John Ruskin - Wolfgang Kemp - E-Book

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Wolfgang Kemp

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Beschreibung

Von John Ruskin stammen die ersten Schreckensvisionen einer total industrialisierten Welt. Wolfgang Kemp zeichnet in seiner sorgfältig recherchierten Biographie das Leben dieses englischen Schriftstellers und Kunstphilosophen nach, der sich in einer Zeit einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen von der reinen Betrachtung der Kunst und Natur abwandte und zu einem der schärfsten Kritiker des viktorianischen England wurde. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Wolfgang Kemp

John Ruskin

1819–1900: Leben und Werk

FISCHER Digital

Inhalt

Reproduktionsvorlagen: 1, 3 nach [...]There is no wealth [...]I Das kleine Phänomen 1819–1842123456II Der Graduierte von Oxford 1842–1845123456III Ein Verrückter oder ein Weiser 1845–1853123456IV Der Luther der Künste 1853–18601234V Der wilde Ruskin 1860–1870123456VI Der Professor 1870–187812345678VII Der einzige wahre Seher 1878–1890123456VIII Der Alte Mann von Coniston 1889–1900[Bildteil]AnhangVerzeichnis der abgekürzt zitierten LiteraturKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIII

Reproduktionsvorlagen: 1, 3 nach Library Edition; 5, 9 Sidney W. Newberry; 12 nach Paul H. Walton, The Drawings of John Ruskin, Oxford 1972; alle anderen Museumsfotografien.

There is no wealth but life

 

 

Unto This Last

I Das kleine Phänomen 1819–1842

1

Es war ein Auftrag, wie ihn der akademische Maler James Northcote serienweise zu erfüllen pflegte. Ein Weinhändler der Londoner City wollte seinen Sohn gemalt sehen, ein Kind, das 1822 dreieinhalb Jahre alt war. Für diese Aufgabe empfahl sich der 77jährige Northcote, weil er dem banalen Sujet noch einen noblen Aufschwung zu geben wußte. Der Schüler Joshua Reynolds setzte gerade bei seinen bürgerlichen Klienten weiter auf die Formeln, die im 18. Jahrhundert die englische Malerei zum internationalen Vorbild der Porträtkunst gemacht hatten: lockere, ungezwungene, bisweilen freibeschwingte Gestik, wenig Pomp in Kleidung und Ambiente, Naturszenerie als Hintergrund. Für Kinder wählte Northcote gerne die Formel »Genius« oder »Sylphide«. Etwas übertrieben: das Kind brauchte nur noch seinen Kopf durch die leergelassene Stelle der Leinwand zu stecken. So entstand das erste Bild von John Ruskin. (Abb. 1)

»Ich bin dargestellt, wie ich über ein Feld am Waldesrand dahergesprungen komme« – in einem Ausfallschritt, halb fliegend, halb einhaltend, wie ihn die Herzoginnen oder Schauspielerinnen Reynolds zeigen; das leichte, weiße Kleid flattert, ein Hündchen kommt herbeigesprungen. Arrangierte, durch die Komposition wieder eingefangene Bewegtheit, bei der das unverwandt den Betrachter suchende Gesicht nicht mitspielt. Ein kindlich gerundetes Gesicht noch, das aber schon den langen Schädel ahnen läßt. Viele feine, hellblonde Haare. Und eine deutliche Linienführung der Züge, die akademisch gefaßt wirkt, die aber, wie die folgenden Bilder beweisen werden, ganz dem Porträtierten gehört. Da ist eine durchgehend geschwungene Kontur, die von den Augenbrauen bis zu den Nasenflügeln läuft und in der halben Höhe des Gesichts gegen die Mittelachse leicht einschwingt, auf diese Weise den Nasenrücken zart und die ganze untere Partie der Nase fleischiger erscheinen läßt.

Schon ähnlich, wird der Maler gedacht haben, als er diese zentralen Züge des Gesichts auf die Leinwand übertragen hatte. Für den Rest hielt er sich an Schema und Routine. Als er den poetisch verwischten Hintergrund anbrachte und den großzügig unbestimmten Baum in die Ecke setzte, wußte er nicht, daß er einen Menschen malte, den die Zeitgenossen und nachgeborenen Bewunderer den »schärfsten Beobachter« des Jahrhunderts nennen sollten und dazu einen Kritiker der Malerei, der es so genau wie keiner mit den Bäumen und Bergen nehmen würde. Northcote wußte es nicht, aber er war vielleicht der erste, der einen Hinweis auf diese Zukunft erhielt. Nachdem das Kind ihm zehn Minuten gesessen hatte, fragte es den Maler, warum sein Teppich Löcher habe. »Ich benahm mich bei dem alten Maler so ruhig, daß er sehr zufrieden mit mir war; ich saß auf meinem Stuhle, ohne mich zu mucksen, zählte die Löcher in seinem Teppich und beobachtete, wie er die Farben aus den kleinen Blasen drückte, was mir eine herrliche und höchst interessante Operation schien, doch fesselte das eigentliche Malen, soviel ich mich erinnere, meine Aufmerksamkeit nicht. Meine Vorstellung von schöner Kunst schloß für mich unweigerlich den Besitz eines großen Farbtopfes voll hellgrüner Farbe ein, aus dem der Pinsel triefend naß hervorgezogen wurde.«

Dem Auftragsbild ließ Northcote ein zweites, freientworfenes mit demselben Modell folgen, ein antikes Genrestückchen. Ein rotbrauner Satyr entfernt aus dem Fuß eines kleinen apollinischen Genius einen Dorn. Im Hintergrund schematisches Arkadien, Schafe. Northcote malt einen Genius mit Scheitel, eine Haarfrisur, über die kurz vorher noch mal die Hand der Mutter gestrichen hat. Darunter ein wehleidiges Gesichtchen. Dann kommt der Körper eines Ignudo der Sixtinischen Kapelle. Alles an diesem Bild ist falsch, ist billig berechnete Rezeptkunst. Und kein Sinn, der hier investiert wurde, sollte in diesem Leben Zukunft haben, weder der Klassizismus noch Michelangelo, der mythologische Mummenschanz nicht und auch nicht die hilfreiche Handlung niederer Geister, die den Sinnen Erleichterung schaffen. Weder das graziöse Air des Porträts noch die hausbackene Antike des zweiten Werks geben also ein »Vorbild«. Das 18. Jahrhundert – denn aus diesem Stoff sind diese Bilder gemacht – vermag nichts mehr über das 19., das so unvermittelt die zusammengerafften Künstlichkeiten durchschaut. Schon fiel den Kunstkritikern auf, daß die Dryaden oder Naiaden der zeitgenössischen Maler doch nur Aktbilder ergäben, aber es dauerte noch zwei Jahrzehnte, bis einer definitiv den Vorwand für überflüssig erklärte und dazu aufrief, sich konsequent den Akten, den Bäumen und den Himmeln zuzuwenden. Den Eltern freilich müssen diese Bilder gefallen haben. Denn nun durfte Northcote auch sie porträtieren.

Ruskins Eltern waren Kusinen ersten Grades. Er war in Schottland aufgewachsen, sie im Süden der Insel. Beider Herkunft konnte nicht gerade als glänzend und vielversprechend gelten: Der Vater von John James Ruskin betrieb einen kleinen Handel, Margaret Ruskins Familie führte ein Wirtshaus. Sie lernten sich kennen, als Margaret nach Edinburgh ging, um der Tante, der Mutter von John James, Stütze und Gesellschafterin zu sein. Die beiden Frauen schlossen sich in der Folgezeit eng aneinander an und hatten bald einen gemeinsamen Gegenstand der Sorge und Liebe: John James. Über John Thomas Ruskin, das Familienoberhaupt, hat sich der Dreierbund wenig Illusionen gemacht. In seinem starken Drang nach oben scheute er nicht vor waghalsigen, ja unreellen Unternehmungen zurück. Vom Krämer zum Kaufmann – dies Lebensziel ließ sich kurzzeitig erreichen, aber der Abschwung war nur mit Durchstechereien aufzuhalten. Als John Thomas Ruskin starb, nach zwei Jahren psychischer Störungen in einem depressiven Anfall Hand an sich legend, hinterließ er dem einzigen Sohn eine schwere Bürde: Schulden in Höhe von 5000 Pfund, vermutlich das Ergebnis von Unterschlagungen, und die lebenslange Furcht, zu werden wie der Vater, zu enden in einem Zustand aus Wahn und Verzweiflung, der in milder Form den Sohn schon früh heimgesucht hatte. Als 16jähriger war John James nach London gegangen; seine gute Schulausbildung hätte ihn vielleicht zu mehr berechtigt, als Kaufmannsgehilfe zu werden – er trägt ein Buch in der Hand, als er sich 1804 porträtieren läßt, und das war gewiß kein Hauptbuch –, aber für hochfahrende Pläne und lange Ausbildung war das Haus Ruskin nicht vorbereitet. Das Zeitgeschehen, Englands Isolierung durch Napoleon, erleichterte dem jungen Mann den Weg in die Welt nicht gerade. Wo der Außenhandel stagnierte, hatte er es schwer, auch nur eine untergeordnete Stellung in den Londoner Handelshäusern zu finden. Sieben Jahre lang arbeitete er in einer Kolonialfirma für 100 Pfund im Jahr, sieben Tage in der Woche bis 8 Uhr abends, an zwei Tagen gar bis 11. Mit 23 hat er sich einen zentralen Posten in einem der großen Kontore erkämpft. Dann, nach neun Jahren ohne Ferien, erkrankt er schwer und wird monatelang von Mutter und Kusine gesundgepflegt. 1814 wechselt er zu einer kleinen Weinimportfirma und arbeitet als einziger aktiver Teilhaber dieses Unternehmens von nun an auf eigene Rechnung. Es wird die Arbeit seines Lebens, eine Arbeit vor allem als Handelsvertreter: »Ich habe jede Stadt in England aufgesucht«, resümiert er später, »die meisten in Schottland und einige in Irland, so lange, bis ich den Umsatz meiner Firma von 20 Faß auf 3000 gesteigert hatte«, womit Ruskin, Telford & Domeq an die Spitze der englischen Sherry-Importeure rückten. »Man muß schon eine unbezwingbare Willensstärke mit sich bringen, um das zu erreichen, wonach gleichzeitig hundert Mitbewerber trachten« – »Will & Power«, wie John James schreibt, das ist der doppelte Antrieb dieses Kaufmannslebens gewesen, nicht die Spekulation, das plötzliche Glück, der »Riecher«, all das, worauf sein Vater vermutlich gesetzt hatte. John James hat seinen Beruf wie ein Amt ausgeübt, als öffentlich zu verantwortende Tätigkeit und Pflicht mit festen Dienstzeiten, Aufgaben und Leistungen. Sein Sohn hat in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften Arbeit und Beruf nie anders verstehen können.

