Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman - Rainald Goetz - E-Book

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman E-Book

Rainald Goetz

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Beschreibung

Der Roman »Johann Holtrop« erzählt die Geschichte eines Chefs aus Deutschland in den Nullerjahren. Der Roman hat drei Teile. Der charismatische, schnelle, erfolgreiche Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop, 48, seit vier Jahren Herr über 80000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von fast 20 Milliarden weltweit, ist aus der Boomzeit der 90er Jahre noch ganz gut in die neuen, turbulenten, wirtschaftlich immer schwieriger werdenden Zeiten gekommen. Die Handlung setzt ein im November 2001 und erzählt im ersten Teil Geschehnisse in der von Holtrop geführten Assperg AG, die weit von ihm weg und am unteren Rand der Wahrnehmungsschwelle Holtrops passieren. Im Zentrum steht eine in der thüringischen Provinz angesiedelte, zum Assperg-Konzern gehörende Beratungsfirma Arrow. Holtrop entläßt deren Chef Thewe aus fragwürdigem Anlaß. Im zweiten Teil werden die ersten sieben Monate des Jahres 2002 erzählt, ganz auf Holtrop und seine Arbeit in der Assperg-Hauptverwaltung konzentriert. Die Wirtschaftskrise bringt Holtrop wegen schlechter Geschäftsergebnisse unter Druck. Er merkt nicht, wie stark, auch aus persönlichen Gründen, gegen ihn beim Firmenpatriarchen Berthold Assperg Stimmung gemacht wird. Er hält sich für unangreifbar, wird unerwartet selbst entlassen. Der dritte Teil erzählt die Jahre von 2003 bis 2010. Zuerst kommt Holtrops Familie in den Blick, die der Schauplatz der reaktiven Depression nach der Entlassung ist. 2004 geht er als Partner einer Investmentgesellschaft nach London. Auf dem Höhepunkt der Finanzeuphorie übernimmt er 2006 in Deutschland Verantwortung für den angeschlagenen Gerätehersteller Lanz AG. Die Finanzkrise von 2008 zerstört Holtrops Rettungsversuche dort. Er verläßt die Firma, Lanz muß Insolvenz anmelden. Holtrop wird vor Gericht angeklagt. Die Prozesse ruinieren seinen Ruf endgültig. So wird im Lauf der Nullerjahre aus Egomanie und mit den Widerständen wachsender Weltmißachtung, der Verachtung der Arbeit, der Verachtung der Gegenwart und

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Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren –

Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber, ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier –

Ein Chef stürzt ab. Johann Holtrop erzählt die Geschichte eines Chefs aus Deutschland in den Nullerjahren.

Der charismatische, schnelle, erfolgreiche Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop, 48, seit drei Jahren Herr über 80.000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von fast 20 Milliarden weltweit, ist aus der Boomzeit der späten 90er Jahre noch ganz gut in die neuen, turbulenten, wirtschaftlich schwierigeren Zeiten gekommen.

Die Handlung setzt ein im November 2001 und erzählt in drei Teilen, wie im Lauf der Nullerjahre aus Egomanie und mit den Widerständen wachsender Weltmissachtung, der Verachtung der Arbeit, der Menschen, der Gegenwart und des Rechts, ganz langsam und für Holtrop selber nie richtig klar erkennbar, ein totaler Absturz ins wirtschaftliche Aus, das persönliche Desaster und das gesellschaftliche Nichts wird, so abgrundtief und endgültig, wie sein früherer Aufstieg unwiderstehlich, glorios und plötzlich gewesen war.

Das war Ihr Leben, Johann Holtrop! Was sagen Sie dazu?

Mit Johann Holtrop wurde 2012 das Buch Schlucht, eine Erkundung der Nullerjahre, fortgesetzt. Davor waren seit 2008 erschienen: der Tagebuchessay Klage, die Literaturbetriebserzählung loslabern und der Fotoband elfter september 2010.

Rainald Goetz, geboren 1954, studierte Medizin und Geschichte, lebt in Berlin. Autor der Bücher Irre, Krieg, Kontrolliert, Festung und Heute Morgen.

und müsste ich gehenin dunkler Schlucht

VI

Schlucht

3

I. IRRE. Roman, 1983

II. KRIEG, 1986

1. Krieg. Stücke

2. Hirn. Schriftzugabe

III. KONTROLLIERT. Geschichte, 1988

IV. FESTUNG, 1993

1. Festung. Stücke

2. 1989. Material

3. Kronos. Berichte

V. HEUTE MORGEN, um 4 Uhr 11,als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe

1.1 mit Westbam: Mix, Cuts & Scratches, 1997

1. Rave. Erzählung, 1998

2. Jeff Koons. Stück, 1998

3. Dekonspiratione. Erzählung, 2000

4. Celebration. Texte und Bilder zur Nacht, 1999

5. Abfall für alle. Roman eines Jahres, 1999

5.1. Jahrzehnt der schönen Frauen. Taggedichte und Interviews, 2001

VI. Schlucht

1. Klage. Tagebuchessay, 2008

2. loslabern. Bericht. Herbst 2008, 2009

3. Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman, 2012

4. elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts, 2010

Rainald Goetz

JOHANN HOLTROP

Abriss der Gesellschaft

Roman

Suhrkamp

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Schutzschrift

Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen.

Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

des suhrkamp taschenbuchs 4512

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-74035-4

www.suhrkamp.de

Wütend schritt ich voran.

KRIEG

ERSTER TEIL

I

Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren –

Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber, ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert, wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld, genau darin aber, in ihrem Kalkül auf Eigennutz, umgekehrt selber kalkulierbar, ausrechenbar und ausbeutbar zuletzt, das war die Basis der abstrakten Geldmaschine, die hier residierte: das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über den Menschen. So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie –

Mitternacht schlug eine Uhr von fern, eine Stunde später schlug es eins, dann zwei, eine halbe Stunde später, um halb drei, rollte der schwarzlackierte Subaro Sunset Compactor mit den mattschwarz getönten Scheiben langsam auf den Parkplatz von Arrow PC, PC stand hier für Produkte und Consulting, und aus dem Auto kamen die Männer des Reinigungstrupps von Clean Impact einer nach dem anderen herausgestiegen, gingen zum Hintereingang des Hochhauses, der mit einem elektronischen Code und zwei Schlössern gesichert war, die Türe öffnete sich, die Männer gingen ins Haus, dort in den Keller, holten sich aus dem Maintenance-Center ihre grellbunten Putzkarren und machten sich damit an die Arbeit, und in den folgenden Stunden der Nacht gingen die Lichter in dem Bau an, quer durch alle Etagen gleichzeitig, in den einzelnen Zimmern, Zimmer für Zimmer, vom Programm der Weltlichtorgel Timecode gesteuert, überall dort, wo einer der Arbeiter von Clean Impact gerade am Saubermachen war.

Die Schreibtische in den Büros waren ordentlich aufgeräumt, trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, dass vereinzelt liegengebliebene Gegenstände und Papiere die Aufmerksamkeit des derzeit als Leihkraft auf Stundenbasis bei Clean Impact beschäftigten ehemaligen Produktionsfacharbeiters für Landwirtschaft und Forsten, Henze, 58, erregten, und Henze folgte dann dem Impuls, sich diesem Objekt kurz zuzuwenden, oder widersetzte sich ihm, je nachdem, wie sehr er in Eile war oder das Gefühl hatte, von Kollegen oder gar dem Chef selbst dabei beobachtet zu werden, wie er eventuell etwas zu lange in einem einzelnen der zu putzenden Zimmer verblieb. Seinem Kunden Arrow PC gegenüber hatte sich Henzes Chef Dan Poggart, 45, ein in Thüringen kurz nach der Wende der Liebe wegen hängengebliebener britischer Ex-Roadie, für Clean Impact informell darauf verpflichtet, datensensible Büroräume von nichtdeutschen Reinigungskräften bearbeiten zu lassen, heute durch die Mitarbeiter Üsküb, Callao, Dobrudsch, Asow und Isjum. Henze war als Ersatzmann für den kurzfristig erkrankten Ismail Khedive eingesetzt, wurde im Hinblick auf die haftungsrechtlichen Sicherheitsvorschriften in den Poggartschen Unterlagen aber nicht als Henze, sondern, wie er selbst auch wusste, als Khedive geführt.

