BLUTRACHE (JET 3) - Russell Blake - E-Book

BLUTRACHE (JET 3) E-Book

Russell Blake

4,6

Beschreibung

"Dieses Buch erinnert einen wieder daran, warum man lesen sollte." [Amazon.com] Die actiongeladene Romanreihe um Ex-Mossad-Agentin JET geht in die dritte Runde. Eigentlich wollte sich JET nach den jüngsten Ereignissen zur Ruhe setzen und versuchen, ein normales Familienleben zu führen. Doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihr. Personen aus ihrer Vergangenheit sinnen auf Rache, und so wird sie in terroristische Pläne verstrickt, die sie von Südamerika nach Moskau und bis in den Jemen führen. Töten oder getötet werden, lautet die Devise – etwas, das JET nur allzu gern hinter sich gelassen hätte. Etwas, das niemand so gut beherrscht wie sie.

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JET 3: BLUTRACHE

Russell Blake

Copyright © 2013 by Russell Blake

All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews. For information, contact: [email protected].

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue. Suite 5300

Vorbemerkungen des Autors

Jet 3: Blutrache ist ein fiktives Werk und jegliche Ähnlichkeit zwischen real existierenden Personen oder Organisationen ist rein zufällig. Soweit ich weiß, sind der Mossad und die CIA ehrliche, hart arbeitende Organisationen, die über jeden Zweifel erhaben sind. Das taugt jedoch nicht für einen spannenden Thriller und deswegen habe ich mir einige künstlerische Freiheiten herausgenommen.

Die Jet-Reihe ist ein übertriebenes Actionfeuerwerk mit einer Heldin, die kaum aufzuhalten ist. Wenn Sie nach Realismus suchen, werden Sie den hier nicht finden – dafür aber reichlich Spannung, Explosionen und unerwartete Wendungen.

Der Jemen ist eine der ärmsten Gegenden des Mittleren Ostens und wird von anhaltenden Bürgerkriegen gebeutelt. Viele Gebiete abseits der Hauptstadt Sanaa sind sehr gefährlich. Gleichzeitig ist es aber auch ein Land bemerkenswerter Schönheit. In dieser Geschichte habe ich mich eher auf die unschönen Aspekte konzentriert, denn auch hier gilt, dass Postkartenmotive keine spannende Geschichte ergeben. Auch die komplexen Verstrickungen der verschiedenen orientalischen Länder mit den USA habe ich teilweise stark vereinfacht oder unrealistisch dargestellt. Ich hoffe, man möge mir diese Kunstgriffe verzeihen.

Der Sport Parkour ist eine beliebte Kombination aus Gymnastik, Kampfsport und Querfeldeinlauf, die von sogenannten »Traceuren« ausgeübt wird. Die vielleicht beeindruckendste Fähigkeit dieser Athleten ist es, entgegen der Schwerkraft scheinbar unmögliche Bewegungsabläufe auszuführen. Einige fantastische Videos finden Sie im Internet.

Ebenso können Sie im Netz einige Verschwörungstheorien nachlesen, die in diesem Roman aufgegriffen werden. Die meisten dieser Theorien halten einer Nachprüfung nicht stand, aber hier und da findet sich auch ein Fünkchen Wahrheit. Wie bei allen Dingen, die man im Internet so liest, empfehle ich meinen Lesern bei Interesse, die jeweiligen Quellen kritisch zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: JET III - VENGEANCE Copyright Gesamtausgabe © 2017 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Kalle Max Hofmann Lektorat: Johannes Laumann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2017) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-249-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

JET 3: BLUTRACHE
Vorbemerkungen des Autors
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Über den Autor

Prolog

Vor zwei Wochen im Alatfain-Tal im Jemen.

Der goldbraune Toyota Landcruiser fegte die Schotterpiste entlang und wirbelte eine Wolke gelben Staubs auf, als er sich der abgelegenen Siedlung näherte. Die Gebäude schienen verlassen, abgesehen von einem Mercedes, der wie ein Fremdkörper zwischen den verfallenden Strukturen eines ehemaligen Dorfes wirkte, dessen Bewohner längst vor der immer näher herankriechenden Wüste geflohen waren.

Der Geländewagen rollte langsam aus, und sobald er stand, flogen die hinteren Türen auf. Zwei Männer mit Sturmgewehren sprangen heraus. Auch die Beifahrertür öffnete sich und ein Herr in einem marineblauen Nadelstreifenanzug stieg heraus, einen stabilen Aktenkoffer fest im Griff. Nachdem er sich kurz orientiert hatte, ging er auf das nächstgelegene Gebäude zu, wobei die Pomade in seinem pechschwarzen, streng zurückgekämmten Haar in der prallen Sonne glitzerte.

Seine Bodyguards musterten die Umgebung mit skeptischen Blicken, doch außer der staubigen Landschaft, die sich im Hitzeflimmern verlor, war nichts zu sehen. Nur in der weiten Ferne schimmerten einige Bergkämme durch, die die gleichen ausgeblichenen Farben wie alles andere hier hatten.

In dieser Gegend durchdrangen Sand und Staub einfach alles. Selbst die künstlich gereinigte Atmosphäre im Inneren des Geländewagens war langsam davon durchdrungen worden – obwohl die Luftfilter auf dem neuesten Stand der Technik waren, hatte sich während der Fahrt ein staubiger Film auf das gesamte Interieur gelegt.

Dem Mann im Anzug schien die brutale Hitze nicht das geringste auszumachen, er wirkte wie ein Banker auf seinem täglichen Weg ins Büro, dabei war er absolut deplatziert in dieser unwirtlichen Umgebung.

Elegant tänzelte er über die aufgeblähte Leiche eines Hundes und ignorierte dabei die Schwärme dicker, schwarzer Fliegen. Er näherte sich dem Gebäude, die hochkonzentrierten Leibwachen mit den Waffen im Anschlag dicht an seiner Seite.

»Das ist weit genug. Sagen Sie Ihren Männern, dass sie zurückbleiben sollen! Nur Sie kommen herein!« Die kratzige Stimme klang feindselig, der Akzent war stark und fremdartig. Russisch war eindeutig nicht die Stärke dieses Mannes.

»Selbstverständlich. Sie sind nur dafür da, dass wir nicht gestört werden. Über Sie mache ich mir keine Sorgen, sonst wäre ich gar nicht hier«, versicherte der Anzugträger, wobei ein angedeutetes Grinsen seine fleischigen Lippen umspielte. Sein Russisch war flüssig, fast schon musisch, zweifellos seine Muttersprache. Er gab seinen Männern ein Zeichen und sie postierten sich im Schatten links und rechts des aus Lehmziegeln gemauerten Einganges, der mit diversen Einschusslöchern übersät war. Dann trat er ein.

»Haben Sie das Vereinbarte dabei?«, fragte der in traditionelle Kleider gehüllte Mann, der von wallendem Stoff umflossen wurde, als er sich im Schneidersitz auf dem Boden niederließ. Am anderen Ende des Raumes waren drei ebenfalls in die typischen, lokalen Roben gehüllte Krieger, die Maschinengewehre bei sich trugen.

»Natürlich. Als Beweis dafür, dass wir es ernst meinen. Es ist genug, damit Sie sich von der Effektivität unserer Ware überzeugen können. Und um Ihnen direkt Ergebnisse präsentieren zu können, habe ich eine Videoaufzeichnung eines Testlaufes mitgebracht – mit einem Freiwilligen in der Hauptrolle.« Wieder huschte ein Lächeln über die Lippen des Mannes.

