Joana auf Echo-Hall - Alexander Bálly - E-Book

Joana auf Echo-Hall E-Book

Alexander Bally

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Beschreibung

Ausgerechnet auf Echo-Hall muss die zehnjährige Joana einen Sommer verbringen! Das alte Haus des kauzigen Gelehrten ist düster, still und trostlos, und der Hausherr kann offenbar Kinder nicht ausstehen. Der Aufenthalt wäre sterbenslangweilig, wenn da nicht überall im Haus diese alten Gemälde hingen. Beim Essen scheint ein Küchenmädchen Joana aus einem Bild heraus zu beobachten und auf einer gemalten Wiese verschwinden Kühe, Schafe und Pferde, nur um später wieder zu erscheinen. Langsam, in kleinen Schritten, kommt Joana einem unglaublichen Geheimnis der Bilder auf die Spur: dem Geheimnis von Echo-Hall. Ein spannendes Fantasy-Abenteuer, zugleich ein Buch über Malerei und ihren Zauber. Für große und kleine Leser ab 11 Jahren.

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Joana auf Echo-Hall

GeleitAnkunft auf Echo-HallSir AlbertFannyFrage und Antwortein Haus voller Bilderdie Wunderenteeine unglaubliche Entdeckungdas vergessene Stockwerkdie Dachkammernder Professordie BibliothekserlaubnisKraftorteder Brieffast eine EntschuldigungSpukbilder?die Bilder im ArbeitszimmerMaster Ruperts seltsames VerschwindenSir Alberts ProblemWas ist Kunst?das Zimmer der Tantedie verschlossenen ZimmerGeburtstagsüberraschungJoana bringt die Welt in OrdnungDaphne und Daisyzweimal dieselbe Frageauf der SucheBefragungenim SturmzurückAbschied von Echo-Hallein Wort noch zum Schauplatzdie Website mit den Bildern zum BuchImpressum

Geleit

meinen Neffen und Nichten An manchen Orten kann man einen Hauch von uralter Magie spüren, einen scheuen Zauber, unsichtbar, flüchtig, beinahe wie ein Duft. Solche Orte sind es, die unsere Phantasie beflügeln und uns Türen zu anderen Welten öffnen.

Vielleicht sind diese Orte ja tatsächlich Stellen, wo unsere Welt von anderen berührt wird. Diese Welten sind wie die unsere, nur voller Wunder. Mit der Kraft der Phantasie kann man in diese Welten reisen. Bücher sind Pforten dorthin.

Doch auch Bilder können zu solchen Pforten werden. Man muss nur lernen, sie aufzustoßen.

Ankunft auf Echo-Hall

Seit einiger Zeit sah Mama nun schon blass aus. Sorgen hatte Joana sich aber nicht gemacht. Mama war zwar nun öfter beim Arzt, doch das Leben war so wie immer: Joana ging in die Schule und spielte mit anderen Kindern auf dem Spielplatz im Park. An den Wochenenden waren sie und Mama meist allein zu Hause. Joanas Papa war ja auf seinem Schiff. Das war schon immer so gewesen. Darum fehlte er ihr nicht so sehr. Sie war die Tochter eines Offiziers auf einem großen Handelsschiff, eines Seemanns in weißer Uniform, und der war nun einmal nur sehr selten daheim.

Dann aber kam der Tag, an dem sich das Leben für Joana änderte. Plötzlich sollte sie wegziehen – aufs Land.

»Ich bin krank. Schlimm krank«, erklärte ihre Mutter. »Ich muss mich operieren lassen. Darum muss ich ins Krankenhaus, und selbst danach muss ich mich noch eine ganze Weile erholen. Ich kann mich da nicht so um dich kümmern, wie ich es möchte. Alleine kann ich dich auch nicht in der Wohnung lassen. Du wirst den Sommer bei Tante Hilda verbringen.«

Joana protestierte, sie weinte sogar ein wenig, doch dieses Mal ließ Mama nicht mit sich handeln.