Im achten Stock kam Henze in das Eckzimmer Sprißler, Leiter KS, und setzte sich auf den Stuhl. Henze war ein ruhiger, schwer gebauter Mann mit großem Kopf, der wegen seiner Freundlichkeit von Schlaueren für dumm gehalten wurde, wegen seiner Langsamkeit von Hektikern für faul. Henze schaute sich das auf dem Schreibtisch aufgestellte Bild der Familie Sprißler an, schaute in den gefüllten Abfalleimer hinein, nahm im Aufstehen den Abfalleimer mit und leerte ihn draußen auf dem Gang in die große blaue Mülltüte. Dann kam er mit dem Staubsauger zurück, ließ den Motor aufheulen und saugte den Boden des Zimmers. An der Ecke des Schreibtischs ging unten eine Schublade auf. Henze war mit dem Rohr dagegengestoßen. Er sah ein Handy auf den dort abgelegten Papieren liegen, nahm es heraus und wog es in seiner Hand. Er dachte an die nackte Brust, die er vor einiger Zeit einmal bei einer Frau in einer Sauna gesehen hatte, an den weißen Klappstuhl auf einem Felsen im Meer, wo ein roter Sonnenschirm darüber aufgespannt war. Dann legte Henze, nachdem er kurz innegehalten hatte, das Handy zurück in die Schublade des Schreibtischs und machte sie zu. Im selben Augenblick hörte er von hinten die Stimme Poggarts, der ins Zimmer rief: »Bei dir so weit in Ordnung alles?« Und wahrheitsgemäß konnte Henze im Umdrehen antworten: »Ja!«, es sei alles in Ordnung. Dabei sah er das Vollbartgesicht Poggarts, vom Türsturz umrahmt, wegtauchen und im Dunkel des Gangs verschwinden.

Eine Stunde später war Henze mit den ihm heute zugeteilten Zimmern fertig, brachte den Putzwagen in den Keller und fuhr wieder hoch in die Eingangshalle im Parterre. Rechts neben dem Empfangsdesk waren schwarzlederne Sessel, Couchen und niedrige Tische für Besucher aufgestellt, dort versammelten sich die Männer von Clean Impact nach der Arbeit. Die anderen saßen schon da, als Henze dazukam, und der festangestellte Russe Dobrudsch, Riese, forderte Henze dazu auf, den Aschenbecher vom drüberen Tisch herzubringen und sich dann vor ihm, dabei haute er auf seine Sessellehne, auf den Boden zu setzen. Den Befehl beendete nach einer Wirkungspause, Stille, tok, ein bellendes Triumphgelächter, erst von Dobrudsch allein, dann von allen Kollegen gemeinsam. Henze ging, wobei er auch schwach mitlachte, zur zweiten Sitzgruppe, brachte den leeren Aschenbecher von dort mit und zeigte auf seine Ohren, er sei übrigens nicht schwerhörig, erklärte er, Dobrudsch könne mit ihm auch leiser sprechen. Dann ließ er sich von dem neben Dobrudsch sitzenden Kirgisen Asow, der auch nur Aushilfskraft bei Clean Impact war, eine Zigarette geben, und während Henze den ersten Zug inhalierte, setzte er sich in den Ecksessel der zweiten, leeren Sitzgruppe und rauchte dort. Die Asche aschte er auf die ihm zugewendete Glastischecke.

Die anderen redeten über ihre Autos und über die Überlegenheit der türkischen Turkyolreifen, die zur Zeit bei Autotip im Sonderangebot waren. Dobrudsch hatte von einem Testbericht gehört, die Turkyolreifen wären auch nicht schlechter als die viel teureren angeblichen Markenprodukte aus Europa oder Fernost. Weil Isjum, der dem Asow gegenübersitzende Finne, Bulgare, Altane, »wo bist du eigentlich her?, Kanalratte!«, den Führerschein wegen Alkohol neu machen musste, war vom Führerscheinentzug und dem deutschen Deppentest die Rede. Der Deppentest werde von den deutschen Behörden, den deutschen Ärzten, Psychologen, Fahrschulleitern und Führerscheinstellen zur Aussortierung unerwünschter Ausländer, Einwanderer und anderer Opfer eingesetzt, habe Üsküb von Poggart gehört, aber die Aussortierung unerwünscher Nichtdeutscher durch deutsche Tests sei ja wohl auch keine besonders große Überraschung. Er selbst sei zwar erst seit ein paar Monaten in Deutschland, wäre davor in Polen und England, davor in Spanien gewesen, das Geld sei besser hier, die Kontrollen überall gleich umgehbar. Dobrudsch bestätigte das Gesagte, er habe mit Poggart Ärger wegen Krankmeldungen, die er für sich und Khedive im Büro habe eintragen lassen, ohne sofort die Atteste beigebracht zu haben. Dabei hätte er nur zum Facharzt für Krankmeldungen nach Werra oder zu dem in Nörsel gehen müssen, das habe er versäumt, deswegen habe Poggart ihm Anfang dieser Woche einen schriftlichen Verweis im Büro übergeben lassen. Das müsse er sich von Poggart aber nicht gefallen lassen, er wäre beim Bezirksbetriebsrat in Ohra gewesen, dort hätten sie ihm auch gesagt, eine solche Drohung sei nichtig, dazu gäbe es ja Arbeitsschutz, um gegen die Art Willkür der Chefs geschützt zu sein usw.

Henze wischte die Asche von der Tischecke in seine Hand und brachte sie zum Aschenbecher am anderen Tisch, drückte die Zigarette aus und setzte sich wieder an seinen Solotisch. Um kurz nach halb sieben beendeten die Männer ihre Sitzung in der Eingangshalle, gingen zum Auto auf dem Parkplatz zurück und fuhren vom westlichen Ortsrand von Krölpa, wo das Gewerbegebiet mit dem neuen Arrowhochhaus war, über die B173 zum einige Kilometer südlich, in Bad Langensalza, gelegenen Firmensitz von Clean Impact.

II

Das Büro der Gebäudereinigungsfirma Clean Impact war in einer Lagerhalle auf dem Gelände der ehemaligen russischen Kaserne südlich des Güterbahnhofs im ersten Stock untergebracht. Hier saß Poggarts Sekretärin Frau Straub an ihrem Schreibtisch, rote Haare, Tochter eines Landgasthausbesitzers aus Bad Langensalza, sie hatte die schriftlichen Dinge der Firma in der Hand, führte Clean Impact geordnet durch den täglichen Wust behördlicher Vorschriften und Formulare. Sie legte den Arbeitern die Arbeitslisten vor, wo Name, Tag und Stundenzahl eingetragen waren, und an der entsprechenden Stelle musste jeder unterschreiben, von Frau Straub dabei überwacht. Henze zeichnete die Khedivestunden ab. Die Festangestellten bekamen ihren Lohn wöchentlich, die Leihkräfte sofort ausbezahlt. Henze sollte heute für die fünf Khedivestunden DM37,50 bekommen, bekam von Frau Straub aber nur drei Zehnerscheine und ein Fünfmarkstück, also DM35, ausgehändigt. Das restliche Kleingeld von DM2,50 wurde auf dem Sonderzettel Henze gutgeschrieben. Die Stundenkalkulation berechnete: zwei Stunden für die An- und Abfahrt zum Objekt, wofür real jeweils fünfzehn Minuten angefallen waren, aber angefangene Stunden mussten voll berechnet werden; zwei Stunden Putzen in den Büroräumen, einschließlich der arbeitsschutzrechtlich vorgeschriebenen Zigarettenpausen alle zwanzig Minuten zwischendurch; eine Stunde Aufräumen der Putzgeräte nach der Arbeit, real zehn Minuten, hier musste die Sitzung danach in der Eingangshalle mitgerechnet werden. Weil aber in den heute Nacht sauber gemachten Büros von Arrow PC untertags ein im Vergleich zu Clean Impact etwa 50- bis 160-facher, manchmal auch 200-facher Stundensatz, also etwa DM375,– bis DM4.550,– pro Stunde, für dort erbrachte Entwicklungs- und Beratungsleistungen abgerechnet wurde, war es egal, und zwar allen Beteiligten, ob die fünf von Clean Impact abgerechneten Stunden à DM22,50 pro Mann in Wirklichkeit nur zwei, drei oder vier real abgearbeitete Arbeitsstunden vor Ort gewesen waren oder eine oder fünf. Die Büros waren danach jedenfalls so sauber, wie von Clean Impact zugesichert. Und wenn dort in Krölpa der Pförtner in den Minuten um kurz vor sieben Uhr hinter dem Empfangstresen seinen Platz einnahm und bald auch schon die ersten Angestellten, die Frühanfänger, die die Stille des Morgens für konzentriertes Arbeiten nutzen wollten, in den frisch geputzten Zimmern ankamen, war auch in dieser Firma, jetzt überall hell erleuchtet, denn es war Ende November und noch dunkel draußen, die Welt durch Tätigkeit bezahlter Arbeitskräfte über Nacht äußerlich auf Null zurückgesetzt, war alles aufgeräumt und sauber gemacht und in den Frischezustand der täglich neuen Frühe versetzt, ohne dass die Angestellten selbst davon viel mitbekommen hätten oder das besonders bemerken würden.

