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Wer war Jesus wirklich? Die Bibel verschweigt uns seine ersten 30 Jahre. Wovon wurde er beeinflusst? Was machte ihn zu diesem faszinierenden, inspirierenden Mann, der noch heute zahllose Menschen begeistert? In diesem Buch erfahren wir mehr über die unterschiedlichen spirituellen Traditionen, denen Jesus zwischen seinem 12. und 30. Lebensjahr begegnete, insbesondere dem Buddhismus und Jainismus, aber auch dem Hinduismus und dem Zoroastrismus. Alle diese sorgfältig recherchierten und plausiblen Einflüsse werden in einer spannenden Erzählung beschrieben, die sich am klassischen Entwicklungsroman orientiert und der spirituellen und humanen Entwicklung der Leserinnen und Leser dienen soll.
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Seitenzahl: 513
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0638-9
ISBN e-book: 978-3-7116-0639-6
Lektorat: Klaus Buschmann
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Ein Vorwort
das zum Verständnis des Buches nötig ist
Dieser Band ist der erste Teil einer Trilogie. Er beschreibt die Zeit, bevor Jesus als Prediger in Palästina auftrat.
Man könnte dieses Buch auch als einen historischen Entwicklungsroman bezeichnen. Die Figur Jesus von Nazareth entwickelte sich – wie jede/-r von uns – im Laufe seines Lebens immer weiter. Von daher hat es keinen Sinn, spätere Kapitel zuerst zu lesen. Ich empfehle dringend, die Reihenfolge der Abschnitte einzuhalten und Jesus bei seiner Entwicklung während der ersten dreißig Jahre seines Lebens, die dieser Band beschreibt, zu folgen.
Er kommt in verschiedene Kulturen mit unterschiedlichen Sprachen, daher kommen in diesen Kulturen auch unterschiedliche, aber typische, Begriffe und Bezeichnungen vor. Diese fett und kursiv gedruckten Begriffe sind in einem Glossar am Ende des Buches erklärt. Ich empfehle, diese zumindest beim ersten Vorkommen dort nachzuschlagen, denn nicht immer sind die Begriffe das, was wir vielleicht dahinter vermuten. Vermutlich vergessen wir beim Lesen die Bedeutung des einen oder anderen Begriffs auch wieder, daher sind diese Begriffe bei jedem Auftauchen fett und kursiv gedruckt.
Es gibt aber auch Begriffe, die zwar kursiv, aber nicht fett gedruckt sind. Das sind Namen, diese erscheinen nicht im Glossar, zum Beispiel der Name Jesus. Am Ende des Buches findet sich auch ein Personenverzeichnis.
Außerdem gibt es gelegentlich Fußnoten. Diese dienen zur Erläuterung eines Begriffs oder einer Tatsache, die nur an dieser Stelle von Interesse ist. Das können beispielsweise Hinweise auf eine Quelle oder ein Bibelzitat sein. Ich empfehle daher, auch die Fußnoten zu lesen, sie dienen dem Textverständnis. Alle Bibelzitate erfolgen gemäß der Lutherbibel 2017.
Dieser Band ist keine exakte Beschreibung des Lebens Jesu, dazu ist die Quellenlage, die wir haben, leider zu dünn. Ich habe mich aber bemüht, alle mir vorliegenden Quellen auf ihre Plausibilität zu prüfen, und nur die Berichte, die ich für plausibel halte, zu verwenden. Ziel war dabei nicht in erster Linie eine unterhaltsame Geschichte zu schreiben, sondern die Ideen und Neuinterpretationen, die durch Jesus in die abrahamitischen Religionen kamen, verständlich zu machen. Das ist etwas, das die Texte des Neuen Testamentes leider nicht leisten. Daher kann man diese Biografie durchaus als einen historischen Entwicklungsroman betrachten.
Selbstverständlich sind mir einzelne Fehlinterpretationen oder auch historische Ungenauigkeiten unterlaufen, obwohl ich mich bemüht habe, solche zu vermeiden. Für diese Fehler bitte ich um Verzeihung.
Es würde mich freuen, wenn die werten Leserinnen und Leser in meinem Buch nicht nur eine interessante Lektüre finden würden, sondern auch einige Denkanstöße, die ihrer spirituellen und humanen Entwicklung dienlich sind.
In einem zweiten Band wird die Zeit von Jesu 30. Lebensjahr bis zu seinem Tod im Jahre 96 beschrieben. Dieser zweite Band ist ab Jesu 34. Lebensjahr eine hypothetische Utopie, in dem er seine Idee von einem „Reich Gottes auf Erden“ in einem Ort in Kaschmir verwirklicht.
Vacha, den 24.09.2024
Horst Gunkel
Anna, die Großmutter Jesu
Ja, es war schon schwer, wenn man als Frau kinderlos blieb. Kinder waren schließlich die Lebensversicherung für die Zeit, in der man nicht mehr für den eigenen Lebenserwerb sorgen konnte. Dies galt natürlich insbesondere für Frauen. Diese gingen keinem Lebenserwerb nach, sondern führten den Haushalt, damals ein sehr mühsames Unterfangen, und erzogen die Kinder. Sollte der Ehemann sterben, was wurde dann aus seiner Frau, wenn sie keine Kinder hatte?
Für Anna galt das ganz besonders, denn ihr Ehemann Joachim war deutlich älter als sie, würde also vermutlich vor ihr sterben. Was aber würde dann aus Anna? Würde sie noch einmal eine Ehe eingehen können, wenn sie nicht mehr im gebärfähigen Alter war und damit auch keine Chance hatte, diejenigen großzuziehen, die sich im Alter um sie kümmerten?
Anfangs machte sie sich noch nicht allzu viel daraus. Sie war gerade einmal 15 Jahre alt, als sie von ihren Eltern Joachim versprochen worden war, einem Witwer, dessen erste Ehe kinderlos geblieben war, und der nun mit der viel jüngeren Ehefrau Anna durchaus noch die Chance hatte Kinder zu zeugen. Anna war – wie so viele Mädchen – in diese Ehe hineingeschlittert, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. Ja, sie freute sich, obwohl Joachim so viel älter war. Denn er war ein gutmütiger Mann, nicht so ein Haudegen oder grobschlächtiger Kerl, der seine Frau im Suff verprügelte. Außerdem galt man damals als richtig erwachsen, wenn man verheiratet war.
Joachim war nicht nur ein lieber Kerl, sondern auch ein zärtlicher Liebhaber, also genoss sie die Nächte mit ihm. Aber dann war da die Sache beim Wäschewaschen am Bach. Wie jeden Mittwoch war sie dort, wusch die Wäsche und legte sie zum Bleichen aus. Natürlich waren auch zahlreiche andere Frauen da.
„Na, du bist nach fast einem Jahr Ehe noch schlank wie eine Gerte! Dein Joachim ist doch wohl schon zu alt für die nächtliche Begegnung?“, fragte Esther, eine Nachbarin.
„Nein“, wies Anna diese Frage brüsk zurück, „alles ist in Ordnung – und ausgesprochen angenehm.“
„Angenehm vielleicht, aber ist es auch effektiv? Man macht das ja schließlich nicht nur zum Spaß, sondern auch, um Kinder zu bekommen, die einen im Alter unterstützen und am Leben erhalten können. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass es vielleicht an Joachim lag, dass seine erste Ehe kinderlos blieb?“
Das traf Anna wie ein Schlag. Nein, darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Aber jetzt, wo der Gedanke in der Welt war, schien er gar nicht so unlogisch. An diesem Tag hatte das unbesorgte Leben Annas ein Ende. Sie war zwar noch sehr jung, aber der Schatten des Gedankens der Armut im Alter ließ sie nicht mehr los. An ihrem zweiten Hochzeitstag sprach sie das Thema erstmals an. „Es ist so schön mit dir, Joachim. Es ist fast so, wie ich mir es immer erträumt habe. Nur schade, dass wir noch keine Kinder haben.“ Joachim sagte nichts – auch nichts Abweisendes. So fasste sie etwas mehr Mut: „Merkwürdigerweise hat dir deine erste Frau auch keine Kinder geboren. Ist doch komisch, oder?“
Joachim kniff die Lippen zusammen: „Da fällt mir ein, Samuel hatte mich gebeten, ihm heute mit den Schafen zu helfen.“ Kaum, dass er es ausgesprochen hatte, verschwand er und kam erst lange nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Joachim roch nach Wein. Anna stellte sich schlafend. Von diesem Tag an trugen beide an dem, was sie wussten, jedoch nicht auszusprechen wagten, wie an einer Bürde. Dies sollte für einige Jahre so bleiben.
