohr schlüpfte Aurora schnell unter den Kordeln hindurch, bahnte sich durch die Flut von Touristen energisch den Weg zum Ausgang, unbeirrt von Menschen, die nicht ausweichen wollten, sondern die im Gegenteil versuchten, sie an ihrer Jacke zu packen.

Im nächsten Moment stand sie vor einem Carabiniere. Sie duckte sich auch unter seinem Griff hindurch und begann zu laufen. Ihr Herz stolperte, als sie die Via della Rotonda entlangspurtete, die später zur Via di Torre Argentina wird. Zu ihrem Erstaunen war ihr der Carabiniere dicht auf den Fersen, und die Lässigkeit, mit der sie sonst jeden Verfolger abhängte, fiel in sich zusammen. Sie bog in eine Seitenstraße ein und drückte sich an die Wand im Versuch, sich unsichtbar zu machen. Der Druck im Ohr war so stark, dass sie ein paarmal schlucken musste, das Herz hämmerte in ihrem Kopf. Was hatte sie sich dabei gedacht, so lange bei der Statue stehen zu bleiben? Was hatte ihr der Professore eingebläut? Schnell, präzise, unsichtbar. Aurora biss sich auf die Lippen. Es lag an ihrem Vater, dass sie so unkonzentriert war. Und an dieser Hitze über Rom.

Im nächsten Moment rannte der Carabiniere an ihr vorbei.

Sie wartete zitternd ab, bis er um die Ecke gebogen war. Dann verließ sie ihr Versteck und überquerte zügig den Corso Vittorio Emanuele.

Vielleicht war sie nun schon zu erwachsen für solche Spielchen. Sie war in dem Alter, in dem man auf Fragen eine Antwort wollte und keine Ablenkungsmanöver. Sie lehnte sich gegen eine Mauer, zog ihr kleines Büchlein aus der grünen Samttasche und setzte brav den Stift auf das Blatt. Normalerweise beschrieb sie ihr Vorgehen: wie schwierig es gewesen war, zu dem angegebenen Ort zu kommen, was geschehen war, ob es ihr gelungen war, unerkannt zu entkommen, ob ein Carabiniere sie aufgehalten hatte … Diesmal schrieb sie nur ein Wort hinein:

Wieso?

Als sie damit fertig war, stopfte sie ihre Hände in die Taschen der unförmigen Männerjacke, die sie trug, und schlenderte nun gemächlich Richtung Basilica di Santa Maria Trastevere.

 

Vor einem unscheinbaren Haus, das dringend nach einem neuen Anstrich verlangte, zog Aurora ihren Schlüssel aus der Jackentasche, ließ die Tür aufschwingen und stieg dann ohne Eile die Treppen hinauf. Es war kühl und ruhig in der Wohnung. Noch erhitzt von der Aktion im Pantheon, ging Aurora in die Küche, füllte sich ein großes Glas mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Als sie in das Haus horchte, kam es ihr absonderlich still vor, als würde es den Atem anhalten. Erst verspätet fiel ihr auf, welches Geräusch fehlte: In den letzten Monaten war ihr Vater sehr oft zu Hause gewesen, statt wie gewöhnlich in die Università La Sapienza zu fahren, wo er als Professor für Vor- und Frühgeschichte arbeitete. In dumpfen Grübeleien versunken, war er langsam in seinem Arbeitszimmer auf und ab gegangen, und man hatte sein Hinken bei jedem Schritt hören können, das leichte Schlurfen des verletzten Fußes und das harte Aufsetzen des gesunden. Doch heute war es still.

Als sie in das Esszimmer ging, blieb sie erschrocken stehen. Ihr Vater saß am Tisch und betrachtete seine Hände, die vor ihm lagen.

»Papà?«

Auch jetzt sah er nicht auf. »Signora Mirabal aus dem ersten Stock hat dich gestern in der Basilica Minerva gesehen«, sagte er, als hätten sie sich schon eine Weile unterhalten. »Sie war dort zur Beichte.«

»Ist es verboten, in Kirchen zu gehen?« Trotzig verschränkte Aurora die Arme vor der Brust.

»Ist es nicht. Solange man nicht von Aufsehern und der Polizei verfolgt wird.«

Jetzt hob er den Blick, und die beiden sahen sich einen Moment lang in die Augen, dann drehte sie sich um und senkte den Kopf. Das mit der Basilica Minerva war ein Klacks gewesen. Die Carabinieri waren nicht einmal ansatzweise so nahe an sie herangekommen, dass sie sie auch nur mit einem Finger hätten berühren können.

»Ich will nicht wissen, warum. Ich will nur, dass du anständig aufwächst.«

»Es kommt nicht wieder vor«, sagte Aurora kaum hörbar. In Wirklichkeit dachte sie: Darum geht es doch gar nicht. Wer mich wo gesehen hat und dass ich nicht von der Polizei nach Hause gebracht werde.

»Ich habe nachgedacht. Ich möchte, dass du Rom für eine Weile verlässt, gerade habe ich mit Zia telefoniert …«

»Zia?«, stieß Aurora hervor.

Ihre Tante Lorena war die Stiefschwester ihrer Mutter, sie wurde von ihnen nur »Zia« genannt, und das Allerletzte, was ihr Vater oder sie selbst wollten, war, mit ihr zusammenzutreffen.

»Das wird das Beste sein.«

»Zia!«, wiederholte Aurora fassungslos. Plötzlich kroch eine unerklärliche Angst ihren Rücken hinauf. Wenn ihr Vater sie zu Zia schicken wollte, dann musste sich etwas Schlimmes zusammenbrauen. Etwas, das es erforderlich machte, dass sie verschwand. Etwas, das lebensbedrohlich war. Aurora wusste nicht, woher diese Gewissheit kam, sie war einfach da.

»Das hier ist kein Platz für dich. Ich sorge mehr schlecht als recht …«

»Es ist in Ordnung«, unterbrach sie ihn, während ihre Gedanken aussetzten angesichts der plötzlich anschwellenden Angst.

»Ist es nicht. Deine Mutter hätte das nicht gewollt.«

In der Stille, die nun eintrat, wirkten alle Geräusche ohrenbetäubend – das Ticken der Küchenuhr, das Lachen der Passanten unten auf der Straße, das Gurren der Tauben auf dem Fensterbrett. Aurora drehte sich zum Fenster, dann wieder zu ihrem Vater, senkte schließlich den Kopf, damit ihr Gesicht vollständig hinter ihren Locken verschwand. Ihre Mutter hätte vor allen Dingen nicht gewollt, dass sie bei Zia aufwuchs.

»Wo ist sie?«

Nun war es an ihrem Vater, wieder den Blick zu senken und auf die Tischplatte vor sich zu starren.

»Ich will endlich die Wahrheit wissen«, beharrte Aurora. »Wo ist meine Mutter?«

»Sie ist tot.«

»Du lügst.«

Einen Moment lang sah ihr Vater sie an, und sie sah ein Flackern in seinen Augen. Doch dann wandte er sich wieder ab. Schweigend.

»Und sag mir endlich, was mit deinem Bein passiert ist.«

»Du weißt, dass ich einen Unfall hatte.«

Aurora stieß ein genervtes Schnauben aus. Unfall! Mit dieser Erklärung hatte sie sich als kleines Kind abgefunden, ja, aber jetzt nicht mehr.