Wie viele Selfmademen des 19. Jahrhunderts hat John James Verantwortung zuerst gegenüber der Familie getragen. Das Jahr 1808 sah den Bankrott des väterlichen Geschäfts und brachte John James in die Rolle des Familienoberhaupts und damit der verehrten Mutter noch näher. Das wird seinen Ernst und sein Verantwortungsgefühl enorm gesteigert haben, und es bedeutet keinen Widerspruch, wenn John James und Margaret sich 1809 verloben. Der Kusin heiratet in der Kusine das von der Mutter her Vertraute. »The half of myself«, hat die Mutter ihre Nichte genannt. Der Wechsel von der Kleinstadt Croydon nach Edinburgh hatte Margaret in eine klare Spur gesetzt. Nichts anderes war ihr von Haus aus vorgezeichnet worden als ein arbeitsames und frommes Leben in der Familie, aber in Edinburgh bekam dieser gewöhnliche Lebenszuschnitt eine unerwartete Prägung. Die schottische Kapitale, das Athen des Nordens, ließ auch eine einfache junge Frau mit geringer Schulbildung an dem enormen Umsatz an theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Spekulationen teilhaben, der sich im Kreis um Thomas Reid, Dugald Steward und Adam Smith vollzog. Das Erstaunliche dabei ist, daß das aufgeklärte Denken der schottischen Philosophen und die aktive Teilnahme der Bürger Edinburghs an dieser Bewegung in einem Klima religiöser Strenge und Intoleranz gedeihen konnten. Die Schottische Kirche, deren Mitglieder die Ruskins waren, hatte sich den calvinistischen Grundsätzen der Prädestination und der Verworfenheit der menschlichen Natur verpflichtet. Da blieb kein Raum für ästhetische Genüsse oder Freuden selbständiger Verstandesarbeit, zumal nicht in einer Zeit, da diese Kirche in einen kleinen Glaubenskrieg nach innen und nach außen verwickelt war. Obwohl die Eltern den Prinzipien der schottischen Orthodoxie immer treu blieben, auch in England, haben sie doch niemals verzichtet auf die Lektüre zeitgenössischer Schriftsteller (auch so verworfener Autoren wie Byron), auf den Verkehr mit Künstlern, auf ausgedehnte, teure Reisen, auf standesgemäßen Luxus. Wäre ihnen Religion nur Decorum oder Pflichtübung gewesen, hätten sich John James und Margaret, als sie nach London zogen, im weiten Spektrum der englischen Kirchen einen einfacheren und gesellschaftlich attraktiveren Glaubenshort suchen können als die Evangelikalen, die in England der Schottischen Nationalkirche am nächsten kamen: die hochkirchliche Partei z.B., die im 19. Jahrhundert das Bedürfnis vieler Aufsteiger nach Glanz und Salbung erfüllte, ohne strenge Forderungen an die Lebensführung zu erheben. Das ist ein Widerspruch, der sich nicht als individuelle Besonderheit wegerklären läßt. Die ausländischen Beobachter sahen solches Verhalten als Nationaleigenschaft und sprachen schlicht von der »englischen Heuchelei«: »Wir finden dort eine nahezu jüdische Starrheit des Festhaltens an der dogmatischen Überlieferung und daneben eine volkstümliche, längst in der kühnen praktischen Eigensucht der Nation großartig verkörperte Sittenlehre, die […] im Grunde jederzeit alle moralischen Dinge an dem Maßstabe des Nutzens gemessen hat.« Den Grund für diesen Dualismus von »protestantischer Härte« und »englischem Weltsinn« suchte der eben zitierte Heinrich von Treitschke in dem Bedürfnis der Bürger nach Halt und Sinngebung inmitten des unberechenbaren Treibens, das sie selbst entfesselt hatten. Zumindest bei den Ruskins kam aber noch mehr dazu. Daß Ruskins Elternhaus hochreligiös war und sich doch nicht eng und konventionell gegen alles Neue in Kunst, Literatur und Wissenschaft sperrte, muß etwas mit der großen Anerkennung zu tun haben, die die Eltern den Geistesarbeitern zollten, was wiederum mit ihrer Situation als Aufsteiger zusammenhängt. Die Eltern hätten nur zu gerne ihre Verehrung einer verehrungswürdigen Oberschicht und Obrigkeit angetragen, aber da war in England ein absolutes Vakuum entstanden, und so folgten sie im Grunde dem schottischen Modell und hielten sich an die Leistungen derer, die auch ohne Rang und Namen sich nach vorne gearbeitet hatten.

Wie viele Bürger ihrer Zeit waren sie beeindruckt von dem Ruhm, den sich nach 1800 Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler und Prediger erwerben konnten. Dem Vater wird 1814 nicht entgangen sein, daß an dem Tag, als Byrons »Korsar« herauskam, ganze Straßen der City verstopft waren und der Verleger Murray als Umsatz eines Tages 10000 Exemplare vermelden konnte. Die Eltern müssen aber dieses Metier auch als besonders gefährlich und aufregend empfunden haben. Den eigenen Namen gedruckt zu sehen, sich der Kritik zu stellen, die gerade in Edinburgh zur hohen Kunst entwickelt wurde, in der Öffentlichkeit zu wirken – das waren Wagnisse, hinter die alle Umtriebe des Kaufmannslebens weit zurücktraten. Ihr Leben lang haben Ruskins Eltern das Erscheinen und die Aufnahme eines seiner Bücher mit Bangen begleitet, während der Autor selbst diesen Vorgang eher als Störung seiner Arbeit an neuen Projekten empfand.

In Edinburgh und später in Perth hat Margaret jedenfalls viel gelesen, die Bibel mit der Tante zusammen und manch anderes religiöses und philosophisches Schrifttum, auch schöne Literatur. Dem Sohn hat sie bisweilen merkwürdige Traktate ins Reisegepäck gesteckt, die ihre Vorliebe für eine gewisse halbphilosophische Erbauungsliteratur andeuten. Sich zu bilden und bereitzuhalten für den Verlobten, der Tante vor allem in schwieriger Zeit durchzuhelfen, das war der Inhalt der langen schottischen Jahre. Margaret hat wohl selten in ihrem Leben etwas für sich gewollt, aber daß diese Zeit der Erwartung nach ihren Vorstellungen enden müßte mit der Heirat, mit der gemeinsamen Selbständigkeit, darauf hat sie fest vertraut, dafür hat sie wohl auch mit ihren bescheidenen Mitteln gekämpft, gegen den Widerstand von Onkel und Tante, die für den einzigen Sohn eine attraktivere Partie geplant hatten als die arme Nichte aus Croydon (ein Vorgang, der sich eine Generation später wiederholen sollte). Ob bei der langen Verlobungszeit von 1809 bis 1818 Unschlüssigkeit von seiten John James’ eine Rolle spielte, wissen wir nicht. Was Ruskin in einem für die Autobiographie »Präterita« nicht verwendeten Stück dazu sagt: »Wenn da Liebe auf beiden Seiten gewesen wäre, hätte es diese [lange] Verlobung nicht gegeben; sie wäre nach der Denkungsart meines Vaters töricht und falsch gewesen«, braucht nicht für endgültig genommen zu werden. Der Sohn hat immer die Mutter für die Liebende gehalten und den Vater so beurteilt, wie dieser ihm begegnete: vernünftig und bestimmend. Die Briefe, die aus der Zeit nach Ruskins Geburt erhalten sind, stützen diese Annahme nicht, ja lassen sogar den umgekehrten Schluß zu. Wir müssen das lange Verlöbnis, das unverständlich ist wie viele familiäre Verhaltensweisen dieser beiden Menschen und ihres Sohns, so erklären, daß da gutbürgerlich Verzicht geleistet wurde, still und einsichtig, zugunsten der Karriere in London und der immer stärker der Pflege bedürftigen Eltern in Edinburgh bzw. Perth. Wie die Geschichte dieser Dulder jedoch ausgegangen wäre, wenn nicht eine Art Kraftakt der Familiengeschichte neue Bedingungen geschaffen hätte, wissen wir nicht. 1817 sterben alle noch existierenden Elternteile, Margarets Mutter und John James’ Vater und Mutter. Im Februar 1818 heiraten die beiden, ziehen nach London, und ein Jahr später, am 8. Februar 1819 wird ihr einziger Sohn, John Ruskin, in ihrem neuen Heim in der Hunter Street 54 geboren. Zu diesem Zeitpunkt waren Margaret 38, John James 33 Jahre alt. Nimmt man die Vorgeschichte dieser Ehe und die Tatsache der glücklichen Geburt in so hohem Alter der Mutter zusammen, so wird manch überzogene Reaktion späterer Jahre in milderem Lichte erscheinen. Zumal für Margaret war dieser Sohn die kaum mehr zu erwartende Bestätigung und Erfüllung jahrzehntelangen Hoffens. Dieses große Lebensereignis hat sie nach dem Muster der Bibel für sich ausgelegt, als eine zweite Hanna (vgl. 1 Sam. 1) sah sie sich, deren langer Wunsch nach einem Kind von Gott erhört wurde und die ihr Kind darauf Gott weihte: »Um diesen Knaben bat ich. Nun hat der Herr meiner Bitte gegeben, die ich von ihm bat. Darum gebe ich ihn dem Herrn wieder sein Leben lang, weil er vom Herrn erbeten ist.« Das Gelübde der Hanna/Margaret hat sich nicht erfüllen lassen. Ein Priester ist Ruskin nicht geworden, aber als ein Prophet wie Samuel, der Sohn Hannas, ist er schließlich geendet. Nicht sehr zur Freude seiner Mutter, die das noch miterlebte.