Dann hörte Anna – wieder einmal beim Wäschewaschen – von einer Kräuterfrau, die magische Kräfte zu haben schien. Es gab da eine Behandlung, die wirklich alle unfruchtbaren Frauen, soweit sie relativ regelmäßig ihre Tage hatten, binnen eines Monats zur Schwangerschaft verhelfen konnte. An diesem Tag sprach Anna erstmals seit Langem wieder das leidige Thema an. „Du, Joachim, ich bin ganz glücklich! Ich habe da etwas gehört. Du machst dir doch auch Sorgen, dass ich scheinbar keine Kinder bekommen kann. Das kann von einer Blockade kommen, habe ich gehört. Und jetzt, mein Lieber, die gute Nachricht: In Sepphoris1 gibt es eine Kräuterfrau, die allen Frauen helfen kann, die regelmäßig ihre Tage haben, und die habe ich doch! Es gibt da ein Ritual und einen Kräutersud, der hilft. Es ist auch gar nicht teuer!“
Joachim dachte angestrengt nach. Das könnte Schwindel sein. Aber es war nicht teuer. Wenn er ihr das versagte, wo es doch ihr Herzenswunsch war, wäre klar, dass er es war, der keine Kinder zeugen konnte. Nach langem innerlichen Abwägen antwortete er ihr: „Anna, ich glaube, das ist ein Schwindel. Ich glaube nicht, dass dir das helfen wird, aber wenn du es unbedingt möchtest, dann gehe hin.“
Anna fiel ihrem Mann um den Hals: „Du bist so lieb! Ich sag Bescheid, dass wir kommen.“
Jetzt stutzte Joachim: „Wir, wieso wir? Ich werde dazu nicht gebraucht. Du bist es, die die Kinder austragen muss.“
Anna fürchtete schon, Joachim würde einen Rückzieher machen, aber sie konnte ihn beschwichtigen, ohne lügen zu müssen: „Aber das ist doch nichts Heidnisches. Selbstverständlich müssen die Eheleute zu Beginn diese Rituals erst JHWH gemeinsam um Unterstützung bitten, sonst kann es doch nicht funktionieren. Wir sind schließlich gottesfürchtige Juden!“ Da konnte Joachim nun wirklich nicht widersprechen, also fügte er sich, obwohl er sicher war, dass das Ritual keinen Erfolg haben würde, ach was, keinen Erfolg haben konnte! Aber es würde ihm einige Wochen Ruhe verschaffen, um nachzudenken.
Am folgenden Vollmondtag besuchten sie also die Kräuterfrau in Sepphoris. Zunächst gingen alle drei in den Tempel. Die Kräuterfrau opferte ein Huhn, dann sprach sie einen rituellen Text, den Anna und Joachim nachsprachen, in dem sie JHWH für alles dankten und sich anschließend mit ihrer ganz besonderen Bitte an ihn wandten. Dann ging es in die Hütte der Kräuterfrau, wo der Sud gekocht wurde. Während die Brühe vor sich hin brodelte, hielt die alte Frau noch eine Ansprache. Anna musste den Sud völlig austrinken. Am nächsten Tag würde sie Fieber bekommen, das drei Tage anhalten würde. Während dieser Zeit bekäme sie vorzeitig ihre Periode. Drei Tage nach dem Ende des Fiebers hätten die beiden ihre ehelichen Beziehungen wieder wahrzunehmen, und zwar zwei Wochen lang täglich, wenn sie wollten auch länger. In diesen vierzehn Tagen aber würde Anna schwanger, das sei sicher – jedenfalls, wenn es an ihr läge. Dann führte die Kräuterfrau eine Reihe von Belegen an und verwies auf bekannte Gestalten aus der jüngeren Vergangenheit, sodass ein unvoreingenommener Beobachter gesagt hätte: „Dieser Beweisgang ist schlüssig!“
Beide Eheleute hofften inbrünstig, dass das, was sie für ausgeschlossen hielten, doch einträfe. Anna bekam das Fieber und vorzeitig die Regel, wie die Kräuterfrau es vorausgesagt hatte. Die beiden taten alles, was die Kräuterfrau verlangt hatte. Doch als vier Wochen später Anna wieder blutete, war ihnen klar, was eigentlich schon zuvor klar war. Beide wussten, dass es nun zu einer Aussprache kommen musste.
Joachim machte, wie es sich für einen Mann gehörte, einen reiflich überlegten Vorschlag: „Ich leide unter der Tatsache, dass wir keine Kinder haben genauso wie du. Andererseits haben wir sowohl JHWH gebeten als auch die Sache mit den Kräutern ausprobiert. Das mit den Kräutern hat nicht funktioniert. Aber ich habe in der Nacht nach unserem Tempelbesuch im Traum eine riesige Hand mit fünf erhobenen Fingern vor mir gesehen. Im Hintergrund habe ich Menschen säen und ernten gesehen, und zwar fünf Mal. Ich denke, das bedeutet fünf Jahre. Die Hand, die ich sah, ohne dass ein Gesicht zu sehen war, denke ich, war die Hand JHWHs. Ich denke, das kann zweierlei bedeuten, entweder, dass wir fünf Kinder bekommen, oder dass es fünf Jahre dauert, bis wir ein Kind bekommen. Anna, ich weiß, du wirst ungeduldig, daher lass uns heute gegenseitig das Versprechen geben, uns einfach fünf Jahre Zeit zu geben. Heute in fünf Jahren müssen wir – falls wir bis dahin keine Kinder haben – gemeinsam alles erörtern, was dann zu tun ist, tabulos, aber gemeinsam. Ich bitte dich, meine geliebte Anna, um diese fünf Jahre.“
Anna war glücklich. Das war besser als ihr eigener Vorschlag. Und er kam von ihm! „So soll es sein, Joachim. Ich werde dir eine gute, gehorsame Ehefrau sein und alles tun, was dich glücklich macht. Wenn ich denn wirklich erst nach fünf Jahren schwanger werden sollte, sei es drum! Ich verspreche dir sogar sieben Jahre zu warten, bevor wir das machen, was du angekündigt hast: alles erörtern, tabulos, aber gemeinsam. Heute in sieben Jahren soll das Gespräch stattfinden.“ Dann fielen sich beide in die Arme und küssten einander innig. Sie hatten Frieden und Zeit. Aber beide wussten auch, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt in Ruhe nach einer Lösung suchen konnten, die möglichst auch für die andere Seite zumutbar war.
So vergingen die Jahre, es waren gute Jahre. Anna war Joachim eine fleißige und folgsame Ehefrau. Joachim war Anna ein liebevoller Gemahl. Allmählich war es auch kein Gesprächsthema mehr, dass die beiden keine Kinder hatten, sie schienen sich damit arrangiert zu haben. So vergingen die Jahre. Es waren schon mehr als fünf Jahre vergangen, wie Joachim vorgeschlagen hatte, aber noch nicht die sieben, die ihm Anna zugestanden hatte, als sie ihren dreißigsten Geburtstag beging. Als sie an ihrem Ehrentag die Augen öffnete, sah Joachim zu ihr herab, dann küsste er sie und sagte: „Ich wäre so weit, das Gespräch zu führen, das wir uns versprochen haben. Bist auch du bereit?“
Anna schaute verdutzt. Damit hatte sie heute nicht gerechnet. Sie überlegte einen Moment und antwortete: „Du hast mir damals von einer Hand erzählt, womöglich von JHWHs Hand. Bevor wir bei der Kräuterfrau waren, waren wir im Tempel und haben IHN um seinen Segen gebeten. Ich denke, es wäre nur angemessen, wenn wir auch vor diesem Gespräch in den Tempel gingen und JHWH bitten, dass er seine Hand über uns hält. Lass uns daher den Sabbat abwarten, gemeinsam im Tempel beten und dann das machen, worauf wir uns vorbereitet haben, mein Liebster.“
Sie küsste Joachim auf den Mund. Dieser sah sie an. Was hatte er doch für eine liebe Frau. Er antwortete: „Ja, meine Liebe, du hast recht, wir wollen uns mit dem Segen des Allmächtigen in unser wichtiges Gespräch begeben.“
So geschah es. Mit der Gewissheit, Gottes Segen zu haben, gingen sie in das Gespräch. „Welche Idee hast du, lieber Joachim?“ Selbstverständlich überließ Anna es ihm, den ersten Vorschlag zu machen.