In seinem Eckzimmer saß der Leiter Konzernsicherheit Krölpa, Dr. H. Sprißler, 52, auch einer dieser Frühanfänger, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eigenhändig die Nummer seines direkten Ansprechpartners bei der der Arrow PC seitlich schräg übergeordneten Mutterfirma Assperg AG in Schönhausen und hatte nach einem kurzen Gespräch mit dem dort zuständigen Unter seines hiesigen Chefs Blaschke den Satz notiert: »Assperg lässt die Frage: Zulässigkeit Überwachung Immobilien Krölpa vorerst inhouse in Schönhausen prüfen«, um anschließend sofort, vorschrifts- und vereinbarungsgemäß einen angefangenen Zehnminutenslot auf den rechnungstechnisch unabhängigen KS-Mandanten Assperg zu schreiben, war so aus einem Vierzigsekundentelefonat und einer Achtsekundennotiz, durch fast nichts also, nicht gerade wenig Geld, ein paar hundert Mark auf jeden Fall, wieviel genau, würde zuletzt in den Kürzungsverhandlungen über das geforderte Honorar entschieden werden, neu generiert und gemacht, war Geld aus nichts erschaffen worden, hatte Arrow PC seinen Auftrag erfüllt, sein Imprint verwirklicht: Arrow turns your phantasy to cash.

Henze steckte die ihm übergebenen 35 Mark ein. Poggart war aus dem hinteren Bürozimmer hervorgekommen, mit Papieren in der Hand, die er der Frau Straub auf den Schreibtisch legte, diese Unterlagen, erklärte er ihr, gehörten zum Objekt in Gössitz, ein Fensterjob, der tagsüber gemacht wurde. Poggart hatte zur Zeit, je nach konkreter Auftragslage, bis zu dreißig oder vierzig Mann im Einsatz, die Hälfte von ihnen wurde über die thüringische Landesarbeitsanstalt, Kreisstelle Tonna, vermittelt und bezahlt, was aus finanzverwaltungstechnischen Gründen geboten war, aber eine hohe Fluktuation dieser Mitarbeiter zur Folge hatte. Die andere Hälfte der Arbeiter war, nach dem Subunternehmermodell, selbst jeweils als Selbständiger, oder auch, das hatte Poggart nicht zu prüfen, als Scheinselbständiger beim Finanzamt registriert und bei Clean Impact unter Vertrag. Abgaben und Steuern wurden so aus den Fördertöpfen für strukturschwache Kreise in den einzelnen Gemeinden, wo die jeweiligen Objekte, die Clean Impact bearbeitete, angesiedelt waren, direkt fällig, für die Einzelunternehmer selbst wiederum umgekehrt als nebenabzugsfähig gegenzurechnen und damit vorsteuerfrei zu buchen usw. Natürlich machte sich Poggart keine Illusionen über die Zuverlässigkeit der Putzleute, die bei ihm arbeiteten. Nach seinen Erfahrungen als Chef galt auch hier, Daumen mal pi, die Drittelregel: ein Drittel Betrüger, Halunken und Hallodris, ein Drittel Anständige, Nette und Bemühte, und das dritte Drittel Schwankende, die verführbar waren durch günstige Gelegenheiten. Man musste die Leute deshalb, das war Poggarts konsequenzialethische Philosophie als Chef, auf eine ordentliche, übersichtliche, für die Leute vorhersehbare, im Konkreten aber überraschende Art mit Überwachung bedrohen, um sie beherrschen und führen zu können. Diesem Auftrag kam er durch seine Besuche in den Objekten, wo geputzt wurde, nach, und wie er jetzt zu Henze meinte: »ganz gut gelaufen heute«, konnte Henze durch den dichten Vollbart Poggarts hindurch die mit diesem Satz eventuell verbundene Aussageabsicht, die ihre morgendliche Begegnung in Sprißlers Eckbüro betraf, und deren möglichen Hintersinn nicht erkennen, weshalb er, von dieser Undurchsichtigkeit gestresst, nur langsam nicken und »ja« sagen konnte, ohne Poggart sagen zu können, was er immer schon einmal machen wollte, dass er gerne bei ihm arbeitete.

Dann verabschiedete sich Henze und ging an den Kollegen, die auf dem Gang bei den Spinden standen, vorbei nach draußen, setzte sich in sein Auto und machte sich auf den Heimweg, wieder zurück nach Krölpa. Er fuhr die Strecke ohne Eile. Erst kamen Bäume, dann leere Flächen, dann ein kleiner Wald, der sich auf eine Senke hin öffnete, dahinter eine Gerade und zuletzt die ersten Häuser von Krölpa, hier, in der Glasheimersiedlung am alten Ortsrand bei den Kalksteinbrüchen, war Henze in einer Baracke, die es bis vor wenigen Jahren noch gegeben hatte, aufgewachsen. Die Fahrt zwischen den Ortschaften war ohne besondere Vorkommnisse geblieben und unbemerkt, als Moment der Seele, durch Henze hindurchgegangen, er fuhr in den Ort hinein, bei der Bäckerei rechts ab richtung Unstrut, über die Brücke, beim Kiosk nocheinmal rechts, dreihundert Meter, dann war er da: Ortsteil Lauchhammer, früher eine Ansammlung einfacher Datschen, heute waren die Häuser teils hergerichtet, teils so gelassen worden, wie sie immer schon gewesen waren, gebückt und abgeschabt, Orte, wo das Unglück genauso zuhause gewesen sein konnte wie Ruhe und Glück. Ein solches Zuhause war das Haus seiner Kindheit für Henze bis zum Tod seiner Mutter gewesen, danach war das Haus geschrumpft, ein entfernter Cousin aus dem Westen hatte Rechte reklamiert und bekommen, aus der Hauptwohnung, 70 qm, hatte Henze ausziehen müssen, im seitlichen Teil, 40 qm, sich eine Parzelle für Küche und Dusche abgetrennt, vom Zimmer aus eine Türe direkt in den Garten hinaus durchgebrochen, Gartenbenützung gemeinsam mit den Untermietern der Mieter des Cousins. Die Sachen der Mutter hatte er auf den dafür eigens ausgebauten Dachboden verbracht. Bei seinen eigenen Sachen, die sich in den letzten Jahren der Arbeitslosigkeit stetig vermehrt hatten, war Henze immer noch am Räumen und Aufräumen, deswegen waren diejenigen Tage gute Tage in Henzes jetzigem Leben, an denen er keinen Anruf von der Reinigungsfirma bekam, weil er dann nachts nicht zum Putzen gehen musste, sondern bei sich zuhause aufräumen konnte.