2

Das Jahr 1819 galt schon immer als ein Schicksalsjahr der englischen Geschichte. Damals kam das Vereinigte Königreich so nah an den revolutionären Umsturz wie nur noch einmal 1848. »Peterloo« ist das Stichwort für den politischen Kampf dieser Tage. Auf dem Petersfeld bei Manchester wurde damals eine Versammlung der Arbeiter, die für die Abschaffung der Kornzölle und für eine grundlegende Parlamentsreform demonstrierten, von Militär und Polizei brutal aufgelöst. Elf Tote und 400 Verletzte blieben auf dem Feld zurück. Shelley hat in seinem Sonett »England im Jahr 1819« »Peterloo« zum moralischen Waterloo der korrupten und reformunfähigen Adelsklasse erklärt:

Ein König, alt, toll, blind, dem Tod verfallen;

Prinzen, die Hefe ihres trägen Stamms,

Des Volkes Hohn, dreckiger Abhub dreckigen Schlamms;

Regenten, fühllos, taub den Klagen allen,

 

Blutegel an dem Land, das nah dem Tode schmachtet,

Bis, blutsatt, ohne Schlag sie niederfallen;

Ein Volk, darbend auf brachem Feld geschlachtet;

Ein Heer, durch Freiheitsmord und Raubgier allen

 

Ein doppelschneidges Schwert, die des Gesetzes Trug

In Gold und Blut zu münzen stets bereit;

Der Glauben gottlos, ein versiegelt Buch;

Ein Volksrat, morschestes Gesetz der Zeit:

 

Das sind die Gräber, draus ein glanzvoll Phantom mag

Erstehen noch, ein Licht in unserm Sturmestag.

Wie diese letzten Zeilen zu verstehen sind, vor allem die Formulierung »glorious Phantom«, darüber ist gestritten worden. Die Biographen von Queen Victoria und John Ruskin (beide sind Jahrgang 1819) versagen es sich an dieser Stelle, eine positive Prophetie für ihre(n) Helden(in) zu beanspruchen. Es war weder ein Irrlicht, noch ein Leuchtfeuer, das aus den Gräbern von 1819 aufstieg, kein »glorious Phantom«, sondern eher ein normales Streulicht. »Peterloo« bedeutete das Waterloo der Arbeiter und revolutionär gesinnten Bürger als politischer Macht. 1819 ist auf dem Kontinent das Jahr der Karlsbader Beschlüsse, der Beginn der Restaurationszeit. Für die englischen Verhältnisse muß aber hinzugesagt werden: Das Jahr 1819 sieht auch das erste Reformgesetz, die Beschränkung der Kinderarbeitszeit und das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren. Bis 1846/47 (Aufhebung der Kornzölle, Einführung des Zehnstundentags) dauert diese Zeit der Reformen, der kleinen, bitter nötigen, aber schließlich mit politischen Mitteln, nicht mit Gewalt und Gegengewalt durchgesetzten Rechte und Besserungen. Die Klasse, in die John Ruskin hineingeboren wurde, das englische Bürgertum, beurteilte während der Jahre, da er aufwuchs, ihre Obrigkeit nicht viel anders, als es Shelley getan hatte, und sie hielt doch an der Institution von Königtum und Aristokratie unverbrüchlich fest; faktisch war sie von den Regierungsfunktionen bis 1832 (1. Wahlrechtsreform) ausgeschlossen, und doch mochten die permanente Reformdiskussion und deren Erfolge den Eindruck erwecken, es würde auch ihre Sache verhandelt; entscheidend aber wirkte sich auf ihr Verhalten in diesen Jahren aus, daß ihren ureigenen Aktivitäten in Handel, Güterproduktion und Geistesleben kaum Grenzen gesetzt waren. Daß es für ihn »ein Werk zu tun gab in England«, das hatte auch John James erkannt und tatkräftig angegangen; seine Erfolgsgeschichte und die vieler anderer neben ihm haben seine Vorstellung gefestigt, daß man bei aller Reverenz vor der Oberschicht deren Verständnis und Praxis von Politik nicht zu teilen brauchte. Politik als Partei- und Regierungspolitik, als Außenpolitik, überließ man solange der kleinen Führungsschicht, als man seine Belange, die eigentlichen Belange, wie man fand, positiv gestalten konnte. Das Kind des Jahres 1819, das sich der Politik spät zuwandte, blieb in dieser Hinsicht ein Kind seiner Klasse. Ruskins Ausflüge in die Tagespolitik wirkten so stümperhaft und sein Desinteresse am Parteienstreit so entwaffnend, weil er immer daran festhielt, daß nur Elementares wie das durch Arbeit und Glauben geregelte Verhältnis des Menschen zum Menschen und des Menschen zur Natur das Attribut politisch und den ganzen Einsatz des Politikers verdiente. Der folgende Kommentar des Vaters zur Vermählung Viktorias mit Prinz Albert, der sich so widersprüchlich liest, gibt das schlüssige Programm des englischen Bürgertums wieder (und darin blieb der Sohn der Sohn seines Vaters): »Wir sind Leute, die König und Königin lieben, aber sie müssen ihre Würde und die Würde der oberen Klassen um sie herum wahren – sonst könnten wir müde werden, für ihren Pomp zu zahlen. Die Königin ist ein törichtes Kind und anscheinend ohne Charakter. Ich wünschte, aus dem Jungen [Prinz Albert] möchte etwas Besseres werden. Armselige Aussichten für das Land. Wir müssen uns an unsere häuslichen Kreise halten und uns um unsere Nachbarn kümmern und die Politik Politik sein lassen. Ich komme sehr gut mit jeder Art von Königin aus; ich werde keine Revolution anzetteln oder irgendwie die Regierung belästigen.«

1819 galt es erst einmal, den »häuslichen Kreis« einzurichten, und da hat man nicht den Eindruck, daß die Ruskins durch die neuerworbene Selbständigkeit und Gemeinsamkeit überfordert waren. Ihr erstes Haus, ein vierstöckiges, schmales Reihenhaus, diente ihnen nur vier Jahre als Wohnstätte, dann zogen sie in den Süden Londons, nach Herne Hill, in eine Villa, die inmitten eines großen Gartens lag, in einer Gegend, die von der Metropole noch nicht eingeholt war. Dort blieben sie 19 Jahre wohnen, bis sie 1842 in die nahe Nachbarschaft, nach Denmark Hill, und in eine noch größere Villa in einem noch größeren Garten zogen. In diesem Haus sind John James und Margaret viele Jahre später gestorben. Im Süden der großen Stadt, hoch über ihren Niederungen, begann für die Familie ein Leben, das sie niemals aufgeben mußte, das sie nicht grundlegend änderte und das der Sohn später getreu kopiert hat. Die Hauptbestandteile waren: Entfernung von Lärm und Dreck der Stadt, Hügellage mit weitem Blick, viel Grün in Garten und Umgebung, ein Anwesen, das zur Versorgung und Beschäftigung der kleinen Familie und einer größeren Dienerschar geeignet war. Die Ruskins hatten keinen bäuerlichen Hintergrund, aber mit großer Selbstverständlichkeit haben sie auf Selbstversorgung gesetzt: Da gab es Milchvieh, Gemüse und viel Obst, die Mutter kümmerte sich um die Blumen und Zierpflanzen, und der jeweilige Obergärtner hatte in diesem Haushalt eine zentrale Stellung. Wenn der Sohn später etwas in der Gesellschaft ausrichten wollte, schickte er meist den Gärtner vor. Bei der Errichtung einer solchen Villegiatur spielte die Nachahmung adligen Lebensstils eine viel geringere Rolle als das Ideal der Autarkie. Die 20er Jahre sind die Zeit, da William Cobbetts populäre Traktate über Selbstversorgung erschienen; sie waren zwar an ein anderes und weniger reiches Publikum gerichtet, aber den Grundtenor hätten sich auch die Ruskins zu eigen gemacht. Cobbett predigte: Gebt nicht eure natürlichen Subsistenzmittel auf, vertraut nicht der Monetarisierung der Arbeits- und Tauschbeziehungen, widersteht der Zerstörung von Natur und Brauchtum. Cobbett war – zuzeiten – ein radikaler Tory – und nichts anderes darf für John James und für seinen Sohn gelten, der schließlich an den Anfang seiner Lebenserinnerungen den Satz stellte: »Ich war, wie mein Vater es vor mir gewesen, ein eifriger Tory von der alten Schule – ich meine von der Schule Walter Scotts und Homers.« Das Programm des radikalen Torys, der heute Wertkonservativer heißen würde, hat damals ein anderer Autor auf die kürzeste Formel gebracht, William Blake in seinem berühmten Gedicht »Das Neue Jerusalem«, das endet:

I will not cease from mental fight,

Nor shall my sword sleep in my hand,

Till we have built Jerusalem

In England’s green and pleasant land.