»Glaub mir! Du wirst es gut haben bei Tante Hilda. Sie ist Hausdame in einem großen Anwesen bei einem vornehmen Mann, Sir Albert. Es wird dir dort gefallen.«

Drei Tage später saß sie allein im Zug. Schon beim Einsteigen wusste Joana genau, dass es ihr dort – ohne Mama und ihre Freundinnen – sicher nicht gefallen würde. Doch es half nichts. Der Zug fuhr unerbittlich weiter. Fort von ihrem Zuhause, in eine unbekannte Zukunft. Nach fast drei Stunden gab ihr der Schaffner Bescheid. Nur noch eine Station und sie würde am Ziel sein. So weit weg. Hier sah nichts aus wie daheim. Schon lange waren sie durch keine Städte mehr gekommen. Sie sah nur Dörfer vor dem Fenster oder Wiesen und Wald.

Als der Zug hielt, kletterte sie auf den leeren Bahnsteig. »Klapp« machte die Tür, es zischte und der Zug fuhr weiter. So stand Joana da mit ihrem Koffer und kam sich sehr verloren vor. Auf dem Bahnhofsvorplatz war es nicht besser. Auch hier war niemand. Dass in dieser Gegend Menschen wohnten, ließ nur ein Kirchturm hinter einem grünen Hügel erahnen. Joana begann sich zu fragen, ob sie falsch ausgestiegen war, doch der Name auf dem Stationsschild stimmte. Was war nur schief gelaufen? Mama hatte aufgeschrieben, dass ein Taxi am Bahnhof auf sie warten würde, doch es war keines da. Während sie noch überlegte, was sie nun tun könnte, fuhr ein großes schwarzes Auto vor. Es hatte ein Taxischild auf dem Dach.

So kam Joana Martin an einem Sonntag im Mai nach Echo-Hall. So hieß das Anwesen hinter dem kleinen Dörfchen und genau das – »Echo-Hall« – war auch auf dem großen Eisentor in der Gartenmauer zu lesen. Noch eine ganze Weile fuhr ihr Wagen auf einem Kiesweg durch einen großen Park voller efeuüberwucherter Bäume und verfilztem Gestrüpp. Dann endlich öffnete sich die Aussicht auf ein gepflegtes Stück Rasen. Darin erhob sich das große Haus.

Man hätte es als Schloss bezeichnen können. Doch man nannte es in der Gegend – meist leise und hinter vorgehaltener Hand – »das große Haus«, wenn man es überhaupt erwähnte, denn man sprach nur ungern vom großen Haus. Man hielt es für seltsam und der Hausherr war nicht beliebt. Doch das wusste Joana natürlich nicht.

Das Haus war alt, mit vielen Kaminen, Türmchen und so vielen hellgrünen Blechdächern, dass es so aussah, als hätten gleich mehrere verrückte Architekten auf ein und demselben Fleck jeder ein Schlösschen stellen wollen und sie ineinander stecken müssen.

Das Auto hielt vor einer großen Treppe unter einer hohen Tür und ließ Joana aussteigen. Ganz allein stieg sie mit ihrem Köfferchen hinauf. Einen Klingelknopf gab es nicht, nur einen grimmigen Löwenkopf als Türklopfer. Sollte sie es damit versuchen? Sie sah sich ratlos um. Hinter ihr fuhr der Wagen den gekiesten Weg zurück. Joana holte tief Luft, fasste sich ein Herz und wollte gerade klopfen, da ging die Tür auf und sie stand vor einer dürren Frau in einem langen, dunklen Kleid.

»Willkommen auf Echo-Hall, Joana!«

Die Frau hielt ihr eine Hand hin.

»Hallo.« Joana wusste nichts Besseres zu sagen. Dann trat die Frau zur Seite.

