Jenseits des Zeitgeistes lauern Gespenster - Michael Tillmann - E-Book

Jenseits des Zeitgeistes lauern Gespenster E-Book

Michael Tillmann

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Beschreibung

gal ob Urzeithöhle oder Metropolis, es ist naiv zu glauben, die Welt würde sich jemals ändern. Die Menschen sind immer noch von den gleichen Lüsten und Ängsten getrieben. Besonders deutlich wird es, wenn es um Erlebnisse jenseits der Alltagserfahrungen geht. Paranormale Phänomene geben nichts auf Moden und Trends. Gespenstern & Kollegen geht der Zeitgeist am Allerwertesten vorbei. In ihrer Sturheit sind sie subversiv. In ihrer Beharrlichkeit geben sie uns Hoffnung. Mit einem Vorwort von Ellen Norton, bekannt u.a. aus Daedalos

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2025

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In dieser Reihe bisher erschienen:

7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation

7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes

7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder

7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept

7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

7014 Julia A. Jorges Glutsommer

7015 Nils Noir Dead Dolls

7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit

7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen

7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut

7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube

7020 Nils Noir Dark Dudes

7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten

7022 Astrid Pfister Bücherleben

7023 Alfred Wallon Der Sohn des Piratenkapitäns

7024 Mort Castle Fremde

7025 Manuela Schneider Die Waffe des Teufels

7026 Rudolph Kremer Die Turmkammer der schreienden Alraune

7027 Alfred Wallon Heimtückische Intriegen

7028 Marco Theiss Ein Texaner gegen Chicago

7029 Uwe Niemann Das unreine Herz

7030 Nils Noir Damn Evil

7031 Rudolph Kremer Die Höhle des blauen Drachen

7032 Wolfgang Rauh Ignael

7033 G.S. Foster Das Grauen von Cape De Ville

7034 Michael Tillmann Jenseits des Zeitgeistes lauern Gespenster

7035 Rudolph Kremer Die Kirche des gehörnten Küsters

7036 Oliver Miller Der blutende Baum

7037 Slim Shannon Jerry Stanton - Tödliches Chamäleon

7038 Axel Kruse Lvdowigvs von Lüttelnau

7039 Florian Reszner Lasst mich ein, ihr Kinder

7040Vincenzo Nero Etriaa - Der König unter den Bettlern

Jenseits des Zeitgeistes lauern Gespenster

Michael Tillmann

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

* * *

Copyright © 2025 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Andreas-Hofer-Straße 44 • 6020 Innsbruck - Österreich

Redaktion: Danny Winter

Grafik & Umschlaggestaltung: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

www.blitz-verlag.de

ISBN: 978-3-68984-543-8

7034 vom 04.10.2025

Inhalt

Vorwort

1. Ich, Heinrich der VIII., Tyrann und Fettsack!

2. Stereotypische Kannibalen

3. Follow the Science und sterbe einsam!

4. Bloß nicht schon wieder Industrieruinen!

5. Kein Bett im Kornfeld

6. Rückbankoffenbarungen

7. Wachsender Lärm

Veröffentlichungsverzeichnis

Kurzbiographie Michael Tillmann

Kurzbiographie Ellen Norten

„Die meisten von uns sind uninteressante, hilflos banale Wesen – wir stolpern durch die Welt, ohne die Bedeutung und den inneren Sinn der Dinge zu begreifen, und folglich sind unsere Sündhaftigkeit wie unsere Güte billig und unwichtig.“

Die weißen Gestalten

Arthur Machen

Mein herzlicher Dank gilt meiner Monika, Ellen Norton, Dirk Pressert, Monika Arlik, Al Bundy, Ekel Alfred und der Freiheit des Wortes.

