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Er hörte die Musik und bekam eine Gänsehaut.
Mike Curtis saß unbeweglich auf seinem schmalen Stuhl. Das Angeln hatte er in diesen Augenblicken vergessen.
Er hörte nur zu. Und er starrte dabei auf das Wasser. Es war kein Fluss, sondern mehr ein breiter Bach, an dessen Ufer Mike Curtis saß.
Die Melodie war da. Sie schwebte über das Wasser hinweg und schien wie aus dem Nichts zu kommen, doch das traf nicht zu. Als Curtis den Blick hob und über das Wasser schaute, sah er im schwachen Licht der anbrechenden Dämmerung die Gestalt, die am gegenüberliegenden Ufer saß und eine Melodie auf ihrer Geige spielte, die er kannte, wobei ihm der Komponist nicht einfiel. Das war nicht weiter tragisch. Es ging ihm nur um die Melodie und um die Geigerin, die diese Musik so selbstvergessen spielte ...
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Seitenzahl: 122
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Sie spielte die Teufelspartitur
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Sie spielte die Teufelspartitur
von Jason Dark
Er hörte die Musik und bekam eine Gänsehaut.
Mike Curtis saß unbeweglich auf seinem schmalen Stuhl. Das Angeln hatte er in diesen Augenblicken vergessen.
Er hörte nur zu. Und er starrte dabei auf das Wasser. Es war kein Fluss, sondern mehr ein breiter Bach, an dessen Ufer Mike Curtis saß.
Die Melodie war da. Sie schwebte über das Wasser hinweg und schien wie aus dem Nichts zu kommen, doch das traf nicht zu. Als Curtis den Blick hob und über das Wasser schaute, sah er im schwachen Licht der anbrechenden Dämmerung die Gestalt, die am gegenüberliegenden Ufer saß und eine Melodie auf ihrer Geige spielte, die er kannte, wobei ihm der Komponist nicht einfiel. Das war nicht weiter tragisch. Es ging ihm nur um die Melodie und um die Geigerin, die diese Musik so selbstvergessen spielte ...
Man konnte bei ihr von einer noch jungen Frau sprechen, die hell gekleidet war, und Curtis kam der Vergleich mit einer Waldfee in den Sinn. Wenn sie sich beim Spiel bewegte, traf das auch auf ihr Haar zu. Es schwang dabei von einer Seite zur anderen oder fiel mal über das Gesicht, wenn sich die Spielerin bückte.
Und dann die Melodie. Je länger Mike Curtis sie hörte, umso mehr war er von ihr eingenommen. Er hatte alles vergessen, es gab nur noch die Melodie, die über das Wasser wehte. Sie kam ihm vor wie eine Botschaft, die nur an ihn gerichtet war, und er konnte und wollte sich ihr nicht entziehen.
Wunderschön. Ein seidiger Klang, der etwas brachte. Eine Lockung, die ihn erfüllte. Er war bereit, über den breiten Bach zu springen, um die Geigerin zu umarmen.
Sie spielte so herrlich, so wunderbar und auch einmalig. Eine wunderschöne Melodie, die von einem Komponisten stammte, der längst gestorben war. Dieses herrliche Geigensolo berührte den Angler, wie es sonst nichts in seinem Leben getan hatte.
Aber das war nicht alles. Denn urplötzlich hörte er die Stimme und versteifte noch mehr auf seinem Platz.
Gesang!
Eine weiche und einfach wunderschöne Frauenstimme, die sich der Musik perfekt anpasste und Mike den Text über das Wasser schickte. Er wurde von der jungen Geigerin nur leise gesungen, dabei war aber jedes Wort zu verstehen.
Die Musik war wichtig, aber nicht so primär. Jetzt interessierte ihn der Text, und der war anders. Er passte nicht zu der Musik.
Es ging um die Schönheit und zugleich um den Tod. Mike Curtis hörte, dass es wunderbar war, in Schönheit zu sterben und dem Tod so ein Gesicht zu geben.
Dieses würde dann verblassen, um etwas Neuem Platz zu schaffen. Eine andere Welt, eine wunderbare, wo man sich nur wohlfühlen konnte.
Je länger die Frau spielte und je öfter sie den Text sang, umso mehr prägte er sich bei Curtis ein. Er brannte sich in seinem Gehirn fest. Der Tod. Der Tod war ein Freund. Den Tod musste man erreichen. Er war wichtig. So schnell wie möglich zu ihm, alles anderes zählte nicht mehr. Da schien sich die Musik und die Stimme verbündet haben, sodass es keine andere Möglichkeit mehr gab.