Henze stopte den Wagen vor dem Grundstück Am Steinanger 10, hatte zwei Eisengitter, die er vor ein paar Tagen auf einem Parkplatz mitgenommen und im Auto verstaut hatte, ausgeladen, das Auto weiter zu der Garagenanlage am Ende der nächsten Querstraße gefahren, wo er eine Garage gemietet hatte, und das Auto dort abgestellt. Auf dem Rückweg zum Haus, vorbei an einigen Sträuchern, bemerkte er ein Geräusch, Knacken von Holz, dann einen tierhaften Ton, einen Schrei, eine Stimme, die er keinem der Tiere aus der Nachbarschaft zuordnen konnte, ging aber weiter, ohne stehenzubleiben. Er war in anderen, von ihm selbst nicht festgehaltenen Gedanken, ein von Google Mind ausgelesenes Atomelektroenzephalogramm wüsste, in welchen genau. Er öffnete das Gartentor, brachte die Eisengitter hinter das Haus zu seiner Türe, sperrte auf, stellte den Container, der vor der Türe stand, zur Seite, machte die Türe auf und ging in dem Zimmer, wo in der Mitte ein Durchgang freigehalten war, bis zur Küchenecke. Dort ließ er sich am Waschbecken ein Glas Wasser einlaufen und zündete sich noch eine Zigarette an. Dann stand er an die Spüle gelehnt, rauchte und trank Wasser. Er sah den leeren Stuhl vor sich, wollte sich dort hinsetzen, blieb stehen, dann war das Telefon, das er vorhin im Büro fast mitgenommen hätte, nocheinmal gedanklich in seinem Kopf sehr präsent, gefolgt von einer Kaskade möglicher Handlungen, auch illegaler Art, die sich aus dem Wissen hätten ergeben können, das durch die Mitnahme des Telefons in ihm zusammengekommen wäre, wegen der daraus folgenden Komplikationen seines Lebens, die er vermeiden wollte, von ihm wahrscheinlich richtigerweise abgelehnte, eventuell auch generell abzulehnende Handlungen usw. Zu verschiedenen Punkten dieser Überlegung kamen dann verschiedene Zweifel in Henze auf, denen er im Moment aber nicht in weitere Erwägungen hinein folgen wollte. Er war nämlich müde, ging zum Bett, räumte die dortigen Kartons zur Seite und stellte einen Bottich voll Wasser innen vor die Türe, aus Gewohnheit und zur Sicherheit. Dann zog er sich die Schuhe und die Hose aus und legte sich zum Schlafen hin. Bei geschlossenen Augen, auf dem Rücken liegend, wartete er auf den Schlaf. Nach einer Zeit, in der nichts passiert war, außer dass es in seinem Kopf immer unruhiger geworden war, machte Henze die Augen wieder auf und lauschte hinaus in den anbrechenden Morgen.

III

Holtrop hatte mit der flachen Hand, »pa, pa, pa!«, auf den Tisch gehauen, um sich zu verabschieden, die Gläser sprangen, es klirrte, »meine Herren!« rief er aus, von den anderen Tischen kamen einige Blicke, die Gespräche im Festsaal waren für einen Moment leiser geworden, an Holtrops eigenem Tisch wurde gelacht, da war er schon aufgestanden, verbeugte sich, breitete die Arme aus, »gnädige Frau!« sagte er zu der vom Nebenstuhl zu ihm hochblickenden Ehefrau des Kollegen Uhl, »es ist soweit«, er lachte sie an, »Ihnen einen wunderschönen Abend noch zu wünschen, tschüß!«, wobei er die letzten Worte, nach einer Drehung, schon im Abgehen gesagt hatte, im Rausgehen einige Bekannte grüßte, »gehst du schon?« wurde er gefragt, und er nickte nur und winkte, obwohl er auch jedem dieser Bekannten, Freunde und Kollegen ganz direkt und höchstpersönlich die Existenzwahrheit, die ihn auf den Punkt brachte, ins Gesicht gesagt haben könnte: Ehre, Geiz, Geld, Ruhm, oder: Faulheit, Streber, Dummkopf, Intrigant.

Aber das war ASSPERG, die Firma, das war bekannt, das wusste jeder von jedem, was für ein Typ Loser der jeweils andere war, weshalb er auch nicht richtig ernst genommen werden konnte, eigentlich nur zu verachten war. Diese generalisierte, alle Chefs verbindende, die Über-, Unter- und Mittelchefs einende Verachtung füreinander hatte Holtrop schon mit Anfang zwanzig, vor über fünfundzwanzig Jahren, bei seinem ersten betriebswirtschaftlichen Praktikum in der Firma seines Vaters beobachtet. Später hatte er die Verachtung als Basis einer korrupten Kollegialität der Führenden verstanden, die sich gerade in ihrer gegenseitigen Verachtung gegenseitig tolerieren konnten. Mir doch egal, dachte und sagte jeder über jeden, was die Null, der Typ neben mir, plant, vermeldet oder beabsichtigt, es wird ja sowieso nichts, der kann es nicht, dachte jeder über jeden.

Holtrops Vater war nach Ansicht seines Sohns kein wirklich guter Chef gewesen. Er merkte nicht, wie schlecht die Gruppe seiner Mitarbeiter funktionierte, in der alle gegeneinander arbeiteten und jeder nur für sich selbst anstatt für ihn als Chef oder für die gemeinsame Sache der Firma als Ganzes zumindest. Natürlich hätte es der Vater nicht ungern gesehen, wenn sein Sohn, er war der Älteste, es gab noch drei jüngere Töchter, die mittelgroße Firma, die Kartons herstellte und Verpackungen bedruckte, übernommen hätte, wie es der Tradition der Familie entsprach. Aber das kam für Holtrop nicht in Frage. Der ineffektive Führungsstil seines Vaters, der impulsiv intuitiv war, diffus menschenfreundlich, aber oft auch fürchterlich erratisch, hatte Holtrops theoretische Neugier geweckt. Wie funktioniert ein Unternehmen? Wie führt man eine Firma? Als Jugendlicher hatte er eine Zeit davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Aber nach dem Abitur und dem Wehrdienst bei der Bundeswehr hatte er an der Hochschule für Betriebswirtschaftslehre in Speyer, die im Bereich Marketing einen exzellenten Ruf hatte, das Studium aufgenommen, mit dem schönen Berufsziel: Professor. Bald nach Beginn des Studiums hatten dann aber die vielen Kontakte mit Menschen aus der Welt der Wirtschaft, auch mit Kommilitonen, die jünger waren als er selbst, diesen Berufswunsch verändert. Vielleicht könnte er doch anders Karriere machen, weder in der väterlichen Klein- und Loserfirma, aber auch nicht unbedingt an der Universität, sondern direkt als Praktiker und Unternehmer, so stand es Holtrop immer deutlicher vor Augen, Karriere etwa als Konzernchef eines Daxkonzerns, und er würde dabei täglich mehr bewegen als nur Papier, Ideen und Konzepte, wie es in den Arbeitszimmern der Wissenschaft auch bei den tollsten Professoren der meist ziemlich wenig glamouröse Normalfall war.

Nicht ohne sich die Türe zur Universitätslaufbahn durch ein Promotionsstipendium, dann durch eine Assistentenstelle noch eine Zeitlang offen zu halten, hatte Holtrop schließlich doch mit ganzer Kraft die CEO-Karriere angesteuert, zwar spät, aber umso zielstrebiger die üblichen Stationen durchlaufen: zwei schnelle Jahre war er als Jungsöldner Berater bei Deloitte, Effektivität und Abstraktion pur, im Dienst der Praxis, das Gegenteil zur Universität, eine faszinierende, grausame, auch lächerliche Lehrzeit, auf die Kälte der Überlegenheit reiner Wirtschaftsrationalität zugespitzt. So bald wie möglich nahm er den Sprung ins operative Geschäft. Holtrop wurde Vorstandsassistent beim Maschinenbauer Voith, wechselte dann in gleicher Position, wobei er im Schwäbischen verblieb, zu Holtzbrinck und von dort, schon zwei Jahre später, aber für das doppelte Gehalt, schließlich zur Assperg AG nach Schönhausen, wo er in der Asspergfirma Druckmaschinen, dem biedersten, aber renditestärksten Unternehmensbereich, Assistent des Vorstands wurde. Mit der Wende beschleunigte sich der Aufschwung der Wirtschaft und mit ihm Holtrops Karriere. Ende 1989 wurde ihm die Sanierung der von Assperg gekauften Westberliner Großdruckerei Dablonskidruck als Geschäftsführer übertragen, das lief gut. Schon ein Jahr später wurde Holtrop vom damaligen Asspergchef Brosse zurück nach Schönhausen in die Hauptverwaltung berufen, um als Leiter von dessen Büro die Reform des Vorstands zu koordinieren.

Während dieser Jahre seines Berufsanfangs hatte sich auch Holtrop in das überall herrschende System der alle einenden Verachtung hineingelebt und damit arrangiert, Kollegen, die Verachtung auf sich ziehen mussten, ganz zu Recht, gab es schließlich überall. Zugleich aber hatte er gegenüber der Verachtung als Prinzip von Führung innerlich Distanz gewonnen in dem, wie er nicht wusste, verboten naiven Glauben an die höchst besondere Andersartigkeit seiner selbst. So wie er in der Beobachtung seines Vaters geglaubt hatte, er werde alle Fehler, die der machte, vermeiden und alles besser machen als der Vater, ging es ihm später mit jedem Vorgesetzten. Er übernahm per Nachahmung, was er gut fand, identifizierte die Defizite, die er vermeiden wollte, und glaubte, er würde jetzt, weil er alles erkannt hatte, die Fehler vermeiden und alles richtig machen können. Holtrop glaubte einschränkungslos an die Freiheit seines selbstbestimmten Handelns. Und die strukturelle Kaputtheit des Systems der Verachtung erzeugte bei ihm vorallem den Überlegenheitsgedanken: gut, dass ich weiß, dass alle so kaputt sind, denn dann kann ich davon profitieren.