»Sehr gut. Zeigen Sie es mir.« Der Sitzende bedeutete seinem Gegenüber mit einer Geste, näher zu kommen. Als dieser in seine Anzugtasche griff, wurden die Wachen unruhig und passten haargenau auf, während er langsam ein Mobiltelefon hervorzog und es einladend präsentierte. Der Mann in dem weiten Gewand stand auf und fixierte den Bildschirm wie ein Raubvogel, der seine Beute im Blick hat.

In der unteren Ecke des Videofensters lief eine Zeitangabe, deren Datum zwei Tage zurücklag. Das anfängliche Bildrauschen verschwand, an seine Stelle trat ein düster ausgeleuchteter Raum mit nackten Betonwänden. Auf einer primitiven Pritsche saß ein heruntergekommener junger Mann und schlürfte eine Schüssel Suppe leer, offensichtlich nicht in dem Wissen, dass er gefilmt wurde. Das Licht änderte sich, als die Zeitangabe eine Stunde weitersprang. Der Gefangene ging nun nervös in seiner Zelle auf und ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn, das verschlissene Hemd bereits voller Flecken. Mit panischer Stimme rief er um Hilfe. Dann sprang die Uhr eine weitere Stunde vor: Der Mann lag nun auf seiner Schlafstätte, wobei er zitterte und stöhnte. Immer wieder wurde sein Körper von Krämpfen durchzuckt. Zwei Stunden später hatte er spastische Anfälle, das Gesicht schmerzverzerrt. Noch zwei Stunden später und Blut lief ihm aus Mund, Nase und Augenhöhlen. Seine Hosen waren durchnässt, seine Brust mit Flecken von blutrotem Erbrochenen getränkt.

Der Blick des traditionell gekleideten Mannes traf kurz die emotionslosen Augen des Anzugträgers, bevor er sich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zuwandte. Dort lag inzwischen ein lebloser Körper, bläulich verfärbt und von Zersetzungsgasen aufgebläht.

Die letzte Einstellung zeigte etwas, das man kaum noch als Menschen erkennen konnte. Die Haut aufgeplatzt, das Fleisch bereits in Verflüssigung begriffen. Ein grauenhafter Anblick, selbst auf dem winzigen Bildschirm. Schließlich blieb der digitale Zeitstempel stehen. Es waren kaum mehr als acht Stunden vergangen.

»Und wie ist der Übertragungsweg?«, fragte der Mann in der Robe, ohne sich eine Gefühlsregung anmerken zu lassen.

»Es wurde so konstruiert, dass es sich über die Luft verbreitet. Jeder, der es einatmet, wird das gleiche Schicksal wie der Mann in dem Video erleiden.«

»Ist es ansteckend?«

»Nein.«

Der Mann grunzte und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. »Können Sie es ansteckend machen? Damit sich weitere Opfer infizieren können?«

Sein Gegenüber tat so, als würde er kurz über die Frage nachdenken – ganz so, als hätte er sie nicht bereits hitzig mit seinen Vorgesetzten diskutiert. Schließlich nickte er. »Wenn die Bezahlung stimmt, ist prinzipiell alles möglich. Aber es ist alles andere als einfach und wird entsprechend lange dauern.«

»Was ist schon einfach.«

»Darüber hinaus bestehen noch Bedenken, eine ansteckende Version herauszugeben, ohne ein hundert Prozent wirksames Gegenmittel zu besitzen. Ohne ein solches ginge es nicht mehr um eine biologische Waffe – sondern um das Ende der Menschheit.«

»Hmmm, das wollen wir natürlich nicht. Lediglich das Ende von manchen Menschen.« Er bedeutete dem Anzugträger mit einer Geste, sich auf einem Kissenstapel niederzulassen. Der Mann setzte sich in einer flüssigen Bewegung auf die orientalische Sitzgelegenheit, als wären solche konspirativen Treffen für ihn das Normalste der Welt.

»Ich habe eine Probe bei mir, die ausreichen sollte, um sie an einigen Freiwilligen zu testen. So können Sie sich von der Wirksamkeit überzeugen. Aber ich warne Sie, die Körper müssen beseitigt werden. Eingeäschert, damit keine Spuren übrig bleiben. Und Sie dürfen kein Zeichen nach außen dringen lassen, dass es diese Waffe gibt, sonst werden drastische Konsequenzen meiner Gruppe folgen. Und das ist nicht verhandelbar.«

Der Ton des Russen war schärfer geworden, und die Augen seines Gegenübers verengten sich zu Schlitzen, ein boshafter Ausdruck legte sich über sein Gesicht. »Sie wagen es, mir zu drohen?«, knurrte er.

»Natürlich nicht. Ich gebe nur die Anweisungen weiter, die mir aufgetragen wurden.«

Nach einem Moment angespannten Schweigens nickte der Orientale verständig und der Anzugträger schob ihm seinen Koffer hinüber, der eine Spur im gelben Staub hinterließ.

»Es ist unmöglich, die Wirkstoffe zu dekonstruieren, und sie bleiben auch nur zweiundsiebzig Stunden wirksam. Die Verkaufsversion wird eine Woche aktiv bleiben. Bitte behandeln Sie den Stoff mit höchster Vorsicht – Sie haben ja selbst gesehen, was der Preis für einen Fehler ist«, sagte der Russe.

»Ich werde die Überweisung auf Ihr Konto veranlassen. Zwei Millionen Euro, richtig?«

»Richtig. Sobald das Geld eingegangen ist, müssen Sie uns mitteilen, wie viel Sie bestellen möchten, und ich werde Ihnen den Preis dafür nennen. Dazu bekommen Sie ein Angebot, was es kosten würde, es ansteckend zu machen. Wie groß ist denn die Personengruppe, die Sie… neutralisieren möchten?«

Der Blick des Mannes schweifte zur Decke, während er darüber nachdachte. Dann gingen seine Mundwinkel nach unten. »So viele wie möglich. Tausende. Oder gar Millionen, falls das möglich ist.«

Der Gesichtsausdruck des Anzugträgers zeigte keinerlei Reaktion. »Verstehe. Das wird teuer. Vor allem, wenn wir es ansteckend machen.«

»Es ist mir klar, dass es teuer wird – sehr teuer. Aber machen Sie sich darüber keine Gedanken, das regle ich. Leiten Sie nur einfach meine Wünsche weiter.«

Der Russe stand auf. »Dann ist unsere Konsultation für heute beendet. Denken Sie nur daran, es dürfen keine Spuren von Ihren Tests nach außen dringen, sonst ist unser Geschäft mit sofortiger Wirkung gestorben.«

Er warf dem Sitzenden sein Mobiltelefon zu und wandte sich ab, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Seine handgefertigten italienischen Designerschuhe knirschten im Sand, als er sich auf den Weg zurück zu seinen Leibwächtern begab.

Zu dem Orientalen gesellte sich derweil ein hochgewachsener Kämpfer, der einen beigefarbenen Schal um den Kopf gewickelt hatte. Nachdem der Sitzende ihm zugenickt hatte, schulterte er sein Maschinengewehr und nahm den Koffer an sich. »Die Vorsehung schenkt uns ein Lächeln«, sagte er in feierlichem Ton.