Und das Spiel der jungen Frau hatte Erfolg. Mike Curtis konnte an nichts anderes mehr denken. Er war nicht mehr der Gleiche. Stimme und Musik hatten ihn zu einem anderen Menschen gemacht, der auch einen anderen oder neuen Weg einschreiten wollte.
Es gab kein Zurück mehr. Er hatte alles dabei, um den neuen Weg gehen zu können.
»Der Tod, der süße Tod ...«
So hörte er den Text mit der Melodie. Beides übertönte das Murmeln des Bachs.
»Ja, ja, ich weiß, was ich zu tun habe!« Mike hatte die Worte halb laut ausgesprochen, dabei die Blonde nicht aus den Augen gelassen. Er nickte ihr sogar zu. »Ja, ja, ich tue es. Ich will nicht mehr bleiben. Ich will hinein in die andere Welt. Sie wartet auf mich, das weiß ich jetzt. Und ich freue mich ...«
Noch mal ein Nicken, dann drehte er seinen Körper auf dem schmalen Hocker nach rechts und drückte seinen Arm dem Boden entgegen, denn dort stand seine Tasche mit dem offenen Reißverschluss, sodass er hineingreifen konnte.
Das tat Mike Curtis auch. Und schon beim ersten Zupacken hatte er das gefunden, was für ihn sehr wichtig war.
Ein Messer!
Aber kein normales, sondern eins mit einer Klinge, die ungemein scharf war, und zwar beidseitig.
Es war das Messer, mit dem er die Fische aufschlitze, um sie auszunehmen. Ein Schnitt musste dabei reichen, und dazu war das Messer in der Lage. Damit hatte er schon einen Meter langen Hecht aufgeschnitten. Es war kein Problem, damit jemand zu töten.
Und nicht nur Fische.
Auch Menschen!
Und auch ihn!
Ja, das war es. Mike fürchtete sich nicht vor dem endgültigen Schritt. Er musste es tun. Die wunderschöne Geigerin wollte es. Und dann, wenn sein erstes Dasein vorbei war, würde er wieder ganz neu beginnen.
Ein neues, ein wunderbares Leben, auf das er sich freute.
Der Messergriff hielt er mit der rechten Hand umklammert. Sekunden später hob er den Arm an. Vor seiner Kehle kam die Klinge zur Ruhe.
Noch war es nicht soweit. Noch schaute er über die Waffe hinweg, um einen letzten Blick zu erhaschen.
Er sah die Blonde. Überdeutlich sogar. Viel heller. Sie schien angestrahlt zu werden und spielte noch immer. Diesmal lauter, sogar irgendwie deutlicher. So wie er sie sah. Er hörte die Musik. Sie klang wie ein Befehl, der von der anderen Flussseite zu ihm herüberhallte.
Und Mike Curtis tat es. Seine rechte Hand mit der Klinge zuckte auf die Kehle zu. Die erste Berührung mit der Schneide.
Dann drückte er zu und zog das Messer zugleich von links nach rechts.
Er schnitt sich selbst die Kehle auf, starb aber noch nicht in der gleichen Sekunde, denn er hörte noch ein Geräusch.
Es war das siegessichere Lachen der blonden Geigerin ...
Den Dachboden hatten Edna Elliot bereits erreicht. Jetzt musste sie nur noch das Fenster öffnen, um das Hausdach betreten zu können. Es war wichtig, sogar sehr wichtig, denn von dort stammte die Musik, die sie zuerst in ihrer Dachwohnung nur leise gehört hatte, jetzt aber lauter vernahm.
Da war nicht nur einfach Musik. Das war etwas ganz Besonderes. Es war eine Melodienkette, die ihr Herz traf. Die Musik war einfach wunderbar. Ein akustisches Lockangebot, das sie einfach nicht ausschlagen konnte. Wenn sie genau darüber nachdachte, überkam sie der Eindruck, dass diese Musik ihr etwas sagen wollte, um sie etwas Bestimmtes tun zu lassen.
Es waren nur wenige Schritte bis zum Fenster. Auf dem Weg dorthin atmete sie ein paar Mal tief durch. Ihr Herz klopfte schneller als gewöhnlich. Sie wollte sich beeilen und hoffte, dass die Musik nicht aufhörte.
Zugleich aber drängte sich so etwas wie Furcht in ihr hoch, denn diese Musik war auch etwas Unbekanntes.
