John Sinclair 1895 - Timothy Stahl - E-Book

John Sinclair 1895 E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

An einem stürmischen Gewitterabend hatte ich es mir gerade zu Hause gemütlich gemacht, als das Telefon klingelte.
"Ja?", meldete ich mich.
"Mister Sinclair? Hier spricht Father Greg von der St. Etheldreda’s Church. Sie müssen sofort herkommen!"
"Und warum?", fragte ich und versuchte, die böse Vorahnung, die in mir aufstieg, zurückzudrängen. Der Tonfall in Father Gregs Stimme war beängstigend. Der Geistliche klang völlig aufgewühlt und irgendwie konfus.
"Weil...", begann er, und ich hörte ihn schlucken, bevor er mit etwas festerer Stimme endlich antwortete: "Hier ruft ein Toter Ihren Namen, Mister Sinclair!"

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Inhalt

Cover

Impressum

Als ein Toter nach mir rief

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Jeff Cameron Collingwood

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-0489-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Als ein Toter nach mir rief

von Timothy Stahl

Max Brodie floh durch die Gewitternacht.

Wind peitschte durch die Straßen. Laub und Abfall wirbelten wild durcheinander.

Brodie geriet immer wieder ins Taumeln, wie ein Betrunkener. Sein Gehirn schien wie in nasse, klebrige Watte gepackt, in der jeder Gedanke hängen blieb. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Über ihm zuckten Blitze. Im Laufen riskierte Brodie einen Blick über die Schulter. War man ihm noch auf den Fersen?

Es war kein Mensch zu sehen. Doch Max Brodie blieb angespannt.

Er wusste, dass es noch nicht vorbei war. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was noch kommen sollte. Herrgott, er wusste ja nicht einmal richtig, was überhaupt geschehen war!

Brodie konnte sich nichts von alldem erklären. Ihm kam es vor, als wäre er eben noch im Dienst gewesen, und dann …

Die Gedanken an das, was dann passiert war, verschwammen.

Jetzt war er jedenfalls auf der Flucht. Und er versuchte angestrengt, sich daran zu erinnern, warum und vor wem er floh. Aber seine Kraft ging zur Neige. Dafür wurde der Eindruck, blindlings zu fliehen, ziellos irgendwohin zu rennen, immer stärker.

Trotzdem hatte Brodie auch das Gefühl, als wüsste er, wo er hin musste. Als gäbe es einen Ort, der ihn wie magisch anzog.

Er erreichte eine Straßenecke und stützte sich kurz am Mast einer Peitschenlaterne ab, um ein bisschen Kraft zu schöpfen. Aber er hätte sich wahrscheinlich auch dann nicht besser gefühlt, wenn er bis morgen früh hier stehen geblieben wäre.

Wenigstens nutzte er die kurze Pause, um sich umzuschauen. Noch immer war niemand zu sehen.

Brodie wollte aufatmen, doch die Luft stockte ihm im Hals, als wäre der zu eng zum Atmen geworden. Oder als hätte Brodie vergessen, wie das ging – durchschnaufen, Luft holen …

Ein Gedanke, der ihm eigentlich Angst hätte machen sollen. Aber das tat er nicht. Brodie nahm ihn hin. Wie er immer mehr einfach hinnahm.

Er blickte die Straße hinunter. Zwei helle Punkte kamen langsam näher. Die Scheinwerfer eines Autos.

Brodie wich von der Ecke zurück, bis er die Hecke im Rücken spürte, die den Bürgersteig auf der anderen Seite säumte. Er drückte sich in das biegsame Geäst hinein und wartete.

Einen Moment lang glaubte er, das Fahrzeug würde langsamer. Aber im nächsten Augenblick war es auch schon vorbeigefahren und verschwunden.

Kaum hatte er sich aus der Hecke befreit, glaubte er, eine Gestalt auszumachen, ein gutes Stück hinter sich, vor den gepflegten Vorgärten der Reihenhäuser, die er vorhin passiert hatte.