»Komm erst einmal herein, meine Liebe. Ich bin Hilda. Tante Hilda. Ich freue mich sehr, dich endlich wiederzusehen. Du hast die Augen deines lieben Vaters. Komm, ich zeig dir dein Zimmer.«

Zögernd trat Joana in eine düstere Halle. Schwere Holztruhen standen unter dunklen Wandteppichen und große, altersdunkle Bilder hingen dazwischen. Wo die Wände noch etwas Platz boten, ragten riesige Türen aus dunklem Holz auf. An der Rückwand führte eine breite Treppe nach oben. Sie stiegen hinauf und wandten sich nach rechts, in einen finsteren Korridor. Dort, am Ende des Ganges, wartete Joanas neues Zuhause. Es war groß und wirkte kühl. Es gab ein Bett, einen Schreibtisch und an der Wand stand ein Schrank mit drei Türen. Daneben hing ein leeres Bücherregal. Die Möbel waren alt, aber gut gepflegt und weiß gestrichen. Nur der Schrank war dunkel. Am Fenster stand ein bequemer Lehnstuhl.

Joana blickte sich um. So viel Platz hatte sie bisher noch nie gehabt. Auch wenn alles hier recht altmodisch wirkte, war dieser Raum doch heller, als alles, was sie bisher vom Haus gesehen hatte. Dennoch wirkte auch hier alles sehr fremd und leblos. Der einzige bunte Klecks Farbe im Zimmer war ein großes Bild über dem Kopfende des Bettes. Joana warf nur einen raschen Blick darauf. Es zeigt eine Wiese vor einem Haus mit Kühen und Schafen darauf, die weideten.

»Eines der Werke vom Professor, aber nur eines der weniger Bedeutenden«, erklärte Tante Hilda, die ihren Blick bemerkt hatte.

»Ist der Hausherr denn ein Professor?«, fragte Joana.

»Nein, mein Kind!« Tante Hilda lachte fröhlich. »Der Professor ist schon ganz lange tot. Unser Hausherr, Sir Albert, ist sein Enkel oder Urenkel – vielleicht auch sein Ururenkel. So genau weiß ich es nicht. Er malt aber keine Bilder.«

»Was macht er dann?«

»Er schreibt Bücher.«

»Oh, wie schön. Sind sie spannend? Ich lese aufregende Abenteuergeschichten so gerne!«

»Nun, diese Bücher wirst du kaum mögen. Seine Bücher sind schrecklich langweilig. Es geht nur um die Politik von uralten Königen in Sumer, Ur und Babylon.«

Joana schwieg enttäuscht. Bei einem Autor, der schöne Bücher schreibt oder Kinderbücher, da wäre sie gerne geblieben. Aber wenn er sich nur um uralte Könige kümmerte … Das klang sehr öde.

Als Tante Hilda Joanas wenige Wäschestücke in den riesigen Schrank geräumt hatte, wurde sie plötzlich ernst.

»Sir Albert ist ein sehr ernsthafter Mann. An Kinder ist er nicht gewöhnt. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Du wirst ihm gleich vorgestellt werden. Du solltest ihn mit ›Sir‹ anreden. Und pass auf, was er dir erklärt. Es gibt viele Sachen, die er nicht leiden kann. Er wird dir sagen, was du beachten solltest. Bitte richte dich danach. Er ist schließlich der Hausherr. Das klingt nun alles vielleicht schrecklich streng. Hab ein wenig Geduld. Du wirst dich schon eingewöhnen. Am Ende wird auch hier alles viel weniger heiß gegessen, als es gekocht wird. Und nun komm, wir wollen ihn besuchen.«

Während sie wieder zur Halle hinter gingen, schossen Joana wirre Gedanken durch den Kopf. Ob sie weglaufen konnte? Aber wohin? Der Lord war nicht an Kinder gewöhnt. Andererseits – ihr war der Umgang mit Gelehrten genauso fremd. Wieso sollte sie allein Rücksicht nehmen?