»In der Tat – wir sind näher an unserem Ziel als je zuvor. Die Ungläubigen werden bald einen unfassbar hohen Preis für ihren arroganten Imperialismus bezahlen. Aber jetzt machen wir uns auf den Weg – wir sind hier fertig. Bereite alles für unsere Abreise vor«, befahl der Mann in der Robe und legte die Fingerspitzen aufeinander, wobei er seinen Blick auf den Koffer richtete.

Draußen sprang der Motor des Landrovers mit einem Fauchen an und der Wagen machte sich auf den Rückweg, wobei ihn eine gigantische Staubwolke schon bald mit dem dunstigen Horizont verschmelzen ließ.

An einer strategisch günstigen Position auf den nahegelegenen Hügeln richtete ein heimlicher Beobachter sein Fernglas wieder auf das Gebäude und wartete darauf, dass auch der Mercedes abfahren würde. Stahlgraue Augen stierten durch die Linsen und ein feines Rinnsal Schweiß sickerte über die sandverkrustete Stirn des Mannes. Er wusste, dass er unsichtbar war, solange er keine schnellen Bewegungen machte, denn die Felsen, hinter denen er Stellung bezogen hatte, schirmten ihn perfekt ab.

Er hob sein Satellitentelefon ans Ohr, drückte die Sprechtaste und murmelte leise hinein, wobei er den Blick nicht von seinem Ziel abwandte.

Ein Lichtblitz von dort unten zog dann seine volle Aufmerksamkeit auf sich. Er schwenkte das Fernglas in die Richtung des Leuchtens und sah für einen kurzen Augenblick einen Schützen, dessen Gewehr mit einem Zielfernrohr ausgestattet war, und der genau in seine Richtung schaute. Mit Schrecken stellte er fest, dass dieser Mann die Waffe nun sinken ließ und sich wild gestikulierend an die anderen Wachen wandte, wobei er immer wieder nach oben zu den Hügeln zeigte.

Scheiße.

Er war aufgeflogen.

Es gab keinen Grund, auch nur eine weitere Sekunde mit Zusehen zu verbringen. Der schreiende Mann in der Siedlung zog ein Telefon und bellte Instruktionen hinein, während vier Bewaffnete aus dem Gebäude stürmten, um ihren unwillkommenen Gast zur Strecke zu bringen.

Der kroch inzwischen im Schutz der Felsen eine Anhöhe hinunter und richtete sich auf, als er außerhalb der Schusslinie war. Dann rannte er auf eine kleine Höhle zu, wo er die Nacht zuvor sein Lager eingerichtet hatte.

Auf einer brüchigen Ansammlung loser Kiesel verlor er den Halt und stürzte zu Boden, wobei er sich den Knöchel verdrehte und hart mit dem Kopf aufschlug. Auch sein Fernglas polterte in die Felsen, wobei eine der Linsen zersplitterte. Er rappelte sich trotz der Schmerzen sofort auf, denn jede Sekunde zählte.

Von der anderen Seite der Hügelkette hörte er Motoren anspringen. Einer davon musste der Mercedes sein, aber über eine Limousine musste er sich hier keine Gedanken machen – die Frage war, welche anderen Gefährte unter den Planen im hinteren Teil der Siedlung versteckt waren. Und der Telefonanruf des Scharfschützen bereitete ihm fast noch größere Sorge.

Er humpelte zu seinem auf extremes Gelände optimiertem Quad und riss das Tarnnetz herunter. Dann sprang er auf den Sitz des Vierrades und betätigte den Starter, woraufhin das Gefährt knatternd zum Leben erwachte und eine blaue Wolke ausstieß. Sekunden später raste er auch schon den Rücken des Hügels hinunter, in Richtung eines ausgetrockneten Flussbettes, dessen Verlauf ihn wieder in die Zivilisation führen würde.

Eine dunstige Wolke folgte ihm, während die Reifen seines Gefährts durch den Sand pflügten. Er gab Vollgas, während seine Gedanken frenetisch um weitere Fluchtmöglichkeiten kreisten. Die trockene Luft ließ seine Augen brennen, der Fahrtwind war voller Staub- und Sandpartikel, die ihn ununterbrochen bombardierten.

Als er das Flussbett erreicht hatte, ging er kurz vom Gas und horchte. Es klang so, als wären mindestens zwei Quads hinter ihm her.

Damit standen seine Chancen schlecht. Er konnte versuchen, sie abzuhängen, aber außer dem minimalen Vorsprung hatte er keinen Vorteil. Letztendlich würde derjenige gewinnen, dessen Tank den meisten Sprit enthielt, und er wusste, dass seiner nur halb voll war. Wenn seine Verfolger mehr hatten, war er so gut wie erledigt.

Es blieb ihm also nur die Möglichkeit, ein Versteck zu finden, von dem aus er sie überraschen konnte.

Der Trageriemen seiner Kalaschnikow schnitt ihm sowieso schon die ganze Zeit in den Rücken, gerade so, als würde das Gewehr darum betteln, das Problem erledigen zu dürfen. Also gut, dann sollte es so sein. Die Geschwindigkeit, mit der seine Verfolger näher kamen, ließ ihm sowieso kaum eine Wahl. Wenn er sie nicht aus dem Hinterhalt erledigen würde, war er so gut wie tot.

Er drehte am Gas und fuhr auf eine kleine Erhebung zu, die nur ein paar hundert Meter entfernt war. Mit etwas Glück würde er sie erreichen, bevor sie Sichtkontakt zu ihm aufnehmen konnten, und dann hätte er so gut wie gewonnen. Selbst, wenn man die fragwürdige Treffgenauigkeit der AK-47 mit einberechnete, würde er sie von seiner erhöhten Position aus mühelos niedermähen können.

In der Nähe eines Felsspaltes ließ er sein Quad ausrollen, stellte den Motor ab und ließ sich in eine geduckte Position fallen, in der er sich so schnell es ging von dem Quad entfernte. Denn wenn sie das Vehikel entdecken würden, wüssten sie sofort Bescheid – da half die Wüstentarnfarbe auch nicht viel, außerdem war das Glück an diesem Tage eindeutig nicht auf seiner Seite.

Das Knattern der anderen Quads wurde lauter, also klemmte er sein Gewehr zwischen zwei kleineren Felsbrocken ein, um die Stabilität zu erhöhen. Es war eine schiere Katastrophe, dass es überhaupt zu dieser Verfolgungsfahrt gekommen war, doch noch hatte er die Chance, alles zum Guten zu wenden.

Als der erste Fahrer um die nächstgelegene Kurve des Flussbettes geschossen kam, seufzte er und hoffte, dass der Zweite ebenfalls bald in Schussweite kommen würde. Das Quad wurde langsamer, als ob der Fahrer die Falle witterte. Dann kam der andere herangebraust und schlitterte auf dem feinen Schotter, im Begriff, die Kontrolle zu verlieren.

In diesem Moment ratterte die Kalaschnikow los und spuckte drei Kugeln in Richtung des rutschenden Quads. Durch den Hall in der felsigen Umgebung klang jeder Schuss wie ein Donnerschlag. Er sah, wie der Fahrer zu Boden gerissen wurde und sein Gefährt gegen eine Felswand prallte.

Sein Kamerad gab augenblicklich Vollgas und steuerte auf einen großen Felsbrocken in seiner Nähe zu, während ringsherum Kugeln einschlugen – doch keine traf. Der Schütze fluchte, als sein Gegner hinter dem Felsen und damit aus seinem Sichtfeld verschwand. Jetzt musste er mit Gegenfeuer rechnen.