»Unfall? Du, Terenghi und Fernando seid zusammen unterwegs. Dann ruft das Krankenhaus bei Signora Mirabal an und teilt ihr mit, dass sie dein Bein abnehmen müssen und Terenghi und Fernando schwer verletzt sind. Ich war danach sieben Wochen bei Signora Mirabal, und niemand sagt mir, wie dieser Unfall passiert ist. Was war es? Ein Auto? Ein Tier? Ein Mensch?«

»Ein Hund. Es war ein Hund.«

»Ein Hund?« Aurora starrte ihren Vater fassungslos an. »Welcher Hund kann dich so verletzen?«

»Es war ein sehr großer Hund … aber das ist jetzt nebensächlich. Rom ist kein Ort für ein junges Mädchen. Nicht für ein Mädchen wie dich, mit einem Vater wie mich«, wich ihr Vater aus und wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht, zwirbelte seine dichten schwarzen Augenbrauen und ließ eine Stirn voller tiefer Falten zurück.

»Ich bin alt genug, dass du mit mir redest. Und keine Lügen erzählst.«

»Dafür wirst du nie alt genug sein. Und außerdem: Wer weiß schon, was du den ganzen Tag anstellst, während ich in der Universität bin?«, ging er zum Gegenangriff über.

»Ich bin bei Professore Fernando. Und Professore Terenghi. Deinen besten Freunden. Das weißt du doch.«

»Die deinen Kopf mit Unsinn vollstopfen. Und was hattest du im Parco di Colle Oppio zu suchen?«

Aurora sah ihn erstaunt mit großen Augen an. Im Park?

»Ich habe gelesen«, antwortete sie ehrlich, während die Angst sich wie eine Klammer um ihre Brust spannte.

»Am Brunnen!«, stieß er vorwurfsvoll hervor.

»Warum nicht?« Sie ging gerne in diesen Park, er war wie ein Magnet, sie liebte es, sich mit einem Buch unter die Bäume zu setzen, die Augen zu schließen und davon zu träumen, sie wären wieder eine vollständige Familie. Dass ihre Mutter plötzlich wieder vor ihr stehen, sie bei der Hand nehmen und zu ihrem Vater zurückgehen würde. Dass ihr Vater wieder so glücklich wäre, wie er es mit ihrer Mutter gewesen war …

»Ich verbiete es dir!«, zischte er sie an, und sie erschrak wegen der Wildheit in seinen Augen. »Ich verbiete es dir, ein für alle Mal!«

Es war absolut harmlos, in diesem Park zu sitzen! Atemlos starrte sie ihn an. Sag mir, wieso, dachte sie. Ich will alles tun, was du mir sagst, wenn du mir nur sagst, wieso …

»Ich bin bald achtzehn«, sagte sie stattdessen heftig, was normalerweise nicht ihre Art war. »Ich kann tun und lassen, was ich will!«

»Nun, bis du achtzehn bist, tust du, was ich will. Und bis du achtzehn bist, wirst du dich daran gewöhnt haben, bei Zia zu wohnen.«

»Vergiss es«, erwiderte Aurora. »Ich werde so oft in diesen Park gehen, wie ich will. Außer … du sagst mir die Wahrheit. Wieso du nicht willst, dass ich es tue …«

»Du wirst hierbleiben, bis du zur Besinnung gekommen bist!«, schrie er sie an und schubste sie in ihr Zimmer.

 

So viel zur Denkweise der Männer und zum Umgang mit ihren Töchtern. Sie glauben, junge Mädchen sind wie Wildpferde, die man an Halfter und Strick gewöhnt, mit etwas Geduld werden sie fügsam und vergessen ihre Herkunft, sie vergessen, wie es ist, wenn die Hufe im wilden Galopp über die Ebene donnern, sie vergessen den Wind in den Nüstern und die Freiheit zwischen ihren Augen.

So auch Aurora Perrinis Vater. Ich wusste, dass er ihr nicht glaubte, als sie zurückbrüllte, wenn es das sei, was er wolle, so würde er sie niemals wiedersehen. Dass er der Meinung war, das Richtige zu tun, als er die Zimmertür hinter ihr absperrte, während sie ihm Beleidigungen an den Kopf warf. Er glaubte ihr nicht, doch ich, ich beobachtete, wie Aurora eine dunkelgrüne Samttasche unter ihrem Bett hervorholte und wahllos Kleidungsstücke hineinzustopfen begann. Sie zog ihr Tagebuch hervor und warf es dazu, nicht ohne davor noch einen Moment hineinzuschauen.

Sie hatte mich neugierig gemacht.

Obwohl mein Blick auf die Welt sonst nur sehr flüchtig und, ich gebe es zu, fast nachlässig ist, sank ich nun immer tiefer in Aurora Perrinis Zimmer, hörte ihren beherrschten Atem und spürte ihren Zorn.

Ich lehnte mich zurück und zündete mir eine Zigarette an, eine lästige Sache, die ich mir in den zwanziger Jahren angewöhnt hatte, als Gott und die Welt rauchte und das auch noch unglaublich schick fand. Der Rauch verschleierte die Silberkugel. Weinte Aurora Perrini? Strich sie mit der Hand über den weichen Stoff der Tasche? Ach Welt, du bist kein guter Ort für junge Mädchen, aber auch kein schlechter, wenn man Abenteuer sucht.

Für mich ist ein halber Tag wie ein Wimpernschlag, jedoch nicht für Aurora. Ich sah, wie sie überlegte, ob es richtig war, was sie vorhatte. Aber ich wusste es schon, ich wusste, wie ihre Entscheidung ausfallen würde, und es machte mich fast vergnügt. So vergnügt, wie jemand sein kann, der nicht mehr vorhat, von zu Hause auszubrechen.

Die Sonne näherte sich dem Horizont. Die Gassen Roms begannen sich zu füllen, mit all den Menschen, die den Tag ausklingen lassen wollten. Aurora drückte ihr Gesicht an die Tasche und atmete den vertrauten Geruch ein. Als sie ihren Kopf wieder hob, war ihr Blick entschlossen. Natürlich ahnte ich schon, was sie vorhatte. Mit welcher Eleganz und Grazie sie durch die nächtlichen Gassen Roms eilen würde, behände die Treppen hinauf und hinunter, an den kühlenden Brunnen vorbei, den Lichtern und den Schatten der Gassen Roms folgend, auf den uralten Wegen der Römerinnen auf der Suche nach ihrer Freiheit. Und in welcher anderen Stadt wäre die Ausgangslage besser?

Und tatsächlich sprang sie entschlossen auf, legte kurz ihr Ohr an ihre Zimmertür, und als sie kein Geräusch hörte, lief sie zum Fenster, schwang erst das eine und dann das andere Bein hinaus, und kurz darauf war sie auf der Via della Lungaretta und kämpfte sich im Zickzack durch die lachenden, fröhlichen Menschen hindurch, die sich auf der Suche nach einem Restaurant und nach ein wenig Unterhaltung durch die Straßen treiben ließen.

Ich bedauerte von Herzen, dass sie die Blicke der Männer nicht auf sich zog, keiner pfiff ihr nach, drehte sich um, nach ihrem berauschendem Haar, der geraden, römischen Nase, den vollen Lippen, die sich in den Mundwinkeln zu einem ungewollten Lächeln kräuselten, egal, welcher Stimmung sie gerade war. Alles Banausen, die wahre Schönheit nicht erkennen, nur weil sich ein Körper in unvorteilhafte Kleidung hüllt. Lieber blicken sie auf nackte, krumme Beine, als das Verborgene, das nicht gleich Sichtbare aufzuspüren. Aber das ist schon immer so gewesen, daran haben die Jahrhunderte nichts geändert.

Hin und wieder verlor ich sie aus den Augen, mich blendete das Feuer des Feuerschluckers, einem Jongleur entglitten seine Bälle, als ich ihm einen entnervten Blick zuwarf, und zwei Frauen begannen sich zu zanken, während Aurora an ihnen vorbeihuschte.