Sir Albert

Im Arbeitszimmer war es dämmrig, denn schwere Vorhänge verdunkelten die Fenster. So wirkte der Raum wie eine finstere Höhle aus Regalen voller uralter Bücher, ebenso alten Landkarten an Ständern und seltsamen Antiquitäten. Vor Joana stand ein riesiger Schreibtisch. Jenseits der Tischplatte, hinter dem Berg an Papieren und Büchern, saß Sir Albert. Ob er alt war oder nicht, konnte Joana nicht sagen. Sie erkannte nur einen Haarschopf, der wirr in alle Richtungen abstand. Dann sah Sir Albert auf. Das Gesicht unter den Haaren war blass und grau. Die Augen versteckten sich hinter einer Brille mit runden Gläsern.

Wie stellt man sich einem »Sir« vor? Alles in diesem Haus wirkte auf Joana unglaublich altmodisch, also machte sie einen Knicks. Zumindest versuchte sie es. Sie setzte einen Fuß zurück und machte eine recht wacklige Kniebeuge. Dann stand sie da. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dass sie stumm gemustert wurde.

Endlich erhob sich Sir Albert und ging einmal um sie herum.

»Johanna, wie?«

»Joana, Sir«, verbesserte ihre Tante.

»Aus London, nicht wahr?«

Joana nickte.

»Kann die Stadt nicht leiden. Dein Vater ist bei der Marine?«

»Er ist Offizier auf einem großen Handelsschiff und natürlich zurzeit auf See.«

Wieder hatte Tante Hilda für sie geantwortet.

»Hatte nie viel übrig für das Meer. Zuviel Wasser. Wie steht es? Ist das Kind stumm oder kann es auch selbst sprechen?«

»Ja, Sir!« piepste Joana und wünschte sich, es hätte fester und kräftiger geklungen.

»Was denn nun? Das ist doch keine vernünftige Antwort. Was meinst du? ›Ja, Sir, ich bin stumm.‹ oder ›Ja, Sir, ich kann selbst sprechen.‹?«, fragte er und sah sie scharf an.

»Ja, Sir, ich kann selbst sprechen.« Sie klang nun eine Spur selbstbewusster.

»Wie alt ist die junge Lady?«

»Ich bin zehn, Sir.«

»Nicht sehr groß für eine Zehnjährige, wie?«

Joanas Ohren wurden heiß und sie spürte, wie sie feuerrot anlief.

»Dir ist klar, wieso du hier bist?«

Joana wollte schon antworten und ihm von Mamas Krankheit erzählen, doch sie kam gar nicht zu Wort.

»Du bist hier, weil deine Mutter dich gut versorgt wünscht. Deine Tante hat deiner Mutter den großen Gefallen getan, denn sie hat sich bei mir für deine Aufnahme eingesetzt. Sie ist mir eine treue Angestellte und so habe ich zugesagt. Du bist also sowohl Madame Hilda als auch mir großen Dank schuldig. Mir besonders, da wir ja in keiner Weise verwandt sind. Ich bin dir in keiner Weise verpflichtet. Ist dir das klar, junge Dame?«

Joana nickte.

»Gut. Ich will, dass du dir dessen stets bewusst bist. Trotzdem: Auf große Gesten der Ergebenheit und Dankbarkeit lege ich keinerlei Wert. Ich will weder selbst gepflückte Blumensträuße von dir noch selbst gemalte Bilder. Und ja keine Gedichte! Du dichtest doch nicht?«

Joana schüttelte den Kopf.

»Die beste Art, deine Dankbarkeit auszudrücken, ist ein gutes Benehmen. Du wirst dich deshalb gut betragen und ein paar wenige und einfache Regeln befolgen. Das hast du verstanden?«

Er sah sie streng an und sie nickte.