Wie erwartet erklang aus der Richtung des Felsens ein scharfer Knall, und Dreck spritzte aus der Felswand neben ihm.

Fantastisch. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Von allen möglichen Gegnern, mit denen er es hätte zu tun bekommen können, hatte er nun auch noch einen erwischt, der einigermaßen gut schießen konnte. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens hallte sofort ein weiteres Donnergrollen durch den Canyon und eine Kugel schlug direkt hinter ihm ein. Das war viel zu nah für seinen Geschmack.

Er feuerte zurück und überzog den Felsbrocken mit Blei, dann rollte er sich hinter einen Vorsprung, der bessere Deckung bot.

Nun befanden sie sich dummerweise in einer Duellsituation. Keiner der beiden würde sich bewegen können, ohne zur Zielscheibe zu werden.

Während sie abwechselnd kurze Salven austauschten, brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Er warf einen Blick auf die Uhr und fragte sich, wie viel Zeit er hatte, bis sein Gegner Verstärkung erhielt. Wahrscheinlich nicht viel, und dann war er erledigt.

Während er noch überlegte, streifte ihn ein Luftzug von ungewöhnlicher Hitze und er hörte in der Ferne ein Donnern, das den Boden erzittern ließ. Er wagte einen Blick nach Norden und sah zu seinem Missfallen, dass der Himmel sich dort zu einer dunkelbraunen Wolke zusammenzog, die in seine Richtung unterwegs war. Es war einer der gefürchteten Ghobars – ein Sandsturm, der tödlich sein konnte, wenn er einen ungeschützt im Freien erwischte.

Durch seine Erfahrung mit den Stürmen hier in der Gegend wusste er, dass er nur ein paar Minuten Zeit haben würde, um sich vorzubereiten. Er feuerte noch eine Salve ab, um seinen Feind beschäftigt zu halten, dann zog er sich sein Halstuch vom Kopf und band es sich über Nase und Mund. Er schaute sich noch einmal kurz um und kam zu dem Schluss, dass seine Umgebung viel zu wenig Schutz vor der Naturgewalt barg, die da auf ihn zurollte. Seine einzige Hoffnung war, sein Gesicht so dicht wie möglich an die Felsen zu pressen, bis der Sandsturm vorüberzog. Der einzige Lichtblick war, dass es seinem Gegner nicht anders ergehen würde.

Der Luftdruck fiel rapide, mit einem tiefen Zischen verdunkelte sich der Himmel und eine Windhose aus Sand begann auf ihn einzuprasseln. Er drückte die Augen fest zusammen und tat sein bestes, auch seine Ohren und Nasenlöcher zu schützen, aber er bekam kaum Luft. Es fühlte sich an, als würden Tausende Angelhaken an seiner Kleidung zerren – während die unbedeckten Teile seiner Haut von einem gigantischen Sandstrahler bearbeitet wurden.

Alles was er tun konnte, war sich an seinem Gewehr festzuhalten und das Ende dieser gnadenlosen Barrage abzuwarten. Der Wind schwoll inzwischen zu ohrenbetäubender Lautstärke an und fegte mit der Kraft einer Lokomotive über ihn hinweg. Es schien so gut wie unmöglich, diese Naturgewalt zu überleben.

Doch schließlich verlor der Sandsturm an Intensität und er konnte etwas besser atmen – das Schlimmste hatte er überstanden, und obwohl es wirklich hart gewesen war, lebte er noch.

Als das Sausen in seinen Ohren auf einen erträglichen Pegel gesunken war, öffnete er die Augen und blinzelte in die bereits wieder blendenden Sonnenstrahlen.

In diesem Moment fiel ein Schatten auf ein Gesicht und die undeutliche Form eines Einheimischen thronte über ihm. Er riss sein Gewehr nach oben, doch es war zu spät. Die geschwungene Klinge eines Säbels sauste an seinem Hals entlang und durchschnitt seine Kehle, woraufhin eine scharlachrote Fontäne in den Wind aufsprühte. Der Ausläufer des Sandsturms saugte seinen Lebenssaft auf und trug ihn mit sich. Seine Existenz wurde in diesem unfruchtbaren Hinterland am Arsch der Welt beendet – durch einen Killer mit sonnengegerbter, ledriger Haut und pechschwarzen, mitleidslosen Augen.

Kapitel 1

Heute, Montevideo, Uruguay

Jets Laufschuhe hämmerten auf den brüchigen Gehweg ein, als sie auf den Eingang einer engen Gasse zuraste. Pfützen voller Brackwasser glitzerten in der Sonne, die fleißig dabei war, den Dunst der frühen Morgenstunden wegzubrennen. Eine leichte Brise vom Ozean trug dabei das salzige Versprechen eines wohligen Sommertages heran. Doch dafür hatte Jet jetzt nichts übrig; sie beschleunigte noch einmal ruckhaft und rannte dann zwei Schritte eine Wand hinauf, von der sie sich schwungvoll abstieß und in der Luft eine Drehung vollführte, um die Kante des gegenüberliegenden Daches zu ergreifen. Ihre Finger packten den Beton mit eiserner Willenskraft und sie zog sich nach oben.

Nachdem sie ihre neue Umgebung mit einem kurzen Blick erfasst hatte, fegte sie über die Dachpappe auf das andere Ende des Gebäudes zu und warf sich dort erneut in die Luft. Für eine Sekunde schien sie zu schweben, bevor sie auf dem nächstgelegenen Dach landete, wo sie ihren Aufprall mit einer Rolle dämpfte.

Schon war sie wieder auf den Füßen und rannte auf ein dreistöckiges, verlassenes Bürogebäude zu, das sich vor ihr in den Himmel erhob. Sie packte ein Fensterbrett nach dem anderen und arbeitete sich unter höchster Kraftanstrengung immer höher hinauf, bis sie sich auf das Dach schwingen konnte. Von dort wagte sie einen Blick zurück: Zwei Gestalten befanden sich auf dem Dach unter ihr und rannten in ihre Richtung. Sie hatte etwa fünf Sekunden Vorsprung, vielleicht zehn. Kam ganz darauf an, wie geschickt sie sich anstellen würden, um den dritten Stock zu erreichen.

Jet sprintete auf die gegenüberliegende Dachkante zu und spähte nach unten. Das nächstgelegene Haus hatte eine Etage weniger, war allerdings etwa fünf Meter entfernt, dazwischen lag eine kleine Gasse. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, trat ein paar Schritte zurück und rannte dann auf den Abgrund zu. Dort warf sie sich nach vorn und sauste durch die inzwischen schwüle Luft, wonach sie wieder mit einer weichen Rolle landete.

Nach fünf langen Schritten schwang sie ihren Körper über das Ende des Daches, packte ein Abflussrohr und sprang von dort durch einen leeren Fensterrahmen, dessen Scheibe längst ein Opfer von Vandalismus geworden war. Sie landete sicher auf einem mit Schutt übersäten Betonboden und hielt kurz inne, um sich zu orientieren. Von oben hörte sie zwei dumpfe Schläge. Sie kamen immer näher!

Sie entdeckte ein Treppenhaus und rannte hinein, packte das Geländer mit stählernem Griff und schwang ihren Körper hinüber. Im Fallen drehte sie sich und schnappte sich eine Etage tiefer das gegenüberliegende Geländer. Diese Prozedur wiederholte sie, bis sie im Erdgeschoss angekommen war.