„Liebe Anna, es scheint mir eindeutig zu sein, dass ich es bin, der keine Kinder zeugen kann. Dies scheint JHWHs Wille zu sein, sein Wille geschehe im Himmel wie auch auf Erden. Wir beide, du und ich, du vermutlich länger als ich, denn du bist viel jünger, brauchst Kinder, die sich im Alter um dich kümmern. Die kannst du aber nur von einem zeugungsfähigen Mann bekommen. Ich andererseits will dich an keinen anderen verlieren. Wir brauchen also einen Mann, dessen Samen du empfangen kannst und der dann aus deinem Leben verschwindet, einen Mann, zu dem du keine emotionale Bindung hast. Es muss ein Mann sein, den nicht du aussuchst, sondern ich, damit keine Eifersucht in mir aufsteigt. Ein Mann, auf den ich mich verlassen kann, dass er es mir zuliebe tut und nicht, um dich an ihn zu binden. Er muss dann weg, darf nicht mit dem Kind zusammen sein und vor allem: Es darf niemand erfahren. Denn wenn es herauskäme, würdest du gesteinigt, wie es mit Ehebrecherinnen geschieht. Ich wäre gezwungen, dich zu verleugnen und zu verstoßen, sonst würde ich von allen gemieden. Liebe Anna, das ist mein Vorschlag. Ich kenne auch einen Mann, dem ich vertraue und der alle Kriterien erfüllt.“
Annas Gedanken waren in eine ähnliche Richtung gegangen, aber sie hatte furchtbare Angst gehabt, dies auszusprechen. Umso erleichterter war sie, als sie das von ihm hörte, von ihrem geliebten und feinfühligen Ehemann. Dann sagte sie: „Mein Vorschlag wäre ein etwas anderer gewesen, aber deiner ist noch besser. Dennoch wird es Gerede geben, wenn ich überraschend doch schwanger werde. Am Sabbat, als wir im Tempel waren, hatte ich das Gefühl, als würde ein Engel mir Mut einflößen. Was hältst du davon, wenn ich herumerzähle, ich hätte eine Engelserscheinung gehabt. Der Engel hätte mir verkündet, dass ich übers Jahr schwanger würde?“
„Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee, meine Liebe! So machen wir das. Ich bespreche alles mit meinem Vertrauten, dem Erzeuger unseres Kindes, und du erzählst von deiner Engelserscheinung!“
Und sie taten es, wie sie sich das vorgenommen hatten. Joachim zog für ein paar Tage mit dem Esel weg, um alles vorzubereiten, und Anna wurde in den nächsten Tagen nicht müde, überall von ihrer Erscheinung zu reden. Sie vergaß aber auch nicht, in den Tempel zu gehen und um Segen für ihr Vorhaben zu bitten.
Als Joachim von seiner kurzen Reise zurückkehrte, wurde er von Nachbarn begrüßt: „Du glaubst gar nicht, was deine Frau erzählt!“
„Mir völlig egal, Gevatter, Ihr glaubt nicht, was mir passiert ist. Nur eine Tagesreise von hier entfernt erschien mir in der Nacht ein Engel und verkündete mir, dass ich auf meine alten Tage noch Vater werde!“
Natürlich ging die Nachricht vom „doppelten Engelswunder“ auch in den Nachbardörfern umher, obgleich man doch stark anzweifelte, dass die beiden tatsächlich noch Kinder bekommen konnten. Einige Zeit später, kurz bevor Anna ihre fruchtbaren Tage hatte, brachen die beiden mit einem Esel und etwas Gepäck auf, um angeblich einen entfernten Onkel Joachims zu besuchen. In Wirklichkeit aber gingen sie in eine abgelegene Gegend, wo ein einsamer Schäfer seine Schafe hütete. Es gab dort nur zwei Hütten, die des Schäfers und eine zweite, in der Joachim und Anna für ein paar Tage wohnten. Zur Abendstunde gab Joachim seiner Frau einen Kuss, dann stand sie auf und ging für eine Stunde in die andere Hütte. Es war etwas, wovon glücklicherweise niemand erfuhr. Der Plan war gelungen.
Monate danach wurde es im Dorfe allmählich klar: Der Engel hatte die Wahrheit verkündet, Anna bekam allmählich ein Bäuchlein. Neun Monate nach dem „doppelten Engelswunder“ entband Anna von einer Tochter. Auch der Rabbiner im Tempel verkündete, dass ein Wunder geschehen war: „Die Prophezeiung in Annas Namen hat sich erfüllt!“ Das war in aller Ohren besonders bedeutungsvoll, denn im Hebräischen bedeutet Anna: „JHWH hat sich erbarmt.“
Die Eltern gaben dem Säugling den Namen Maria. Sie wussten damals noch nicht, dass die vielleicht berühmteste Frau der Weltgeschichte erschienen war.
Maria wuchs heran, doch schon früh verstarb ihr sozialer Vater (vom biologischen Vater war nichts bekannt, so wie das Anna und Joachim planten). Anna heiratete nach einiger Zeit erneut einen Mann namens Kleophas und hatte mit ihm wohl auch weitere Kinder, was allerdings nicht überliefert ist.
1 Ein etwas größerer Ort als Nazareth, nur gut eine halbe Stunde von Nazareth entfernt. Hier gab es auch eine Synagoge.
Maria ist schwanger
Wir machen einen weiten Sprung, denn über die Kindheit Marias ist kaum etwas bekannt. Sie ist die Tochter der Anna. Selbstverständlich hält sie Joachim für ihren Vater. Sie kannte diesen Vater kaum, denn er starb schon, als sie noch ein kleines Kind war. Nachdem Anna den Kleophas geehelicht hatte, verlief ihr Leben einige Zeit recht unspektakulär. Aber dann …
Maria war gerade dreizehn geworden, als sie völlig aufgelöst zu Hause erschien. Kleophas war zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen. Maria warf sich in die Arme ihrer Mutter und heulte wie ein Schlosshund. Es war klar, dass etwas sie völlig erschüttert haben musste. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen.
Das Kind ist in der Pubertät, da können schon einmal große Gefühle und Abgründe von Enttäuschungen aufkommen, sagte sie sich. Zu ihrer Tochter sprach sie: „Mein liebes Kind, was immer es ist, du kannst dich mir anvertrauen. Ich bin nicht nur deine Mutter, sondern auch deine beste Freundin.“ Vielleicht hätte sie ihrer Mutter wirklich anvertraut, was geschehen war, wenn nicht in diesem Moment gerade ihr Stiefvater hereingekommen wäre. Etwas unsensibel sagte er: „Na, was ist denn hier los? Unsere Maria hat doch nicht etwa den ersten Liebeskummer?“
Maria riss sich von ihrer Mutter los und herrschte Kleophas in einer Weise an, wie es für Kinder gegenüber ihren Eltern äußerst unangemessen war: „Du verstehst überhaupt nichts, nichts verstehst du!“ Sie rannte weg. Als sie nach einigen Stunden noch nicht wieder aufgetaucht war, begann Anna ihre Tochter zu suchen. Nachdem diese Suche ihr anfänglich nicht weiterhalf, überlegte sie. Ihr kam eine Idee. Am Vortag hatte eine Katze in der kleinen Scheune am Wegrand Junge zur Welt gebracht. Das könnte Marias Zufluchtsort sein. Tatsächlich fand sie das Kind dort und nahm ihre Tochter in die Arme. Noch immer liefen Tränen über Marias Gesicht. Lange saßen sie beisammen. Ob sie ihrer Mutter zu diesem Zeitpunkt oder später erzählte, was vorgefallen war, ist unbekannt. Ebenso alles, was in den nächsten Tagen und Wochen geschah.
Allerdings wurde sowohl Maria als auch ihrer Mutter in den nächsten Wochen klar, dass das Befürchtete wirklich eingetreten war: Maria war schwanger.2
Wie die Schwangerschaft eingetreten war, ist unbekannt. Das Einzige, was ziemlich sicher erscheint, ist, dass es nicht der Heilige Geist war, der das Mädchen geschwängert hatte. Von verschiedenen Möglichkeiten scheinen mir diese die plausibelsten:
Maria traf sich mit einem Jungen zu ersten Zärtlichkeiten, dann geriet die Sache außer Kontrolle und er vergewaltigte sie.Es könnte sich auch um eine Bande gehandelt haben, die das junge Mädchen in ihre Gewalt brachte und vergewaltigte.Es ist bekannt, dass Maria sehr oft in den Tempel ging, möglicherweise wurde sie auch von einem Priester missbraucht.Das sind sicher nur Mutmaßungen, wenn auch diejenigen, die mir als die plausibelsten erscheinen.
Natürlich taten Anna und Maria alles, was in ihrer Macht stand, damit Marias Schwangerschaft erst einmal nicht bekannt wurde, denn schwangeren Mädchen drohte die Todesstrafe durch Steinigung. „Eines ist vor allem wichtig“, hatte Anna ihrer Tochter eingebläut, „dass erst einmal niemand – wirklich kein Mensch! – von deiner Schwangerschaft erfährt. Inzwischen kümmere ich mich um einen Ausweg. Ich habe da bereits eine Idee.“
Anna wusste aus ihrer Erfahrung, welches Problem es sein konnte, wenn man keine Kinder hatte. Sie wusste auch, wie es war, wenn Männer oder Frauen ihren Partner verlieren und keine Kinder hatten. Sie suchte in Nazareth nach einem möglichen Partner und hatte tatsächlich bald jemanden im Auge. Die Verhandlungen mussten natürlich in aller Stille geführt werden, denn niemand durfte von Marias Schwangerschaft erfahren.