»Ja Sir.«

»Ich habe stets viel zu arbeiten und das erfordert Ruhe und einen geregelten Tagesablauf. Du wirst deshalb weder das Arbeitszimmer aufsuchen noch die Bibliothek. Du wirst nicht rennen oder springen, nicht lachen oder singen und keine Albernheiten machen, wo es mich stört. Es stört mich grundsätzlich überall im Haus und ebenso auf dem Rasen vor dem Arbeitszimmer. Ist dir das klar?«

»Und wo soll ich spielen?«, fragte Joana schüchtern.

Der Lord runzelte die Stirn und sie fügte rasch ein »Sir?« hinzu.

»Mir ist natürlich klar, dass du einen Platz brauchst, wo du tun kannst, was Kinder so tun. Spielen und all das. Hinter dem Haus ist ein Gartenhaus. Wenn du nicht zu laut bist, kannst du dort fürs Erste deinen … deinen Kinderangelegenheiten nachgehen.«

Der Lord trat an eine große Tafel, wo er eine Art Stundenplan aufgezeichnet hatte. Er deutete darauf und erklärte:

»Das Frühstück wirst du um halb neun Uhr in der Küche einnehmen. Danach wirst du bis zwölf Uhr mit deiner Tante lernen. Wenn du später wieder in deine Schule gehen wirst, sollst du ja keine allzu großen Lücken haben. Lernen also von neun bis zwölf. Mehr Zeit kann deine Tante bei all ihren Pflichten im Haus nicht für deine Ausbildung erübrigen. Das wird also genügen müssen. Nutze diese Stunden und lerne ruhig auch in deiner Freizeit recht fleißig! Das Mittagessen wird um zwölf Uhr im Speisezimmer serviert. Ich werde aber nur selten daran teilnehmen. Zwischen vier und fünf Uhr am Nachmittag kannst du Tee in der Küche haben. Das Abendessen gibt es um sieben Uhr am Abend. Spätestens dann werden wir uns sehen. Und noch eines ...«

Der Hausherr trat ans Fenster und riss den Vorhang auf. Joana musste die Augen zukneifen, so hell war das Licht, das nun plötzlich hereinschien.

»Komm zu mir, Mädchen!«

Joana folgte zögernd.

»Was siehst du vor dem Haus, Kind?«

»Einen Rasen, Sir.«

»Der Rasen ist kurz gemäht. Sieh hinaus: Was siehst du hinter dem Rasen?«

»Hohes Gras und Bäume, Sir.«

»Das ist der Park, mein Kind. Der Park geht in den Wald über. Du wirst dich nur auf dem Rasen am Haus aufhalten. Gehe nicht ins hohe Gras. Nicht unter die Bäume. Und schon gar nicht wirst du in den Park gehen. Ich habe keine Zeit, meine kostbaren Tage zu verschwenden, um verlorene kleine Mädchen aus Gefahren zu retten, in die sie sich aus purer Unvernunft begeben. Du wirst auf dem Rasen bleiben, vor dem Haus. Hast du das verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Gut, mein Kind. Dann wünsche ich dir einen frohen Aufenthalt auf Echo-Hall.«

Fanny

Das Abendessen hatten sie im Speisesaal eingenommen, an einem riesigen Tisch, fast so lang wie der Korridor zuhause. Über die ganze Länge der Tafel lagen weißen Tischdecken, doch nur am Ende der Tafel waren Teller und Besteck gedeckt. Sir Albert saß am Kopfende, Tante Hilda rechts neben ihm. Joanas Platz war zu Sir Alberts Linken.

Joana fand das Abendessen sehr sonderbar. Zu Hause hätte Mama zum Essen gerufen, und dann hätte man gegessen, gelacht und sich unterhalten. Hier hatte Tante Hilda den Gong geschlagen. Als Joana eintrat, nahm sie die Schüsseln aus einem Speiseaufzug in der Wand, stellte sie auf eine große Anrichte gleich daneben und begann die Suppenteller zu füllen. Inzwischen war Sir Albert erschienen und setzte sich an das Kopfende des Tisches und wies Joana den Platz neben sich an. Als Tante Hilda allen die Suppe gereicht hatte, begannen sie zu essen.