Vorwort

Als ich die zwölf Geschichten, die in diesem Buch versammelt sind, las, überkam mich das Gefühl, dass ich hier zu Hause bin. Als Phantastikfan und Liebhaber von Geistergeschichten ist das bei Michael Tillmann, der seit fünfunddreißig Jahren in diesem Genre tätig ist, für mich fast vorhersehbar. Doch diesmal gab es einen weiteren inhaltlichen Aspekt. Es ist das neue Spießertum, das in diesen Storys mal heiter, mal bissig und manchmal sehr provozierend die zentrale Rolle spielt. Durch den konkreten Bezug werden die Grenzen der klassischen Phantastik weit überschritten, wir sind bei der Anti-Wokeness-Phantastik angekommen.

Doch warum gibt es den Unmut gegen den modernen Zeitgeist bei Michael und mir. Sind wir reaktionär oder gar ewig gestrig?

Als ich das erste Mal vor Jahren vom Querdenken hörte, bezog sich dieses auf eine Sicht, die von der herkömmlichen Perspektive abwich, die Gedankenexperimente veranstaltete und gegebene Werte hinterfragte. Querdenken war für mich positiv besetzt, da hier ein Paradigmenwechsel möglich war, der meiner wenig angepassten Person als Weg sympathisch erschien.

Doch was passiert, wenn gefühlt fast jeder einen Paradigmenwechsel vornimmt, wenn Querdenken in eine festgefügte Richtung führt und zur Normalität, ja in vielen Kreisen sogar zur Voraussetzung für das gesellschaftliche Miteinander wird? Eine für mich fast absurde Begriffsumkehr, bei der neue Werte genauso spießig und festgefügt eingefordert werden, wie einst die alten.

Wo soll der Unmut seinen Platz finden? Michael Tillmann hat einen Weg gefunden, dies künstlerisch anspruchsvoll, pointiert und provozierend aufzugreifen. Er lässt Gespenster und deren Kollegen (wie zum Beispiel Kannibalen) antreten, die sich originell, aber kompromisslos gegen den Zeitgeist stellen. Ich will hier nicht die Themen der Geschichten vorwegnehmen, denn ihre Titel schüren die Neugier und machen Lust auf die Lektüre. Deshalb lasse ich mich hier nur über eine Geschichte exemplarisch aus.

Wir haben jahrzehntelang nicht gewusst, dass wir ein Problem haben – eine Weird Pub Story –, und es geht um Nichtraucherschutz. Als ehemalige Raucherin und nun jahrzehntelange Nichtraucherin liebe ich die Gemütlichkeit, mit rauchenden Freunden zusammenzusitzen. Meist riecht am nächsten Morgen meine Kleidung nach Tabak und ich hänge sie zum Lüften auf. Das erinnert mich an den gestrigen Abend, aber auch an meine Jugend, wo dieser Umstand normal war. Rauchen, ein ungesunder Genuss, der einte und politische Diskussionen bis zum Morgengrauen umrahmte. Es gab die Inszenierung von Weiblichkeit zum Beispiel bei Marlene Dietrich, oder die Zigarette danach und die Friedenspfeife nach einem Streit – heute weitgehend tabuisiert. Binnen dreißig Jahren ist das Rauchen in der Öffentlichkeit absolut geächtet und strengstens geregelt worden. Natürlich bleibt Rauchen ungesund, und die Gespenster sind, da eh schon tot oder halbtot, davon unberührt. Aber wie zweischneidig solche Themen sind, kann man erahnen, wenn man erfährt, dass Michaels Vater zuerst seinen Kehlkopf verlor und dann schließlich durch Lungenkrebs starb, Michael aber trotzdem quasi den Freiheitskampf der Raucher in die Diskussion bringt.

Provozierende Geschichten regen zum Nachdenken an. Es geht den Geistern im Buch nicht darum, Meinungen umzukehren, sondern sie zu überdenken. Laufen wir einem neuen Zeitgeist hinterher oder ist es wirklich die eigene Meinung, die hier gegen Gespenster kämpft. Das können wir uns bei jeder dieser Geschichten fragen.