 

Ich laß nicht ab vom Geistesstreit,

Nicht schlaf das Schwert in meiner Hand,

Bis wir Jerusalem erbaut

Auf Englands grünem holdem Land.

Cobbett war der Mann, der diesen Kampf geführt hat, als Ruskin jung war: ein Radikaler, der Garten- und Kochbücher verfaßte, der ganz England auf dem Pferderücken bereist hatte, ein großer Naturfreund, ein Politiker, der von der Position des Gartens England aus gekämpft hat – wirklich gekämpft hat.

Als radikalem Tory gingen John James gutes, naturnahes Leben und Abwehr des Fortschritts zusammen. Er betrieb zwar eine florierende Firma in der Londoner City, aber er gehörte nicht demjenigen Teil der Bourgeoisie an, der auf Neuerungen setzte. Als Kaufmann alten Schlages, der den Kontakt zu den Kunden persönlich pflegte und immer nur die beste und reinste Ware anbot, war er eine Gestalt der Stabilität, nicht des Fortschritts. Das Symbol der neuen Zeit, die Eisenbahn, hat er nie gemocht: »these railroads are the most thorough nuisances that ever a country was infested with«; er haßte den Wandel, den die Eisenbahnen durch das Anleihen- und Aktiensystem in das Geschäftsleben brachten, und die radikalen Veränderungen Englands und der Engländer, die er bei seinen jährlichen Reisen beobachten mußte, haben ihn mit Trauer und Hoffnungslosigkeit erfüllt. Es bereitete ihm Genugtuung, daß er einen Sohn hatte, der die Sorgen, die der Vater wohl nicht einmal im Kreis der Kunden und Kollegen äußern durfte, herausschrie, so laut wie kein anderer in seiner Zeit. Es machte ihn ängstlich und entfremdete ihn dem Sohn, daß dieser dann weiterging und die Eisenbahn, die Maschinen, das neue Finanzgebaren nur als Symptome eines noch tiefergehenden Übels las, dessen Remedur auch des Vaters Ökonomie mitbetroffen hätte. Denn was dachte John James eigentlich, wie ein Aufschwung aus dem Nichts zum größten Sherryhändler Englands möglich gewesen wäre ohne den neuen Reichtum, ohne die Verbesserung der Kommunikations- und Transportmittel? So ist die Autarkie auf Herne Hill (später Denmark Hill), um zu ihr zurückzukehren, weniger als Refeudalisierung des gesellschaftlich und geschäftlich erfolgreichen Kaufmanns, sondern als handfestes Symbol bürgerlicher Ängstlichkeit und Abwehrhaltung zu deuten. Und zwar einer Abwehrhaltung nach allen Seiten: als Schutz vor dem Umsturz von unten, wie ihn das Jahr 1819 zuletzt hatte möglich erscheinen lassen, als Sicherheitspfand für den Fall, daß die unfähige Politik der Oberschicht zum plötzlichen Ruin alles Handels und Wandels führte, als Mauer aber auch gegen die zerstörerischen Tendenzen der Zeit, soweit sie durch die eigene Klasse verursacht wurden.

Die Autarkie auf den Hügeln über London beschränkte sich im übrigen nicht nur auf eigene Milch und Äpfel; da war nun eine kleine Familie entstanden, die auch an sich selbst ihr Genügen fand und sich langsam nach einer Figur zu ordnen begann, die ein Zentrum hatte. Die Eltern hatten zunächst ihre eigenen Sorgen. Die Mutter blieb nach der Geburt jahrelang kränkelnd; der Vater war nach der schweren Krankheit des Jahres 1813 immer rückfällig, er fürchtete die oft monatelangen Reisen, die ihn Hitze, Kälte, Regen und Staub, der Indolenz der Kellner und Kutscher, dem dummen Geschwätz der Kunden aussetzten. Lange, traurige Briefe, kaum lesbare Monologe des Überdrusses schreibt er des Nachts in den Hotelzimmern an Margaret, oft täglich. Ihre Kenntnis ist wichtig, weil sie das Bild des zähen, morosen und rechthaberischen Alten korrigieren, das die Literatur lange gepflegt hat. Da schreibt ein zutiefst unsicherer Mann, einer, den ein starker Drang nach Selbstmitteilung und -anklage umtreibt: »Ich bin mir meines extremen Egoismus bewußt, und ich beklage das, aber ich ändere nichts. Mein ganzes Leben habe ich nur mich selbst studiert.« – »Ich habe eine Art inneren Schulmeister in mir, der seinen Schüler verachtet, der ihn weder anleitet noch vorwärtspeitscht, der anstachelt, schmeichelt und tadelt, aber alles vergeblich. Ich fühle, daß ich schrumpfe, in mich zusammenfahre, aber nach zwei Stunden bin ich schon wieder das bekannte, gefühllose Monster, und mein Gerippe zeigt eine erstaunlich dicke Außenhaut aus Lehm – der Geist will dadurch scheinen wie durch eine Laterne aus Horn, aber das Ergebnis ist totale Finsternis. Es gibt welche, die sind aus feiner Porzellanerde gemacht und sind edel und durchscheinend – ich aber bestehe zur Gänze aus Schlamm und kann keine erträgliche und anständige Form annehmen. Tatsächlich kann ich mir keine Form geben, die auch nur für einen Tag Bestand hätte.« Erstaunliche Bekenntnisse aus der Feder des erfolgreichsten Sherryhändlers Englands. Die beiden Motoren »Will & Power« sind ausgeschaltet; der Zweifel greift an, was wir dem Bürger jener Zeit automatisch unterstellen: Identität, Selbstgewißheit, standing. Doch muß man auch sehen, daß Selbstkritik dieser Art eine Pflichtübung, also Konvention sein kann. Keine Glaubenstatsache saß dem schottischen Presbyterianer tiefer als seine Nichtigkeit und Verworfenheit, und die Schottische Kirche kannte noch im 19. Jahrhundert die Praxis der Selbstbezichtigung vor der Gemeinde. Der Sohn hatte die gleichen Anwandlungen wie der Vater, ja manche spätere Selbstanalyse klingt wie eine Variation auf ein vorgegebenes Thema: »Ich war wie ein bloßes Stück Töpferton«, schreibt der Autor der »Präterita« über seinen 23jährigen Vorgänger, »wie Ton von sehr feiner Substanz – ich konnte nicht nur zu jeder Gestalt ausgeformt werden, ich konnte auch den Abdruck jeder Sache aufnehmen, und das mit großer Präzision.« Vater und Sohn beklagen beide, daß der Stoff, aus dem sie gemacht sind, keine selbständige Form, sprich Identität annehmen will. Während der Vater jedoch die Formgebung von sich erwartet (»ich kann mir keine Form geben«) und an seinem Unvermögen verzweifelt, weiß der Sohn seiner Proteus-Natur wenigstens ein Positives abzugewinnen: Er kann Eindrücke von außen aufnehmen und mit Genauigkeit reproduzieren. Damit ist schon angesprochen, was den Sohn vom Vater und John Ruskin von der Mehrzahl der Zeitgenossen unterscheidet: Das Heil sah er nicht im erfolgreich gerundeten Ich noch im Überich des Jenseitigen, es gab für ihn eine dritte Instanz, die den Anspruch auf Wahrnehmung und genaue Aneignung erhob – »anything« heißt sie in diesem Zitat, die Welt der Dinge ist es, die Realität. Die Verwirklichung der Wirklichkeit rangiert vor der Selbstverwirklichung. Und da ist noch eine bemerkenswerte Differenz hervorzuheben, wenn man diese beiden Zitate nebeneinanderstellt. Der Vater breitet sein Innenleben nur einer einzigen Vertrauensperson aus; der Sohn allen, die davon hören und lesen wollen. Während der Vater aus den zyklisch wiederkehrenden Jammertälern den Ausweg fand, daß er wieder in seine Rolle als hartgesottener Kaufmann schlüpfte, machte der Sohn aus Selbstzweifel und Introspektion ein öffentliches Geschäft, ohne die Entlastung finden zu können, die der Vater hatte, wenn er sich vorrechnete, daß er mit Frau, Kind und glänzender Ökonomie doch nicht ganz verworfen sein könnte.