Während der Suppe war kein Wort gefallen und auch beim Hauptgang, einem leckeren Fleischgericht mit Curry und Reis, wurde nur das Nötigste gesprochen, wenn man noch um eine Portion bat zum Beispiel oder als Tante Hilda den Salzstreuer brauchte. Das Essen wäre langweilig gewesen, hätte es nicht die Bilder an den Wänden gegeben, die Joana anschauen konnte.

Es waren altmodische Bilder in schweren Rahmen und sie hatten alle mit Essen oder Küchenarbeiten zu tun. Hinter Sir Albert sah sie ein Bild mit einem Teeservice, einer Schale Konfekt und Früchten. Über Tante Hildas Schulter war auf einem Bild ein Jagdgewehr und ein totes Kaninchen, die auf einem Küchentisch voller Zwiebeln, Karotten und Pastinaken lagen. Daneben, genau vor Joana, hing ein Bild, das eine junge Frau zeigte, die wohl auf einem Schemel vor einer Wand saß. Sie sah aus wie eine Küchenmagd und rupfte eine Ente.

Besonders dieses Bild wirkte seltsam. Als Joana mit der Schule ein Museum besucht hatte, hatte man ihnen ein Gemälde gezeigt, das die Betrachter mit seinen Augen durch den Raum zu verfolgen schien. Das war damals ein seltsames Gefühl gewesen. Hier empfand Joana es ähnlich, aber doch ganz anders – heimlicher. Denn hier waren die Augen der Küchenmagd gar nicht richtig zu sehen. Die Magd blickte auf die Ente in ihrem Schoß. Dennoch glaubte Joana, dass sie von ihr verstohlen aus den Augenwinkeln beobachtet wurde.

Beim Dessert, einer Quarkspeise mit Beeren, begann Sir Albert dann doch noch ein Gespräch. Er und Tante Hilda unterhielten sich etwa eine Viertelstunde über das Wetter, die Arbeiten, die der Gärtner erledigen sollte, und den Speiseplan für die nächsten Tage. Joana hatte noch nie einem so öden Tischgespräch gelauscht.

Nach dem Essen verabschiedete sich Sir Albert und Tante Hilda stellte das Geschirr zurück in den Aufzug. Joana half dabei.

»Ist jedes Abendessen so?«

Tante Hilda lachte. »Es ist nicht sehr aufregend bei uns, nicht wahr? Vielleicht ist es da gar nicht schlecht, wenn du ein wenig frischen Wind in unser Leben bringst.«

Als Joana sich verabschiedete, um auf ihr Zimmer zu gehen, gab ihr Tante Hilda einen sonderbaren Rat:

»Zähle vor dem Einschlafen die Ecken der Zimmerdecke über dir! Dann wirst du tief und selig schlafen. Gute Nacht.«

Joana blieb allein zurück und seufzte. Sie trat an das Fenster ihres Zimmers und blickte auf den Park und hinüber zum Wald. Es dämmerte schon. Alles war friedlich dort draußen. Dies sollte ihr neues Zuhause sein? Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Dieser Sir Albert war unmöglich. Sie wusste nicht, ob sie vor ihm Angst haben sollte oder nicht. Sie war eigentlich nie schüchtern gewesen. Doch jemanden wie ihn hatte sie noch nie kennen gelernt. Ein ganz sonderbarer Mensch. Völlig verknöchert. Und das Haus? Es war fremd, groß und unheimlich. Dann gab es wohl noch eine Köchin. Die würde sie erst morgen kennenlernen. Immerhin gab es Tante Hilda. Sie war nett. Sie sollte nur mehr lachen. Trotzdem konnte Joana sich nicht gut vorstellen, dass sie sich hier wohlfühlen würde.