Das Fenster hatte sie erreicht und warf einen Blick durch die Scheibe. Sie sah das Dach als eine glatte dunkle Fläche. Es war kein Problem, es zu betreten, aber sie zögerte noch, denn sie suchte nach der Geigerin.
Die war nicht zu sehen. Das war nicht weiter tragisch, denn das Dach hatte eine Größe, die vom Fenster her nicht zur Gänze eingesehen werden konnte.
Ihre rechte Hand umschloss den Griff, drehte ihn, und Sekunden später war das Fenster offen.
Kalter Abendwind wehte gegen ihr Gesicht, aber das interessierte sie nur am Rande. Es war wichtig, dass sie auf das Dach kam, denn das Geigenspiel lockte sie immer stärker.
Trotz ihrer sechzig Jahre hatte sie kein Problem, das Dach zu betreten. Bald war es geschafft, und sie konnte sich aufrichten. Sie bewegte auch ihren Kopf, und sie sah die Person auf dem Dach.
Einmal hatte Edna sie kurz gesehen, konnte sich aber nicht daran erinnern, wo das gewesen war. Es hatte in einer Music Hall sein können, aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Für sie zählte nur die Frau.
Sie hockte auf dem Dach. Das blonde Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Es bewegte sich im Wind und produzierte kleine Wellen. Das Kleid, das die Frau trug, war schulterfrei und hätte eher in den Sommer gepasst.
Aber die Kühle störte die Musikerin nicht. Sie spielte weiter, und Edna Elliot empfand die Musik als eine wunderbare Lockung. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und ging langsam auf die Spielende zu.
Die Musik war noch immer da. Nur hatte sie sich jetzt verändert. Edna kam es vor, als wäre die Melodie dabei, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Etwas zu tun, etwas zu unternehmen. Sich nur auf die Melodie zu verlassen, sich von ihr hinforttragen zu lassen zu einem völlig neuen Ziel.
Musik, die ihr indirekt einen Befehl gab. Sie hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, wehte dort in wunderschönen Klängen, aber zugleich hörte sie ihre eigene Stimme.
»Geh vor! Dann musst du springen ...«
Sie wusste, dass ihr neues Ziel der Dachrand war. Edna Elliot änderte die Richtung ihrer Schritte. Sie bewegte sich jetzt nicht mehr direkt auf die Geigerin zu, sondern würde sie an der linken Seite passieren.
Die Blonde spielte weiter. Für sie gab es nur ihre Musik. Dabei war sie sich ihrer Sache sicher, denn sie kannte ihre Gabe, und sie hörte auch nicht auf zu spielen, als Edna sie passierte und nun den Rest der Strecke ging, um ihr Ziel, den Dachrand zu erreichen.
Weit musste sie nicht mehr gehen, in ein paar Sekunden hatte sie die Stelle erreicht, von der aus sie in die Tiefe schauen konnte.
Das tat sie auch.
Vier Stockwerke unter ihr befand sich die Straße, auf der Autos fuhren, die aussahen wie Geister mit Lichtern. Menschen sah sie nicht. Dazu war die Entfernung zu hoch. Oder sie entdeckte sie nur, wenn sie durch den Lichtschein gingen, der aus den Fenstern oder Schaufenstern fiel.
Die Musik traf Edna Elliot noch immer. Sie hatte das Gefühl, dass die Melodien zu ihr sprachen, dass sie etwas von ihr wollten. Dass sie gehorchen musste.
Sie warf einen Blick in die Tiefe.
Dabei weiteten sich ihre Augen, der Mund öffnete sich und zog sich in die Breite. So bekam ihr Gesicht einen verzerrten Ausdruck.
Die Tiefe.
Sie lockte.
Und das tat auch die Musik. Die wunderbaren Melodien verwandelten sich in Worte, die durch ihren Kopf geisterten.
»Spring! In die Tiefe! Spring endlich!«
Ja, ja! Sie hatte das Gefühl, die Antwort zu schreien, doch das traf nicht zu. Sie war nur in ihrem Kopf, aber sie glich einem Befehl.
Ein letztes Nicken!
Danach holte sie Schwung, und der trieb sie nach vorn, über die Dachkante hinweg, und es gab nichts, was sie noch hielt.
Wie ein Klotz schlug sie auf dem Gehsteig auf und blieb dort tot liegen.
Es war genau der Moment, an dem die die Geigerin aufhörte zu spielen ...
Das Lokal gab es noch nicht lange. Dort wurden vegane und vegetarische Speisen angeboten, und das lag genau im Trend. Kein Wunder, dass man normal keinen Platz bekam und reservieren musste.