Nur Aurora war von meinen Blicken nicht verunsichert. Vielleicht weil all ihre Gedanken sich um das Gespräch mit ihrem Vater drehten.

Ich dachte, sie ist tot, flüsterte es in ihren Gedanken. Das haben sie gesagt, damals, nach diesem schweren Unfall, der unser Leben so verändert hat. Sie ist nicht mehr zu retten, dieser Satz hatte sich in ihre Seele gebrannt. Und sie hatte es geglaubt. Natürlich hatte sie es geglaubt. Aber nun ließ die Ahnung, dass ihre Mutter doch noch lebte, ihren Herzschlag explodieren.

Sie lief an all den kleinen Läden vorbei, mit ihren Touristenandenken, den Knoblauchzöpfen, den Peperonikränzen. Weiter und immer weiter lief sie, die Via della Paglia entlang, über die Piazza Santa Maria, wieder auf die Via della Lungaretta und hinab zum Tiber.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich erkannte, dass sie über den Ponte Garibaldi wollte. Der Geruch des Flusses kündigte ihn an, schon bevor ich ihn sah, und während ich gerade noch begeistert meinem Schützling gefolgt war, wurde ich nun stutzig. Irgendetwas sagte mir, dass das nicht gut war. Dass es sie dorthin zog, wo ich sie auf keinen Fall haben wollte.

»Kehr um«, sagte ich ihr, und ihre Haarmähne schwang um ihren Hals, als sie sich mitten auf der Brücke noch einmal umdrehte, irritiert von meinen Worten, die sie doch erreichten, trotz ihrer Abenteuerlust. Aber sie kehrte nicht um, nein, stattdessen wurde sie immer schneller.

Als sie am Monti-Brunnen angekommen war und kurz auf den Stufen innehielt, verspürte selbst ich den Sog, dem sie ausgesetzt war. Sie hob ihren Blick zur Chiesa Madonna dei Monti. Zornig brachte ich die Laternen zum Flackern, die alles in ein romantisches Licht tauchten. Aurora senkte ihren Blick. Direkt neben ihr am Brunnen war ein kleiner unscheinbarer Zettel angeklebt worden, und bevor ich noch etwas tun konnte, hatte sie ihn schon gelesen.

»Untermieter gesucht«, flüsterte sie, für jeden unhörbar, nur für mich klang es wie ein Paukenschlag.

Nein!, flammte es in mir auf, als ich die Adresse erkannte. Du wirst diesen Zettel nicht zu Ende lesen.

Ein Windstoß erfasste das Papier, sie griff danach, ich wirbelte ihn weiter, aber der dumme Clown erhaschte ihn aus der Luft und überreichte ihn ihr mit einer albernen Verbeugung. Sah sie nicht, dass er kein dummer Clown war? Dass er nur ein Werkzeug war, sein Werkzeug?

Nein, natürlich erkannte sie es nicht!

Sie bedankte sich mit einem zarten Lächeln, dann las sie die Adresse. Wütend pustete ich noch einmal, entriss ihr den Zettel, der im Brunnen landete und dort sofort unterging. Die Tinte verschmierte, unlesbar für immer.

Zufrieden lehnte ich mich zurück.

Doch Aurora kehrte nicht um. Obwohl Tränen in ihren Augen glitzerten, war sie nicht aufzuhalten. Hatte sie sich die Adresse gemerkt?

Als sie tatsächlich die richtige Richtung einschlug, leitete ich den Dieb an ihre Seite. So naiv, wie sie war, war ihr nicht klar, was der Typ so nah bei ihr wollte. Mit einem Ruck war die grüne Samttasche ihrer Mutter fort, entrissen von einem Schurken.

Ich weiß, dass ich das nicht hätte machen sollen. Beides war ein Verstoß gegen unsere Prinzipien. Aber ich hatte es geschickt angefangen, keiner würde auf die Idee kommen, dass dieser Dieb Aurora nicht aus eigenem Antrieb bestohlen hatte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie sie dem Dieb folgte, ihm Flüche und Verwünschungen hinterherrief, bis sie ihn aus den Augen verloren hatte. Was für eine Schönheit sie war! Wie sie sich abwendete, die Arme in die Seiten stemmte und die Augen zusammenkniff!

Wie?

Nicht genug?

Nein, ganz offensichtlich nicht genug. Sie lief weiter, aber nicht in die Richtung, die ich befürchtet hatte. Stattdessen bog sie in einen Park, der in Dunkelheit getaucht war.

Nicht irgendein Park, nein. Der Park, den ich vor Jahrhunderten öfter durchschritten hatte als jeden anderen Ort in Rom oder der gesamten Welt. Voller Vorfreude, Wehmut, Zorn und, ja, auch voller Liebe. Ich hielt die Luft an, aber Aurora eilte an dem Brunnen vorbei, als hätte sie ihn nicht gesehen. Zornestränen glitzerten in ihren Augen, ihre Lippen waren zusammengekniffen. Am anderen Ende des Parks tauchte sie wieder in die Menschenmenge ein, ließ sich von ihr mitreißen, und ich atmete auf. Für einen Moment dachte ich sogar, dass die Masse der Körper sie wegreißen würde von dem Ort, den ich vergessen wollte.

Aber leider spuckte die Menschenmenge sie genau vor dem Haus aus, dessen Adresse ich versucht habe, aus meinem Gedächtnis zu löschen. Dessen Anblick ich versucht habe zu vergessen. Dessen Existenz ich versucht habe, zur Nichtexistenz zu bringen.

In mir kochte es.

Es musste ihr doch auffallen, dass dies kein Ort für sie war! Keines der anderen Häuser sah so furchtbar aus. Der Putz war abgeblättert, neben dem Eingangstor prangten Schmierereien der übelsten Sorte. Doch was machte sie? Sie betrachtete mit großen Augen das dunkle Holztor, auf dem die grausamen Fratzen der Toten abgebildet waren. Beunruhigt sah ich, dass sie fasziniert war, angezogen von den ungewohnten, absonderlichen Hässlichkeiten. Sah sie denn nicht, was hier abgebildet war? Sah sie nicht, an welchem Ort sie sich befand? Dass es nicht das Gute war, dass sie anzog?

Ich hasste dieses Gebäude. Ich wollte mich an nichts erinnern, was mit diesem Tor, mit ihm zu tun hat!

Geh, Aurora!

Doch sie nahm den schweren Türklopfer, zögernd, als wüsste sie nicht, ob sie ihn benutzen sollte oder nicht. Er war dunkel und abgegriffen, hatte die Form eines Totenkopfes und schmiegte sich wie ein Amulett in ihre Hand. Noch einmal glitt ihr Blick nach oben, über das hohe dunkle Tor hinweg zu den hohen dunklen Fenstern.

»Du willst hier nicht bleiben, glaub mir, Schätzchen«, flüsterte ich.

Aber dann ließ sie den Türklopfer auf die reichverzierte Oberfläche des Tores fallen. Natürlich hörte sie niemand. Das Haus war mehr tot als lebend! Es war ein einziges Grab! Und ich würde ihr nicht folgen. Wenn sie diese Schwelle überschritt, würde sie alleine sein mit den Problemen, die da kamen. Und sie würden kommen, glaubt mir …

Sie drückte das Tor auf, unsicher überschritt sie die Schwelle, und obwohl ich ihr nicht folgen wollte, konnte ich trotzdem nicht wegsehen. Das hier war kein Abenteuer mehr, das war der erste Schritt zum Untergang! Es war meine Pflicht, sie davon abzuhalten, in die dritte Etage hinaufzufahren.