Ellen Norten im Frühjahr 2025

Wir haben jahrzehntelang nicht gewusst, dass wir ein Problem haben – Eine Weird Pub Story

„Lost and far from home

Stranger in a strange land“

IRON MAIDEN

Feierabend. Auf den vorangegangenen beruflichen Besuchen dieses Vorortstadtteils einer Ortschaft im Ruhrgebiet hatte der junge Mann schon mehrmals die anachronistische Eckkneipe Alter Jagdhund mit ihren Butzenglasscheiben und ihrer messingbeschlagenen Tür links liegengelassen. Nie im Traum hätte er daran gedacht, sich auch nur zu überlegen, diese einmal zu betreten. Aber heute Abend gab es mal wieder einen Stromausfall in der U-Bahn, der nach der Einschätzung der Betreiber noch mindestens eine Stunde andauern würde, so dass jener Bursche hier quasi gestrandet schien. In einer Gegend, wo es keine Filiale einer US-Burger-Kette, ja noch nicht einmal eine Pizzeria, einen Fake-Chinesen oder eine billige Döner-Bude gab.

Man könnte ja mal auf die Karte der Kneipe schauen. Zumal es gerade anfing zu regnen. Er stieg die fünf von den Jahren abgerundeten Stufen hoch. Ja, es gab etwas zu essen. Günstige Hausmannskost. Da gerade eine Frau aus dem Lokal heraustrat, konnte er kurz den Geruch von Bratkartoffeln wahrnehmen. Es roch genauso wie bei seiner Mutter.

Er ließ die Frau vorbei und trat dann in die Schankstube ein. In diesem Moment erinnerte er sich, wann er zum letzten Mal eine solche Eckkneipe besucht hatte. Das musste damals in der Kindheit gewesen sein, als seine Mutter gerade im Krankenhaus lag und sein kochunfähiger Vater daher beschloss, mit seinem Jungen nach dem Patientenbesuch in der Wirtschaft an der Ecke zu Abend zu essen. Als kleiner Junge hatte er damals die Atmosphäre des Ortes als etwas Unheimliches wahrgenommen. Das dunkle Interieur. Die schweren Holzbalken. Das Klickern am Billardtisch. Der Biergeruch, so tief wie Moorschlamm. Der schwarze Hund des Wirts. Die fremden Männer, die Ritualen nachgingen, die er nicht kannte. Die Frau hinter der Theke mit dem extravaganten Ausschnitt.

Ja, so wie ihn der Geruch der Bratkartoffeln an seine Mutter erinnerte, so erinnerte das dunkle Ambiente des Wirtshauses den jungen Mann nun an seinen ersten Kneipenbesuch. Wenn die Mutter zu jener Zeit nicht krank gewesen wäre, so hätte sein Kinderhirn diesen Aufenthalt in einer Eckkneipe vielleicht positiver abgespeichert. Aber nach dem nervenaufreibenden Tag damals schienen die neuen Eindrücke einfach zu viel gewesen. Davon einmal abgesehen, dass seiner ganzen Generation solche Läden viel zu oldschool erschienen. Wobei das Wort oldschool ihnen auch schon wieder zu altbacken erschien. Wobei sie das Wort altbacken gar nicht kannten.

Er hoffte nur, dass man hier ein Paprikaschnitzel nicht noch immer rassistisch Zigeunerschnitzel nannte. Das hätte dann doch seinen Appetit ruiniert.

Neben dem Gefühl des Fremden und Unheimlichen aus der Vergangenheit gab es da noch etwas, was den Besucher störte. Benennen konnte er es aber (noch) nicht.

