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Schon lange hat Suko keinen Roadtrip mehr auf seiner Harley gemacht. Umso mehr genießt er jetzt die Fahrt zurück nach London. Auch wenn er über die Autobahn um einiges schneller zu Hause gewesen wäre, hat er die Strecke über Land gewählt. Die ruhige Allee, die frische Luft, die Bäume, durch deren Kronen das letzte Sonnenlicht des Tages fällt - Suko genießt jede Meile. Bis sich hinter der nächsten Kurve alles verändert ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Die Leichen-Allee
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Die Leichen-Allee
von Jason Dark
Schon lange hat Suko keinen Roadtrip mehr auf seiner Harley gemacht. Umso mehr genießt er jetzt die Fahrt zurück nach London. Auch wenn er über die Autobahn um einiges schneller zu Hause gewesen wäre, hat er die Strecke über Land gewählt. Die ruhige Allee, die frische Luft, die Bäume, durch deren Kronen das letzte Sonnenlicht des Tages fällt – Suko genießt jede Meile. Bis sich hinter der nächsten Kurve alles verändert ...
Suko hatte den unschönen Termin hinter sich und befand sich nun auf dem Heimweg.
Er hatte an der Trauerfeier für einen Bekannten teilgenommen, der allerdings nicht in London gelebt hatte, sondern in einem Städtchen namens Ipstock, unweit von Leicester entfernt. Der Ort lag nördlich von London, und man musste schon einige Meilen fahren, was Suko nichts ausmachte, denn er hatte sich entschieden, endlich mal wieder die geliebte Harley hervorzuholen und sich auf einen Roadtrip zu begeben. So konnte er das Notwendige mit dem Spaß verbinden.
Der Mann, der gestorben war, hatte zu den Hongkong-Chinesen gehört. Suko hatte ihn seit einigen Jahren gekannt und hin und wieder mit ihm telefoniert.
Jetzt war er tot. Ein tragisches Unglück hatte ihn aus dem Leben gerissen. Er war beim Felsenklettern abgestürzt.
Bis zur Autobahn ging es eine längere Strecke über Land. Suko hätte natürlich auch in Ipstock übernachten können, aber das wollte er nicht. Wenn er es bis London schaffte, perfekt. Wenn nicht, würde er eben irgendwo eine Pause einlegen. Es gab Nebenstraßen, die verschieden breit waren. Manche konnte man gut befahren, andere waren hingegen ziemlich eng und kurvig.
Suko fuhr in die Dämmerung hinein. Er hatte sich eine Nebenstrecke ausgesucht, die, seiner Meinung nach, wenig befahren war, aber bei manchen Kurven viel Können verlangte. Davor fürchtete sich ein Mann wie Suko nicht.
Auf seiner Fahrt würde er nur einige wenige Orte passieren. Und die lagen zudem ein wenig abseits der Fahrbahn, die so manche Welle aufwies, über die Suko schaukelte.
Die Luft war klar und rein. Sie »schmeckte« würzig. Man hätte sie trinken können, doch danach war Suko nicht. Da würde er zur Wasserflasche greifen.
Er fuhr in angemessenem Tempo. Nahm die unterschiedlich engen Kurven mal schneller und dann wieder langsamer, und als er aus einem kleinen Wald herausfuhr und nach vorn schaute, da sah er die Fahrbahn wie ein graues Band vor sich liegen.
Noch war es nicht völlig dunkel, er überblickte die Strecke recht gut. Dabei fielen ihm besonders die Bäume auf, die zu beiden Seiten die Straßenränder flankierten. Es waren Laubbäume, die sich in die Höhe schraubten und zu dieser Jahreszeit noch ihr volles Blattwerk besaßen.
Suko saß gelöst und entspannt auf der Maschine. Er hatte das Visier hochgeklappt, denn er wollte die frische, kühle Fahrtluft in seinem Gesicht genießen.
Alles lief prächtig. Suko dachte absolut an nichts Böses, als es zu einer Veränderung kam.
Urplötzlich hatte er das Gefühl, gegen ein Hindernis zu prallen. Nicht etwa eines, das ihn gestoppt hätte, nein, er spürte es wie eine huschende Bewegung, die schnell kam und genauso schnell wieder vorüber war.