Es war ein langer Tag gewesen und Joana konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Hier würde sie niemand ins Bett bringen. Wieder etwas, was sie schmerzlich an Zuhause erinnerte. Sie machte sich also allein fertig für die Nacht, ging zu Bett und wurde sehr angenehm überrascht. Es war wunderbar warm. Sie tastete unter der Decke und entdeckte die große Wärmflasche. Es war ein riesiges Ei aus schimmerndem Kupfer, gefüllt mit heißem Wasser. Sie legte es unter das Bett, und schlüpfte zwischen die behaglich warmen Laken. Zuletzt blickte noch einmal zum Bild mit der Wiese und wunderte sich etwas. Sie hätte fest behauptet, heute Nachmittag habe sie die Kühe auf der Weide stehen sehen. Nun sah sie aber, dass fast sie Hälfte der Kühe im Gras lag.

Eine halbe Stunde später schaukelte sie im Traum mit ihren Freundinnen daheim im Park.

Als sie am Morgen erwachte, warf sie einen Blick auf den Wecker und sprang aus dem Bett. Sie hatte länger geschlafen und musste sich sputen, um rechtzeitig zum Frühstück zu kommen. Sie stand auf und wusch sich flüchtig in der Waschschüssel, kleidete sich an und zog zum Schluss ein paarmal die Bürste durch ihre Haare. Dann eilte sie schon den Korridor entlang. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie sollte im Haus nicht rennen, toben, lachen oder singen. Das war in etwa die Regel gewesen. So ging sie also langsam und leise den Gang entlang und die Treppe hinunter in die Halle.

Wo mochte die Küche sein? Links ging es zum Arbeitszimmer von Sir Albert und zur Bibliothek. Rechts war das Speisezimmer gewesen. Sie trat ein. Im Speisezimmer war niemand. Doch es gab eine weitere Tür. Sie drückte die Klinke. Es war eine Art altmodisches Wohnzimmer mit Plüschsofas und Lehnstühlen. An den Wänden hingen Bilder mit Schäferinnen und Schafen. Doch auch hier war weder Tante Hilda noch ein Frühstück. Joana schloss die Tür, dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Der Speiseaufzug! Die Küche war wohl ein Stockwerk tiefer, sonst würde der Aufzug ja gar keinen Sinn machen.

Sie ging zu Treppe zurück. Doch sie führte nur nach oben. Wie sollte sie zur Küche kommen?

Sie öffnete die Tür des Speiseaufzugs. Ein Schacht führte in die Tiefe. Joana erschnupperte frischen Kaffeeduft von unten und das Aroma gerösteten Brotes.

»Hallo!«, rief sie in den Abgrund. »Hallo da unten! Tante Hilda?«

Sie hörte Schritte unten heranklappern.

»Hallo?«, tönte es gedämpft von unten.

Es war eine Stimme, die Joana noch nicht kannte.

»Bist du das, Joana?« und dann gleich darauf: »Ach Herrje, Hilda! Das Kind! Es kennt ja den Weg nach unten noch gar nicht!«

Keine zwei Minuten später hatte Tante Hilda sie abgeholt. In einer Ecke des Speisesaals musste man eine Leiste der Wandtäfelung drücken und schon öffnete sich eine verborgene Tür zu einem zweiten Treppenhaus. Diese Stiege war sehr viel einfacher und enger als die große Treppe in der Halle.

»Dies ist die Personaltreppe«, erklärte Tante Hilda und öffnete unten eine weiß gestrichene Tür. »Und hier ist die Küche.«

Joana sah sich um. Die Küche war gewaltig. An der Wand neben der Tür stand ein altmodischer Herd, größer als Joanas Bett, mit einer Reling aus Messing, an der Geschirrtücher hingen. Doch in diesem Raum wirkte er zierlich. Die Küche war so groß, dass mitten drin zwei stämmige Säulen standen, die die gewölbte Decke stützten. An den Wänden standen gewaltige Küchenbuffets. Am Kopfende, unter freundlichen halbrunden Fenstern mit weißen Gardinen, war ein Tisch gedeckt.