Dieses gewagte Manöver hatte ihr einige wertvolle Sekunden eingebracht.

Über sich hörte sie den typischen Klang von Gummisohlen, die sich in vollem Lauf befanden. Sie holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen, und rannte dann durch eine offene Tür hinaus auf die Straße.

Die einst sicherlich belebte Gegend war ausgestorben, schon fast unheimlich still und statisch. Bis auf das Seufzen des Windes und ihre kontrollierten Atemzüge war nichts zu hören. Sie näherte sich jetzt einer Außentreppe, die in die Obergeschosse eines leeren Parkhauses führte, das aus verwittertem Beton mit vielen Graffiti bestand.

Sie raste auf die Treppe zu und sprang im letzten Moment hoch, packte ein Geländer und zog sich hinauf. Die restlichen Stufen bis zur dritten Etage nahm sie wie im Flug. Oben angekommen schaute sie diesmal allerdings nicht mehr nach ihren Verfolgern. Stattdessen hetzte sie durch das düstere, höhlenartige Innere des Parkhauses und hielt nicht einmal inne, als sie an der Betonbegrenzung ankam, hinter der es scheinbar ins Nichts ging. Sie schwang sich darüber und landete zielsicher auf einem schmalen Vorsprung auf der anderen Seite. Dort ließ sie sich einfach fallen, wobei sie sich drehte und kurz noch einmal die Kante packte, auf der sie eben noch gestanden hatte, um ihren Fall zu bremsen und mit katzenartiger Eleganz auf dem eine Etage tiefer gelegenen offenen Parkdeck zu landen.

Dort raste sie auf eine etwa zehn Meter entfernte Lücke zu, während hinter ihr ein Körper mit einem heftigen Grunzen auf dem Boden aufschlug. Jet überlegte sich ihren nächsten Zug und ließ sich ins Leere fallen, wo sie stolpernd im Dreck landete. Sofort rappelte sie sich auf und rannte weiter, auf eine abgesperrte Baustelle zu. Anscheinend sollte dort ein altes Gebäude renoviert werden, doch Arbeiter waren erwartungsgemäß nirgends zu sehen. Sie hievte ihren Körper über den Maschendrahtzaun und rannte durch den offenen Haupteingang des Hauses, ohne sich umzuschauen. Ihr Blick wanderte nach oben zu dem schmalen Atrium, wo sie im vierten Stock ein offenes Fenster nach draußen erspähte. Hinter ihr klapperte der Zaun – ein Signal, dass es fast zu spät war. Auf leisen Sohlen flüchtete sie auf die andere Seite des Raumes, wo ein dunkler Fahrstuhlschacht wartete.

Jet sprang durch die Öffnung und ließ sich etwa einen halben Meter fallen; der schmale Fahrstuhl endete offensichtlich im Erdgeschoss. Auf dem Boden angekommen streckte sie die Arme aus, wobei sie locker die Wände des Schachtes erreichte, und tat das gleiche mit den Beinen. Dann drückte sie sich abwechselnd links und rechts hoch und stemmte sich auf diese Art die vier Stockwerke in weniger als fünfzehn Sekunden nach oben. Dort schnappte sie sich schweißgebadet einen Stahlträger, an dem sie sich zu der Öffnung aufschwingen konnte, die sie von der Lobby aus gesehen hatte.

Damit war sie wieder im Freien auf dem Dach und rannte zur Kante des Gebäudes, das sich zwei Etagen tiefer mit einem weiteren Flachdach ausbreitete. Einem spontanen Impuls folgend trat sie einfach ins Nichts und ließ sich fallen. Ihre Füße landeten auf einem Fensterbrett eine Etage tiefer. In einer fließenden Bewegung stieß sie sich ab und machte einen Rückwärtssalto, nach dem sie in einer hockenden Stellung landete, wobei sie auch ihre Arme nutzte, um den Aufprall abzufedern.

Trotzdem schmerzte diese Landung in allen Gelenken, doch sie zwang sich, weiter zu machen. Mit der Agilität einer Spinne huschte sie auf allen vieren zum Rand des schmalen Daches und schwang dort ihre Beine nach unten. Mit den Armen stieß sie sich weiter ab, sodass sie schließlich auf einer hohen Steinmauer landete, die den Komplex umgab. Ihre Landung auf der nicht einmal einen halben Meter breiten Oberfläche war höchst präzise, und eine Vorwärtsrolle später rannte sie auch schon in vollem Tempo den Bürgersteig hinunter.

Jet warf einen Blick über die Schulter auf ihre Verfolger und raste dann weiter eine verlassene Querstraße entlang, die an einem Verkehrsdamm endete, der das heruntergekommene Industriegebiet von einer dicht befahrenen Verbindungsstraße trennte. Dort war bereits die morgendliche Rush Hour angebrochen und Jet wurde von dröhnendem Verkehrslärm begrüßt. Sie überwand den kleinen Wall und ließ sich auf der anderen Seite fallen, wo sich eine Abfahrt befand. Deren Kante ergriff sie kurz, um sich zu verlangsamen, und hing dann einige Sekunden über der Brachfläche unter dem Zubringer. Schließlich ließ sie los, rollte sich auf dem Boden elegant ab und machte noch einige schnelle Schritte auf die nahegelegene Wand zu, von der sie sich abstieß und einen letzten Rückwärtssalto machte.

Dieses eigentlich überflüssige Manöver brachte ihr zusätzlichen Applaus und anerkennende Pfiffe von den etwa acht anwesenden, mit Kapuzenpullovern bekleideten Jugendlichen ein. Kaum eine Sekunde später ließ sich ein zweiter Körper von der Auffahrt nach unten fallen, gefolgt von einem dritten.

Jet betrachtete ihre Ankunft mit einem Grinsen, dann streckte sie den Arm aus und tauschte High-Fives mit dem ersten Ankömmling, einem etwa Zwanzigjährigen mit einem schiefen Lächeln und wilder Frisur.

»Einigen wir uns darauf, dass die alte Frau doch noch ein paar Tricks drauf hat, okay?«

»Das war echt total irre. Respekt!«, keuchte der zweite Läufer und nickte beeindruckt.

»Gut zu wissen, dass ich noch nicht ganz abgemeldet bin. Und was ist jetzt mit unserer Wette?«, fragte Jet. Der dritte Läufer, der etwas größer gewachsen war, trat nach vorn und fischte in der Tasche seiner Schlabberhose herum, bevor er ein paar Scheine zum Vorschein brachte. Er zählte zweihundert Pesos ab, in etwa zehn Euro, und reichte sie ihr. »Ich würde sagen, die hast du dir echt verdient. So was habe ich ja noch nie gesehen«, gab er zu. »Wie lange machst du das schon?«

Ihre Augen leuchteten, als sie ihm die Scheine noch einmal unter die Nase hielt. »Wie alt seid ihr denn? Ich habe wahrscheinlich schon Parkour trainiert, als ihr noch nicht mal laufen konntet!«

Die Gruppe brach wieder in Gelächter aus. Zwei der jüngeren Kids rannten synchron auf die Wand zu und landeten nach Rückwärtssaltos gleichzeitig auf dem Boden. Ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren machte einen doppelten Sprungsalto über eine Betonbegrenzung und landete unter bewundernden Blicken in einer eleganten Pose.