Das hatte auch Johnny Conolly getan. Von Freunden hatte er erfahren, dass man hier gut essen konnte und auch die veganen Gerichte schmeckten.
Das wollte Johnny unbedingt ausprobieren. Normalerweise hätte er das Lokal mit seiner Freundin Cathy aufgesucht, doch er hatte vor Kurzem in einem Handy Shop zufällig eine alte Schulkameradin wiedergetroffen, in der er damals – vor Urzeiten, wie es ihm vorkam – verknallt gewesen war, und sie hatten sich für diesen Abend verabredet, um über alte Zeiten zu sprechen. Cathy hätte sich da nur gelangweilt, darum hatte sie Johnny an diesem Abend ›freigegeben‹ und machte stattdessen mit ihrer Schwester Emma und der ihr angetrauten Marisa Douglas einen ›Mädelsabend‹. Dass zwischen Johnny und seiner alten Bekannten nichts laufen würde, da war sie sich sicher, da vertraute sie Johnny voll und ganz.
Johnny hatte einen Zweiertisch an der Fensterfront ergattern können. Da saßen sie nun, tranken von der Limonade, die es nur in diesem Lokal gab, und hatten sich auch schon für ein Essen entschieden.
Johnny wollte unbedingt etwas probieren, mit dem er praktisch groß geworden war.
»Ich nehme Hamburger!«
Lisa bekam große Augen. »Echt?«
»Klar. Vegane Hamburger. Die muss ich mal probieren. Und was möchtest du haben?«
Lisa, durch deren dunkles Haar sich ein paar bläuliche Strähnen zogen, senkte den Kopf. Sie hatte die hölzerne Karte vor sich liegen.
Sie war von zwei Seiten beschriftet. Auf der einen standen die vegetarischen Gerichte und auf der zweiten die veganen.
Lisa blieb bei den vegetarischen. Sie entschied sich für ein Steinpilzgericht mit Nudeln und einer leckeren Soße.
»Ha, ha.« Johnny lachte leise. »Nichts Veganes?«
»Nein. Und frag nicht nach den Gründen.«
»Wie du willst. Aber ich muss das mal essen, um mitreden zu können.«
»Das verstehe ich.«
Beide saßen sich gegenüber.
Er wollte wissen, ob Lisa an ihrem Job Spaß hatte.
»Nein, das habe ich nicht. Und ich habe mich entschieden, den Job zu schmeißen und Medienkunde zu studieren.«
»Aha. Nicht schlecht.«
»Und was machst du so?«
»Ach.« Johnny winkte ab.
Er wollte trotzdem eine Antwort geben, aber dazu kam er nicht mehr, denn ein junger Kellner tauchte auf und brachte das Bestellte.
Es gab den Hamburger und dazu eine helle Soße, dann brachte eine junge dunkelhäutige Frau auch das vegetarische Pilzgericht.
Johnny Conolly nahm den Hamburger in beide Hände und wollte hineinbeißen, da hörte er Lisas Aufschrei, sah auch einen Schatten von außen her an der Scheibe vorbeihuschen – und sah, dass Lisa aufsprang.
Der Hamburger fiel zurück auf den Teller, ohne angebissen worden zu sein, und Johnny drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen.
Es war dunkel und nicht viel zu sehen. Dafür hörte er Lisas Kommentar.
»Da ist einer von oben her auf den Gehsteig gefallen.«
»Was?«
»Ja, Johnny.«
Er sprang auf, um eine bessere Sicht zu bekommen. Die bekam er zwar nicht, denn zu viele Menschen nahmen ihm die Sicht auf die Straße. Um mehr erkennen zu können, musste er raus, und das nahm er sofort in Angriff.
Zwei lange Sprünge brachten ihn bis an die Tür, die er aufriss und nach draußen huschte. Wenig später stand er bei den Neugierigen, die einen Kreis um die Person bildeten.
Da Johnny Conolly recht groß war, brauchte er sich nicht anzustrengen, um die Person zu sehen, die verkrümmt auf dem Gehsteig lag.
Es war eine Frau, und er ging sogar davon aus, dass sie vom Dach gesprungen war.
Johnny trat einen kleinen Schritt zurück und schaute an der Fassade hoch. Er zählte vier Stockwerke. Er sah auch, dass das Haus ein Flachdach hatte.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er drehte den Kopf und sah Lisa.
»Komm bitte.«
»Wohin?«
»Lass uns gehen.«