»Was möchtest du denn trinken, mein Kind?«

In jeder anderen Küche hätte man diese Frau sofort entdeckt, doch Joana sah sie erst jetzt. Diese Köchin passte zu dieser Küche! Auch sie war riesig, dick, und sie strahlte über beide rote Backen. Joana wusste sofort, dass sie sie mochte.

»Haben Sie bitte Tee für mich, gnädige Frau?«, bat Joana schüchtern.

»Du darfst ruhig ›du‹ sagen und mich Fanny nennen! ›Gnädige Frau«, ha!‹

Sie lachte so laut und heftig, dass alles an ihr zu wackeln begann.

Das Frühstück war sehr lecker. Es gab Brot mit drei Sorten selbst gekochter Marmelade, Eier, Speck und Schinken. Vor allem aber wurde hier nicht geschwiegen. Fanny war eine muntere Plaudertasche. Bis zum Ende der Mahlzeit hatte Joana erfahren, dass Fanny schon zu Zeiten des Vaters von Sir Albert hier gewesen war, damals noch als Küchenmädchen. Sie erzählte von prächtigen Gartenpartys, Bällen, Kostümfesten und denkwürdigen Tennisturnieren im Garten.

»Ach ja, die Tennisplätze sind heute leider recht verlottert. Echo-Hall war einmal ein großer Haushalt. Das Leben war damals so viel lustiger. Ach. Es waren andere Zeiten. Auch wenn auch früher schon manches recht absonderlich war.«

Noch ehe sich Joana über die Bedeutung dieser Formulierung wundern konnte, wurde sie schon mit Fragen bestürmt. Wie sie in der Stadt wohnten, wie es ihrer Mutter ginge und ob es noch am Sonntag die Konzerte im Park gäbe, wollte Fanny wissen. Und was die Damen der Gesellschaft trügen. Was dort die Gemüsemärkte anböten und zu welchen Preisen. Joana beantwortete alle Fragen, so gut sie konnte.

Als das Frühstück zu Ende war, war Joana nicht nur satt, auch der Aufenthalt in diesem Haus schien ihr Dank Fanny sehr viel angenehmer.

Frage und Antwort

So begann Joana ihr Leben auf Echo-Hall und schon bald merkte sie, dass es tatsächlich nicht viel Abwechslung gab. Am Vormittag lernte sie im Salon, dem kleinen Wohnzimmer neben dem Esszimmer. Anfangs schrieb sie vor allem lange Aufsätze, während sich Tante Hilda mit ihren Schulsachen und Lehrbüchern vertraut machte, doch bald büffelte sie Erdkunde, Biologie, Sprachlehre und rechnete Aufgaben, genau wie in der Schule. Doch der Unterricht mit Tante Hilda war ganz anders. Sie hatte nun eine Lehrerin ganz für sich allein. Man konnte sich nicht in der Klasse verstecken. Wurde eine Frage gestellt, war man immer aufgerufen. Andererseits gab sich Tante Hilda besondere Mühe mit ihr und erklärte ihr alles geduldig immer wieder neu, bis sie sicher war, dass Joana die Aufgabe wirklich verstanden hatte. So, fand sie nach einer Weile, war das Lernen sogar schöner als in der Schule.

Das Mittagessen nahmen sie zu zweit im Speisezimmer ein. Hier plauderten sie beim Essen noch weiter über das, was sie am Vormittag gelernt hatten. Dann musste Tante Hilda ihren Pflichten nachgehen und Joana ging hinaus in den Garten, hinter das Haus, dort, wo das kleine Gartenhaus stand.