Aber sie hatte etwas hinterlassen: eine andere Umgebung. Da gab es zwar noch eine Straße, auch die Bäume wuchsen zu beiden Seiten, aber Suko hatte trotzdem das Gefühl, ganz woanders zu fahren.
Er drosselte das Tempo. Hatte seine Blicke überall, und dabei waren die Bäume wichtig, welche die graue Fahrbahn begleiteten.
Grau. Ja, das war sie. Aber Suko stellte fest, dass es ein anderes Grau war. Nicht mehr so glatt. Manchmal etwas aufgerissen. Man konnte von einer alten Straße sprechen.
Irgendetwas stimmte nicht, das war Suko klar. Entschlossen bremste er die Harley, stieg ab und bockte die schwere Maschine auf. Dem Motorrad konnte nicht viel passieren, und so machte sich Suko auf den Weg. Seinen Helm hatte er abgenommen und bei der Maschine zurückgelassen. Er würde ihn in den nächsten Minuten nicht brauchen.
Wohin sollte er sich wenden?
Darüber dachte Suko nach. Er musste eine Lösung finden. Nicht grundlos hatte er angehalten. Er war zwar nicht angegriffen worden, aber ihn hatte ein ungutes Gefühl überfallen. Die Umgebung hier war nicht real. Sie ähnelte nur der, durch die er gefahren war.
Er ging weiter und drang tiefer in die andere Welt ein.
Rechts und links standen die Bäume, und doch gab es einen Unterschied zu dem, was er vorher gesehen hatte. Diese Bäume hier waren nicht so dicht mit Laub bedeckt wie die vorherigen. Hier schien der Wind die Blätter weggefegt zu haben.
Aber Wind?
Nein, den gab es hier nicht. Die Luft stand vollkommen still, wie man so schön sagt. Sie war warm, das passte zum Sommer. Ebenso wie die Schwüle.
Suko nahm sich vor, noch ein paar Schritte zu gehen und dann umzukehren. Seiner Meinung nach brachte es mehr, wenn er die Strecke mit dem Motorrad abfuhr. Für ihn stand jedenfalls fest, dass er in eine magische Zone hineingeraten war, in der er sich zurechtfinden musste. Man hatte ihn hierhergelockt, ohne dass er etwas bemerkt hatte, und das machte ihn wütend.
Er blieb stehen. Bewegte nur den Kopf. Schaute nach links, sah die Bäume, wechselte den Blick und betrachtete die Bäume auf der anderen Seite.
Verdammt!
An einem der dicken Äste hing gut sichtbar ein Mensch, um dessen Hals sich eine Schlinge gelegt hatte ...
Im ersten Moment glaubte Suko, sich in einem Albtraum zu befinden. Er schüttelte den Kopf, kniff sich, schloss die Augen und öffnete sie wieder – aber das Bild verschwand nicht. Es blieb real.
Aber welche Realität?
Das wusste Suko selbst nicht. Er konnte sie nicht genau konkretisieren, sondern hatte vielmehr das Gefühl, dass hier jemand Regie führte, der nichts mit der Normalität zu tun hatte. Natürlich dachte Suko sofort an die Todfeinde auf der anderen Seite.
Er schaute sich die Gestalt genauer an. Der Gehängte war ein Mann.
Man konnte von einer blassen Figur sprechen. Das bleiche Gesicht, ein offener Mund, aus dem die Zunge hing. Verdrehte Augen und eine Kleidung, die Risse zeigte. Als Suko genauer hinschaute, fiel ihm die Haut auf. Sie war dünn wie Papier.
Sogar Haare wuchsen auf dem Kopf. Es waren allerdings nichts weiter als ein paar Strähnen.
Suko stöhnte kurz. Er hatte Probleme, mit dem Geschehen zurechtzukommen. Dass er sich nicht mehr in der Normalität aufhielt, das war ihm klar. Aber wo steckte er dann? Wo war er gelandet?
In welch einer Welt? In welch einer Dimension?
Er fand keine Antwort und ging zurück auf die Straße. Dann machte er die nächste Entdeckung: Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich zwei Gräber!