Anna konnte den Zimmermann Josef überzeugen, dass das seine Chance war. Josef war jetzt ungefähr 40 Jahre alt und Witwer, seine Frau war an Kindbettfieber gestorben. So wurden Anna und Josef handelseinig: Er würde die Verlobung mit Maria bekannt geben. Er würde sie heiraten und somit Marias Steinigung verhindern. Zwar würde er einen Balg aufziehen, aber das wüsste keiner außer Maria, Anna und er selbst. Der besondere Vorteil für ihn war: Er bekäme nicht nur eine neue Ehefrau, sondern dazu noch eine so junge, wie es für einen Mann seines Alters unter normalen Umständen praktisch nicht möglich war.
Als Anna ihrer Tochter von der Abmachung erzählte, war diese überglücklich. Natürlich nicht deswegen, weil sie einen so viel älteren Mann bekam, sondern weil damit ihr Leben gerettet war. An diesem Abend ging Maria noch einmal zu ihrer Mutter und umarmte sie in Dankbarkeit: „Mutter, ich bin so froh und glücklich darüber, was du für mich getan hast. Und weißt du: Ich glaube, das wird ein ganz besonderes Kind.“
„Ganz bestimmt“, sagte sie zu ihrer Tochter, dabei dachte sie: Jedes Kind ist ein ganz besonderes, wenn wir es dabei unterstützen sich zu dem zu entfalten, was sein höchstes Potenzial ist.
Das Kind wurde wirklich etwas ganz Besonders!
2 Die Bibel bietet uns hier den Mythos von der Jungfrauengeburt an, um die Göttlichkeit Jesu zu unterstreichen. Dieser Mythos ist aber offensichtlich der übernommene Geburtsmythos der indischen Gottheit Krshna aus dem Atharvaveda, dort heißt es: „Gebenedeit seist Du, Davanaki, unter den Frauen … Du bist ausersehen zum Werke der Erlösung … Jungfrau und Mutter, wir grüßen Dich, Du bist unser aller Mutter, denn aus dir wird der Erlöser geboren. Du sollst ihn Krshna nennen.“ (zitiert nach Holger Kersten: Jesus lebte in Indien, München: Knaur 1984, S. 114). Krshna gilt den Hindus als der Sohn des Schöpfergottes Brahma.
Die Geburt Jesu
Die Weihnachtsgeschichte ist allgemein bekannt. Sie ist allerdings ein Mythos. Sie hat schlicht nicht stattgefunden. Natürlich ist Jesus geboren worden, aber er ist eben natürlich geboren worden. Die Sache mit der Jungfrauengeburt3 ist ein netter Mythos, an den wohl heute nur die wenigsten glauben. Im letzten Kapitel wurde eine mögliche Alternative dargestellt.
Aber auch der Geburtsmythos4 von der Reise der hochschwangeren Maria auf einem Esel nach Bethlehem wegen einer Volkszählung ist ein Mythos.5 Anlass dieser Reise soll eine Volkszählung („Schätzung“) auf Befehl von Kaiser Augustus gewesen sein. Diese Volkszählung gab es nicht. Das Lukasevangelium wurde zwischen 60 und 85 n. Chr. verfasst, der Evangelist kannte Jesus nicht und war auch keiner seiner Jünger. Er bezieht sich also bei seinem Bericht auf das, was er gehört hat und vielleicht auch auf eigene Interpretationen. Anfänglich stammten die meisten Anhänger Jesu aus dem jüdischen Volk. Für sie galt das, was im Tanach (im Prinzip identisch mit dem Alten Testament) steht, als das Wort Gottes. Dort ist das Erscheinen des Messias angekündigt, allerdings in der „Stadt Davids“, das ist Bethlehem. Nun stammt Jesus6 allerdings aus Nazareth. Man brauchte also einen Vorwand, seine Geburt nach Bethlehem zu verlegen. Ein möglicher Anlass dazu könnte ein Zensus sein. Ein solcher fand wohl unter Quirinius, dem römischen Statthalter in Syrien, statt, dieser war von 12 bis 6 v. Chr. Statthalter, aber eben nicht zur Zeit Jesu. Selbstverständlich gab es dabei keine Pflicht in seinen Geburtsort zurückzukehren, wozu auch? Bei den anderen drei Evangelisten erscheint diese Szene nicht. Lukas gilt als der poetischste der vier Evangelisten. Die Sache mit dem Kind in der Krippe ist in der Tat eine anrührende Geschichte, ein schöner Mythos.
Das Ganze hat natürlich mit dem Termin7 Weihnachten, mit dem 25. Dezember, nichts zu tun. Weihnachten wurde vielmehr auf den 25. Dezember gelegt, weil dies im Römischen Reich der höchste Feiertag war: „Solinvictus“, der Tag der „unbesiegten Sonne“, also die römische Sonnwendfeier. Die Christen feierten Weihnachten erstmals im Jahr 361, damals schickte sich das Christentum gerade an, in Rom Staatsreligion zu werden. 50 Jahre vorher – im Jahr 313 hatte Kaiser Konstantin mit dem Toleranzedikt von Mailand die offizielle Christenverfolgung beendet, 380 unterzeichneten die beiden römischen Kaiser (Valentinian II. von Westrom und Theodosius I. von Ostrom) das Dekret, welches das Christentum zur Staatsreligion machte. Und so deutete man den heidnischen Feiertag „Sol invictus“ einfach um zu Jesu Geburt, was nahelag. Denn die Christen bezeichneten Jesus als „Licht der Welt“. Er war derjenige, der durch die Auferstehung den Tod besiegt hatte, da kam das Fest der Wiedergeburt der Sonne im Jahreszyklus sehr gut zupass.
Dass es zur angeblichen Geburtszeit Jesu weder einen Kometen noch eine eventuell damit zu verwechselnde Sternenkonstellation gab, passt nur allzu gut ins Bild.
Noch ein Mythos rankt sich um die Geburt Jesu, nämlich die des Kindermordes von Bethlehem, den König Herodes angeordnet haben soll, um Jesus zu töten, weil er ihn angeblich für einen Thronanwärter in der Nachfolge Davids hielt.8 Die Geschichte kommt bei Matthäus als einzigem Evangelisten vor. Sie ist augenscheinlich nicht richtig. Zum einen setzt sie voraus, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, was, wie wir gezeigt haben, nicht korrekt ist. Außerdem starb König Herodes bereits im März des Jahres 4 v. Chr. Auch der jüdische Historiker FlaviusJosephus, der im Jahre 94 n. Chr. die „Jüdischen Altertümer“ (Antiquitates Iudaicae), ein grundlegendes historisches Werk über das Judentum, verfasste, erwähnt einen Kindermord nicht.
Vorlage für den Mythos des „Kindermordes von Bethlehem“ dürfte eine Geschichte des Alten Testaments gewesen sein. Damals habe der ägyptische Pharao alle Kinder der Juden töten lassen,9 um das versklavte jüdische Volk demografisch zu schwächen. Damals soll Moses dem Kindermord entgangen sein.10 Auch dieser Kindesmord ist fraglich, denn er ist nur durch das Alte Testament belegt. Der Autor der „fünf Bücher Mose“ soll Moses selbst gewesen sein.
Die heutige Bibelwissenschaft geht davon aus, dass die fünf Bücher Mose eine Sammlung von Schriften verschiedener Autoren sind.
3 „Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ (Lk 1,28)
„Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.“ (Lk. 1,30–31)
4 „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.“ (Lk 2,1–6)
5 Die Geburt im Stall mit Hirten erinnert stark an die zu Jesu Zeit bekannte Geschichte von Mithras, der in einer Grotte geboren und dann von Hirten besucht wurde. Der Mithraskult war eine zu Jesu Zeiten im Römischen Reich verbreitete Religion, die wiederum auf die indoarische Gottheit Mitra des Rigveda zurückgeht.
(vgl. Wikipedia (2.10.2024: https://de.wikipedia.org/wiki/Mithras)
6 Die Kreuzinschrift I.N.R.I. bedeutet „Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum“, Jesus von Nazareth, König der Juden.