Obwohl der umfangreiche Briefwechsel der Eltern aus Ruskins Nachlaß auf uns gekommen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wann und ob er sich je Einsicht in die privaten Dokumente der Eltern verschafft hat. Wenn vieles hier präfiguriert, was sein Leben und Werk ausmacht, dann braucht man weder Einfluß und Nachfolge, noch gleich Vererbung anzunehmen. Es war einfach so, daß der Sohn, bis zu ihrem Tode bei den Eltern lebend, alles »mitbekam«, was das Spezielle und das Allgemeine dieser Beziehung ausmachte: das Umsorgen, das Ernstnehmen der Stimmungen und Krankheiten, die forcierte Liebeszuwendung, die aus der Geringschätzung des eigenen Ich kommt, die Antizipation der Wünsche des anderen, die Summe der Empfindlichkeiten – all das, was treibhausmäßig das Innenleben fördert und wichtig erscheinen läßt. Aber sagen wir auch noch einmal, daß hinter den Sorgen zumal um das Kind ernste Nöte standen. Bei einer jährlichen Sterblichkeit von ca. 25 von 1000 (Lebenserwartung 40 Jahre) und einer Säuglingssterblichkeit von über 160 von 1000 im ersten Lebensjahr »war die normale viktorianische Familie mit dem Tode so intim vertraut, wie wir es heute kaum mehr kennen. Um zwei überlebende Kinder zu haben, mußte ein Ehepaar auf fünf bis sechs Geburten kommen.« Wem es in der Familienkorrespondenz der Ruskins zu zimperlich und kopfhängerisch zugeht, der sollte aufmerksamer die zahllosen Briefstellen zur Kenntnis nehmen, die von Todesfällen in Verwandtschaft und Freundeskreis melden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Jessie, die Schwester von John James, hatte zehn Kinder, von denen sie sechs zu ihren Lebzeiten verlor. Das verhältnismäßige Glück der Eltern Ruskin, daß der einzige Sohn sie überlebte, wurde fast notwendig durch overcare erkauft.

3

Ruskin hat über seine Eltern, seine Kindheit und Erziehung sehr unterschiedlich geurteilt. »Niemals haben zärtliche, gute Eltern im Glauben, richtig zu handeln, mehr an ihrem Kind gesündigt als die meinen.« – »Ich denke, in all den bisher geschilderten Einzelheiten waren die Behandlung, die ich als Kind erfuhr, und die allgemeinen Verhältnisse, unter denen ich meine Kindheit verlebte, für ein Kind von meinem Temperament gerade die richtigen.« Der Widerspruch, der zwischen diesen und vielen ähnlichen Äußerungen klafft, ist konstitutiv für die Sicht der Viktorianer schlechthin. Der Erwachsene, der als Kind hart gezüchtigt und zugleich vergöttert wurde, der selbst das Kind als Engel und als Sinneswesen mit gefährlichen Neigungen begriff, konnte gar nicht anders handeln und urteilen als widersprüchlich. Das 19. Jahrhundert hat soziogenetisch große Fortschritte gebracht. Zu Recht sagt man, Kindheit sei eine Erfindung des viktorianischen Zeitalters. Zugleich sind die größten Verbrechen an den Kindern dieser Epoche begangen worden. Daß jede Kulturleistung ihr Pendant in einer Barbarei hat, findet man hier bestätigt, aber auch, daß solch ein Widerspruch die positiven Errungenschaften nicht unbeeinflußt läßt. Gerade für das Familienleben der Mittelklasse gilt, »daß Kinder im gleichen Maße begünstigt wurden, wie sie unterdrückt wurden. Unter Königin Viktorias Herrschaft wurde der Weihnachtsbaum in England eingeführt, wurde billiges Spielzeug für den Massenkonsum produziert, erreichte der Handel mit Kinderbüchern ein ungeahntes Ausmaß, was Quantität und Qualität anbelangt. Zur gleichen Zeit wurde die frühe Trennung der Kinder von ihren Eltern Sitte, auch und gerade in Häusern der Mittelschicht – d.h. Ammen und Kindermädchen übernahmen die Sorge für das kleine Kind, und das Kind, für das neue Spiele und Zeitvertreibe erfunden wurden, machte oft Bekanntschaft mit dem Stock, mit dem Ledergürtel oder mit der Reitpeitsche.« Während John James noch nicht unter dem Modediktat des Jahrhunderts steht, das aus jeder Kindheit poetische Funken schlagen hieß, sondern bündig erklärte: »Ich habe keine einzige erfreuliche Erinnerung an meine Kindheit oder an meine Jugend, die mir aufhelfen könnte«, nennt der Sohn die kleine Landschaft seiner Kindheit einen Garten Eden, ein Paradies freilich, in dem sehr viel strengere Gesetze herrschten als im ersten: Das Kind durfte keine der Früchte anfassen, die da so üppig wuchsen. Auf eine kürzere Formel kann man viktorianische Kindheit der Mittelschicht nicht bringen.

John Ruskin hat seinen Eltern nicht vorgeworfen, daß sie ihn geschlagen haben oder ihn auf die üblich brutale Weise erfahren ließen, daß der Kessel heiß ist und Türen Finger quetschen. Kaum ein Viktorianer hat den Wert der Strafe und des Austreibens früher Lüste in Frage gestellt. Kern seiner Kritik ist der Vorwurf, daß die Eltern ihn zum Gegenstand einer Pädagogik künstlicher Armut gemacht haben, aus Fürsorge und aus puritanischen Beweggründen. »Der Hauptgrundsatz meiner Mutter in bezug auf meine Erziehung war, mit unausgesetzter Wachsamkeit alles Gefährliche aus dem Wege zu räumen und mich im übrigen meinen eigenen Vergnügungen zu überlassen, vorausgesetzt, daß ich niemand damit störte. Ich durfte deshalb im Anfang auch kein Spielzeug irgendwelcher Art haben.« Puppen, die ihm eine mitleidvolle Tante schenkte, seien sofort wieder entfernt worden, ein Schlüsselbund, ein Wagen und ein Ball seien jahrelang seine einzigen Spielsachen gewesen. Naschereien, Tiere, Spielgefährten, körperlich fordernde Spiele, die normalen Freuden der Kindheit habe es für ihn nicht gegeben, erinnert sich Ruskin. Die Folgen dieses eingezogenen Aufwachsens erachtet er für gravierend: Er hatte »nichts zu lieben«, »nie etwas zu leiden«, »nichts zu entscheiden«. »Ich hatte keine Gefährten, mit welchen ich Rede und Gegenrede hätte pflegen können, niemand, dem ich bei einer Arbeit hätte helfen, niemand, dem ich für etwas hätte danken können.« »Gefahr und Schmerzen irgendwelcher Art kannte ich nicht: meine Stärke wurde nie geübt, meine Geduld nie auf die Probe gestellt, mein Mut durch keine Gefahr gestählt.« – »Mein Urteil über das, ›was zu ergreifen ist und was zu fliehen‹, und die Fähigkeit, aus eigenem freien Entschluß zu handeln, waren bei meiner Erziehung ganz unentwickelt geblieben, da mir der Zaum und die Scheuklappen niemals abgenommen worden waren.« Der dies schreibt, ist ein alter Mann, der sich selbst nicht mochte und dem im Leben vieles schiefgegangen war – nicht unbedingt der verläßlichste Gewährsmann. Die neuere Ruskinforschung hat dann auch erwiesen, daß der Wahrheitsgehalt seiner Lebenserinnerungen auf Faktenebene mehr als zu wünschen übrigläßt. Schon eine aufmerksame Lektüre von »Präterita« ergibt, daß einiges nicht stimmt in dem Bild eines kleinen Robinson, der auf seiner grünen Insel allein ist, aber nichts tun darf. Simple Tatsachen: Der Hund, der ihn auf Northcotes Bild anspringt, ist keine Zutat, immer waren da Hunde im Haushalt der Eltern, und einer hat ihn einmal in die Oberlippe gebissen, so daß da lebenslang Spuren blieben; Ruskin wuchs nicht als Kind unter lauter Erwachsenen auf, es gab die Kinder der Dienerschaft und Verwandten, und aus familiärer Fürsorge oder aus pädagogischen Gründen hatten die Eltern eine kleine Verwandte, das Mädchen Mary ins Haus genommen, das wie eine Tochter behandelt wurde; es ist schwierig und müßig, die Ausstattung von Ruskins Kinderzimmer rekonstruieren zu wollen, aber die Ausgabenbücher des Vaters belegen, daß man dem Kind eher zuwenig, als zuviel abgeschlagen hat. Und was sagt man zu diesem brieflichen Bericht der Mutter über Johns dritten Geburtstag: »John hat noch nie einen solchen Geburtstag gehabt. Du weißt, wie sehr Bridget ihn liebt. Sie ordnete sogar ein Ende des Reinemachens an, damit auch die Dienstleute ihre Freude hatten. Und jedes der Kinder brachte ihm ein Geschenk. Er selbst war besonders fröhlich an diesem Tag, und am Abend bereitete er mir eine größere Freude als je zuvor. Er hatte gehört, wie ich zu seiner Tante von dem Sturm sprach, in dem Du gewesen bist – Du weißt, wie er lauscht. Ich mußte ihm dann alles wiederholen, und sein kleines Herz regte sich und er sagte: ›Ich will meinen Papa zurück aus dem Wind und Regen haben.‹ Ich sagte ihm, Du wärest nun aus dem Sturm heraus, und er wurde wieder froh – kein weiteres Wort fiel darüber, aber abends, als er seine Gebete sprach, sagte er auf einmal, ganz von sich aus: ›Bitte, lieber Gott, bringe meinen Papa nach Haus aus Wind und Regen!‹ […] Ist er nicht ein liebes Lamm?« Dieser und viele andere Belege erhellen, daß die im Hause Ruskin praktizierte Pädagogik ein glänzendes Beispiel für jene Bewußtseinsänderung darstellt, die Lloyd de Mause Psychogenese genannt hat, nämlich die zunehmende Sensibilisierung der Eltern und Erwachsenen für die Eigenarten und das Eigenrecht der Kinder. Daß die Kleinen die Handlungen der Großen abpassen, das war und ist Brauch seit Menschengedenken, aber umgekehrt, daß die Großen etwas auf die Regungen der Kleinen geben, das entsteht erst langsam und nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die bürgerliche Kernfamilie, die man als erste Bedingung nennt, war in diesem Fall besonders rein ausgebildet; da verwundert es nicht, wenn wir 1820 vieles finden, was Regel erst in unseren Tagen wurde: den Kindergeburtstag, der den häuslichen Betrieb ganz absorbiert, die Registrierung kindlicher Äußerungen, die bald auch auf andere Formen der Mitteilung übergreift und zu einem regelrechten Dokumentationsbetrieb wird: Dank der Sammeltätigkeit der Eltern haben wir nicht nur zahlreiche Kinderzeichnungen Ruskins, sondern besitzen auch noch viele Briefe aus Kindheitstagen und natürlich die Juvenilia, die Dichtungen, die das Kind seit dem siebten Jahr wie unter Zwang absetzt und die gedruckt einen dicken Band füllen würden; weiterhin ist zu verweisen auf die Inszenierung kindgerechter Freuden: die Überraschung, den Ausflug, den Verwandtenbesuch, die Reise zu dritt oder zu viert (die Nanny, die schon die Kinderfrau des Vaters gewesen war, war meist mit von der Partie). Nein, Ruskins Kindheit war nicht so reizarm, wie er sie erinnert, und von Lieblosigkeit und puritanischer Strenge kann kaum die Rede sein. Zwar war die Mutter zu alt, um mit dem Kind eine Zeitlang in körperwarmer Beziehung zusammenzubleiben, aber eine Art Regression und Parallelentwicklung des elterlichen Lebens mit dem Kinde fand auch hier statt, ernst und pädagogisch, wie es diesen beiden Menschen nur gegeben war. Viel vorgelesen hat der Vater. Mit dem Sohn haben die Eltern die englische Literatur und die Fachschriftstellerei durchgenommen, der Sohn saß dabei in einer Nische des Wohnzimmers »Abend für Abend wie ein kleiner Götze« (!), und als das Kind Interesse für Bilder zeigte, wurden Tafelwerke angeschafft und bald originale Kunstwerke, ähnlich ging es mit den erwachenden Neigungen für naturgeschichtliche Gegenstände – die Eltern haben nicht nur still besorgt, wonach der kindlichen Neugierde verlangte, sie sind in gewisser Weise mit diesem gewaltigen Apperzipierer in die Schule gegangen, in ihre eigene, immer neu einzurichtende und oft randvoll gefüllte Schule.