Der Erfolg bestätigte Holtrop, anfangs zu seinem eigenen Erstaunen. Bald war er daran gewöhnt. So machte er Karriere, hell und brillant, wie er im Auftreten war, die optimierte Summe aller, eines jeden, der ihm gerade gegenüberstand, so hatte er seinen Aufstieg in der Firma gemacht und genauso heute Abend, beim Festbankett zu Ehren des achtzigsten Geburtstags von Asspergs Altpatriarchen Berthold Assperg, aus dem dekorierten Festsaal der Schönhausener Stadthalle seinen Abgang wieder einmal zum genau richtigen Zeitpunkt genommen, früh, aber nicht zu früh, dafür blitzartig schnell. Da lag er auch schon im Bett, kurz nach halb zwölf, und war auch schon, letzter Gedanke: diese hocheffiziente Präzisionsmaschine, die Führung auswirft, ICH, eingeschlafen auf der Stelle, wie gewünscht.

IV

Das Medienhaus Assperg, die Assperg Medien AG, hatte in den vergangenen Jahren einen ebenso fulminanten Aufstieg hingelegt wie sein gegenwärtiger, seit fast vier Jahren amtierender Chef, der Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop, 48, Herr über 80.000 Mitarbeiter weltweit und eine Bilanzsumme von 20 Milliarden DM in 1999, von 15 Milliarden Euro im Jahr 2000. Alle Kennzahlen der Firma waren steil angestiegen und zweistellig gewachsen. Als Vorstand Neue Medien hatte Holtrop schon früh eine Öffnung des Hauses zu diesen neuen Medien hin eingeleitet. Nach Holtrops Wechsel in den Vorstandsvorsitz hatte sein Vorgänger Brosse als Chef des Aufsichtsrats auf die alten Geschäftsfelder, die Druckereien, die Gruppe Service, die Verlage und auf deren besondere Pflege geachtet. Das gerade erst aufgebaute Zeitschriftengeschäft wurde durch Zukäufe in Osteuropa weiterentwickelt. Die Musik- und Fernsehunternehmungen wurden zu weltweit boomenden und boomend ertragreichen Unternehmensbereichen. Assperg machte Gewinn, Assperg war am Wachsen, und unter Holtrops Führung mehr und erfolgreicher denn je.

Von alledem war die Rede gewesen in den Ansprachen am Abend, die Unternehmerpersönlichkeit Berthold Assperg wurde gefeiert, seine Bodenständigkeit und sein Weitblick, sein Mut, seine Strenge gegen sich selbst, vorallem aber sein besonderer Einsatz für das Wohlergehen seiner Mitarbeiter, aller Mitarbeiter des Hauses Assperg. Und in einer kurzen, die Zuhörer anrührenden Rede hatte Assperg sich dann auf die ihm eigene spröde Art bedankt: man möge es ihm nachsehen, derartige Feiern lägen ihm bekanntlich nicht so sehr, er wisse gleichwohl um ihre Funktion, die Mitarbeiter der Firma, die ja nun sein Leben sei, im festlichen Ereignis zusammenkommen zu lassen, seiner Frau und seinen Kindern verdanke er alles. Die so Angesprochenen schauten auf. Seine Frau, die den ganzen Abend über jeden im Saal unerbittlich lächelnd angelächelt hatte, applaudierte ihrem Mann, der nickte ihr zu und setzte sich. Der Applaus schwoll an und ebbte ab. Dann wurden die Gläser gehoben, und es war auf Assperg, den alten Herrn und die Firma, von den anwesenden Asspergianern und den von außen dazugeladenen Gästen angestoßen und getrunken worden. Die Band spielte auf, die Tanzfläche füllte sich. Stimmung nahm Fahrt auf, der Anfang einer später wieder legendären Nacht.

Kurz vor fünf, einige Sekunden bevor der Wecker dreimal pickte, um dann im Alarmton loszufiepen, war Holtrop aus tiefem Schlaf erwacht. Er sah das Bild der urgroßväterlichen Fabrik an der Wand. Fragen aus fraglich verlaufenen Szenen des gestrigen Tages hatten sich über Nacht in die Lust verwandelt, sofort wieder selbst zu handeln und alles mögliche zu machen. Er stellte den Wecker aus, warf die Decke, unter der er geschlafen hatte, zurück und sah den kommenden Tag mit der Freude eines wilden Tiers auf sich zukommen. »Den Toten die Blüte, uns Lebenden die Tat«. Er stand auf und ging in den Keller. Dort setzte er sich, nachdem er den Fernseher eingeschaltet und seinen Trainingsanzug angezogen hatte, auf das in der Ecke stehende Hometrainergerät und fing an, locker, langsam, ruhig und leicht in die Pedale zu treten.

Die neue Frau von Technikvorstand Uhl, die gestern neben ihm gesessen war, Holtrops Frau hatte wegen einer Erkältung nicht dabei sein können, hatte sich als aufgedreht hysterisches Wesen präsentiert und mit frechen Sprüchen den ganzen Holtroptisch die meiste Zeit des Abends bestens unterhalten. »Ich bin Audrey Hepburn!«, sagte sie zur Begrüßung, sie sah auch so aus. Holtrop hätte mit dem Namen eines Filmhelden aus der Truman-Capote-Zeit kontern sollen, er wusste aber nicht, mit welchem. »Errol Flynn«, sagte er, weil das für ihn nach der Eleganz einer vergangenen Zeit klang. »Falsch!« rief sie mit hell quiekender Kinderstimme, von Holtrops Ahnungslosigkeit aufgekratzt und erfreut darüber, dass er sofort auf das Spiel mit ihr eingegangen war. Den älteren Männern trug sie in Gesellschaft, besonders bei den gähnend langweiligen Essenseinladungen, zu denen sie als neue Ehefrau des Asspergvorstands Uhl jetzt öfter eingeladen war, als es ihr Spaß machte, den spielerischen Pakt an, sich mit ihr gegen die Lächerlichkeit der sonstigen Erwachsenenwelt zu verbünden und gemeinsam, wenn man sonst schon nichts Vernünftiges machen konnte, wenigstens ein bisschen zu spielen. »Du musst sagen«, sagte sie, »äh: Sie natürlich!«, dabei klimperte sie selbstironisch mit den Wimpern und stieß sich von Holtrops Unterarm mit den Fingerspitzen beider Hände ab, »George Peppard!« Sie sprach den Namen französisch aus und betonte stark den Rachenlaut am Schluss. Dadurch öffnete sich ihr Mund sehr weit und zeigte Holtrop beim Lachen die weißen Zähne, die Lippen und das Innere des frisch in allen Roséfarbtönen schimmernden Mundinnenraums. Uhl, der zwei Tische weiter am schlimmsten Langweilertisch bei Finanzvorstand Ahlers saß, wurde vom hellen Kichern seiner Frau übermächtig und gegen seinen Willen dazu gezwungen, sich rückwärts zu ihr nach hinten umzudrehen, in grotesk verdrehter Haltung seines ziemlich fetten Oberkörpers saß er da und sah, Entsetzen im Blick, wie seine Frau mit offenem Mund von Holtrop fort und zu ihm wieder hinwippte und in Holtrops Gesicht mit aller Kraft, die sie hatte, hinein lachte, kicherte, kreischte.

Später am Abend, als alle schon einigen Alkohol getrunken hatten, war das Spiel in die Richtung gegangen, dass sie als seine Assistentin, Zofe, Dienerin ihm als ihrem Herrn gehorchen müsse, und er umgekehrt ihr als ihr Meister, Herr und Chef möglichst absurde Befehle zu geben hätte, die sie dann nicht genügend devot und nicht gut genug ausführen würde, wofür sie von ihm, zumindest verbal, gezüchtigt werden müsse usw. Dabei war es für Holtrop wie mit Errol Flynn und George Peppard, er wusste, dass mit dem Spiel von ihr etwas spielerisch Sadomasohaftes gemeint war, kannte aber diese Spiele nicht genügend gut, um in der von ihr erwünschten Weise einsteigen und mit ihr regelrecht mitspielen zu können, wie sie es gerne gehabt hätte. »Sind Sie eigentlich verheiratet?« sagte sie spöttisch. »Ja«, antwortete er und lehnte sich zurück. »Ich auch«, sagte sie und lehnte sich vor, und ihr provokativer Blick sagte dazu: »umso besser, dann kann ja nichts passieren!« und gleichzeitig das Gegenteil davon.