7 Dieser Termin harmonisiert auch nicht besonders gut mit dem katholischen Feiertag Mariä Empfängnis am 8. Dezember.
8 Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. (Mt 2,16)
9 Da gebot der Pharao seinem ganzen Volk und sprach: Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil, aber alle Töchter lasst leben. (2 Mo 1,22)
10 Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein. (2 Mo 2,1–6)
Der Knabe Jesus
Über die Kindheit Jesu ist nichts Gesichertes bekannt. Was wir wissen, ist das, was die vier Evangelisten des Neuen Testaments berichten, und das, was in apokryphen Schriften steht. Ich übernehme hier zunächst einige Berichte11 aus dem Kindheitsevangelium nach Thomas.
Jesus dürfte gerade fünf Jahre alt gewesen sein, da spielte er mit einigen Knaben in einer früheren Lehmgrube. Die Jungen formten aus dem Lehm verschiedene Figuren, die unterschiedliche Vögel darstellen sollten. Da kam der Sohn des Hohepriesters Annas des Weges und tadelte die Knaben, denn es sei Sabbat und daher nicht zulässig Handarbeiten zu betreiben. Während die anderen Jungen betreten dreinschauten, ging Jesus in die Offensive: „Du Dummkopf, das Verbot bezieht sich doch auf Arbeiten und nicht auf Kinderspiele. Ihr solltet euch schämen, meine Freunde so anzuschnauzen!“ Annas war ungehalten und schickte sich an, die Lehmfiguren niederzutrampeln. Jesus aber soll – so schreibt Thomas – in die Hände geklatscht und gerufen haben: „Fliegt davon!“
Selbstverständlich wurden die Lehmvögel augenblicklich lebendig und erhoben sich in die Lüfte, um sich in Sicherheit zu bringen. Annas lässt das allerdings nicht auf sich sitzen und zerstörte in der Folge die Tümpel, die die Feuchtigkeit für die Lehmgruben lieferten. Das wiederum hatte zur Folge, dass Jesus ihn verflucht, worauf der Verfluchte laut dem Autor dieser Schrift „verdorrt“. Dies wurde später so interpretiert, dass Jesus ihn durch den Fluch tötete.
Auf dem Rückweg vom Bach waren die Knaben noch ziemlich aufgebracht, ein anderer Junge lief an Jesus vorbei und rempelte ihn an, worauf Jesus auch diesen verfluchte. Der Verfluchte starb. Als Jesus nach Hause kam, stellte ihn Josef zur Rede und machte ihm klar, dass er seine übernatürlichen Fähigkeiten nicht dazu benutzen dürfe, anderen zu schaden oder gar sie zu töten.12 (Dies ist wohlgemerkt nur der Bericht Thomas’ des Israeliten, ihr Wahrheitsgehalt ist meines Erachtens mit Sicherheit nicht höher als der der vier anerkannten Evangelisten.)
Von den besonderen Fähigkeiten des Knaben hatte auch der Lehrer Zachäus gehört. Er beschloss, dem Knaben Weisheit zu vermitteln. Jesus wies dessen Versuche scharf zurück, für ihn jedoch endete die Episode nicht tödlich. Der Zurückgewiesene bekannte in seiner Verzweiflung hingegen, dass Jesus entweder „ein Gott oder ein Engel oder was soll ich sagen – ich weiß es nicht“ sei.
Dennoch scheinen die Ermahnung des Josef und das Auftreten des Zachäus nicht ohne Auswirkungen geblieben zu sein, denn der Autor dieses apokryphen Textes lässt Jesus nunmehr verkünden, er werde darauf hinwirken, dass „die Blinden sehen und die Törichten verständig werden“. Nun wirkte Jesus ein Wunder und die Geschädigten werden wiederbelebt, so berichtet Thomas der Israelit.
Laut dem Kindheitsevangelium nach Thomas führte das bis dahin Berichtete dazu, dass zum einen alle angerichteten Schäden behoben wurden, zum anderen wagte es niemand „von da an, ihn wütend zu machen“.
Als Jesus etwa sieben Jahre alt ist, spielten die Kinder auf den Flachdächern von Nazareth, dabei stürzte der Knabe Zenon vom Dach und blieb tot liegen. Andere Kinder beschuldigten Jesus, er habe Zenon vom Dach geschubst. Er wurde daraufhin von den Eltern des Knaben zur Rede gestellt. Er rief Zenon als seinen Zeugen auf, indem er ihm zurief: „Erwache.“ Tatsächlich erwachte dieser und bekannte, er sei aus eigener Unachtsamkeit vom Dach gestürzt.
Als Jesus acht Jahre war, beschloss Josef ihn wegen seiner Weisheit auf die Schule13 zu schicken, das jedoch erwies sich als fatal. Sein neuer Lehrer wurde nämlich nicht wie der erste nur beschämt, sondern er starb durch einen Fluch Jesu. (Das ist allerdings ein Widerspruch zu Thomas’ früherer Aussage, dass es niemand mehr wagte, „ihn wütend zu machen“). Jesus erhielt nunmehr Hausarrest.
Ein paar Tage später bot sich jedoch ein dritter Lehrer an, Jesus wieder in der Schule aufzunehmen. Er erkannte Jesu Überlegenheit an und ließ sich seinerseits von ihm belehren. Damit beweist dieser Lehrer besondere Weisheit, denn das führte dazu, dass Jesus auch den verfluchten Lehrer wiederbelebte und so – nach Thomas – „Gnade und Weisheit“ unter Beweis stellte.
Soweit das, was uns Thomas der Israelit im Kindheitsevangelium berichtet. Man sollte diesem Evangelium mindestens mit der gleichen Skepsis begegnen wie den vier kanonischen. Ich habe das hier nur nacherzählt, weil es eine gut zehnjährige Lücke in der Jesus-Biografie füllen kann, zehn Jahre, für die ich keine bessere Quelle habe und auch keine eigene Hypothese aufstellen will.
11 Meine Quelle hierfür ist in erster Linie: https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/kindheitsevangelium-nach-thomas-kthom (Stand: 4. 1. 2024)
12Diese Berichte über Tötungen durch Jesus waren ein wichtiger Grund dafür, dass die Kirche diesen Text als apokryph ansah und ihn verwarf.
13„Schule“ fand bei den Juden in der Synagoge statt, die meisten der Lehrer dürften Rabbiner gewesen sein.
Der Jüngling
Die Evangelisten berichten uns wenig über die Kindheit und Jugend Jesu. Einzig der Evangelist Lukas berichtet, dass Maria und Josef den Knaben Jesus jährlich zum Passafest14 (das jüdische Fest entspricht zeitlich in etwa unserem Ostern) nach Jerusalem mitnahmen. Das ist eine beachtliche Reise von etwa 140 Kilometern (einfache Entfernung), die damals in etwa vier bis sechs Tagesetappen zurückzulegen war. Ein besonderes Ereignis soll sich abgespielt haben, als Jesus zwölf Jahre alt war.15
Jesus fand die Vorträge der Rabbiner interessant, jedoch genügten sie seinem kritischen Verstand nicht. Er fragte, widersprach und argumentierte. Einiges schien ihm äußerst fraglich. Der Gott, der im Tanach auftrat, schien jähzornig zu sein. Das war etwas, was Jesus aus seiner Kindheit kannte und inzwischen überwunden zu haben glaubte. Wie konnte es sein, dass Gott seinen Jähzorn nicht im Griff haben sollte? Ein guter Gott musste einer der Liebe und des Mitgefühls sein. Er musste gleichmütig sein und durfte keine negativen Emotionen haben.