Es gab nur relativ wenige Gäste. Der Gestrandete setzte sich an einen freien Fenstertisch, bestellte ein Altbier, obwohl er in der Regel Cola ohne Kalorien trank, und entschied sich für zwei Spiegeleier mit Bratkartoffeln und kleinem Salat mit Essig und Öl. Aber natürlich bestellte er die Spiegeleier gut durch, weil er keine Salmonellen kriegen wollte. Sein Uropa hatte sich solche Sorgen nicht gemacht, der hatte jeden Morgen zwei rohe Eier noch frisch im Hühnerstall ausgetrunken. Schon wieder Erinnerungen. Unwirkliche Erinnerungen aus einer anderen, primitiveren Zeit.

Im Hintergrund hörte man derweil leise die alte Spukballade Es Ist Mitternacht, John! von Dieter Thomas Heck. Draußen begann der Regen gegen die Scheibe zu prasseln. Das Licht vorbeifahrender Autos brach sich in den Scheiben. Die Lampen wurden im Lokal eingeschaltet. Die funzelige Schirmchenleuchte über dem Tisch konnte als wirklich putzig beschrieben werden. Sie hatte noch richtige Glühbirnen und strahlte Wärme ab. Die einfach gerahmten Bilder von Bergleuten an den Wänden wirkten authentisch. Ein Blechschild mit der Aufschrift: Wer Bier trinkt hilft der Landwirtschaft.

Aber es gab nicht nur Bier. Eine Kreidetafel benannte den Cocktail des Tages: Drunken Terrorist mit echter Kamelmilch. Seltsam!

Und neben dem Fenster drei Autogrammkarten von Leuten mit Namen Hannes Wader, Friedrich Genscher und Götz George/Schimanski. Den Namen Hannes Wader hatte der Gast sogar schon mal auf einer dieser Langspielplatten bei seinem Großvater gelesen. Großvater hat die Scheibe in die Hand genommen und ganz bitter gesprochen: „Ich mochte den alten Hannes Wader früher wirklich sehr gerne. Besonders, wenn er umsonst auf Gewerkschaftsveranstaltungen sang. Es macht mich daher wirklich unendlich traurig, dass er sogar im hohen Alter nicht mehr gescheit geworden ist und immer noch an den Wahren Sozialismus glaubte, obwohl jeder Sozialismus, auch der Wahre, final zu Armut und gesellschaftlichem Zerfall führt, da niemand mehr Lust auf Arbeit und notwendigen Konkurrenzkampf hat.“

Und da war noch eine vierte Karte, die den Jungen dann gänzlich irritierte. Sie zeigte einen amerikanischen Ureinwohner mit französischen Namen. Er trug ein mit silbernen Knöpfen beschlagenes Gewehr. Wie passte das alles zusammen?

Es gab noch mehr Kuriositäten. Zum Beispiel eine Schwarzwälder Kuckucksuhr, wie sie sein Uropa auch gehabt hatte. Man hatte vergessen, sie aufzuziehen. Für einen kleinen Moment schlich sich versehentlich das Wort gemütlich in des jungen Mannes Denkkasten.

Nach dem ersten Schluck Alt überlegte er trotzdem wieder, was hier störte. Schließlich glaubte er, es gefunden zu haben. Er schnüffelte noch mal, um ganz sicher zu gehen. Dann ging er zielstrebig an die Theke, um sich zu beschweren. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich mir sicher bin, hier raucht jemand.“

Bruce Low intonierte gerade: Geisterreiter ziehen vorbei. Der dicke bis fette Wirt von mindestens sechzig Jahren mit der Halbglatze und goldenen Handkettchen machte ein erstaunlich resigniertes Gesicht, als er antwortete: „Junger Herr, das Problem ist bekannt. Das Problem mit dem Problem ist leider nur, wir hatten jahrzehntelang gar nicht gewusst, dass wir überhaupt ein Problem haben. Verstehen Sie? Früher war bekanntlich das Rauchen in solchen Läden erlaubt und gesellschaftlich voll und ganz akzeptiert. In den sechziger und siebziger Jahren zogen hier ständig dicke Rauchschwaden wabernd durch den Raum. Party jede Nacht. In den achtziger und neunziger Jahren wurde es etwas weniger, aber ausreichend Raucher gab es immer noch. Der Zigarettenautomat musste in guten Zeiten dreimal in der Woche aufgefüllt werden. Daher ist uns damals in all diesen Jahrzehnten das rauchende Gespenst nie aufgefallen.“