Da war Wenningrode an den Holtroptisch herangetreten und hatte, an Holtrop vorbei, seine Hand von hinten vertraulich auf die Schulter von Uhls Frau gelegt, die er dabei mit ihrem Spitznamen, »na, Ambra!«, angesprochen hatte, und sie hatte ihren Kopf umgedreht und Wenningrode mit dem exakt gleichen Gaumensegellachen angelacht wie zuvor Holtrop. In diesem Augenblick war ihr Spiel: »Jetzt haben Sie mich kleine Frau aber körperlich sehr stark erschreckt mit Ihrer großen Hand, Sie Mann!« Wenningrode, 55, ein lascher Sack von Mensch, saß wie Schnur am Tisch des Jubilars. Er überbrachte hier den angeblich ganz witzigen Vorschlag von Asspergs Frau, Uhl nachher mit irgendeinem Holtrop unverständlichen Insiderscherz, der auf eine Idee von Schnur zurückgehe, zu überraschen, was in der Situation vorallem die Funktion hatte, deutlich zu machen, und zwar genau dem von Wenningrode ignorierten Holtrop, in einer wie spielerischen Allianz Wenningrode, Uhl, Kate Assperg, Schnur und Uhls Frau miteinander verbündet waren.

»Wenningrode muss vernichtet werden«, hatte Holtrop in diesem Moment gedacht, aber er wusste, dass das Unsinn war. Dienstevorstand Wenningrode verantwortete den in der aktuellen Wirtschaftsflaute profitabelsten Konzernbereich, er hatte den Standort Krölpa in zehn Jahren so erfolgreich entwickelt, dass in den dortigen Firmen Mereo Dienste und Securo, unter dem Dach der Arrow PC zusammengefasst, inzwischen genauso viel Umsatz gemacht wurde wie am Assperghauptstandort Schönhausen, und vorallem mit einem weniger konjunkturvolatilen, von Werbeeinnahmen weniger abhängigen Geschäft. In den Vorstandssitzungen sagte Wenningrode nichts, er war ein dröger, biederer, im Geschäftlichen grausig uninspirierter, umso mehr an allen betriebsklimatischen Fragen und Intrigen interessierter Volltrottel, »muss man leider so sagen«, dachte Holtrop, Wenningrode muss deshalb auch nicht vernichtet werden, denn er wird als Volltrottel von selber untergehen. Gegen diese These sprach allerdings der stetige, langsame und, egal wie späte, unwiderstehliche Aufstieg Wenningrodes, der als erster, als vor zehn Jahren Asspergs neue Frau Käthe Schieder, damals Ende vierzig, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht und kurz darauf schon die jetzt so genannte KATE, bitte von allen englisch auszusprechen, Assperg geworden war, mehr als nur höflich von ihr Notiz genommen hatte. Er hatte sich ihr vielmehr sofort intensiv zugewendet, sie als potentiell relevanten Machtpol im Haus Assperg identifiziert, komplimentreich umworben und mit diesem Kalkül recht gehabt. Dabei hatte er wichtige Intrigantengrundregeln strikt beachtet und vorallem dies eine vermieden: je ein schlechtes Wort über sie zu sagen, zumindest vor anderen Asspergianern. Ende der Woche würde Wenningrode eine zu Ehren des alten Assperg von dessen Frau kuratierte Ausstellung eröffnen, die den Titel hatte: »Die Rückkehr der Landschaft.« In der Vortragsaula des Stiftungssitzes, von dem aus die Asspergstiftung geführt wurde, war ein intimer Empfang im kleinsten Kreis von Führungskräften vorgesehen, die Festspiele anlässlich des achtzigsten Geburtstags von Berthold Assperg gingen also weiter, und Holtrop war froh, dass er ab morgen für einige Tage geschäftlich in den USA zu sein hatte.

Der Fernseher in der Ecke von Holtrops Fitnesskeller meldete: Gosch plant Einstieg bei der Bahn. Der designierte Goschchef Messmer, 38, eben auf Bloomberg im Interview, sagte dazu: »Ich bin stolz auf das Erreichte, aber weit davon entfernt, zufrieden zu sein.« Holtrop reagierte, hielt auf seinem Fahrrad inne und schaute konzentriert auf den Bildschirm, wo Kollege Messmer, eine schreiend bunte Kitschkrawatte umgebunden, seine Fertigsätze runterspulte. Holtrop stieg vom Rad. Ansonsten: Dax rauf, Dow runter, Asien heute Morgen unruhig. Dann meldete der Mann vom Wetter die Fundamentalfaktizität: »Der Normalzustand der Atmosphäre ist die Turbulenz.« Zwanzig Minuten später saß Holtrop, frisch geduscht und vom Sport am Geist rundum erfrischt, in seinem Wagen und ließ sich die 260 Kilometer nach Krölpa bringen.

V

Das Wetter war schlecht, es war Freitagfrüh, die Autobahn war stark befahren. Durch Sprühregen, Nebel und Gischt raste Holtrops Wagen dahin, hinten im Fond brannte Licht, und es war warm im Inneren des Autos. Holtrop hatte beim Einsteigen Mantel und Degen abgelegt, das Jackett ausgezogen und seine Mappe mit den Unterlagen neben sich auf den Sitz geworfen. Jetzt blätterte er in den Papieren. Er führte Telefonate mit fernöstlichen Vasallen, erledigte seine elektronische Post und machte sich Notizen am Rand der Vorlagen zu den heutigen Gesprächen, um optimal vorbereitet zu sein. Die meisten Leute gehen unvorbereitet in die Verhandlungen, das konnte man sich zunutze machen, außerdem sind die Leute wirr, also steuerbar, die meisten wollen sogar gesteuert werden, sie wollen auch etwas davon merken, ein sie entlastendes Moment, etwas penetrant Direktivistisches will aber keiner spüren müssen, wozu er sich dann auch noch ganz explizit irgendetwas Konkretes bewusst denken müsste. Es muss laufen. Das war Holtrops Führungsphilosophie: »Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, aber rund laufen sollte es schon.« Auch als Chef war er primär Marketinggenie, konnte sich und das von ihm Gewollte jedem verkaufen. Holtrop würde das schlechte Wetter draußen zwar auch nicht wegzaubern können, könnte aber jeden Menschen, der hier im Auto neben ihm säße, davon überzeugen, dass etwas Schöneres gar nicht vorstellbar wäre, als zwischen sieben und acht Uhr früh über diese Ostautobahn zu brausen, eng im Pulk mit all den anderen Verrückten, Stoßstange an Stoßstange hintereinander her, siebenfacher ABS, ixfacher Safeassistent, Driveself, Airbag allseits, und jeder auf die Art vollgas in seiner eigenen rasenden Einzelzelle unterwegs und mit anderen Absichten, Hoffnungen, Urdringlichkeiten befasst und davon gejagt, jeder anders verrückt und alle zusammen doch auch perfekt koordiniert bei Tempo 180. So fetzte Holtrop also durch dieses kranke Mitteldeutschland dahin, ostwärts, hoch, tief, runter, rüber, weiter. Und der ganze Osten schnaubte, schniefte Rotz und Wasser, brodelte.