Nun braucht das Auseinandertreten von Erinnerung und Kindheitswirklichkeit nicht unbedingt zu bedeuten, daß die späte Sinn- und Schuldzuweisung notwendig falsch sein muß. Kann einer nicht in den Fakten unrecht, in der Tendenz aber recht haben? Die Eltern boten ihrem Kind das beste Modell der Erziehung, das damals zu haben war: eine häusliche Pädagogik adligen Zuschnitts, aber streng durchwirkt von bürgerlichen Werten wie Religiosität, Wissenserwerb und Kunstgenuß. An Material und Anreizen, an Gesellschaft und Erlebnis fehlte es dem Kind gewiß nicht, aber – und hier trifft die ungerechtfertigte Kritik das Richtige – alles, was ihm an Welt begegnete, war ausgewählt, zugelassen und abgezirkelt. Erwachsen und immer noch umsorgt von den Eltern hat Ruskin eine Pädagogik gegen die am eigenen Leib erfahrene und gegen die Anfänge staatlicher Erziehung entwickelt. Berühmt geworden ist das Kapitel »Die zwei Kindheiten« des fünften Bandes der »Modern Painters« (1860), in dem er die Anfänge Giorgiones in Venedig und die Turners in London gegenüberstellt und in dem er im Geheimen sagt, was seiner Kindheit fehlte:

 

»Geboren wurde er zwischen Berg und Meer: der junge Georg von Castelfranco. Den tollkühnen Georg nannten sie ihn, den Georg der George, solch ein prachtvoller, kleiner Bursche war er – Giorgione. Hast du dir denn jemals ausgemalt, auf welch eine Welt seine Augen fielen, die hellen, prüfenden Augen der Jugend? Auf welch eine Welt voll mächtig bewegten, großzügigen Lebens, als er hineintrat in die marmorne Stadt, zu der solch stolze und innige Liebe ihn bewegte.

Sagte ich eine marmorne Stadt? Ich hatte unrecht: sie war vielmehr aus Gold, mit Smaragd gepflastert. Denn alle die Türmchen und Kuppeln glänzten und schimmerten wirklich hell, mit Gold überzogen und mit Jaspis verziert. […] Wahrhaftig, ein wunderbares Stück der Welt. Eigentlich fast eine Welt für sich. Es lag da im Angesicht des Meeres, und den Schiffern erschien es des Abends nicht größer als ein goldiger Streifen der Abendröte, der nicht verschwand. Aber was seine Macht, seinen Ruf betraf, da war es ihnen ein gewaltiger Planet, dessen östliches Ende soeben erschien, während sie dahinflogen im Himmelsraume, von den Fesseln der Schwere befreit, frei durch den ewigen Äther. […] Auf diesen Gefilden wuchs weder Blume, Dorn noch Distel. Traumhaft verschwammen am fernsten Horizont die mächtigen Gipfel der Berge: blaue Gebilde paduanischer Hügel erschienen im goldenen Westen, und darüber in göttlicher Freiheit die ziehenden Wolken, die wehenden Winde. Frische vom Norden und balsamische Lüfte vom Süden, und die Sterne des Abends und des Morgens, klar in der leuchtenden Helle des Himmelsgewölbes und dem Gürtel des Meeres. Das war die Schule Giorgiones, das war auch die Heimat von Tizian.

Nahe der südwestlichen Ecke von Covent Garden steht ein viereckiger enger Häuserblock, dessen hintere Fenster nur wenig von den Strahlen der Sonne erhaschen. Den Eingang erlangt man von Maiden Lane durch einen langen Torweg und eine eiserne Tür; wenn deine Augen sich an die dort herrschende Dunkelheit gewöhnt haben, wirst du zur linken Hand eine enge Tür bemerken, die vormals in den Laden eines angesehenen Barbiers führte, dessen vorderes Fenster nach Maiden Lane noch heute vorhanden und jetzt (1860) mit einer Reihe von Flaschen gefüllt ist, die mit dem Geschäft eines Bierbrauers in Verbindung stehen. Das war also vor 80 Jahren eine bessere Nachbarschaft, aber gewiß noch keine heitere, keine fröhliche – es war zur Zeit, als ein Kind, am St. Georgentage des Jahres 1775 geboren, mit hellem Interesse die Welt um sich her in sich aufnahm und sie späterhin so zeigte, wie Covent Garden sie ihm zu bieten vermochte. Da waren keine Ritter zu sehen und wahrscheinlich auch nicht viele schöne Frauen, […] da sah man staubige Sonnenstrahlen auf und ab tanzen in den Straßen am frühen Sommermorgen; gerippte Kohlkopfblätter beim Grünwarenhändler; die Pracht der Orangen in geflochtenen Weidenkörben auf Schiebkarren um die Ecke herum; und das Ufer der Themse, wenn der Knabe nur drei Minuten weit lief.«

So grundverschieden die Lebensumstände dieser beiden Kinder in Weltlandschaft und Welt des Viertels ausfallen, gemeinsam ist ihnen die ungeregelte Vielfalt, das Ungeschlachte und Überwältigende des Ambientes. Das gilt zuerst für das, was auf die Sinne eindringt, dann aber auch für die Lebenspraxis: eine Art »Poor Jack« sei das Kind Turner gewesen, das sich den ganzen Tag am Fluß herumgetrieben habe, Hafen und Markt als Kinderzimmer benutzend, Huren und Seeleute als erste Lehrer, schreibt Ruskin, ein Kind also, das gut Sam Weller zum Vater gehabt haben könnte, der zu Pickwick sagt: »Hab’ mir auch allerhand Mühe mit seiner Erziehung gegeben, Sir. Hab’ ihn draußen auf der Straße herumlaufen lassen, wie er noch ein kleiner Kerl war, damit er lernte, für sich selbst zu sorgen. Das ist der einzige Weg, Sir, einem Jungen was Gescheites beizubringen.« Ruskins Sympathie für solche Verhältnisse geht sehr weit, nicht nur Turners wegen: »Keine Erziehung erhalten ist durchaus nicht das Schlimmste, das uns begegnen kann«, sagte er an anderer Stelle. Die Eltern werden sich geschüttelt haben bei solcher Lektüre. Das wäre ihnen zuletzt in den Sinn gekommen, das Kind auf die Straße zu lassen, es zu den Gleichaltrigen zu schicken, seine Eskapaden, Streiche, Raufereien hinzunehmen als Kinderalltag. Ruskin hat später solch darwinistischer Vorschule des Lebens nicht das Wort geredet, wie sie durch den berühmten Erziehungsroman seines Oxforder Kommilitonen Tom Hughes, »Tom Brown’s Schooldays« (1857), populär wurde, aber er hat sich auch stets dagegen gestemmt, den ursprünglichen Erfahrungsverlust seiner Kindheit als Programm nationaler Pädagogik verallgemeinert zu sehen. Wenn der Lehrmeister der bürgerlichen Schulpädagogik Pestalozzi die Kinder nicht in den Wald läßt, weil die Bäume da »in keiner systematischen Ordnung, nicht in lückenloser Reihenfolge stehen«, hat Ruskin die Kinder lieber außerhalb des Schulhauses gesehen, und wenn die Erziehungspsychologie des Jahrhunderts für die Wände der Klassenzimmer weiße Tünche empfiehlt, stellt Ruskin sie sich bunt bemalt und vollgepackt vor. Die Idee des Reichtums, der Fülle, die sein Denken von den ersten großen Publikationen bis zur letzten, seinen Lebenserinnerungen, bestimmt, gibt auch seiner Pädagogik Tendenz. Seine Kindheit war eine von reichen Eltern veranstaltete, gewiß nicht reizarme Erziehungsanordnung; was ihr fehlte und was zu Ruskins Begriff »wealth« unabdingbar dazugehörte, war das Überwältigende, das Abenteuerliche und Zufällige. »Daß sie gleichzeitig zu eng beschränkt und zu luxuriös gewesen ist«, dieses abschließende Urteil über seine Erziehung trifft den Sachverhalt wohl eher als die Klagen über künstliche Armut, Einsamkeit und Liebesentzug.