Er stellte ein abgetrocknetes Glas ins Regal und sprach weiter: „Ja, eine Totenhand hält die Zigarette. Ich sag Ihnen was: Der Zeitgeist ändert sich zwar, aber das ist unbedeutend, denn Jenseits des Zeitgeistes lauern die Gespenster. Und die geben sich frei ihren Trieben und Vorlieben hin. Oder bezeichnen Sie es ruhig als Laster.

Ein Schwager von mir, der hat im Soylent Green, seinem Pub in der Altstadt von D., ein Gespenst, welches vollbusige und/oder knackärschige Frauen derbe begrapscht. Das ist ein noch viel schlimmeres Problem, sag ich Ihnen. Über ein rauchendes Gespenst sehen die meisten Gäste weltmännisch hinweg. Viele merken es kaum. Nur junge Leute beschweren sich immer.“

Der unzufriedene Gast zog die Augenbrauen mürrisch zusammen und verkündete: „Also einen Bären lasse ich mir bestimmt nicht aufbinden. Ich kann Sie auch wegen der Raucherei beim Ordnungsamt melden. Das geht sogar online.“

Er fuchtelte mit seinem nagelneuen Handy herum.

Aus der Resignation im Gesicht des Gaststättenbetreibers wurde Verärgerung, aber auch Spott. „Junger Kerl, ich sag dir, ich bin selber Nichtraucher, weil mein Vater daran verreckt ist. Aber es geht nicht darum, was ich gut oder schlecht finde. Es geht auch nicht darum, dass ich Verbote grundsätzlich nicht mag. Ich kann an der Situation wirklich nichts ändern, selbst dann nicht, wenn ich wollte. Und die Jungs und Mädels beim Ordnungsamt wissen schon längst Bescheid. Stimmt das nicht, Heinrich?“

Heinrich saß auf dem nächsten Barhocker vor einem glänzenden Pils und einem Korn. Er drehte sich um, als er seinen Namen hörte. Er passte nicht ganz ins Ambiente. Heinrich trug ein frisch gebügeltes Hemd und eine Fliege wie früher Karl Lauterbach, bevor dieser zum allwissenden Corona-Papst mutierte und die Schwärzung von Protokollen befürwortete. Nach Beschau der zusammengezogenen Augenbrauen des Gegenübers, wandte er sich zum Wirt und fragte auch etwas arg resigniert: „Echt jetzt? Wieder ein junger Bursche, der sich über die Gewohnheiten unseres ältesten und totesten Gastes beschwert und mit dem Ordnungsamt droht? Ist denn die U-Bahn schon wieder ausgefallen? Egal, er soll morgen zu mir ins Rathaus kommen, Zimmer A 38, wenn er wirklich will. Die App haben wir abgeschaltet, zu viele junge Querulanten. Da kommen selbst die alten Opas nicht mit, die uns früher wegen der verschiedensten Dinge lange, lange Beschwerdebriefe geschrieben haben.“

Jugendlicher Zorn ergriff daraufhin den Fremden in einem fremden Stadtteil. „So eine Unverschämtheit! Das kann doch alles nicht wahr sein ...“