Der Himmel kam endlich heller herunter und öffnete sich hinter Stranow, wo Holtrops Wagen von der A88 abgefahren war. Es ging dann auf kleineren Straßen über die uralten Weiten der thüringischen Großplateaus, erst über sie hin, dann immer tiefer in sie hinein. Gamma, Torse, Hettlich, trostlos weggeduckte Flecken, lächerliche Wüsten dazwischen, der Dreck des Neuen an jeder Ecke, so billig, dass man nur in das allerbilligste Gelächter ausbrechen konnte. Aber Holtrop schaute hinaus und sah Möglichkeiten, die Dividende zu steigern. In jeder letzten Bruchbude wohnte ein Mensch mindestens, der noch nicht genügend laut von Fernsehwerbung angebrüllt wurde. »Das können wir ändern. Das werden wir ändern.« Assperg hatte für seine Mereo Dienste Krölpa auch den Ostmarktführer für Fernsehwerbung aufgekauft, TV-Prima, halbkriminelles Umfeld, das man halb mitgenommen hatte, halb bereinigen musste. Das würde geschehen und war auch teilweise schon geschehen, ohne dass die Geschäfte zu sehr darunter gelitten hatten. Neuerdings gab es dafür außerdem die Holtrop direkt zugeordnete Hauptabteilung CCC, Chief Counsel Compliance, wo Dr. Immo von Drawaert, 65, imposante Erscheinung, sehr vertrauenerweckend und souverän amtierte, durchgreifend im Gesamtkonzern Assperg und allen Tochterfirmen zuständig für Good Corporate Governance, Antikorruption, Transparenz und Frauenquote und all die anderen weichen Managementthemen, die für das Bild der Firma in der Öffentlichkeit immer wichtiger wurden. Erst neulich war Drawaert bei Holtrop erschienen und hatte erklärt: »Was wir bei der Mereo Dienste immer noch an Zuständen haben, nach zwei Jahren strengster Maßnahmen, darf ich Ihnen schriftlich gar nicht aufschreiben, wie verhalten wir uns?« Ursel, Horre, Orla, Weste, die Straßen wurden kleiner, die Kurven enger, der Regen hatte aufgehört, langsam wurde es Tag. Die letzten zehn Kilometer vor Krölpa waren, von Westen kommend, schnurgerade Rasestrecke, Allee teilweise, teils mit Krampe bepflanzte Flachflächen beidseits der Straße. Holtrop beugte sich zu Terek, seinem Fahrer, vor und sagte: »Haben Sie wegen der Tomatensuppe mit Dirlmeier gesprochen?« »Selbstverständlich«, antwortete Terek. »Danke, sehr gut«, sagte Holtrop.

Dann waren sie da. ARROW PC. Das Haus strahlte. Anfang März 2000, vor einer halben Ewigkeit von heute aus gesehen, als der Boom noch boomte, war der Bau eröffnet worden. Daneben ging es auf das alte Ostgelände. Die stählerne Schranke der Einfahrt ging hoch. Der Wagen rollte durch, der Pförtner grüßte aus dem Fenster seiner Kabine heraus mit gehobener Hand, Holtrop grüßte zurück, dann fuhren sie an der alten Hauptdruckerei vorbei, vorbei an der Baustelle für die Kantine, hinter zum DDR-Altbau, wo die Mereo Dienste residierte. »Wenige wissen, wer diesen Bau errichtet hat«, sagte Holtrop standardmäßig zu den Gästen, die ihn hier besuchten, um dann in die höfliche Interessiertheit des Gegenübers die Pointe möglichst matt fallenzulassen: »Ich auch nicht.« An der Art des folgenden Lachers konnte Holtrop erkennen, mit welchem Typus Mensch er es bei dem aktuellen Exemplar von Gegenüber zu tun hatte, der subalterne Idiot, der froh war, sich als erstes gleich ein bisschen locker lachen zu dürfen, ja, zu sollen, war leider der bei weitem häufigste Fall, wofür die Leute selber kaum verantwortlich zu machen waren, das lag, wie Holtrop wusste, an seiner Position. »Guten Morgen.« »Guten Morgen.« »Guten Morgen.« Die Türen wurden nicht gerade aufgerissen, aber die elektrische Spannung schnellte hoch in jedem Raum, den Holtrop betrat. Die Körper der Menschen erstarrten in Konzentration, um sich nichts anmerken zu lassen vom Schreck, von der Faszination, die das Erscheinen des Vorstandsvorsitzenden Johann Holtrop, der natürlich besonders höflich abwiegelnd auftrat, auslöste. Das war ein Kick, der Holtrop Energien zuführte, die er als Chef auch brauchte, aber in der Hand haben musste, sich nicht anmerken lassen durfte. »Gleiche der Ratte nie«, so ein Spruch seines Großvaters, den der von Bismarck oder Seneca, vielleicht auch von Nietzsche oder irgendeinem anderen damals gerade aktuellen Haudegen für Unternehmerweisheiten hergeleitet hatte. Die gegenseitige Abhängigkeit von Ober und Unter machte Distanz erforderlich, für deren Einhaltung der Ober verantwortlich war. »Guten Morgen, Herr Doktor Holtrop.« »Guten Tag, Frau Därne.« Holtrop war im Vorzimmer seines hiesigen Statthalters Thewe angekommen, »Herr Thewe erwartet Sie schon«, sagte die Sekretärin, »darf ich Ihnen was zu trinken bringen?« »Gerne einen Kaffee«, antwortete Holtrop, »es dauert allerdings noch ein paar Minuten.«

Er ging in sein eigenes Zimmer und machte die Türe zu. Er warf die Mappe auf den Schreibtisch und den Mantel auf den Stuhl daneben, zog das Jackett aus, hängte es über die Lehne seines Sessels und stand für einen Augenblick, um sich blitzartig zu sammeln, einfach nur so da. Dann setzte er sich. Die Tischplatte war leer, es lag nichts vor ihm, nur seine Mappe. Diese Leere euphorisierte Holtrop. Der erste Augenblick des Arbeitstags war geglückt. Die Uhr zeigte 08:58, kurz vor neun, »sehr gut«. Holtrop machte die Lampe an und nahm den Telefonhörer in die Hand. Während er mit seinem Büro in Schönhausen telefonierte, ging sein Blick über die riesengroße Karte von Großeuropa, die ihm gegenüber an der Wand hing. Noch waren es Gegenstände, zwar handliche, in ihrer Massenhaftigkeit insgesamt aber doch reichlich schwergewichtige Objekte, die Assperg von seinen Druckereien in Krölpa aus quer durch die halbe Welt versendete, um Handel damit zu treiben, dieses Geschäft würde sich grundlegend ändern, das war seit Beginn der 90er Jahre bekannt, aber wie genau dieser Wandel ausschauen würde, der auf die Informationsindustrien zukam, wusste niemand. Blaschke erbitte Rückruf, möglichst noch vor dem Gespräch mit Thewe, hatte Holtrop von Frau Rösler bestellt bekommen, jetzt war Blaschke nicht erreichbar. Frau Därne brachte Kaffee, Holtrop machte den Fernseher an und stellte den Ton auf stumm. Dann ließ er Thewe kommen.

VI

Die Türe ging auf, da stand Thewe. »Mein lieber Freund«, sagte er und ging mit jovial raumgreifenden Schritten und ausgebreiteten Armen auf den unbewegt und sehr klein vor dem Fenster stehenden Holtrop zu. Thewe, groß und dunkelhaarig, Ende fünfzig, elegant im Auftritt und in jeder Bewegung, ergriff Holtrops rechte Hand, den Ellbogen, den halben Arm und schüttelte daran viel zu lange. Das war insgesamt eine so inadäquate Begrüßung, dass Holtrop fast Mitleid mit Thewe bekam, der offenbar schon wusste, dass er am morgigen Tag in diesen Büros niemanden mehr begrüßen würde. »Wie gehts dir? Wie war die Fahrt? Wie lief die große Feier gestern?« Thewe spuckte beim Reden, hatte rote Haut im Gesicht, war stark parfümiert. Holtrop setzte sich hinter seinen Schreibtisch, offerierte Thewe den Stuhl davor und legte ein Kuvert auf den Tisch. Dann sagte er: »Du weißt, warum ich hier bin.« Thewe sackte zusammen, erleichtert und schockiert zugleich, hatte sich im selben Moment schon wieder gefasst, nickte Holtrop, dem er dabei zum erstenmal direkt in die Augen schaute, aufmunternd zu und sagte: »Nein, worum geht es denn?« Thewe weigerte sich, sich selbst zu entlassen, wozu Holtrop ihn zu nötigen versuchte. »Gut«, sagte Holtrop, der es als Chef gewöhnt war, dass er nur andeuten, nicht aussprechen musste, was er beschlossen hatte, aber in der Frage unentschieden war, ob man vom Todeskandidaten aus Gründen der Ehre die Selbstexekution erwarten konnte, »es geht um deine Freistellung.« Thewe nickte. Holtrop wartete. Thewe sagte nichts, und Holtrop sagte dann: »Es gibt natürlich verschiedene Modelle, wir würden eine einvernehmliche Lösung vorziehen, sind aber«, dabei lachte er, »wie du selbst weißt, auch zu jedem Streit bereit.« Thewe nickte wieder und sagte weiter nichts. In den wenigen Sekunden, in denen Holtrop geredet hatte, hatte sich Thewes Lage, die sich über die letzten Monate hin immer weiter verschlechtert hatte, schlagartig aufgehellt. Denn Holtrop, und mit ihm ganz Assperg, war jetzt von ihm, Thewe, abhängig, genau umgekehrt wie bisher, das Kräfteverhältnis war in einer fast schon irren, grell auf Thewe einwirkenden Weise auf den Kopf gestellt. Plötzlich war er, was er sein Leben lang nicht gewesen war: ein freier Mensch. Die Angst war weg. Euphorin, die schluchtbekannte Freudedroge, durchflutete die kranken Organe des Körpers von Thewe, sein Hirn. Er war ein freier Mensch, der außerdem auch noch sehr viel wusste. Und zwar über Assperg.