Sie schob das Gitter des Aufzugs auseinander und stieg ein. Sie drückte die Drei. Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Energisch ließ ich das Getriebe knirschen, und er blieb auf der Höhe der zweiten Etage stehen. Das war das Äußerste, was ich machen konnte.

Dann sah ich den Zwerg in der dritten Etage. Er bewegte sich affektiert und selbstbewusst und redete ununterbrochen auf einen schweigsamen Mann hinter sich ein. Irgendwie wollte ich nicht, dass Aurora mit diesem schweigsamen Kerl Kontakt bekam, ich wusste nicht, wieso, aber ich konnte selbst von hier aus spüren, dass sie sich von ihm angezogen fühlen würde. Er war so gutaussehend, dass vermutlich jede Frau schwach geworden wäre.

Der Aufzug setzte sich knirschend noch ein letztes Mal in Bewegung und blieb dann – dem Olymp sei Dank – zwischen der zweiten und dritten Etage hängen.

 

Aurora drückte gleich ein paar Mal auf den dritten Etagenknopf.

Verdammt, dachte sie, muss das jetzt sein?

Schon immer war ihr das Eingesperrtsein eine Qual. Noch dazu hier, wo die schwache Funzel, die den Fahrstuhl beleuchtete, immer wieder flackerte, als würde sie im nächsten Moment ausgehen. Aurora äugte nach oben. Was für ein verrücktes Haus! Auch das komische altertümliche Gitter war nicht besonders vertrauenerweckend, es wirkte vielmehr so, als sei der Aufzug schon seit Jahrhunderten in Betrieb, ohne jemals gewartet zu werden, und als würde er gerade jetzt den Geist aufgeben.

»Hallo?«, rief sie leise und horchte in die schattenreiche Tiefe des Hauses.

Wieder flackerte die Lampe über ihr, und sie drückte noch einmal auf den Knopf zum dritten Stock. Brav leuchtete das Licht auf, dann erlosch es wieder. Das Haus schien zu leben, es atmete, die Dielen knackten, die Wasserleitungen summten. Von überall kamen leise, unheimliche Geräusche.

Gespenstisch, das war das Wort, das es traf.

Vor der Aufzugtür im dritten Stock blieben ein Paar weiße Lederschuhe stehen, die zu zwei Männerbeinen gehörten, die eine weiße Jeans trugen.

»Hallo?«, sagte sie fragend zu den Beinen, und ihr Herz schlug im Hals.

Ich bin hier nicht alleine, das ist ein ganz normales Haus, sagte sie sich vor.

»Ja?«, fragte eine hohe Männerstimme.

Für einen Moment spürte sie die Erleichterung wie eine Flut in ihrem Körper. Die Stimme klang etwas affektiert, aber doch auch normal. Überhaupt nicht wie von einem Bewohner eines Geisterhauses. Wie albern, dachte sie noch und versuchte einen Blick auf den Unbekannten zu erhaschen. Irritiert stellte sie fest, dass es ein Zwerg sein musste, so klein, wie er war. Und er war außerordentlich gekleidet, hatte ein weißes Sakko an und darunter ein pinkfarbenes Hemd. Der Mann ging in die Knie und sah zu ihr hinab.

»Ich sitze fest«, sagte Aurora nach einem Räuspern.

»Täubchen, das ist ja schrecklich!«, erwiderte er mit einem beruhigenden Lächeln. »Aber keine Sorge, keine Sorge, wir bekommen dich da schon heraus … Wenn ich nur daran denke, in diesem schrecklichen Fahrstuhl eingeschlossen! Du hast doch keine Platzangst, Täubchen?«

Seine Stimme wurde etwas schrill, als hätte er selbst Platzangst, und er stand wieder auf, um etwas zu jemandem zu sagen, der hinter ihm stand. »Ich wusste es doch immer, dieser furchtbare Fahrstuhl! Das arme Kind! Du musst etwas machen!« Er bückte sich wieder. »Nur keine Panik! Wir haben alles im Griff!«

Jetzt sah sie auch den zweiten Mann, dem die Aufforderung gegolten hatte, er müsse etwas unternehmen. Auch er ging in die Knie und spähte zu ihr hinunter. Sie sah in seine Augen, die von einem unglaublich strahlenden Blau waren. Die Gitterstäbe zwischen ihr und ihm waren irritierend, besonders der große metallene Totenkopf, der mit seinem grimmigen Grinsen direkt vor dem Mund des Unbekannten saß. Er mochte ein paar Jahre älter sein als sie selbst, aber er wirkte nicht wie ein unbeschwerter Jugendlicher. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als er die Stirn runzelte und sie mit undurchdringlicher Miene betrachtete. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihre Anwesenheit erklären oder zumindest seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken zu müssen.

»Das musste ja mal passieren!«, mischte sich der Zwerg wieder ein und gestikulierte mit den Armen.

»Ich wollte in den dritten Stock«, erklärte Aurora.

»Der Fahrstuhl ganz offensichtlich nicht«, brummte der dunkelhaarige junge Mann. Seine Stimme klang sehr männlich und tief, er hatte einen leichten Akzent, so als hätte er die Sprache perfekt gelernt, aber als sei es nicht seine Muttersprache.

»Unsägliche Zustände in diesem Haus, Schätzchen!«, flötete der Zwerg und gab dem Mann einen Rempler. »Die Treppe nicht benutzbar, der Fahrstuhl kaputt. Aber wir bekommen dich da raus, nicht wahr?«

Der nächste Rempler folgte, wie um seinen letzten Satz zu bekräftigen, und der grimmige Mann sagte folgsam: »Natürlich.«

Dann stand er auf und krempelte seinen dunklen Pullover an den Ärmeln zurück. Er hatte erstaunlich muskulöse Unterarme, auf denen sich die Adern abzeichneten, und Aurora konnte nicht anders, als auf seine kräftigen und schlanken Hände zu starren. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie wünschte sich plötzlich, sie wäre nie in dieses Haus gegangen. Nur um diesem düsteren Kerl nicht zu begegnen.

»Nur die Ruhe, Täubchen!«, gurrte der Zwerg. »Das geht ruck, zuck!«

Der andere Mann umfasste die Gitterstäbe des Aufzugs mit den Händen und begann, sie mit Gewalt auseinanderzuziehen.

»Moment«, sagte Aurora etwas hilflos und starrte auf den gewaltigen Bizeps des Typen, der anscheinend mühelos Metall verbiegen konnte. »Sie können doch nicht …«

Er sagte nichts, das Metall kreischte, mit einem Ächzen bog er die äußeren Gitterstäbe auseinander, dann machte er dasselbe mit den inneren.

»Das ist doch hoffentlich nicht kaputt?«, fragte sie besorgt.

»Hoffentlich ist es kaputt«, trällerte der Zwerg freundlich. »Dann kommt die Hausverwaltung vielleicht auf die Idee, einen neuen Aufzug zu installieren.«

Hausverwaltung klingt herrlich normal, dachte Aurora, und ihr entwischte ein Lächeln.

»Jetzt hilf ihr raus!«

Der Kerl ging wieder in die Hocke und streckte ihr die Hand entgegen.

»Sobald Sie da herausgeklettert sind, fährt er weiter«, mutmaßte der Zwerg und lachte dabei.

Der schlechtgelaunte Mann beugte sich ein klein wenig zu ihr hinunter, das flackernde Licht beleuchtete sein dichtes, dunkles Haar und warf Schatten auf sein Gesicht.