Jemand aktivierte seinen Aktivlautsprecher und der dreckige Beat eines Gangsta-Raps hallte durch die Unterführung, während weitere Geldscheine ihre Besitzer wechselten. Die morgendlichen Wetten hatten ihren Abschluss gefunden und das junge Mädchen riss dem jüngeren Läufer einen Hundert-Pesos-Schein aus der Hand und warf ihm einen Luftkuss zu. Er tat so, als würde er das Gleichgewicht verlieren, stolperte auf die Wand zu und machte einen weiteren Salto, wobei er eine Hand auf sein Herz presste. Einer der Zuschauer begann mit einer kleinen Breakdance-Darbietung, die mit einem einarmigen Handstand endete.

»Okay, ich muss los. Bis zum nächsten Mal, Leute!«, rief Jet winkend und machte sich auf den Weg zum Geschäftsviertel von Montevideo. Sie war jetzt seit drei Monaten in Uruguay, nachdem sie Thailand fluchtartig verlassen hatte, und hatte sich direkt nach ihrer Ankunft ein regelmäßiges Sportpensum auferlegt. Dreimal morgens in der Woche trainierte sie Freerunning, die anderen vier Tage standen weniger anstrengende, normale Dauerläufe von acht bis zehn Kilometern Länge auf dem Programm.

Sie erhöhte ihr Tempo und joggte die fünf Kilometer zu ihrem gemieteten Townhouse, wobei sie das merkwürdige Gefühl verspürte, beobachtet zu werden.

Etwa einen halben Kilometer von ihrem Ziel entfernt blieb sie abrupt stehen und tat so, als würde sie sich die Schnürenkel zubinden, wobei sie sich unauffällig umschaute. Doch außer ein paar wenigen Fußgängern, die auf dem Weg zur Arbeit oder ihrem Morgenkaffee waren, konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Ihre Sinne arbeiteten auf Hochtouren, doch es war kein Anzeichen von Gefahr auszumachen.

Also schüttelte sie das merkwürdige Gefühl ab und ging gemütlich den Rest der Strecke bis zu ihrem neuen Zuhause, wobei sie eine Pause bei der Bäckerei einlegte, um ein paar frischgebackenen Croissants und eine Tasse Kaffee zu besorgen. Nachdem sie die letzte Ecke der kleinen Allee erreicht hatte und die Straße überquerte, stieg ein Autofahrer, der offensichtlich nicht viel von Stoppschildern hielt, voll in die laut aufjaulenden Bremsen. Dann warf der Kerl Jet auch noch einen bösen Blick zu, ohne dafür sein Telefongespräch zu unterbrechen. In Jet kam Wut auf, doch sie entschied sich, die Sache einfach zu ignorieren. Ärger konnte sie nicht brauchen – im Gegenteil war ihr Plan, sich unauffällig in die lokale Bevölkerung zu integrieren. Da brauchte es keinen Streit um Vorfahrtsregeln.

Jet tastete nach ihrem Schlüssel, den sie an einer Kette um den Hals trug und näherte sich dem Eingang des zweigeschossigen Backsteinhauses. Sie öffnete das Tor, das ihren klitzekleinen Vorgarten abschirmte und wollte gerade eintreten, als jemand sie am Arm packte. Sie riss sich los, wobei sofort ein Adrenalinstoß in ihrem Blut freigesetzt wurde und sie sich auf einen Kampf einstellte. Ihr rechter Arm schnellte quasi unbewusst auf Brusthöhe, um sowohl für verteidigende Bewegungen als auch für blitzschnelle Angriffe bereit zu sein. Gleichzeitig wirbelte sie herum und stellte fest, dass der vermeintliche Gegner eine uralte Frau mit weißem Haar und stumpfem, wirrem Blick war. Mit einer ausgestreckten Hand bettelte sie nach Kleingeld und Jet studierte die vielen Falten, die das Leben in ihre Haut gemeißelt hatte. Was sie dort herauszulesen glaubte, waren harte Zeiten, viele enttäuschte Wünsche und gebrochene Versprechen. Jet ließ ihre angespannte Haltung fallen und zog ein paar Münzen aus der Tasche, die sie in die knorrige Handfläche fallen ließ.

»Gracias. Muchas Gracias«, bedanke sich die Frau beseelt und stopfte sich das Geld in die Tasche, während sie ihre andere Hand erneut über Jets Arm streichen ließ. Jet nickte und brachte die Alte mit leichtem Druck auf ihre Schultern wieder auf den Weg, damit sie nicht gegen das Gartentor lief. Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr, um sicherzustellen, dass sie nicht zu spät dran war, öffnete die Tür und betrat das Haus, wo sie mit einigen Rufen ihre Ankunft verkündete.

Auf der anderen Seite der gepflasterten Straße blickte ein großer Mann mit Ziegenbart zufrieden über den Rand der Zeitung, die er zu lesen vorgab. Er erhob sich von der Bank, auf der er stundenlang ausgeharrt hatte, und machte sich auf den Weg zum nächstgelegenen Café, um sich etwas zu trinken zu holen – außerdem ein Stück Brot, um die Tauben zu füttern. Denn er musste seine Tarnung perfekt halten.

Kapitel 2

»Mama«, schrie Hannah begeistert auf, als sie Jet entdeckte, und rannte ihr so schnell entgegen, wie ihre zweijährigen, noch mit reichlich Babyspeck bedeckten Beine sie trugen.

»Hallo, meine Süße, Mami liebt dich«, sagte Jet, wobei sie in die Knie ging und die Arme aufhielt. Hannah rannte ungebremst in sie hinein und umarmte sie – seit sie in das Townhouse gezogen waren, war dies ihr Begrüßungsritual.

»Buenos dias, Señora Elyse«, sagte Magdalena, die Haushälterin, vom anderen Ende des Wohnzimmers aus, wo sie gerade die Möbel entstaubte.

Jet hatte ihre in Thailand frisch erschaffene Identität benutzt, um sich in Uruguay niederzulassen und deswegen kannte sie hier jeder unter dem Namen Elyse Nguyen. Niemand benutzte ihren Nachnamen, da Elyse viel leichter auszusprechen und zu merken war. Jet war das sowieso egal. Sie hatte in ihrem Leben schon so viele unterschiedliche Identitäten besessen, dass es für sie überhaupt keinen Unterschied machte, wie Leute sie ansprachen.

»Guten Morgen, Magdalena. War die Kleine heute brav?«, fragte Jet in flüssigem Spanisch.

»Ja, natürlich! Sie ist wie immer ein Engel«, versicherte Magdalena, wobei ein warmes Lächeln ihr Gesicht erhellte.

»Da bin ich mir nicht so sicher, aber ich bin froh, wenn sie heute einen guten Tag hat.« Jet stand auf und nahm Hannah an der Hand, um sie in die Küche zu dirigieren, wo sie die Tüte mit Croissants auf den Tisch stellte und sich die Hände wusch. Dabei untersuchte sie die unvermeidbaren Schrammen und Schnitte, die sie sich bei ihrem Parksourlauf zugezogen hatte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass alles sauber war und nichts entzündet aussah, ging Jet zum Esstisch und half Hannah in ihren Kindersitz. Sie brach ein Stück von dem Croissant ab, riss es in kleine Happen und legte diese auf Hannahs Teller. Die Kleine wartete artig, bis Jet fertig war, und fing dann begeistert an zu essen.

»Für dich habe ich auch ein Croissant, Magdalena – frisch gebacken!«

»Vielen Dank. Ich esse es gleich, wenn ich hier fertig bin«, verkündete Magdalena aus dem Wohnzimmer.