4

Auf dem Weg vom kleinen »Götzen« zum »kleinen Phänomen« geschieht nichts Aufregendes im Garten Eden auf Herne Hill. »Niemals hörte ich meinen Vater und meine Mutter ihre Stimme erheben, wenn sie eine Frage besprachen, nie sah ich einen Schimmer aufflackernden Ärgers oder einen beleidigenden Blick in ihren Augen. Ich erinnere mich nicht, daß ich je einen Dienstboten hätte schelten oder nur heftig und leidenschaftlich hätte tadeln hören. Nie sah ich den ruhigen Gang unseres Haushalts auch nur einen Augenblick gestört, alles geschah zu rechter Zeit und ohne Hasten.« Die Schule findet zu Hause statt: Mit vier Jahren fängt John an zu schreiben und zu lesen, bald wird der Vormittag zu regelrechter Schularbeit bestimmt. Die Mutter liest mit ihm die Bibel und gibt ihm ganze Kapitel zu memorieren auf, gezeichnet, d.h. abgezeichnet wird ohne Anleitung und Aufforderung, Lateinisch wird schematisch nach Wörterbuch und Grammatik gelernt, Geographie eignet sich das Kind anhand schöner Bilderbücher an, Mathematik kommt zu kurz, und darüber hinaus, das Curriculum der normalen Hauserziehung weit übersteigend, frißt das Kind an Literatur in sich hinein, was der Vater des Abends vorliest oder was er ihm kauft. Viel populäre Naturwissenschaft ist das: Geologie, Meteorologie, Astronomie. Mit sieben beginnt John, das Viele wieder loszuwerden. Er schreibt seine ersten Gedichte, Dialoge, wissenschaftliche Traktate, Theaterstücke und Romane. Das poetische Schreiben wird zur Hauptbeschäftigung: Er dichtet lieber etwas für den abwesenden Vater, als daß er ihm einen Brief schreibt. Die Mutter entschuldigt sich am 4. März 1829 für einen flüchtigen Brief des Sohnes: »Er hat gerade einen Roman und eine Predigt zu schreiben angefangen.« Entgegen der späteren Äußerung Ruskins, die Mutter habe ihn zum Reimen angehalten und ihn dadurch verdorben, sagen uns die Quellen, daß die Mutter diesen Schreibtrieb zu bremsen gesucht hat und daß der Vater es war, der sich früh Hoffnungen gemacht hat und den Sohn ermunterte, u.a. dadurch, daß er einen Schilling pro Seite aussetzte. Auf entsprechende Ermahnungen der Mutter sagt John: »Gut, Mutter, wenn Du meinst, höre ich für eine Zeit auf [zu dichten], aber dann mußt Du mir Stoff für ein Epos geben.« Die beiden gehen zur Post, und darauf sitzt der Sohn schon wieder am Tisch und reimt. Auf die erneuten Vorhaltungen der Mutter antwortet er: »Ich habe so viel zu sagen, es bereitet mir nicht die geringste Mühe, und es ist so beglückend und angenehm, daß ich es wirklich nicht aufgeben kann.« – »Was soll ich Deiner Meinung nach in diesem Fall wohl machen? Ich weiß es nicht«, fragt die Mutter den Vater. In seiner Manie, alles poetisch zu verwerten, hat der Sohn dann gleich ein Gedicht auf den abendlichen Kampf mit der Mutter gemacht, die ihn ins Bett schickt, während er noch schnell ein neues Sujet bearbeiten will.

Bei einem jugendlichen Autor, dessen Werk ein Epos »Über das Universum« ebenso umfaßt wie »Über das Glück« und ein Gedicht mit dem Titel »In Ermangelung eines Themas«, läßt sich vieles finden, was Späterem präludiert, aber man muß dann auch viel unterschlagen, was hernach total verlorengeht, so z.B. die Tatsache, daß Ruskins erstes Gedicht eine Ode auf die Dampfmaschine ist. Vor allen motivischen Fixierungen erscheint ein Formales wichtig. Ruskin probiert die Sprache an vielen Gegenständen aus, nicht nur an sogenannten poetischen. Indem er sich sukzessive Sprachgewalt erwirbt, glaubt er die Dinge beherrschbar, die prosaischen des familiären Alltags ebenso wie die abstrakten der Wissenschaften. Auf diese Weise wächst in ihm ein Zuständigkeitsgefühl, das ihn nie wieder verlassen hat. Dabei durchdringen sich objektive und subjektive Gegebenheiten. Noch sind die Naturwissenschaften auch in ihren fortgeschrittensten Erkenntnissen poetisch darstellbar – man denke an Erasmus Darwins Lehrgedicht »The Temple of Nature or the Origin of Society« (1803); noch profitieren sie von ästhetischer Aufgeschlossenheit – man denke an Goethes »Farbenlehre« (1810ff.); noch kommen Dilettanten spielend und probierend sehr weit – man denke an den Privatier Nicéphore Niépce, der sich seit 1816 an etwas versucht, was später zur Erfindung der Fotografie führte; noch kann der einzelne auf einer Vielzahl von Gebieten kompetent sein – man denke an einen anderen Erfinder der Fotografie, an Henry Fox Talbot, der als Mathematiker, Sprachforscher, Mythologe und Chemiker hervorgetreten ist; noch sind die Wissenschaften im Mythos, vor allem im christlichen, befangen – davon wird in diesem Kapitel ausführlicher zu reden sein. Das will nicht sagen, daß schon ein Junge mit sieben Jahren hier mithalten kann, aber die Welt der Wissenschaften kommt nicht feindlich auf ihn zu. Ihre vielfältigen Reize in Wort und Bild sowie ihre Erfahrungsoffenheit machen es möglich, daß er ihre äußere Form und nach und nach ihren Sinn durch Nachahmung sich erwirbt. Ruskin selbst hat aus der Fülle der Juvenilia ein Beispiel ausgewählt, das diese Sachverhalte glänzend belegt. Es ist ein Auszug aus der Arbeit des Siebenjährigen: »Harry und Lucy. Schluß. Letzter Teil von Frühen Lektionen in vier Bänden. Band 1 mit Kupferstichen. Gedruckt und bearbeitet von einem kleinen Jungen und auch von ihm gezeichnet.« Das »Buch«, eine Nachahmung der populären Dialoge von Jeremiah Joyce und Maria Edgeworth, ist handgeschrieben wie gedruckt, ist also deutlich schon nach außen gerichtet. (Der »kleine Junge« braucht übrigens nur noch vier Jahre zu warten, um sein erstes Gedicht gedruckt zu sehen.) Hier der Schluß des ersten (und einzigen) Bandes, wie ihn Ruskin selbst in »Präterita« mitgeteilt hat:

»Harry wußte es sehr gut was es war und ließ sich nicht im Zeichnen stören aber Lucy rief ihn bald weg und hieß ihn eine große schwarze Wolke die aus Norden kam beobachten welche ziemlich elektrisch aussah. Harry lief nach seinem elektrischen Apparat den sein Vater ihm gegeben hatte und die Wolke elektrisierte seinen Apparat positiv. Nachher kam eine andere Wolke welche seinen Apparat negativ elektrisierte und dann ein langer Zug von kleinen. Aber bevor diese Wolke kam erhob sich eine große Staubwolke von der Erde und folgte der positiven Wolke und schien zuletzt mit ihr in Kontakt zu kommen. Dann konnte man einen Blitzstrahl sehen, der durch die Staubwolke hindurchfuhr. Da wurde die negative Wolke immer größer und löste sich in Regen auf der den Himmel sofort aufheiterte. Nachdem dieses Phänomen vorüber war und auch sein Erstaunen wunderte sich Harry wie Elektrizität irgendwo sein konnte wo doch soviel Wasser war bald sah er einen Regenbogen und darunter aufsteigenden Nebel der sich in seiner Phantasie bald in eine weibliche Gestalt verwandelte. Da fiel ihm die Fee ein die aus dem Alpenbach emporstieg und mit der Hand etwas Wasser in die Luft spritzte und dabei unverständliche Worte in den Wind sprach. Und obgleich das mit der Alpenfee nur eine Geschichte ist freute sich Harry nun sehr daß er in den Wolken etwas Ähnliches sah.