»Ich bin nicht so gut im Klettern«, sagte Aurora und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Macht nichts«, trällerte der Zwerg gut gelaunt. »Nicht wahr, das ist für dich überhaupt kein Problem!«

Der Grimmige sagte darauf gar nichts. Mit einem warmen Griff umschloss seine Hand die ihre, sie blickte auf seine Unterarme, wo sich jetzt deutlich die Muskeln anspannten.

»Gut, dass Signora Liccardi im Erdgeschoss wohnt.« Der Zwerg senkte ein wenig die Stimme. »Sie wiegt so viel wie drei Personen.«

Die warmen Finger des Grimmigen legten sich fest um Auroras kühlere und erzeugten dabei ein kribbelndes Gefühl in ihrem Bauch. Etwas verlegen fixierte sie einen Punkt neben seinem Gesicht, als seine Hand von den Fingern zu ihrem Handgelenk glitt und dort fest zupackte. Ohne ihr Zutun zog er sie nach oben. Sie griff nach dem Boden, der vor ihr auftauchte, aber er zog sie einfach weiter, ihre Knie prallten an die Wand, dann stand sie vor ihm und sah zu ihm auf.

»Fliegengewicht«, schien er zu murmeln, und als hätte er Angst, sie könnte ins Taumeln geraten und nach hinten in den Aufzugschacht stolpern, legte er ihr seine linke Hand noch auf die Hüfte und zog sie vom Aufzug weg.

Er war einen guten Kopf größer als sie, sein Gesicht war nicht schön im herkömmlichen Sinne – seine Nase war etwas zu lang, und über seine rechte Wange zog sich eine Narbe, die aber gut verheilt war und kaum mehr auffiel.

Sein Blick glitt über ihr Gesicht, als wollte er es sich einprägen, streichelte über ihre dunklen Haare und blieb dann einen Augenblick zu lange an ihren Lippen hängen.

»Danke«, sagte sie atemlos.

Sie zitterte leicht. War es wegen seiner warmen Hand an ihrer Hüfte? Weil sie plötzlich näher bei ihm stand, als sie es tun sollte?

»Bitte«, antwortete er und trat einen Schritt zurück.

»Aurora Perrini«, sagte sie, wie in einem Reflex. Zitternd holte sie Luft, atmete den Geruch seiner Haut ein. Was war es? Duschbad, als hätte er eben noch geduscht? Farbe, als hätte er eben noch gemalt? Und Sonne auf der Haut, als wäre er gerade beim Surfen gewesen und hätte sich den Wind durch die Haare pusten lassen.

Er nickte nur, als wüsste er nicht, was er darauf sagen sollte. Wie dumm von mir, dachte sie. Man stellte sich doch nicht einfach irgendwelchen Personen vor. Was muss er von mir denken …

»Tatramedes«, sagte der Zwerg mit einer leichten Verbeugung und gab dem Mann neben sich einen weiteren Rempler, vielleicht als Aufforderung, sich vorzustellen.

»Sie ist nicht mein Typ«, erwiderte der Mann schroff und drehte sich weg.

Ein paar Atemzüge lang verweilte Aurora regungslos und sah zu, wie der junge Mann sich umdrehte und den Gang hinunterschlenderte. Ihr Herz pochte, und sie war kurz davor, ihm etwas nachzurufen. Ein Schimpfwort, einen Fluch, irgendetwas, aber ihr fiel nichts ein.

»Er ist ein Rüpel.« Der Zwerg sagte das so, als wäre es eine Erklärung für alles, was in den letzten fünf Minuten passiert war, und Aurora zwang sich zu einem Lächeln.

»Schon gut. Er ist auch nicht mein Typ«, sagte sie so laut, dass der junge Mann es garantiert noch hören konnte.

Der Zwerg nickte ihr entschuldigend zu, dann lief er ihm hinterher, mit kurzen, trippelnden Schritten.

»Was habe ich dir über den Umgang mit Frauen gesagt?«, hörte Aurora ihn zischen, und einen Moment hoffte sie, der Mann würde sich nun doch noch kurz umblicken, aber ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Die beiden bogen um die nächste Ecke und waren verschwunden, der Aufzug ruckte und setzte sich mit einem seltsamen kreischenden Laut, der Aurora zusammenfahren ließ, wieder in Bewegung.

»War ja klar.« Ein kalter Lufthauch ließ sie frösteln. Sie versuchte, sich den Text des Zettels in Erinnerung zu rufen, doch außer der Adresse und dem Hinweis auf das dritte Stockwerk war alles wie ausgelöscht, kein Name, keine Nummer, nichts.

 

Ich atmete auf, auch ich hatte den kalten Lufthauch gespürt. Verdammnis! Götter der Dunkelheit! Welch furchtbarer Ort! Jahrhunderte hatte ich mir jeden Blick dorthin verboten, hatte dieses Viertel gemieden und nur die guten, strahlenden Plätze aufgesucht. Warum wurde nun ausgerechnet dieses junge Mädchen dorthin geleitet?

Sie wandte sich um und ging langsam die Reihe der Türen des dritten Flures entlang. Der Boden, bedeckt von einem abgewetzten beerenroten Teppich, schluckte das Geräusch ihrer Schritte, und geraume Zeit konnte sich Aurora nicht entscheiden, ob sie gehen oder bleiben sollte. Zögernd strich sie mit ihren Fingern über verschiedene Klingelknöpfe, allesamt golden und durch jahrelange Benutzung abgewetzt. Schließlich blieb sie unentschlossen stehen.

Geh zurück! Niemand wohnt hier, hinter diesen Türen herrscht gähnende Leere, schon lange, lange Zeit. Auch die Dame mit dem Namen Liccardi gibt es nicht mehr. Ihre Wohnung ist verwaist, verlassen. Geh! Der Aufzug wird dich sicher zurückbringen, und das Haus wird dich ausspucken wie einen abgelutschten Kirschkern!

Ein Jammer, nicht mit ihr reden zu können! Sie nicht warnen zu können!

Doch, o nein, genau in dem Moment, als es so aussah, als ob Aurora sich zum Gehen wenden wollte, genau in dem Moment, als ich aufatmen wollte, fiel ihr Blick auf eine winzige Tür am Ende des Flurs. Sie stand einen Spaltbreit offen, und dahinter, in der Dämmerung, machte Aurora Treppenstufen aus, schmale Stufen einer gewundenen Treppe. Der rote Teppich darauf war so zerschlissen, dass darunter das dunkle Holz zu erkennen war. Der kalte Hauch wurde stärker, Aurora bückte sich, schlüpfte unter dem Türstock hindurch und begann vorsichtig die Treppe hinaufzusteigen.

Was soll ich sagen? Dass auch ich in meinen jungen Jahren der Versuchung nicht hätte widerstehen können? Dass einen das Böse anzieht, einen neckt und an einem zerrt, bis man nur noch willig seine Hände ausstreckt?

Aurora bemerkte die fünfzackigen Sterne auf dem zerschlissenen Teppich und die Mondsicheln, sie sah ein bleiches Knöchelchen versteckt unter der Kante einer Stufe liegen, und doch bereitete ihr dieser Anblick weniger Angst als zuvor der junge Mann vorm Aufzug oder der Ausblick auf ein Leben bei der Zia. Allein der Gedanke an ihre Tante ließ ihren Atem stocken, und rasch stieg sie die Stufen hinauf.