Einige der Rabbiner verbaten sich diese Kritik und wollten den Knaben wegen Aufsässigkeit aus dem Tempel jagen. Es gab aber auch andere, die die Fragen Jesu absolut berechtigt fanden. Besonders drei Rabbinern imponierte der junge Jesus, ein älteren (ich nenne ihn hier Primus) und zwei jüngere Schriftgelehrten (ich nenne sie Sekundus und Tertius). Die Disputation zwischen Jesus und den drei Rabbinern zog sich über mehrere Tage.16 Sie könnte in etwa so verlaufen sein:
Jesus: „Ich bin begeistert von der Kraft JHWHs. Aber manchmal frage ich mich: ,Kann ein gütiger Gott so handeln?‘ Nehmen wir beispielsweise die Sache mit der Sintflut. JHWH soll durch diese riesige Flut alle Menschen ausgetilgt haben, bis auf die Familie des Noah. Waren denn alle anderen von Grund auf böse, dass sie mit dem Tode bestraft werden mussten? Auch kleine Kinder?“
Primus: „Ich kann dich gut verstehen, Jesus, auch mir sind nur allzu oft Zweifel gekommen an dem, was im Tanach steht. Schon als junger Mann habe ich ganz ähnliche Fragen gestellt. Ich habe ähnliche Ablehnung erfahren wie du. Das war während meiner Ausbildung zum Rabbiner. Eines Tages nahm mich einer meiner Ausbilder, ein alter Rabbiner, der mir immer verständnisvoll zugehört hatte, mit in ein geheimes Zimmer unter dem Tempel. Dort befanden sich viele Schriftrollen. Er holte vier davon heraus und las mir daraus vor. Es war immer dieselbe Stelle aus dem Tanach. Die erste Version kannte ich, es war ein Abschnitt, der auch beim Passafest vorgetragen wird. Aber jede der drei anderen Varianten waren verschieden. Eine war noch ähnlich, die zweite sehr viel ausführlicher und die dritte nicht nur kürzer, sie schien auch widersprüchlich gegenüber den anderen. Der altertümlichen Sprache nach musste sie die älteste der drei Schriften sein. Ich war verwundert und fragte meinen Ausbilder: „Und was ist nun wahr?“ Er lächelte und sagte mir, das wisse nur JHWH allein. Ich aber solle einfach mein Herz befragen: Wie würde ein gerechter und liebevoller Gott gehandelt haben? Seitdem weiß ich, dass ich immer vorsichtig sein muss, wenn irgendjemand sagt: ,Es steht aber geschrieben …‘“
Sekundus ergänzte: „Auch ich bin Rabbiner, auch ich zweifle oft. Mein Onkel, den ich sehr schätze und vor zwei Jahren besucht habe, gehört einer Sekte an. Sie nennen sich Essēner, fromme Leute, die ein gottgefälliges Leben führen. Sie lehnen jede Form von Gewalt ab. Sie essen nicht einmal Tiere, weil sie sagen, dass auch diese JHWHs Geschöpfe sind, dass sie leben und nicht sterben wollen. Ich war sehr beeindruckt von der Frömmigkeit und Genügsamkeit dieser Leute. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht zu ihnen gehen sollte. Vielleicht wäre es besser. Aber ich muss zugeben, dass ich ein schwacher Mensch bin und lieber als angesehener Rabbiner lebe als in Armut wie sie. Zugegebenermaßen liebe ich auch den Wein, den sie nicht trinken, weil sie sagen, er trübt den Geist.“
Jesus war beeindruckt von diesen Aussagen, er wollte noch mehr wissen: „Kann es sein, dass es viele unterschiedliche Ansichten über Gott gibt und niemand wirklich weiß, welche die richtige ist? Gibt es vielleicht noch andere Sekten, die Luxus ablehnen und ein freies und genügsames Leben führen wie die Vögel des Himmels, die nicht arbeiten und doch satt werden und Gott vielleicht näher sind als wir?“
Tertius: „Ich habe von einer Sekte in Ägypten gehört. Sie sind zwar keine Juden, aber sehr fromm. Sie verehren einen Erleuchteten, der vor Hunderten von Jahren gelebt haben soll. Sie heilen Krankheiten des Körpers und der Seele nach einer eigentümlichen, aber logischen Methode in vier Schritten. Sie ergründen erst, was das Problem ist, das ist noch ganz normal. Aber statt nun die bekannten Heilmittel anzuwenden, fragen sie nach den Ursachen. Nun bekämpfen sie nicht die Krankheiten mit den üblichen Methoden, sondern die Ursache. Schließlich machen sie einen genauen Plan, wie man die Ursache bekämpfen kann.“
Sekundus: „Ja, von denen habe ich bei den Essēnern auch gehört. Diese Sekte nennt sich die Therapeuten. Den Plan den sie machen, um die Ursache des Leidens zu bekämpfen, nennt man Therapie. Einige renommierte griechische Ärzte sollen diese Methode übernommen haben.“
Jesus war begeistert von den vielen neuen Dingen. Er sprach: „Wahrlich, ich sage euch, ich werde diese Essēner aufsuchen und vielleicht auch die Therapeuten. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als uns unsere Schulweisheit lehrt – und als im Tanach steht.“
Nach drei Tagen fanden Josef und Maria ihren Sohn im Tempel wieder und nahmen ihn mit zurück nach Nazareth. Dort arbeitete er noch einige Monate – wie zuvor auch schon – als Gehilfe seines Vaters und erlernte das Handwerk des Zimmermanns.17
Jesus hatte jetzt mit zwölf Jahren das Alter erreicht, in dem die Eltern nach einer möglichen Braut ausschauten und erste diesbezügliche Einladungen arrangierten. Sie dürften mit ihren Überlegungen während der Reise oder jetzt in den Monaten, da er bei seinem Vater das Handwerk erlernte, begonnen haben. Für Jesus aber, der gerade für spirituelle Themen entflammt war, war das eher eine Bedrohung. Er musste jetzt handeln, bevor man ihn in das Familienleben zwang.
14 Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. (Lk 2,41)
15 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten’s nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. (Lk 2,42–45)
16 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss bei denen, die zu meinem Vater gehören? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. (Lk 2,46–50)
Lukas will mit diesem Wortlaut klarmachen, dass Jesus nicht Josef, sondern Gott für seinen Vater hält. Es darf angezweifelt werden, ob das der Zwölfjährige auch so gesehen hat.
17 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. (Lk 2,51–52)
Bei den Essēnern
In der Bibel finden wir keinerlei Hinweis auf das, was zwischen Jesu zwölften und 30. Lebensjahr passierte. Es gibt keine schriftliche Belege für das, was in dieser Zeit geschah. Zwar gibt es Behauptungen, darüber lägen Quellen im Vatikan und auch im Potala des Dalai Lama in Lhasa vor, dies kann jedoch nicht als bewiesen gelten. Ich habe aufgrund einiger verstreuter Hinweise versucht, die Zeit zwischen Jesu zwölftem und seinem dreißigsten Lebensjahr zu rekonstruieren. Dies ist dementsprechend eine „hypothetische Biografie“ und damit mit Vorsicht zu genießen. Allerdings sehe ich auch die gesamte Bibel – das Alte wie das Neue Testament – als „hypothetische Welt- und Geschichtserklärung“ und damit als mit (mindestens) genauso großer Vorsicht zu genießen. Mit anderen Worten: Ich behaupte, der Wahrheitsgehalt dieses Buches ist nicht kleiner als der der Bibel.
Nach dem im Lukas-Evangelium18 beschriebenen mehrtägigen Aufenthalt Jesu bei den Schriftgelehrten im Tempel von Jerusalem arbeitete dieser noch für kurze Zeit in Josefs Zimmermannsbetrieb mit. Er hatte sich fest vorgenommen, die Essēner zu besuchen. Danach wollte er eventuell auch zu den Therapeuten, je nachdem, was sich in der Zeit bei den Essēnern herausstellte.
Das Reisen kannte Jesus schon von dem Besuch des Passafestes in Jerusalem. Er wusste zwar nicht genau, wo diese Essēner wohnten, aber Sekundus hatte erzählt, dass er beim Besuch seines Onkels drei Tagesmärsche von Jerusalem aus unterwegs war. Also beschloss er, zunächst nach Jerusalem zu gehen, diesen Weg kannte er bereits. Dort könnte er Sekundus aufsuchen und sich von ihm den Rest des Weges erklären lassen. Um seine Ernährung machte er sich keine großen Sorgen. Er konnte sich von Früchten am Wegesrand ernähren. Außerdem kam er an Orten vorbei, wo die Leute immer interessiert waren zu hören, was anderswo geschah. Die Menschen waren gastfreundlich, ein Stück Brot fiel immer für ihn ab, mitunter wurde er auch eingeladen, den Brei oder die Suppe mit ihnen zu teilen.
Das Wiedersehen mit Sekundus in Jerusalem war eine reine Freude. Der junge Rabbiner war stolz darauf, diesem vielversprechenden, klugen Jüngling einen guten Tipp für seine weitere spirituelle Entwicklung gegeben zu haben. Er beschrieb ihm genau den Weg nach En Gedi, einer Oase unweit des Toten Meeres, wo die Essēner lebten. Er sollte dort nach Nikodemus, dem Onkel von Sekundus, den Nikodemus einst besucht hatte, fragen.
So machte sich Jesus am folgenden Tag auf den Weg. Am Nachmittag des dritten Tages erreichte er En Gedi und fragte nach Nikodemus.
„Oh, Nikodemus suchst du? Hast du ein gesundheitliches Problem? Warum suchst du unseren großen Heiler?“, war die Antwort. Es ergab sich tatsächlich, dass ausgerechnet Nikodemus der beste Heiler dieser besonders heilkundigen Gemeinschaft war.
„Was für eine Freude, einen solch klugen Jüngling zu Besuch zu haben!“, begrüßte Nikodemus, der eine ausgezeichnete Menschenkenntnis hatte, Jesus. „Lass mich raten: Sekundus schickt dich, weil du einen besonders kritischen Verstand und Schwierigkeiten mit dem hast, was im Tanach steht. Dann bist du bei uns genau richtig.“ Natürlich freute sich Jesus über den herzlichen Empfang.