Der Gaststättenbetreiber stemmte die Hände in die Hüften und bebte augenverdrehend laut: „Ich bin das alles so leid. So fürchterlich leid. Jahrzehnte war alles in allerbester Ordnung. Party jede Nacht. Aber jetzt will jeder plötzlich die Welt verbessern oder Leute denunzieren. Ihr haltet euch für so superklug und moralisch. Wir sind nur die alten Männer, die Steinzeitmenschen. Wir Idioten können gar nicht verstehen, was euch antreibt. Die langhaarigen Hippies früher, die wollten zwar auch die Welt verändern, aber nur, um mehr Party machen zu können. Party jede Nacht. Ich bin es so leid mit euch. Schon George Orwell hat uns quasi vor Leuten wie dich gewarnt. Neulich gab’s im Fernsehen einen Bericht über den jungen Idioten, der aus Hobby schon über tausend Menschen wegen Falschparken angezeigt hat. So Leute hätten Pol Pot gefallen. Pol Pot war Diktator im Kambodscha. Killing Fields, falls du Geschichte in der Schule hattest?

Aber ich sag dir was: Wenn du uns enttäuschenderweise nicht glaubst, dann schau dort selber hinter in die Ecke neben der Eingangstür! Da hinter dem groben Garderobenschrank! Da wo gerade eine neue kaum sichtbare bläulichviolette Rauchsäule aufsteigt! Na los doch! Nur Mut!“

„Das könnte Ihnen so passen! Wenn ich das mache, dann mache ich mich doch zum Gespött der Leute und alle werden lachen! Das ist doch Ihr Plan, oder?“

Die Kellnerin mit dem tiefen Dekolleté kam gerade mit leeren Biergläsern zur Theke und fragte: „Ist denn die U-Bahn schon wieder ausgefallen?“, als der Wirt nun proklamierte: „Junge, hast echt Paranoia! Denkst, alle wollen was von dir? Dabei bist du es doch, der hier die traute Eintracht stört. Zu lange während Corona ohne Freundin gewesen? Dicke Eier? Obwohl statistisch gesehen habt ihr ja sowieso deutlich weniger Sex als wir in den siebziger und achtziger Jahren. Party jede Nacht. Und die Weiber haben heute gar keine Locken mehr um die Prumme. Und richtig saufen könnt ihr auch nicht mehr. Das kann ich als Wirt nur schmerzlich bestätigen. Echtes Luschentum. Aber lassen wir das. Ich bin es so leid. So schrecklich leid. Ich sage es dir jedenfalls hier vor dem amtlichen Zeugen und auch vor meiner besten Mitarbeiterin: Wenn du dort hinten in der Ecke einen normalen Menschen rauchend findest, dann wird niemand lachen. Nicht meine Gäste, nicht Heinrich vom Amt, nicht meine Angestellte mit der bemerkenswerten Bluse und auch ich nicht. Großes Indianerehrenwort, wenn man Indianer noch sagen darf? Nein, wenn da ein normaler Mensch sitzt, dann geht heute alles an Speis und Trank für dich auf Kosten des Hauses. Und weißt du was? Einen lecker Joint für den Nachhauseweg zur Mama (Du wohnst doch sicher noch bei Mama, oder?) besorge ich dir auch noch. Ist das ein Deal? Probier es einfach aus, wenn du dir so sicher bist bezüglich rauchender Phänomene, paranormaler, du großer Schlaumeier! Quatsch nicht! Handle! Komm!“

So eine rustikale Ansprache hatte der sonst so selbstsichere Junge noch nie im Leben gehört. Das war er nicht gewöhnt. Der feinfühlige Denunziant brüllte gar entsetzt: „Wie können Sie nur so beleidigend sein?“, und lief hektisch aus dem Alten Jagdhund hinaus in den strömenden Regen.

Dabei stürzte er auf der Treppe mit den abgerundeten Stufen, schlug sich ein Knie bitter auf und humpelte unter bitteren Tränen zur U-Bahn, während die App seines Handys piepte und verkündete, die Wiederinbetriebnahme des Bahnhofs nach Stromausfall würde noch mindestens eine weitere Stunde auf sich warten lassen. Und man bitte die Kunden um Verständnis!

Die Scheibe seines Handys hatte beim Treppensturz einen Sprung bekommen. Der Junge fluchte. Dann ging eine SMS seiner Mutter ein, wo er denn bliebe. Man mache sich Sorgen.