Sie trat auf den schmalen Balkon hinaus, der an der Innenseite des Hauses entlang einmal um den Innenhof lief. Vorsichtig beugte sich Aurora über das wackelige Holzgeländer und sah hinunter: Ein Brunnen plätscherte leise in der Mitte, die wasserspeiende Figur sollte vielleicht ein Faun sein oder ein Teufel, kleine Hörnchen krönten ihren Kopf, ein Ziegenbart und ein irreführender weiser Ausdruck kennzeichneten das steinerne Gesicht.

Der Wind blies Aurora den Geruch verheißungsvollen Abenteuers ins Gesicht, sie ließ ihre Hand über das glattgeschliffene Holz gleiten und umrundete den Hof. Zuerst dachte sie, dass sich hier erstaunlicherweise keine einzige Tür befand. Tauben, die ihren Kopf zum Schlaf unter die Flügel gesteckt hatten, flatterten ärgerlich davon und verschwanden wie träge Kometenschweife im Nachthimmel.

Aurora dachte daran, dass es sicherlich kein Spaß werden würde, die Nacht in Rom unter freiem Himmel zu verbringen, jetzt, da ihre Tasche weg war, in die sie die Männerjacke gestopft hatte. Sie verbot sich den Gedanken daran, überfallen zu werden, und hoffte auf einen Wink des Schicksals, der, wie sie meinte, in Form einer schmalen, hohen Tür prompt Gestalt annahm. Ja, da vor der nächsten Biegung fand sich eine dunkelrot gestrichene Tür mit einer Mondsichel darüber, die sich halb um ein Kreuz schloss.

Doch Aurora beachtete das Zeichen nicht.

Sie klopfte an der Tür.

Ein dumpfer Laut. Das Klackern von Absätzen auf dem Dielenboden. Dann Stille.

Sie klopfte wieder und legte ihr Ohr an die Tür. Ein Schleifen, dann ein Poltern. Jemand fluchte, und gerade als Aurora zurücktreten wollte, wurde die Tür aufgerissen, und eine junge Frau drückte sich durch den Spalt, eine halbgerauchte Zigarette hing ihr im Mundwinkel. Die kurzen blondierten Haare standen in alle Richtungen ab, sie spähte an Aurora vorbei, erst nach rechts, dann nach links, dann nickte sie ihr knapp zu.

»Komm rein. Wurde ja auch Zeit.«

Die Frau packte Aurora am Handgelenk, zog sie in die Wohnung und schlug die Tür hastig hinter ihnen zu. »Ich hatte früher mit dir gerechnet. Aber egal, das Ding ist gelaufen.«

Das Ding? Die Frau lehnte sich gegen die Tür und sah für einen kurzen Moment aus, als hätte sie keine Kraft mehr.

»Luna Laverna«, sagte sie, ohne Auroras Hand loszulassen, »ich dachte schon, du findest den Weg nicht. Die Treppe.«

»Der Aufzug. Ansonsten war es kein Problem«, erwiderte Aurora und fragte sich selbst, wieso sie das überhaupt sagte. Sie kannte keine Luna Laverna. Sie kannte dieses Haus nicht. Doch eine sonderbare Unruhe griff nach ihr, nicht fest, gerade so, dass sie es nicht wagte, die Wahrheit zu sagen.

»Der Aufzug.«

Sie starrten sich in die Augen, und Aurora überlegte fieberhaft, woher diese Frau nur wissen konnte, dass sie den Zettel am Brunnen gefunden hatte, woher sie wissen konnte, dass sie hierherkommen würde. Die junge Frau sah sie an, als würde sie durch sie hindurchsehen, als wäre sie mit den Gedanken bei einem größeren Problem. Ihr Griff um Auroras Hand war noch immer so fest, dass Aurora es nicht wagte, die Hand zurückzuziehen, und ihr fiel auf, wie viel Kraft in diesem dünnen Arm steckte, bei dem man die Muskeln wie kleine stählerne Stränge sehen konnte.

 

Ich kann nicht behaupten, dass ich alle Menschen gleichermaßen liebe. Manche allerdings liebe ich noch weniger. Manche sind mir zuwider, noch ehe sie auch nur ein Wort sprechen, ihr Wimpernschlag reicht völlig aus, um mich gründlich zu verärgern. Luna Laverna gehörte zu ihnen.

»Sie konnte es nicht wissen«, flüsterte ich, und die Silberkugel beschlug sich so stark von meinem Atem, dass ich eilig mit der Hand darüberstrich, um wieder sehen zu können, doch als ich das Metall antippte, verschob sich das Bild, dunkle Wolken zogen kurz über die silbrige Oberfläche, und ich fand mich auf der Via delle Carrozze wieder, in der zwei Männer gerade in einen schwarzen Mercedes-Benz stiegen.

»Via degli Zingari.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Auch wenn ich nicht jahrhundertelange Erfahrung mit aufkommenden Schwierigkeiten gehabt hätte, hätte ich gewusst, dass diese zwei Männer Ärger machen wollten. Und sie waren auf dem Weg zu dem Haus, dass Aurora besser niemals betreten hätte.

Leider gibt es nicht nur zwei Sorten Männer, es wäre einfacher für uns Frauen, wenn eine klare Einteilung herrschen würde: Männer, die man heiratet, und Männer, vor denen man seine Töchter warnt. Doch meist verhält es sich wie bei Janus, dem Gott mit den zwei Gesichtern: Man ist sich nie sicher, in welches man gerade blickt.

»Reiß dich zusammen«, hörte ich den Fahrer sagen, einen Mann mit nach hinten gegeltem Haar und einem leichten Silberblick, dem ich vor vielen Jahren wahrscheinlich nicht hätte widerstehen können, obwohl mir bewusst gewesen wäre, in welche Gefahr ich mich damit begeben würde.

»Wir müssen ihn noch heute aus diesem Haus holen. Das hat höchste Priorität. Sonst nichts.« Er ließ den Mercedes an einer Gruppe Jugendlicher vorbeischießen, die erschrocken zur Seite sprangen. Der andere gab nur ein dumpfes Grummeln von sich. Unter seinem Jackett zeichnete sich deutlich eine Waffe ab.

»Angelo hat gesagt, wir sollen ihn dazu bringen, mit uns zu kommen. Freiwillig.«

Hastig tippte ich die Kugel wieder an. Mädchen, Mädchen. Es würde keine zehn Minuten dauern, und diese Männer würden vor der Tür mit der Mondsichel stehen.

Luna und Aurora standen immer noch im Flur, die Jugendstillampe über ihren Köpfen flimmerte.

»Er liegt da drinnen«, sagte Luna Laverna gerade.

 

Aurora drehte sich um, blickte den Flur hinunter und überlegte fieberhaft, von wem Luna sprach. Sie wusste, dass dies der Moment war, um die Situation zu klären, doch irgendetwas hielt sie davon ab.

»Komm mit.« Luna ging voraus. Ihre langen, schlanken Beine steckten in schwarzen, knallengen und zerrissenen Jeans, die Lederstiefel verursachten wieder das Klackern auf dem Holzboden. Aurora blickte auf ihren ausrasierten Nacken, die schmalen Schultern mit der blassen Haut und das enge Oberteil. Eine Frau wie Luna hatte sie bisher noch nicht getroffen. Eine Frau, die ihr Vater als niveaulos und billig eingestuft hätte, die sie selbst aber verrucht und anziehend fand. Es war ein klein wenig wie Schicksal, beschloss sie, dass sie diesen Zettel gefunden, ihn wieder verloren und sich doch die Adresse gemerkt hatte.