Ende von Harry und Lucy.«

Ruskin hat den Aussagewert dieser kuriosen wissenschaftlichen Phantasie ganz klar gedeutet: Sie zeigt, »wie ich mein Material, in diesem Fall Joyces ›Wissenschaftliche Dialoge‹ und Byrons ›Manfred‹, ineinander und mit meinen eigenen Gedanken verwob – damals am Anfang meiner Tage, wie heute an ihrem Ende. Diese Eigentümlichkeit meiner Schreibweise ließ später gedankenlose wissenschaftliche Leser an dem Wert meiner Bücher zweifeln, weil sie Liebe zur Schönheit darin glühen fanden, und einseitig ästhetische Leser lasen sie mit Mißtrauen, weil sie Liebe zur Wissenschaft darin verspürten. Zweitens kann ich kein besseres Beispiel für die Tendenz meines Geistes finden als die Tatsache, daß mich sogar im Alter von sieben Jahren keine noch so verlockende Geschichte sonderlich rühren konnte, solange nicht ›Harry‹ in den Wolken oder sonstwo ›etwas Ähnliches sah‹.« Drittens ist dieses Stück auch in seinem Inhalt symptomatisch: Dunkle Wolken, Wolken ganz allgemein haben Ruskin fasziniert, ja heimgesucht, bis ins hohe Alter. »The Storm-Cloud of the 19th Century« heißt eine seiner letzten Arbeiten; da sah er in die Wolken keine Feen mehr hinein, da erschien ihm nach detaillierten täglichen Beobachtungen Weltenende und Apokalypse am verschmutzten Himmel vorgezeichnet. »Coeli enarrant«, »Die Himmel erzählen«, hat er eine Sammlung seiner Texte über Wolken genannt. Aus der Natur das den Menschen Betreffende herauslesen, die Übergänge zwischen Menschen- und Dingwelt, zwischen Kunst und Wissenschaften offenhalten, das ist die Lebensaufgabe, der er seit den Kindertagen unter wechselnden Bedingungen treu geblieben ist. Die Wolken haben ihn als Kind vermutlich schon so lebhaft beschäftigt, weil sie sich der beschränkten und habbaren Welt von Herne Hill nicht unterordnen ließen, eine ferne und freie Realität, die freilich auch die von Herne Hill sorgfältig abgeschirmten Realitäten herbeitrug: Nebel, Smog, Dreck und Dunkelheit, die schon damals zu guten Teilen auf das Konto der Umweltverschmutzung im Londoner Raum gingen. Das Gedicht des Zehnjährigen, »Auf die plötzliche Erscheinung einer gelben Nebelwolke, die alles in Dunkelheit hüllt«, beschreibt genau und effektvoll eine solche Beeinträchtigung des Klimas, ohne ihre Gründe zu nennen:

It low’red upon the earth, – it lay

A champion in the face of day:

It darkened all the air around,

It let not free a single sound:

A leaf stirred not: the trees stood still:

The wind obeyed the darkness’ will;

Not a thing moved; ’twas like the night. […]

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Als die Ruskins im Sommer 1835 auf eine sechsmonatige Tour durch Frankreich, die Schweiz und Italien gingen, packte sich John ins Reisegepäck: ein Cyanometer zum Messen der Himmelsbläue, ein Notizbuch für geologische Beobachtungen, ein Skizzenbuch, ein Zeichendreieck und ein großes Lineal für Architekturaufnahmen, ein Tagebuch und natürlich ausreichend Papier für die dichterische Verwertung der Reise, »denn ihre Eindrücke wollte ich in einem poetischen Tagebuch beschreiben, das die Art des ›Don Juan‹ anmutig mit derjenigen des ›Ritter Harold‹ vereinigen sollte«. Vorbereitet hatte er sich auf die Reise durch das Studium von de Saussures »Voyages dans les Alpes«, William Brockendons »Illustrations of the Passes of the Alps« und Robert Jamesons »System of Mineralogy« sowie durch die fortgesetzte Lektüre aller einschlägigen Dichtungen, an der Spitze natürlich die erwähnten Werke Byrons. Aber auch Samuel Rogers’ »Italy« und die Gedichte von Wordsworth, Shelley und Coleridge dienten in Ermangelung eines Baedekers (oder Murrays, müßte man für englische Reisende sagen) als poetische Reiseführer und wurden ergänzt durch Illustrationswerke wie Samuel Prouts »Sketches in Flanders and Germany«.

Die Reise von 1835 gab in Route und Durchführung das Muster für viele Reisen, die die Ruskins zusammen und der Sohn allein unternehmen sollten. Es war nicht ihre erste gemeinsame Tour: Seit Johns drittem Lebensjahr hatten sie begonnen, den Lake-District und Schottland zu bereisen und die Geschäftsreisen des Vaters gemeinsam abzuwickeln, kreuz und quer durch England; dann wurde der Radius vorsichtig auf den Kontinent ausgedehnt, eine erste Tour führte bis Paris, eine zweite über die Alpen bis Genua. Die Route der Reise von 1835, die über Frankreich, die Schweiz nach Italien ging und Schwerpunkte in Chamonix und Venedig hatte, wurde wie gesagt kanonisch – mit Varianten und Abkürzungen ist Ruskin 26mal auf ihr unterwegs gewesen. Er hat, grob gerechnet, die Hälfte seines Lebens auf Reisen verbracht: »A traveller I am/And all my tale is of myself« – die Verse Wordsworths könnten auch für ihn gelten, wenn man ein Wort verändert und für »myself« »things« einsetzt. Nicht anders als Byron, Wordsworth, Shelley, Rogers, nicht anders als ein Großteil der englischen Literaten des frühen 19. Jahrhunderts ist Ruskin ein Reiseschriftsteller gewesen: Buchtitel wie »The Stones of Venice«, »Verona and its Rivers«, »Mornings in Florence«, »The Bible of Amiens« deuten darauf hin, aber auch andere Hauptwerke – genannt seien nur »Modern Painters« und »Fors Clavigera« – sind randvoll mit Reisebeschreibungen oder Beobachtungen, die im Ausland gesammelt wurden. Und der Titel einer späten Veröffentlichung, »On the Old Road«, könnte als Motto über lange Strecken dieses Lebensweges stehen.

Ruskin hat das Reisen noch in »the olden days of travelling« gelernt, »now to return no more«, d.h. vor Einrichtung der Eisenbahnlinien. »In den alten Zeiten des Reisens, die unwiederbringlich vorüber sind, als Entfernungen noch nicht ohne Mühen überwunden werden konnten, als es aber Entschädigung genug für diese Mühen gab, denn viel gründlicher lernte man die bereisten Länder kennen und ganz anders war das Glücksgefühl am Abend, wenn der Reisende von der Höhe des letzten Berges aus das Dorf liegen sah, wo er einkehren wollte, oder wenn die staubige Landstraße endlich den erhofften Knick machte und zum ersten Mal den Blick auf die Türme der berühmten Stadt eröffnete, die sich undeutlich im Sonnenglast erhoben – Stunden friedlichen und nachdenklichen Vergnügens waren das, die der Tumult einer Ankunft im Bahnhof nicht aufwiegen kann, nicht für alle Menschen jedenfalls.« Nach schlechten Erfahrungen mit dem öffentlichen Postverkehr setzten die Ruskins auch auf dem Kontinent fort, was sie in England erprobt hatten: Sie liehen oder kauften sich eine eigene Kutsche. Das war aufwendiger und vergrößerte die Reisegesellschaft (die Eltern, John, Mary und die Nurse in der Regel) um ein bis zwei Postillione und einen Kurier, aber die Vorteile dieses Reisens erschienen ihnen bald unverzichtbar: »Wir waren niemals in Eile. Wir konnten die Stunden unserer Abfahrt wählen und wenn wir nicht fertig waren, warteten die Pferde. In der Regel frühstückten wir zur selben Zeit wie zu Hause, um acht Uhr; um neun Uhr stampften die Pferde unter dem Torweg. In der Zeit von neun bis drei Uhr legten wir, wenn man auf die Stunde sieben Meilen langsamer Fahrt rechnet (die Aufenthalte einbegriffen), eine Strecke von vierzig bis fünfzig Meilen zurück und setzten uns um vier Uhr zu Tisch. Dann hatte ich noch zwei Stunden für mich, um die nähere Umgebung des Ortes auszukundschaften. Punkt sieben Uhr mußte ich zum Tee zu Hause sein; nach dem Essen vollendete ich noch meine Skizzen bis halb zehn Uhr, dann ging ich zu Bett.« Später, als Ruskin ohne die Eltern reiste, hat er wohl auch die Eisenbahn genommen, aber sooft und solange es ging, ist er mit dem Wagen gefahren: »Mit der Eisenbahn fahren sehe ich überhaupt nicht als Reisen an; das ist einfach an einen andern Ort verschickt werden – wie ein Paket.« Noch in den 70er Jahren, als Kutschen nur mehr Nahverkehrsmittel waren, hat er sich eine große Reisekutsche bauen lassen, mit der er nicht weniger Aufsehen erregte, als wäre ein Dampfmobil sein Gefährt gewesen. Über ein eigenes Verkehrsmittel zu verfügen, war aber für die Ruskins nicht nur ein Luxus und eine Bequemlichkeit, sondern auch eine Notwendigkeit, wenn man jemanden im Wagen hatte, der hier anhalten mußte, um eine Vedute von Proust oder Turner an Ort und Stelle zu überprüfen, der dort von der Hauptroute abweichen wollte, um eine interessante geologische Formation zu studieren und vor allem Zeit brauchte, viel Zeit, um die bekannten und neuentdeckten Sehenswürdigkeiten in elaborierten Zeichnungen festzuhalten.