Am ersten Tag erhielt er eine Einführung in die rituellen Waschungen, die dieser Sekte sehr wichtig zu sein schienen, auch trugen die Mitglieder ausschließlich weiße Kleidung. Beides schien Jesus übertrieben, aber er war hierhergekommen, um zu lernen und nicht, um zu kritisieren.
Wesentlich besser fand er die Tatsache, dass es kein Geld gab. „Man kann nicht zwei Herren dienen, dem Mammon und Gott“, sagte ihm Nikodemus. Wie wahr das ist, sagte sich Jesus, das werde ich mir merken und zu gegebener Zeit weitergeben.19 Aber es war nicht nur das Verhältnis zum Geld, sondern zu jedwedem Besitz, das dem jungen Jesus imponierte: Es gab praktisch kein Privateigentum. Beim Eintritt in die Gemeinschaft wurde der gesamte Besitz (hon) an die Gruppe abgetreten, dieser wurde von einem der „Brüder“, wie sie sich nannten, verwaltet. Dieser Verwalter wurde von der Gruppe gewählt. Wo immer Essēner lebten, bildeten sie solche „Bruderschaften“. Zu dem abgetretenen Besitz zählte aber nicht nur alles materielle Vermögen einschließlich des Viehs, sondern auch koah und da’at.
Zum koah gehörte auch die eigene körperliche Arbeitskraft einschließlich ihrer Erträge durch Lohnarbeit. Der da’at waren praktisches Wissen und Sachkenntnis, also die wesentliche Grundlagen des Lebenserwerbs von Schriftkundigen, Handwerkern, Ärzten oder Lehrern. Diese Überschreibung des gesamten Besitzes durfte allerdings erst nach einem Probejahr erfolgen, in dem sich der Anwärter bewähren musste.20
Jesus fand das einerseits imponierend, andererseits war ihm klar, dass er sich hier nicht dauerhaft binden wollte. Das war ein sehr effektiver, selbstloser Lebensstil, aber sicher nicht das spirituell Höchste, was es zu erreichen gab. Er nahm sich vor, nach spätestens einem Jahr, also vor der Überschreibung seiner Arbeitskraft und Sachkenntnis, weiterzuziehen, vermutlich zu den Therapeuten, wie er damals annahm.
„Das ist alles sehr neu für mich, imponiert mir aber“, sagte Jesus, „nur eines verwundert mich: Ich sehe kaum Frauen.“
Nikodemus erläuterte dem jungen Jesus auch hier die Regeln der Essēner: „Wie es geschrieben steht und vom Lehrer der Gerechtigkeit gelehrt wurde, hat JHWH die Menschen ausschließlich für die Einehe geschaffen. Wenn eine Frau stirbt, darf der Mann keine andere Frau ehelichen. Männer werden meist mit 20 Jahren verheiratet, bei Frauen ist das ab dem zwölften Lebensjahr möglich. Der Geschlechtsverkehr ist nur zum Zwecke der Zeugung zulässig, dafür gibt es genaue Regeln hinsichtlich der Zeit, die nach der Geburt verstreichen muss, hinsichtlich der Menstruation und anderem, sodass der Geschlechtsverkehr meist nur etwa ein bis zwei Mal im Jahr zulässig ist. Da die meisten Frauen nicht älter als etwa 25 Jahre werden, das Kindbettfieber rafft die meisten trotz unserer medizinischen Bemühungen leider frühzeitig dahin, leben wir die meiste Zeit geschlechtlich abstinent. Das ist auch gut so, denn Begierde ist von Übel. Das Entscheidende ist: Für uns ist Liebe keine Sache der Begierde zwischen Mann und Frau. Eine Liebe ohne Begierde versuchen wir allen Wesen gegenüber. Das ist auch der Grund, warum wir auf Fleischgenuss verzichten.“
All das schien Jesus teilweise sehr imponierend, teilweise aber auch merkwürdig. Dass Liebe etwas anderes sein muss als geschlechtliche Gier, fand Jesus richtig. Die nicht selbstsüchtige Liebe allen Wesen gegenüber schien auch ihm der richtige Weg, manches fand er aber auch etwas überzogen. Die Essēner glaubten offensichtlich wörtlich, was im Tanach stand und befolgten, wie dieser „Lehrer der Gerechtigkeit“ den Tanach interpretierte. Er fragte Nikodemus: „Wer ist eigentlich dieser ,Lehrer der Gerechtigkeit‘, dem ihr folgt?“
„Der Lehrer der Gerechtigkeit lebte vor rund 150 Jahren“, belehrte ihn Nikodemus. „Einst hatte er das Amt des Hohenpriesters von Jerusalem inne, dann jedoch riss der MakkabäerJonatan, ein Militärdiktator, das Amt an sich. Der Lehrer der Gerechtigkeit musste nach Damaskus fliehen. Er nahm alsdann Kontakte zu allen jüdischen Organisationen auf, da er wusste, dass JHWH zunächst alle zerstreuten Teile Israels im Heiligen Land, dem Land, das er dem jüdischen Volk geschenkt hatte, zusammenführen wollte. Leider gab es dagegen einigen Widerstand, aber immerhin kehrten sieben Gruppen von Exilanten zurück. Er gründete dann die Essenische Union. Vor 120 Jahren verstarb der Lehrer der Gerechtigkeit, wir aber bewahren sein Erbe.“21
Jesus wollte auf jeden Fall für einige Zeit bei dieser recht rigiden Gemeinschaft verweilen, um in deren Heilkünste eingeweiht zu werden. Aber ihm war klar, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass er sich dieser Gemeinschaft lebenslang anschloss.
Er schien genau beim richtigen Mann angekommen zu sein, bei Nikodemus. Jesus wusste auch schon, wie er sich dafür erkenntlich zeigen konnte.
„Nikodemus, das Dach deiner Hütte ist schäbig, es schützt weder richtig vor Regen noch vor Sandstürmen. Auch die Balken sind morsch. Was hältst du davon, wenn ich morgen beginne, dir ein neues Dach zu bauen. Du musst nämlich wissen: Ich habe eine Lehre als Zimmermann gemacht.“
Nikodemus war darüber hocherfreut: Dieser Jüngling war gekommen, weil er etwas suchte, weil ihn nach Spiritualität dürstete und er – da war Nikodemus sicher – an seinem Wissen über die Heilkunst interessiert war. Aber er fragte nicht, was er bekommen würde, sondern bot an, was er geben konnte: „Genau wie bei uns Essēnern“, freute sich Nikodemus.
Am nächsten Morgen begann sich Jesus, an die Vorarbeiten zur Erneuerung des Daches zu machen. Es musste zunächst Holz gesucht, Balken geschnitten, Latten erzeugt werden, bevor es an die eigentlichen Dacharbeiten ging. So arbeitete Jesus vormittags als Zimmermann und ging nachmittags in die Lehre der Heilkunst.
Was er dort alles lernen konnte! Die meisten Krankheiten, so erfuhr er, waren nämlich nicht allein körperlicher Natur. Sie hatten vielmehr ihren Ursprung zu gleichen Teil in der Seele. Diese konnte sowohl in der Kindheit Schaden genommen haben als auch später von Dämonen in Besitz genommen worden sein. Was er lernte, war also nur zum kleineren Teil Kräuterkunde, zum größeren Teil die Diagnose seelischer Ursachen und den richtigen Umgang mit Besessenheit von allerlei Dämonen.
Jesus blieb ein Jahr lang bei den Essēnern. In dieser Zeit lernte er viel darüber, im äußeren Verhalten der Menschen ihre seelischen bzw. geistigen Probleme zu erkennen und wie man damit umging. Neurosen mussten geheilt, Dämonen ausgetrieben werden.
Aber für noch etwas interessierte sich Jesus, der nie die Absicht gehabt hatte, sein ganzes Leben in En Gedi oder anderswo bei den Essēnern zu verbringen. Er wollte etwas über andere spirituelle Zentren erfahren. Also fragte er, ob Nikodemus oder einer seiner „Brüder“ etwas von den Therapeuten oder dem „Erleuchteten“, den sie verehrten, wussten.