Sie kamen durch verwinkelte Zimmerchen, in denen sich Bücher bis zur Decke stapelten, die Wände waren mit Bildern übersät, wahllos in Motiv und Farbe, schwere Vorhänge verhinderten einen Blick auf Rom oder den Innenhof, und immer wieder fand sich das Zeichen der Mondsichel. Aurora spürte ein Kribbeln in der Magengegend, das verheißungsvolle Gefühl, dass sich ihr Leben hier auf immer verändern würde, dass sie über eine Schwelle getreten war, hinter der es kein Zurück mehr gab. Sie sog den Geruch nach verblühten Kamelien, staubigen, sonnenheißen Nachmittagen und dem Rauch von Lunas Zigarette ein.

»Das Problem ist, es ist nicht so gelaufen, wie es sollte«, sagte Luna mit ihrem etwas schleppenden Tonfall. »Ich bin reingekommen, und er war nicht da. Gut, hab ich mir gedacht, nicht weiter schlimm, ich warte, schließlich kann ich warten. Macht mir nichts aus.«

Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und schnippte die Kippe dann während des Gehens aus einem der offenen Fenster. Aurora überlegte fieberhaft, was sie sagen könnte, was so unverfänglich war, dass Luna nicht bemerken würde, dass sie nicht die Person war, für die sie sie hielt, denn die Wahrheit war, Aurora wollte nicht weg, sie wollte sich hier in dieser Wohnung, die sich über das komplette Obergeschoss erstreckte, verlaufen. Sie wollte alle Geheimnisse ergründen, die hier versteckt waren und die sie selbst im Forum Romanum, dem Petersdom und der Sixtinischen Kapelle nicht entdeckt hatte. Und sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Leben hier verändern würde.

Sie befanden sich jetzt in einem kleinen Vorraum vor einer weiteren Tür. Luna hielt kurz inne und drehte sich um, damit sie Aurora ansehen konnte.

»Ich mischte das Pulver in das Getränk und stellte es auf den Tisch. Verstehst du?«

Aurora nickte. »Und dann?«

»Ich dachte, es wird unkompliziert, aber als er dann da war, wurde er misstrauisch. Er erzählte mir jede Menge Quatsch. Dass er gerade jemanden gefahren hatte, dass es ein Fehler gewesen sei, dass es ihm aber verdammt gleichgültig sei, was der hinkende Kerl drüben anstellen würde. Egal. Und dann schüttete er das Getränk weg.« Sie seufzte, und Aurora bemerkte, dass ihre Augen zwei verschiedene Farben hatten, das linke war braun und das rechte grün.

»Vielleicht hätte ich ihm länger Zeit lassen sollen, ich meine, vorher. Die Tage vorher. Er hat mir nicht vertraut. Nicht voll und ganz.«

Zugegeben, ich staunte nicht schlecht, dass dieser Frau überhaupt jemand trauen würde. Luna Laverna! Alleine ihr Name war Warnung genug. Ihre Gestalt ordinär, ihre Gestik die eines Mädchens, das auf der Straße groß geworden ist. Sie war es gewohnt, jede Gelegenheit beim Schopf zu packen, in jede Lücke zu schlüpfen und nicht auf ihr Glück zu warten, sondern ihm nachzujagen. Ich kannte diese Sorte Mädchen, sie sind wie streunende Katzen, die sich auf den Dächern Roms die Zeit vertreiben – lieber Himmel! Die Zeit! Wie viel Zeit war schon vergangen? Es durchlief mich siedend heiß, und ich blickte nach der riesigen Sanduhr, durch die stetig und ohne Unterlass feinster Meeressand rieselte. Fünf Minuten? Sieben? Wie lange würde es dauern, bis die Männer ihr Ziel erreichten? Eilig tippte ich die Kugel an. Da waren sie, vor dem Haus, in ihrem Wagen. Oh könnte ich die Mädchen nur zur Eile antreiben – was immer Luna Laverna vorhatte, es musste schnell geschehen!

 

Aurora starrte mit großen Augen auf die Tür, sie spürte ihr Herz schlagen, lebendig und warm, lebendiger, als es je in der Zeit mit ihrem Vater gewesen war, in der sie oft leise durch die Wohnung geschlichen war, um ihn nicht zu stören, sich auf ihrem Bett zusammengerollt hatte oder durch die Straßen Roms gelaufen war, immer auf der Suche, immer auf der Flucht vor der Einsamkeit.

»Tja. Es hat nicht so geklappt, und da drinnen liegt er jetzt.«

»Wer?«, flüsterte Aurora, nun völlig außer Acht lassend, dass sie damit ihre Tarnung aufgeben könnte.

»Na, der Skipper«, sagte Luna und öffnete langsam die Tür.

Zweites Kapitel

Zweiter Dezember, der Tag, an dem Aurora die Statue der liegenden Paolina Bonaparte Borghese in der Villa Borghese berührte. Zu allem anderen war es zu kalt gewesen.

Für einen Moment blieb Aurora die Luft weg und das Herz stehen. Direkt vor der altertümlichen Chaiselongue mit den geschwungenen kirschbaumfarbenen Beinen lag ein Mann auf dem Rücken. Er hatte einen dunklen, riesigen Kapuzenpulli an und eine speckige dunkle Hose.

»Es hat nicht geklappt?«, brachte sie hervor und starrte auf den blutigen Stumpf, der einmal der Hals des Mannes gewesen war.

Sein Kopf war nach hinten geklappt, als wäre es der einer Puppe. Mit einem Würgen drehte Aurora sich weg, doch seine aufgerissenen gelblichen Augen, die schlechtrasierten Wangen, die um den Mund ebenfalls gelblich waren, und die knollige Nase sah sie immer noch vor sich. Schwankend hielt sie sich am Türrahmen fest.

Luna stemmte ihre Arme in die Seite und starrte eine Weile verdrossen auf Aurora.

»Ja, richtig. Vielleicht hättest du daran denken sollen, als du dich so verspätet hast. Ich will nicht wissen, was das für uns beide bedeutet.«

»Für uns beide?«, stieß Aurora mit großen Augen hervor und drehte ihren Kopf nur so weit wieder zurück, dass sie Luna sehen konnte, aber nicht den toten Skipper.

»Er ist tot, kapiert!« Luna warf die Hände in die Luft, als wäre Aurora in irgendeiner Weise daran schuld. Und als hätte sie noch nicht begriffen, dass Leute ohne Köpfe grundsätzlich nicht mehr lebten. »Ich weiß nicht, was sie zu dir gesagt haben – aber mit mir war ausgemacht, dass wir ihn lebend abliefern. Skipper ohne Kopf! Wird ihnen wohl kaum etwas nützen.«

Sie ging zu der Chaiselongue, setzte sich darauf und starrte missmutig auf den Toten vor sich. Ihr schien sein Anblick nichts auszumachen. Vorsichtig drehte sich Aurora zu ihr, vermied es aber weiterhin, auf den Kopf des Mannes zu blicken.

»Noch immer ist er so finster und grämlich wie zu Lebzeiten«, murmelte Luna und fuhr sich unwirsch mit beiden Händen durch die Haare. Sie war ganz offensichtlich in ihren Überlegungen gefangen, was zu tun sei. Wie von einem Magnet angezogen, musste Aurora nun doch den Toten ansehen.

Sein schwarzer Pulli sah an der Brust nass aus – wegen des Blutes, das sich darauf ergossen hatte. An den Armen sah man nur einige Spritzer und einen seltsamen weißen Staub. So als hätte er sich beim Backen mit Mehl eingestäubt.

Er muss uralt sein, dachte Aurora. Selbst die Haare auf den Unterarmen waren weiß, die Haut war von einer gläsernen Blässe, die nicht vom Tod herzurühren schien. Die Ärmel des Pullovers waren hochgekrempelt, als hätte er gerade etwas arbeiten wollen, und man sah die sehnigen, äußerst muskulösen Arme. Seine Finger waren gelb, als hätte er in seinem Leben viel zu viel geraucht.