Holtrop saß konzentriert und böse hinter seinem Schreibtisch. Er hatte auf seinem Weg nach oben nicht wenige Weggefährten am Rand stehen gelassen, so manchen hatte er im Vorbeigehen wegstoßen müssen und genügend viele gegen deren Widerstand auch brutal und eigenhändig in den Abgrund, an dem der gemeinsame Weg nach oben entlangführte, hinuntergestoßen. Er wusste, was in Thewe vorging. Die sogenannten Unregelmäßigkeiten, die Thewe zu verantworten hatte, waren früher stillschweigend akzeptierte, branchenübliche Absprachen, Rabattsysteme, Kickbackgutschriften, Zuwendungen von sogenannten Aufmerksamkeiten, selten auch direkte Geldzahlungen gewesen, die das geschäftliche Miteinander einfach etwas einfacher gestaltet hatten, nur heute passten sie nicht mehr so richtig in die Zeiten. Das war Thewe lange genug signalisiert worden, ausreichend explizit, obwohl in diesem Graubereich um das Korruptionsthema herum das meiste nur indirekt behandelt werden konnte. Aber Thewe war insgesamt nicht mehr der Mann, der in einer so fundamentalen Frage von Firmenphilosophie den nötigen Neuanfang hätte schaffen können. Mit Ende fünfzig war er schlicht auch zu alt, mental erschöpft. Vom Führungsnaturell her war Thewe der Typus des in unauffälliger Weise inkompetenten Bürokraten, der mittleren Null, wie sie im gehobenen Management der Regelfall war, aus guten Gründen. »Sie können größere Einheiten nicht von lauter Hysterikern, Charismatikern und anderen Intensitätsspinnern durch die Mühen der Ebene über längere Distanzen hin führen lassen«, hatte Holtrop, selbst der Inbegriff eines solchen Spinners und Charismatikers, gestern Abend bei dem Asspergjubiläum zu dem ihm gegenübersitzenden IFO-Chef Luther gesagt. Aber diese mittleren Normalmanager in ihren mittelhohen Führungsjobs waren nach zwanzig Jahren aufgebraucht, da konnte man nichts Neues mehr erwarten, Thewe war so eine ausgebrannte Null.

Außerdem war Thewe, unverheiratet, alleinlebend und ohne Kinder, vor Jahren wegen einer Alkoholproblematik in Behandlung gewesen. Das könnte in der jetzigen Situation für alle Beteiligten von Vorteil sein. »Wir können die Krankheit nehmen«, sagte Holtrop und deutete auf den Fernseher, wo gerade die pervers aufgedunsene Gestalt von Helmut Qualtinger zu sehen war. »Die Krankheit«, wiederholte Thewe, und als er merkte, dass sein Gesicht heiß wurde, wie er schnaufen musste, dass der Zorn in ihm hochschoss und das Exsudat der Angst, der Schweiß, ihm auf die Stirn trat, sagte er: »Wie meinst du das?« »Ich will dich nicht drängen«, lenkte Holtrop sofort ein, »überleg es dir in Ruhe, sprich mit deinem Anwalt, wir geben die Presseerklärung erst morgen Mittag heraus.« »Gut«, sagte Thewe. Holtrop schaute ihn an, lehnte sich vor, stellte aber nicht die hochprivate Frage, die von dieser Geste anmoderiert war, sondern machte einen den alten Assperg in der firmenüblichen Weise herabsetzenden Scherz über den gestrigen Abend, antwortete damit quasi mit einer etwa vierminütigen Zeitverzögerung auf Thewes Eingangsfrage. Der nahm das Thema auf, es gab dazu ein kleines Gespräch, das Holtrop aber nicht zu lang werden ließ. Er legte die Hände flach auf den Tisch, stand auf, Thewe eine schwere, lange Sekunde später auch. Holtrop streckte ihm die rechte Hand entgegen und sagte: »Du kennst ja das Verfahren. Blaschke wartet in deinem Zimmer auf dich und bringt dich raus. Du kannst mich jederzeit über Frau Rösler oder Dirlmeier erreichen oder auch direkt anrufen. Wir werden eine gute Lösung finden.« An der Türe blieb Thewe nocheinmal stehen, schaute ins Zimmer zurück und fragte: »Türe schließen?« »Ist egal, wie du willst.«

Nachdem Thewe gegangen war, informierte Holtrop seinen Stab, das Büro Brosse, dann die Vorstandskollegen Wenningrode und Ahlers, zuletzt den alten Assperg. »Was haben wir ihm konkret geboten?« fragte Assperg. »Einen Tag Zeit, sich daran zu gewöhnen«, antwortete Holtrop. Assperg bedankte sich, sie legten auf, und Holtrop lehnte sich in seinem Chefsessel weit zurück, schaute zur Decke hoch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er konnte in solchen Momenten der Decke über sich manchmal die Zukunft, die kommen würde, ablesen. Die Decke war weiß. Holtrop fühlte sich gut.

VII

Im kleinen Konferenzraum der SECURO, des Sicherheitsdienstleisters von Assperg, zwei Stockwerke tiefer, war alles bereit für die Strategiesitzung um halb zehn. Kaffee, Wasser, Gebäck und Aschenbecher standen auf dem Tisch, in der Mitte ein Bund alter Dörrblumen. Um an dieser Sitzung teilnehmen zu können, war Thewe am heutigen Freitag ausnahmsweise in Krölpa geblieben. Holtrop hatte sich angesagt. Die seit Monaten laufende interne Untersuchung der Unregelmäßigkeiten bei der Securo, die Krölpavorstand Wenningrode wenig engagiert betrieb, hatte bisher nichts Konkretes erbracht. Securochef Meyerhill, 36, den Holtrop Anfang des Jahres an Wenningrode vorbei installiert hatte, hatte sich Holtrops Aufklärungsvorhaben zu eigen gemacht und die Arbeit der unabhängigen Leipziger Beratungsfirma Berag gefördert, deren Ergebnisse heute von den beiden Beragchefs Salger und Priepke präsentiert werden sollten. Außer Meyerhills direktem Konkurrenten Sprißler, der als Sicherheitschef eine ganz andere, definitiv klandestine Agenda verfolgte, und Thewestellvertreter Diemers hatte Holtrop die Kommunikationschefin Frau Wiede und deren Stellvertreterin Frau Rathjen zu der Sitzung einbestellt, um die Bedeutung des Aufklärungsvorhabens hervorzuheben, außerdem um die dem Wenningrodelager zugerechnete Abteilung Kommunikation für sich zu gewinnen.

Die Teilnehmer der Sitzung hatten sich rechtzeitig eingefunden und warteten jetzt, leise im Gespräch miteinander, auf den Pünktlichkeitsfanatiker Holtrop, der jede Sekunde ins Zimmer stürmen und die Sitzung eröffnen würde. Dass der Unpünktlichkeitskönig Thewe noch nicht da war, war normal. Thewe war Doppelchef der Mereo Dienste und der alle Krölpa-Aktivitäten Asspergs führenden Arrow PC, er hatte neben den Chefrechten zusätzliche Sonderrechte, arbeitete viel von zuhause, kam später, ging früher und war Freitag und Montag meist nicht in Krölpa, auf Dienstreise oder privat unterwegs. Trotzdem war er als Chef nicht nur unbeliebt, weil er, wenn er da war, wenig sichtbar war, wenig Druck machte und die Mitarbeiter auf die Art sozusagen passiv doch auch motivierte.

Zwischen der Securo und der MEREO Dienste, die über der Securo zwei Stockwerke im DDR