Suko eilte hin, um nachzusehen. Vor dem ersten Grab blieb er stehen. Die schwarze Erde war aufgewühlt, ein alter Blumentopf umgekippt.
Es stellte sich die Frage, ob jemand das Grab verlassen hatte und jetzt als Zombie umherirrte. Möglich war für ihn alles geworden. Diese Straße war unheimlich, auch wenn sie aussah wie eine ruhige Allee. Suko gab ihr spontan den Namen Leichen-Allee.
Als Nächstes fiel sein Blick auf ein Haus. Oder auf eine große Hütte. So genau war das nicht zu erkennen. Fakt war: Wo ein Haus stand, da konnte es unter Umständen auch Menschen geben oder andere Lebewesen. Suko schloss nichts mehr aus. Und er war froh, nicht ohne seinen Schutz gefahren zu sein. Die Beretta, die Peitsche und der Stab, sie gehörten zu ihm wie das Amen in der Kirche.
Suko wusste nicht, ob hier noch etwas passierte, deshalb wollte er nicht länger warten, sondern sich das Haus aus der Nähe anschauen.
Zuerst aber startete er einen anderen Versuch. Wie bei den meisten Leuten gehörte auch das Smartphone zu seiner Ausrüstung. Er ging davon aus, dass er keinen Kontakt bekam, aber er wollte es zumindest versuchen.
Nichts – gar nichts. Schade. Enttäuscht ließ er das Ding wieder verschwinden.
Sein Vorhaben hatte er nicht vergessen und machte sich auf den Weg zum Haus. Dafür musste er die Straße verlassen und über das Feld gehen. Einen Weg gab es nicht. Das war Suko auch egal. Er schritt über den weichen Boden und stellte fest, dass die Luft schon recht schwer war, als er sie einatmete. Sie ließ sich mit der in der normalen Welt nicht vergleichen. Suko kam unwillkürlich der Begriff Dimension in den Sinn. Da war er in einer anderen, fremden gelandet.
Es blieb dämmrig. Das Haus rückte näher. Es war nicht genau zu erkennen, ob es aus Holz oder Stein errichtet worden war. Suko tippte auf Holz.
Er sah Fenster und wäre nicht verwundert gewesen, dahinter einen Lichtschein zu entdecken, doch das war nicht der Fall. Die viereckigen Ausschnitte blieben dunkel.
Es waren nur wenige Schritte, die Suko noch zurücklegen musste, um das Ziel zu erreichen. Vor einer Tür hielt er an. Sie besaß keine Klinke, aber einen Knauf. Den umfasste Suko und war zufrieden, als er sich drehen ließ. So war die Tür offen.
Er wartete einen Moment, bevor er sie nach innen drückte. Das passierte, ohne dass es ein Problem gab. Suko konnte das Holzhaus betreten und stellte als Erstes fest, dass dieses Haus keinen Fußboden besaß. Es war auf dem Ackerboden errichtet worden.
Wohnte hier überhaupt jemand?
Daran konnte Suko nicht glauben, denn es gab keinerlei Einrichtung. Er stand in einem leeren Raum.
Das akzeptierte er, aber damit gab sich Suko nicht zufrieden. Er suchte nach Spuren, die auf einen Bewohner hindeuteten. Es gab keine. Davon ging er aus, weil er keine Abdrücke auf dem staubigen Boden entdeckte.
Eine erste Etage hätte noch in das Haus hineingepasst, aber die war nicht vorhanden. Deshalb war die recht hoch liegende Decke verständlich.
Also nichts.
Suko stand auf der Stelle. Licht brauchte er nicht. Er drehte sich noch mal, um die Wände überblicken zu können. So sah er auch die Fenster.
Alles normal – oder?
Nein, denn plötzlich zuckte Suko zusammen. Hinter einem der Fenster hatte er etwas entdeckt. Es war eine huschende Bewegung und ein Gesicht. Nur für einen Moment zu sehen, dann war sie verschwunden.
Suko überlegte. War es eine Täuschung oder nicht?
Er wartete einige Sekunden. Das Gesicht tauchte nicht wieder auf. Auch nicht an einem der anderen Fenster. So konnte man fast davon ausgehen, dass es das Gesicht nicht gegeben und Suko sich geirrt hatte.