* * *

Währenddessen wurde es in der Kneipe immer gemütlicher und entspannter. Der Wirt gab sogar eine Lokalrunde. Heinrich aber zeigte sich mit dem Pils in der Hand etwas grüblerisch und fragten den edlen Spender: „Warst du nicht vielleicht etwas zu hart zu dem Jungen? Ich meine, es sind ja wirklich nicht alle so, wie es über diese Generation in den Nachrichten heißt. Manchmal glaube ich sogar, dass viele Jugendliche ganz anders sind, als sich die staatskonformen und mit Zwangsgebühren finanzierten Medien und unsere, hust hust, Volksvertreter denken. Ich gebe ja gar nichts mehr um öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die wollten uns einreden, Fridays for Future wäre damals eine Jugendbewegung gewesen. Dabei habe ich in der Straßenbahn mehrmals gehört, wie Jugendliche darüber sprachen, dass ihr Soziologielehrer sie dorthin getrieben hatte. Ganz genau das haben die Schüler gesagt. Das würde ich eidesstattlich beschwören.“

„Da hast du natürlich recht. Viele Jugendliche sind genauso enttäuscht und angepisst von den, hust hust, Volksvertretern und der wirtschaftlich- und gesellschaftlichen Lage wie wir alle. Die wollen auch neben Sicherheit und bezahlbarer Energie einfach nur etwas Lebensfreude ohne schlechtes Gewissen. Und wollen nicht als Kartoffel beschimpft werden. Aber der Typ gerade jedenfalls war ganz genauso, wie die Politiker es sich in ihren Träumen wünschen. Was soll ich machen? Ich hasse einfach Denunzianten.“

„Ja, Denunzianten sind der letzte Dreck!“, bestätigte Heinrich.

„Genau, Denunzianten sind ekelig. Aber davon einmal abgesehen, es geht gar nicht darum, was du oder ich denken. Was soll ich machen? Die Gespenster alter Zeit haben ihre ganz eigene Meinung. Denen geht jede Mode und Zeitgeist total am Arsch vorbei. Die scheißen darauf. Und daran können weder du noch ich etwas ändern“, brachte es der Wirt auf den Punkt, während er mit seiner Hand auf die nämliche Ecke deutete.

Aus der Ecke stieg weiter Rauch auf. Produziert durch graue, eingefallene, tote Lungen. Der Rauch stieg heute auf. Er würde morgen aufsteigen. Und er würde auch noch aufsteigen, wenn man das Wort Wokeness nur noch aus Geschichtsbüchern kannte und die U-Bahn wieder regelmäßig fuhr.

Ein so guter Mensch, man könnte kotzen ...

„An die Schuld glauben immer nur die Opfer.“

Peter Rudl, Aphoristiker

Da lag der nackte Junge im Schnee, auf der abseits gelegenen Lichtung zwischen den Tannen. Noch strahlte sein Körper etwas Restwärme ab. Noch schmolzen die kristallenen Flocken, wenn sie des Kindes Gesicht berührten.

Doch bald schon würden sie auf dem geschändeten kleinen Wesen liegenbleiben. Dann würde auch die Feuchtigkeit in seinen entsetzlich offenen Augen gefrieren. Langsam jedoch, denn sie blieben ja salzig. Schließlich würden die Augen aussehen wie die bereits blinden Sehorgane eines sterbenden Greises. Im Tod sind alle Augen gleich. Und der Tod hat keine Augen für das Leid der Sterbenden.

Doch da befand sich mehr auf dieser Lichtung. Auf einem Baumstamm hockte ein Geist, der so aussah wie das zerbrochene Kind. Nur ohne Blutergüsse, ohne Abschürfungen, ohne die Würgemale und ohne zerfetzten Schließmuskel.

Er hatte keine salzigen Tränen in den Augen, denn Geister weinen nicht, außer sie sind eine jammernde, irische Banshee.