Jet hatte Magdalena an ihrem dritten Tag in der Stadt kennengelernt, während sie nach einer dauerhaften Bleibe Ausschau gehalten hatte. Sie hatte Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, gewählt, weil sie gleichzeitig modern und sicher, aber dennoch abgelegen war. Sie war etwa 200 Kilometer von Buenos Aires entfernt und lag auf der anderen Seite der riesigen Bucht an der Mündung des Rio Plata. Besonders interessant für Jet war, dass das Bankensystem als das sicherste Südamerikas galt – man bezeichnete das Land als »die südamerikanische Schweiz«, und dieser Spitzname war sehr zutreffend. Das Beste aber war, dass die Stadt quasi die maximal mögliche Entfernung zum Fernen Osten bot, wo sich Jet so bald nicht mehr blicken lassen wollte.

Nach dem Desaster in Thailand war sie aus dem asiatischen Raum geflohen und wollte einen physischen Abstand zwischen sich und den Ort bringen, wo Matt gestorben war. Hier hatte sie eine ganz andere Landschaft um sich, die weniger Assoziationen und Erinnerungen hervorrief. Ihre ausgiebige Internet-Recherche nach einem neuen Zuhause hatte sich gelohnt, denn im Umkreis von dreitausend Kilometern gab es keine einzige Person, die sie kannte. Es war alles genau in ihrem Sinne.

Die Diamanten im Wert von fünfzig Millionen Dollar, die Matt ihr anvertraut hatte, lagen sicher in einem Schließfach in der größten Bank Uruguays, ganz in ihrer Nähe. Auch auf das Konto mit den zehn Millionen Dollar, die ihr das Abenteuer in Thailand eingebracht hatte, konnte sie inzwischen von hier aus zugreifen. Sie hatte das Geld in unauffälligen Tranchen transferiert, wobei sie anderthalb Millionen zurückgelassen hatte, für den Fall der Fälle. Das Undercover-Konto, das Matt für sie eingerichtet hatte, könnte in Zukunft vielleicht noch nützlich sein.

Magdalena war ihr von dem Makler empfohlen worden, der ihr das Haus vermittelt hatte, und schon am ersten Tag hatte sie sich als unverzichtbare Hilfe erwiesen. Sie hatte sogar ohne zu zögern eingewilligt, in die Bedienstetenwohnung im Erdgeschoss einzuziehen, die für Häuser dieses Alters in Uruguay typisch war. Ihre eigenen Kinder waren bereits erwachsen und standen auf eigenen Beinen, von daher schien Magdalena sogar dankbar für die Gelegenheit, sich wieder um ein Kleinkind kümmern zu können. Jet vermutete, dass ihr das angenehme Erinnerungen an ihre eigenen Kinder brachte, und dass Hannah absolut in sie verliebt war, half sicherlich auch.

»Ich möchte mit Hannah nachher noch in die Mall gehen. Sie wächst im Moment so schnell und braucht dringend neue Schuhe«, rief Jet, während sie auf ihrem Croissant herumkaute. Dann pikte sie Hannah kitzelnd in ihre propere Taille und die Kleine quietschte vor Vergnügen.

»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Magdalena.

»Wie du möchtest. Hast du noch viel zu tun?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber hierbleiben. Ich wollte schon seit Tagen unbedingt den Garten machen, denn von allein wird das nichts. Also wenn Sie mich nicht brauchen, um nach Hannah zu sehen …«

»Aber sicher. Einen Ausflug in die Mall kriege ich ja hoffentlich allein hin«, versicherte Jet, woraufhin sie sich das letzte Stück Croissant in den Mund schob und Grimassen für Hannah schnitt.

»Okay, dann kümmere ich mich um den Garten, sobald ich mit dem Wohnzimmer fertig bin. Möchten Sie noch Frühstück?«

»Nein, die Croissants reichen mir. Andererseits sehe ich keinen Grund, warum ich nicht noch einen Kaffee trinken sollte. Ich habe mir schon einen in der Bäckerei geholt, aber dein Selbstgekochter ist natürlich leckerer!«

»Und ich habe auch schon eine Kanne vorbereitet! Moment, ich gieße ihn gleich ein …«

»Nein, nein, ich mache das schon. Du hast genug zu tun!«

Hannah machte inzwischen kräftig Unordnung an ihrem Platz. Sie war noch zu klein, um ordentlich zu essen, aber deutlich zu groß, um es zuzulassen, dass Jet sie fütterte. Sie legte nämlich schon großen Wert auf ihre Unabhängigkeit, auch wenn das im Zusammenspiel mit Magdalena nicht ganz so ausgeprägt war.

Das Townhouse war wirklich ein guter Fang. Es lag zentral und war riesig. Im Obergeschoss waren drei Zimmer, unten gab es die Bedienstetenwohnung, und alle Räume waren sehr gut geschnitten. Die Miete war für die Verhältnisse Uruguays schon hoch, aber immer noch weniger als die Hälfte von dem, was so ein Objekt in europäischen Großstädten kosten würde. Zudem konnte Jet sich gar nicht oft genug daran erinnern, dass sie sich um Geld keine Sorgen mehr machen musste.

Das bedurfte allerdings einer gewissen Umstellung. Sie war nie materialistisch gewesen, sondern im Gegenteil eher sparsam. Das war Teil ihres effizienten Lebensstils, der sich in allem, was sie tat, erkennen ließ. Effiziente Bewegungen, effizientes Handeln, effizientes Leben. Aber jetzt war sie eine wirklich reiche Frau, egal welchen Maßstab man ansetzte, und das schien ihr höchst surreal. Die Zahlen, um die es dabei ging, waren so groß, dass Jet sie kaum begreifen konnte.

Trotzdem hatte sie in ihrer Laufbahn gelernt, dass man niemals etwas besitzen sollte. Alles nur mieten, das war ihre Regel, weil es jederzeit sein konnte, dass sie von heute auf morgen ihr komplettes Leben aufgeben und alles zurücklassen musste.

Deswegen hatte sie dieses Haus gemietet, und deswegen fuhr sie immer mit dem Taxi, statt dem sowieso schon dichten Verkehr noch ein weiteres Auto hinzuzufügen. Irgendwann würde sie sich vielleicht ein Auto kaufen, aber in einer Stadt wie Montevideo war das eigentlich gar nicht nötig. Im Gegenteil wäre es eher eine weitere Verantwortung, die auf ihren Schultern lasten würde. Und von denen hatte sie wahrlich schon genug.

Jet sah auf die Uhr. In einer Stunde würden die Geschäfte aufmachen, also hatte sie noch reichlich Zeit, sich fertigzumachen, bevor sie auf Einkaufstour gehen würden. Allerdings hatte sie auch noch ein Spielplatztreffen mit einigen anderen Müttern ausgemacht, die sie im botanischen Garten kennengelernt hatte, und diese dreimal die Woche stattfindende Verabredung war jedes Mal ein Highlight in Hannahs Woche.

»Magdalena, könntest du nach Hannah schauen, während ich dusche? Ich brauche ungefähr zwanzig Minuten.«

»Natürlich, bin gleich bei ihr!«

»Danke«, rief Jet, wobei sie sich ihre Kaffeetasse schnappte und sich auf den Weg nach oben machte.