Daran wollte er nicht glauben. Was er gesehen hatte, war real gewesen. Nur hier in der Hütte kam er nicht weiter. Er musste das Haus verlassen und sich draußen umschauen.
Das tat Suko. Aber er war auf der Hut und mehr als vorsichtig. Er öffnete die Tür nur spaltweise, lugte ins Freie, nahm nichts Ungewöhnliches wahr und drückte den Eingang so weit auf, dass er das Haus verlassen konnte.
Im ersten Moment schien alles friedlich. Leider hatte er in die falsche Richtung geschaut.
Jetzt drehte er den Kopf nach rechts.
Da weiteten sich seine Augen. Nicht weit entfernt stand ein Junge, der sich mit einem Beil bewaffnet hatte ...
Suko tat nichts. Er blieb stehen und blies nur die Wangen auf. Danach ließ er die Luft langsam über seine Lippen wieder ins Freie. Mit dem Anblick hatte er nicht gerechnet, und Suko brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen.
Er ging nicht auf den Jungen zu, sondern schaute sich ihn erst mal genauer an. Nicht älter als zwölf Jahre war er. Auf seinem Kopf wuchsen Haare, die aussahen wie Stroh. Das Gesicht wirkte ausdruckslos und war sehr blass. Das traf auch auf die schmalen Lippen zu. Die Augen wirkten wie künstlich in das Gesicht hineingedrückt. So etwas wie einen Blick gab es nicht. Sie waren einfach nur leer.
Eine Hose, ein Hemd, eine Jacke. Farblose graue Kleidung. Der Junge sah aus wie ein Kind aus dem vergangenen Jahrhundert, das in einer armen Gegend groß geworden war.
Und dann war da noch das Beil. Man konnte es nicht übersehen. Der Junge hielt es mit der rechten Hand fest. Noch hing es an seiner Körperseite entlang nach unten. Suko glaubte nicht daran, dass es so bleiben würde.
Der Junge war die einzige Person, die er ansprechen konnte, um eine Antwort zu erhalten.
»Hi, mein Freund. Kannst du mir helfen?«
Schweigen.
So leicht gab Suko nicht auf.
»Bitte, ich möchte nur von dir wissen, ob du mir helfen kannst. Es wäre für mich sehr wichtig. Einverstanden?«
Bekam er eine Antwort?
Nein. Der Junge schwieg beharrlich, und es gab auch nichts, was sich an ihm regte. Nach wie vor glich er mehr einer Figur als einem Menschen.
Suko blieb am Ball. Er stellte die nächste Frage: »Kannst du nicht sprechen?«
Erneutes Schweigen.
Suko zuckte mit den Schultern. »Ich denke, dass unser Verhältnis vertrauter sein sollte. Was hältst du davon? Wir beide könnten uns unterhalten. Okay?«
Kein Wort.
Das wollte Suko nicht hinnehmen. Für ihn hatte dieser Junge alles verstanden. Er wollte nur nicht, und als Suko in das Gesicht schaute, da erkannte er den bösen Blick. Es war nicht mehr der starre, jetzt war so etwas wie Leben in seine Augen gekommen. Man konnte von einem Blitzen sprechen, das Suko nicht gefallen musste. Er hatte das Beil nicht vergessen.
Da hob der Junge seinen rechten Arm, und sein Gesicht schien plötzlich zu strahlen, als er die Waffe genau auf Suko schleuderte.
Der lag blitzschnell am Boden, rollte sich zur Seite und sprang sofort wieder auf.
Das Beil hatte ihn knapp verfehlt, Glück gehabt.
Und der Junge? Den hätte er sich gern geholt, aber er war nicht mehr zu sehen.
Einfach weg. Wie aufgelöst. Dass es ihn gegeben hatte, davon zeugte das Beil, das Suko jetzt an sich nahm.
Verdammt, wo steckte der Junge? Es gab nicht mal eine Spur, die Suko auf die Lösung gebracht hätte.
Was tun? Er dachte nicht lange nach. Er war auf dem Weg nach Hause gewesen und dann in diesen unerklärlichen Schlamassel hineingeraten. Wo es einen Eingang gab, da existierte auch ein Ausgang. Davon ging er zumindest aus.