Er passt nicht in diese feine Umgebung, dachte Aurora. Es war, als hätte man einen Penner in eine feine Penthouse-Wohnung gelegt.

Und dann konnten Auroras unzusammenhängende Gedanken nur noch eins hervorbringen: Weg hier. Das geht mich nichts an, und es wird Zeit, dass ich wieder in mein altes Leben zurückkehre.

Sie zuckte zusammen, als Luna urplötzlich aufsprang, als hätte sie etwas gehört.

»Scheiße«, stieß Luna hervor. »Ich dachte, wir hätten mehr Zeit. Der Skipper muss weg … los, pack mit an, wir legen ihn …«

»Nein«, brachte Aurora schockiert hervor.

Dann hörte auch sie das Geräusch, das Luna aufgeschreckt hatte. Der Aufzug im Treppenhaus hatte sich quietschend in Bewegung gesetzt.

»Nein«, sagte sie noch einmal, etwas ruhiger.

Sie würde niemals diesen toten Mann auch nur mit einem Finger anrühren.

Drohend baute sich Luna vor ihr auf und verengt ihre Augen. »Wir müssen Zeit gewinnen. Nimm die Beine, los!«

Zaghaft bückte sich Aurora, sie ahnte, dass sie jetzt schon zu tief in der Geschichte drinsteckte, um einfach gehen zu können. Ohne mit der Wimper zu zucken, packte auch Luna zu und ignorierte komplett, dass dabei der Kopf des Toten an ihre Oberschenkel stieß. Rückwärts gehend dirigierte sie Aurora in die Richtung, in die sie wollte.

»Ins Schlafzimmer«, sagte sie und öffnete mit ihrem Ellbogen die Tür.

Aurora stieß einen spitzen Schrei aus und ließ die Beine des Toten fallen, als die Tür den Blick auf das Innere freigab: Mitten im Raum stand eine schwarze, muskulöse Gestalt mit finsterem Gesichtsausdruck. An einer Kette hielt sie einen schwarzen Hund mit drei Köpfen, die grimmig die Zähne fletschten.

Luna verdrehte die Augen.

»Der alte Mann«, sagte sie nur trocken. »Es ist eine Statue und nicht er persönlich. Geh zurück und kümmere dich um den Teppich.«

Mit einem letzten Blick auf das riesige und gruselige Schlafzimmer eilte Aurora dankbar davon. Das war mit Abstand das schrecklichste Zimmer gewesen, das sie in ihrem Leben gesehen hatte. Die Statue war nur ein kleiner Aspekt davon. Die dunklen, dichten Vorhänge vor den Fenstern, das riesige Himmelbett in der Mitte, direkt hinter der Statue, die Felle am Boden, genauso dunkel und düster wie die schwarze Bettwäsche … Noch immer sah Aurora vor Augen, wie Luna den kopflosen Skipper unter den Achseln gepackt und in das Zimmer hineingeschleift hatte, um ihn dort zu verstecken.

Wieso verstecken, dachte sie, wieso haut sie nicht einfach ab?

Und dann dachte sie, dass sie das Zimmer mit der Chaiselongue nie mehr würde finden können, dass es sich aufgelöst hatte, während sie den toten Mann versteckt hatten. Denn die Wohnung war wie eine eigene Welt, ein Labyrinth. Nach drei Räumen, die sie im Laufschritt durchquerte, kam sie in eine riesige Küche. Auf der Suche nach irgendetwas, das sie zum Reinigen des Teppichs verwenden könnte, riss sie sämtliche Schränke auf. Die meisten Fächer waren jedoch leer. Über dem Spülbecken war der Hängeschrank vollgestopft mit Packungen mit der Aufschrift: Cornetto, frutti di bosco. Schließlich fand sie einen noch verpackten Dreierpack Küchenrollen und einen Eimer, den sie mit Wasser füllte.

Dann stand sie urplötzlich wieder vor der Chaiselongue und fragte sich, ob sie nicht alles geträumt hatte. Aber es bestand kein Zweifel, das viele Blut davor sprach Bände.

Sie entrollte die Küchentücher und riss ein Tuch nach dem nächsten ab. Sie saugten sich schneller mit Blut voll, als Aurora die Tücher abreißen konnte. Als sie alle drei Küchenrollen auf den Fleck geworfen hatte, wurde die Tür aufgerissen, und Luna stürmte herein.

»Was machst du da?«, fragte sie fassungslos.

»Ich …«, fing Aurora ratlos an.

»Sag mal, wie ahnungslos bist du denn?«

Das klang ein bisschen danach, als hätte sie selbst schon hundertmal probiert, einen Teppich von Blut zu säubern.

»Los, der Teppich muss weg, das kann kein Mensch saubermachen …«

Schrill klingelte die Haustürglocke.

»Scheiße«, sagte Luna zum zweiten Mal.

»Wer ist das?«, wollte Aurora wissen.

»Sie sind schon da. Jetzt pack schon an! Und pass auf, dass du keine blutigen Finger bekommst …«

Sie kniete sich auf den Boden und begann, den Teppich einzurollen.

»Steh nicht herum«, fuhr sie Aurora an, und da ging auch Aurora auf die Knie.

 

Manchmal steht man auch in meiner Position vor schwierigen Entscheidungen. Wir hatten einen heiligen Eid geschworen, uns in keine menschliche Situation einzumischen. Nichts zu verändern am Lauf der menschlichen Dinge. Es war wie ein Film, eine Geschichte: Nur weil wir die Weisheit hatten, etwas vorherzusehen, was der Mensch nicht sehen konnte, durften wir die Fäden der Geschichte nicht neu spinnen.

Das war unsere Pflicht.

Wohin es führen würde, dass Aurora sich in dieser Wohnung aufhielt, darüber musste ich nicht lange nachdenken: zu nichts Gutem.

Aber war dies eine menschliche Situation?

Mein Kopf schmerzte, ich merkte, dass ich begann, mir eine Erklärung für mein Eingreifen zurechtzulegen. Konnte man denn nicht schon erahnen, dass das Schreckliche, auf das alles hinsteuerte, ganz und gar nicht menschlich war? Dass es nichts war, was Aurora aufhalten konnte? Dass sie nur mit ihrem Leben bezahlen würde? Mit ihrem jungen, zarten Leben … Ich krallte meine Finger in meine Paillettendecke.

Andererseits, wenn ich mich einmischte, dann würde auch er sich überall einmischen, und das wollte ich um jeden Preis verhindern. Mir war noch kein Grund für mein Eingreifen eingefallen, der auch ihm schlüssig erscheinen könnte, da schrillte schon wieder die Glocke.

 

»Wer ist das?«, fragte Aurora erneut atemlos, auch wenn sie damit Gefahr lief, sich zu verraten.

»Niemand, der uns wohlgesonnen ist«, erklärte Luna und forderte Aurora abermals mit einem Kopfnicken auf, den Teppich anzupacken.

»Die Polizei«, flüsterte Aurora.

»Das wäre schön«, murmelte Luna, und auf ihr leises »Hep« hoben sie den Teppich auf und liefen im Laufschritt durch die Wohnung. »Schrei etwas!«

»Was denn schreien?«, fragte Aurora atemlos.

»Dass du gleich kommst. Los.«

Jemand schlug mit der Faust an die Tür.

»Ich komme gleich!«, rief Aurora, doch es klang selbst in ihren Ohren piepsig und ängstlich.

»Du weißt, was du jetzt tun wirst«, sagte Luna.