„Die Therapeuten“, antwortete Nikodemus, „leben gen Sonnenuntergang22 im Lande Ägypten und verehren in der Tat einen Mann, den sie als Erwachten bezeichnen, nicht als Erleuchteten. Wobei mir nicht klar ist, worin der Unterschied bestehen soll. Vom vierstufigen Verfahren für die Heilung körperlicher und geistiger Krankheiten hast du von Sekundus schon gehört. Ägypten ist allerdings groß. Ich kann dir nicht sagen, wo du dort suchen musst. Am ehesten dürfte man es in Alexandria wissen, das ist allerdings etwa 50 Tagesmärsche von hier. Von da bis zu den Therapeuten ist es möglicherweise noch einmal so weit. Ich weiß von einem Mann aus Antioch, der früher einmal bei uns war und nun schon lange nicht mehr lebt, dass irgendein Großkönig aus dem Morgenland23 die Lehren dieses Erwachten durch einen Botschafter nach Antioch bringen ließ. Was jetzt daraus geworden ist, weiß ich allerdings nicht.“
Antioch, so wusste Jesus, war die Hauptstadt der römischen Provinz Syrien.Syrien grenzt an Palästina. Es, so sagte er sich, muss näher sein als Alexandria. Sowohl was die Therapeuten anging als auch diese Botschaft in Antioch, war es fraglich, ob er sie finden würde. Sollte er dann aber tatsächlich gezwungen sein, weiter in dieses Reich eines Großkönigs im Morgenland zu gehen, hätte er in Antioch schon einen Teil der Strecke zurückgelegt, während Alexandria in der entgegengesetzten Richtung lag. Außerdem könnte er auf dem Weg nach Syrien kurz in Nazareth bei seinen Eltern vorbeischauen. Das lag praktisch auf dem Weg. Jesu Entschluss war gefasst: Sein nächstes Ziel war Antioch.
Wie geplant ging er zunächst nach Nazareth, wo er seine Eltern nach einem Jahr wieder traf. Bei seinem Abschied hatte er nur davon gesprochen, nach Jerusalem und zu den Essēnern zu gehen, die dort in der Nähe wohnen würden. Seine Eltern hatten geglaubt, er würde höchstens einen Monat weg sein. Natürlich hatten sie sich Sorgen gemacht.
„Da bist du ja endlich wieder, mein geliebter Sohn“, sagte Maria, „hast du gefunden, was du gesucht hast?“ Auch Joseffreute sich zu früh: „Wie gut, dass du da bist, die Balken sind mir jetzt allein zu schwer, da kann ich einen starken Jüngling gebrauchen!“ Auch dürfte bei dieser Gelegenheit wieder die Anbahnung einer Ehe Thema geworden sein.
Doch Jesus enttäuschte sie: „Liebe Eltern, meine Suche ist noch nicht zu Ende, ich muss weiter. Ich bin nur vorbeigekommen, damit ihr ein Lebenszeichen von mir habt, damit ihr euch nicht sorgt. JHWH ist mein Begleiter, er schützt mich. Ich aber muss weiter nach Antioch, eventuell anschließend noch ins Land eines Großkönigs im Osten. Es kann gut sein, dass ich Jahre weg bin. Ich habe mir aber vorgenommen, dereinst wiederzukehren. In den Tempeln verbreitet man, wie ich inzwischen weiß, ein falsches Bild von JHWH. Was kann es aber Besseres geben, als JHWH so zu schauen, wie er ist, und dies der Welt hernach zu verkünden, damit sein Segen über alle Menschen in Judäa24 kommt?“
Also blieb Jesus nur eine einzige Nacht im Hause seiner Eltern. Das Geld, das sie ihm mitgeben wollten, lehnte er ab: „Ich mache es wie die Vögel. Ich vertraue darauf, dass der Vater im Himmel für mich sorgt!“ Einzig das neue Gewand, das ihm seine Mutter gab, nahm er an und ließ dafür das weiße Gewand, das er bei den Essēnern getragen hatte, zurück. Es war zu empfindlich für seine nächste große Wanderung, die nach Antioch.
18 Über alles, was zwischen Jesu’ 12. und 30. Lebensjahr war, schweigen die Evangelisten. Sie hatten schlicht keine Ahnung davon. So schreibt Lukas über diese 18 Jahre lediglich: „Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“ (Lk 2,52)
19 Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. (Mt 6,24)
20 vgl. Stegemann, Hartmut: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg: Herder 1993, S. 245 f.
21 nach Stegemann, S. 206 ff.
22„gen Sonnenuntergang“ alte Bezeichnung für „im Westen“
23 eine alte Bezeichnung für ein Gebiet im Osten
24 Judäa wurde damals das Siedlungsgebiet der Juden genannt, es war seit 63 v. u. Z. Teil der größeren Region Palästina, die wiederum Teil der Provinz Syrien des Römischen Reiches war.
Antioch
Als Jesus ein Jahr zuvor Sekundus aufgesucht hatte, war er zunächst etwas verwirrt. Damals hatte er von Sekundus gehört, wenn er zu den Essenern nach En Gedi wollte, müsse er zunächst nach Antiochia: „Bist du sicher, Sekundus, Antioch25 liegt doch in Syrien?“
Doch Sekundus konnte das Missverständnis ausräumen: „Antiochia heißt ein Stadtteil Jerusalems, den Namen hat er vor 200 Jahren als Referenz für die Weltstadt und das gleichnamige Herrschergeschlecht im Seleukidenreich erhalten, als die Seleukiden unter König Antiochos IV. Epiphanes die Griechen aus Judäa vertrieben hatten und den Sabbat wieder zuließen, dessen Einhaltung die griechischen Herrscher zuvor bei Todesstrafe verboten hatten. Antioch aber ist die Hauptstadt der Provinz Syrien, allerdings liegt sie ganz am anderen Ende Syriens gegen Abend26 in der Mitte des Meeres, das die Römer Mare nostrum27 nennen.“
Jetzt also war Jesus auf dem Weg dorthin. Er war morgens zeitig losgegangen, obwohl seine Mutter weinte, ihn nach so kurzer Zeit wieder zu verlieren. Josef war ebenfalls sichtlich enttäuscht, dass sein früherer Lehrjunge sich schon wieder abmachte.
Der junge Mann ging den ganzen Tag schnurstracks und erreichte am Abend das südliche Ende des Sees Genezareth. Er schlief im Freien unter einer Decke, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte, die er an kalten Abenden oder morgens als Umhang zu benutzen gedachte. Am nächsten Tag ging er den ganzen Tag am See Genezareth entlang. Am späten Nachmittag erfrischte er sich mit einem Bad im See, dann füllte er Wasser in einen Schlauch,28 den er sich umhängte, denn die nächsten Tage würde er nur selten an Wasserstellen vorbeikommen.
Wie auch schon während seiner früheren Wanderungen führte er in Dörfern Gespräche mit Menschen, die er traf, die neugierig waren, woher er kam und wohin er wollte. Dabei bemerkte er, wie sich die Aussprache des Aramäischen, das er sprach, allmählich veränderte. Es gab unterschiedliche Dialekte, aber wenn man zu Fuß unterwegs war und überall mit den Menschen sprach, konnte man die allmähliche Veränderung der Sprache gut in den Griff bekommen. Allerdings bedeuteten diese Kommunikation, dass es langsamer voranging als ohne diese Pausen. Andererseits führten die Gespräche auch mitunter dazu, dass er von den Menschen eingeladen wurde, ihr bescheidenes Mahl zu teilen. Auf diese Art brauchte er zehn Tage für die Strecke von Nazareth bis Damaskus, seinem Zwischenziel, wo er sich nach dem weiteren Weg Richtung Antioch erkundigte.
In Damaskus hielt er sich nicht länger auf. Je größer eine Stadt, so hatte er bemerkt, desto geschäftiger die Menschen. In den Städten suchten die Leute weniger das Gespräch mit Fremden, da man hier ständig unbekannte Menschen traf. In kleineren Orten waren die Leute zugänglicher. Das Wandern zwischen Damaskus und Antioch war ebenso entspannt wie zuvor. Jesus unterhielt sich auch hier mit den Menschen in den Dörfern und freute sich, auf diese Weise Umgang mit den Veränderungen der Dialekte des Aramäischen zu bekommen. In seiner Heimat wurde neben dem Aramäischen natürlich auch Hebräisch gesprochen. Jetzt freute er sich jedoch, dass sie zu Hause meist Aramäisch gesprochen hatten, sodass es bislang nirgendwo Sprachprobleme gab. Die griechische Sprache und das Lateinische beherrschte er nur sehr unvollständig, obwohl dies die Hochsprachen im Römischen Reich waren (das Griechische natürlich nur im Ostteil des Reiches).
Nach drei Wochen der Wanderung seit Damaskus erreichte er die Weltstadt Antioch, die Hauptstadt der Provinz Syrien und neben Rom, Athen, Alexandria und Karthago eine der Metropolen. In Antioch lebten damals etwa 500.000 Menschen.29
Jesus suchte zunächst eine Synagoge auf. Er stellte sich dem Rabbiner vor, erzählte, dass er aus Nazareth sei, einen Rabbiner aus Jerusalem als Freund und eine Zeitlang bei den Essēnern gelebt habe. Es sei hier auf der Suche nach Leuten, die einer Lehre eines Erwachten