Als Magdalena im Esszimmer ankam, war Jet auch schon im Bad und zog sich ihre immer noch klammen Trainingsklamotten aus. Hier und da hatte die Kleidung Blessuren von den morgendlichen Eskapaden davongetragen, aber Parkour war definitiv Jets Lieblingshobby. Sie war froh, dass sie es auch hier nach Herzenslust verfolgen konnte, denn es gab jede Menge halbfertige oder verlassene Gebäude in der Nähe, die sich als Schauplatz für Freerunning eigneten. Heute hatte Jet wirklich ihr Bestes gegeben und dabei viele Muskeln erneut kennen und schätzen gelernt, die sie im Verlaufe ihres langjährigen Trainings entwickelt hatte. Am schönsten aber war, dass sie direkt eine örtliche Gruppe gefunden hatte, die ihre Leidenschaft teilte, sodass sie sich austauschen und messen konnte.

Parkour war eine Mischung aus Gymnastik, Athletik und purem Draufgängertum. Vermutlich war Jet langsam am Ende ihrer Blütezeit angekommen oder sogar schon darüber hinaus, wenn man sich ansah, wie jung einige der anderen Freerunner hier waren. Sie selbst war zwar erst achtundzwanzig, aber nach dem Lauf heute fühlten sich ihre Knochen und Muskeln wie die einer Greisin an. Doch das war nur die Nachwirkung, im Moment des Laufs hatte sie sich großartig gefühlt, und der Moment war schließlich das, was zählte.

Sie trat nackt unter die Dusche und drehte die bronzenen Armaturen, woraufhin sie einen Moment auf die quietschenden Rohre warten musste, bis diese warmes Wasser ausspuckten. Diese Zeit nutzte sie, um ihren Körper in dem Ganzkörperspiegel zu studieren. Nicht schlecht für eine nicht mehr ganz taufrische Mutter, dachte sie. Sieben Prozent Körperfett, ein Sixpack und die Statur einer Athletin. Das alles dank ihres rigorosen Trainings und den mehreren Stunden harten Work-outs, durch die sie sich jeden Tag quälte, egal ob es draußen regnete oder gar schneite.

Ihr striktes Fitnessprogramm sah sie als ein Überbleibsel ihrer Vergangenheit, an dem sie aber um jeden Preis festhalten wollte, denn ihre sportliche Verfassung hatte ihr schon mehr als einmal das Leben gerettet. Wenn sie faul und träge würde, könnte das ihr Ende bedeuten.

Endlich stieg Dampf hinter dem Duschvorhang auf und Jet regulierte die Wassertemperatur auf ein angenehmes Niveau. Dann trat sie in den Strahl und genoss die sanfte Massage der Tropfen.

Eigentlich war das alles kaum zu glauben. Sie war nun in einem Land angekommen, das sie nie zuvor in ihrem Leben besucht hatte, war reich jenseits ihrer wildesten Fantasien, und hatte eine Tochter, die sie Anfang des Jahres noch für tot gehalten hatte … und ihre einzige Sorge waren Einkaufstouren und Verabredungen mit anderen Müttern.

Das Leben war schon verrückt.

Jet schrubbte sich sorgfältig mit Seife ab und wusch dann ihr Haar mit einem blumigen Shampoo, das Magdalena gekauft hatte. Schließlich spülte sie sich ab und trat tropfend auf die Badematte.

Sie betrachtete erneut ihr Spiegelbild, während sie sich eine Bürste durch die Haare zog, die inzwischen dunkelbraun gefärbt waren und eine Länge erreicht hatten, die den brutal kurzen Schnitt aus Thailand vergessen ließen.

Der Gedanke an Thailand ließ sie innehalten.

Das schien alles so fern, dabei war es gerade einmal neunzig Tage her, dass sie vor Matts zerstörtem Strandhaus stand und hilflos zusah, wie sich schwarze Rauchwolken in den Himmel auftürmten.

Eine Ewigkeit. Und gleichzeitig ein Augenzwinkern.

Es hatte sich so viel verändert; sie war ein ganz anderer Mensch geworden. Häuslich, in sich selbst ruhend und ganz dem Wohlbefinden von Hannah verschrieben. Sie würde nicht mehr weglaufen müssen.

Allerdings hatte Matt das gleiche gedacht und dafür den ultimativen Preis bezahlt, denn die Vergangenheit konnte man nicht so einfach abschütteln. Ganz offensichtlich hatte er unterschätzt, wie weit die CIA-Gruppierung gehen würde, mit der er sich angelegt hatte, um ihn auszuschalten. Ein kritischer Fehler – einer, den Jet niemals machen würde.

Bei ihren letzten Telefongesprächen hatte er so fröhlich geklungen. Endlich ein Leben am Strand wie im Paradies, kein Vergleich zu seinem quälenden Exil im wilden Dschungel von Myanmar.

Wenn die Dinge doch bloß anders gelaufen wären …

Sie beendete ihre Haarpflege und damit auch ihre Gedanken. In der schmerzhaften Vergangenheit zu stochern würde auch nichts ändern. Man konnte nichts mehr daran ändern und die Toten ließen sich nicht zurück ins Leben bringen.

Vielleicht war es das Beste, die Vergangenheit zu begraben.

Im Hier und Jetzt ging es darum, Zeit mit Hannah zu verbringen, ihre Kindheit zu erleben und sich als Mutter zu fühlen. Die Toten zu betrauern half dabei nichts.

Es war besser, sich auf die Zukunft zu konzentrieren.

Denn für Jet – und Hannah – hatte die Zukunft nie besser ausgesehen.

Kapitel 3

Hannah war nicht glücklich. Verkrampft zog sie die Mundwinkel nach unten und schmollte. Die hochglänzenden Lackschuhe, die sie haben wollte, bekam sie nicht – stattdessen hatte Jet deutlich dezentere Turnschuhe mit praktischem Klettverschluss ausgesucht. Ob man sie leichter an- und ausziehen konnte, war Hannah aber egal, Praktikabilität interessierte sie nicht. Als sie die Lackschuhe gesehen hatte, waren die Würfel gefallen – die oder keine!

Jet war allerdings nicht in der Stimmung, sich von einem Kleinkind ihren Einkaufszettel bestimmen zu lassen, sie sollte sich gar nicht erst daran gewöhnen, alles zu bekommen, was sie haben wollte. Es musste Grenzen geben, das Leben war nun mal kein Ponyhof. Das war eine höchst wichtige Lehre, die Jet vermitteln musste, wenn sie kein selbstsüchtiges Monster großziehen wollte. Dabei kamen Jet Gedanken an ihre eigene Kindheit … den Tod ihrer Eltern und den daraus resultierenden Entzug von Liebe und Zuwendung … die schwierige Zeit in Waisenhäusern, ihren gesetzlichen Vormund …

Wenn sie ihrer Tochter nun jeden Wunsch erfüllen wollte, wer sollte sie daran hindern? Am Geld würde es jedenfalls nicht scheitern.

Doch Jet kannte bereits die Wahrheit: Eigentlich hatte sie Hannah schon über alle Maßen verwöhnt und war die meiste Zeit nur noch ihre Dienerin. Hannah war die kleinwüchsige Herrin des Hauses. Doch jetzt würde sie einen Riegel vorgeschoben bekommen. Sie würde gefälligst die Schuhe tragen, die Jet ausgesucht hatte und zufrieden damit sein.

Der Verkäufer registrierte ihren Einkauf und Jet zahlte bar, woraufhin sie sich die übergroße Plastiktüte mit dem Schuhkarton schnappte und zum Ausgang schlenderte.