Statt sich mit einem zweiten Blick zu vergewissern, ob da wirklich jemand war, rannte Max Brodie einfach über die Straße. Dabei übersah er ein weiteres Auto, das sich näherte, und zwar schneller als das Erste.

Der Fahrer hupte und riss das Lenkrad herum. Brodie wurde dennoch gestreift und stürzte auf den Asphalt.

Der Mann am Steuer bremste und stieg aus. »Sind Sie verletzt?«, rief er.

Brodie reagierte nicht darauf. Er rappelte sich hoch und wankte davon.

»Besoffener Idiot!«, schrie ihm der Autofahrer hinterher. »Mach, dass du nach Hause kommst, du Penner!«

Nach Hause, echote es in Brodies Kopf wie Glockengeläut in einem Kirchturm. Ja, da wollte er hin. Heim. Dahin, wo er hergekommen war.

Ohne stehen zu bleiben, drehte er sich um die eigene Achse. In welche Richtung musste er?

Er kannte Hatfield wie seine Westentasche. Aufgewachsen war er in London, aber dann hatte es ihn, wie viele Londoner, in die kleine Stadt nördlich der Hauptstadt gezogen. Brodie hatte hier in Hatfield gearbeitet. Als Polizist.

Moment mal … Er hielt inne. Er hatte in Hatfield gearbeitet? Tat er das jetzt nicht mehr? Der Gedanke zerbarst, weil ein anderer mit der Wucht eines ungebremsten D-Zugs hineinraste.

Wenn er seit Jahren in Hatfield lebte und arbeitete, warum kam er sich dann hier jetzt so fremd vor? Er irrte ja förmlich durch die Stadt. Als hätte er vergessen, wo die Straßen, auf denen er täglich Streife fuhr, hinführten.

Verlor er den Verstand? Oder sein Erinnerungsvermögen? War er krank und wusste auch das nicht mehr?

»Nein, ich bin nicht krank«, keuchte er, »ich bin …« Die Worte, die darauf folgen sollten, gingen in einen unartikulierten Schrei über.

Er versuchte, zu rennen, geriet jedoch ins Torkeln.

Dann glaubte er abermals die Gestalt zu sehen!

Wieder weit hinter sich, und wieder wusste er nicht, ob sie es auf ihn abgesehen hatte, ob es wirklich ein Verfolger war.

Aber Brodie reagierte instinktiv. Wie ein Reh, das den Jäger witterte, hetzte er los.

Den Blick nach hinten gerichtet, um zu sehen, ob der andere auch schneller wurde, rannte Max Brodie den Gehweg entlang. Mit schweren Schritten lief er über das Pflaster. Er war weder alt noch unsportlich, dennoch fühlte er sich so behäbig und ungelenk wie ein übergewichtiger Greis.

Er schwankte, kam zu weit nach rechts und prallte mit der Schulter gegen eine Bruchsteinmauer. Sie war nur brusthoch, und Brodie konnte sich mit beiden Händen an der rauen Mauerkrone abfangen und einen neuerlichen Sturz verhindern.

Er kam so zu stehen, dass er über die Mauer hinwegsah. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit und tauchte das Gelände jenseits der steinernen Einfriedung in flackerndes, grelles Licht. Und Max Brodie erstarrte.

Hinter der Mauer lag ein Friedhof. Grabsteine verschiedener Größen ragten aus dem Boden, die meisten kerzengerade, ein paar auch schief. Die Einfassungen und Platten verschwanden in knöchelhohem Gras, aus dem hier und da nur der Blumenschmuck einzelner Grabstätten hervorlugte.

Und auf der anderen Seite des Gräberfelds, das mit hohen, alten Bäumen bewachsen war, die sich rauschend im Sturm wiegten, stand eine wuchtige Kirche mit einem kantigem Turm und hohen Rundbogenfenstern. Hinter diesen Fenstern schimmerte Kerzenschein.

Die zuckende Helligkeit des Blitzes erlosch, Donner grollte. Finsternis stülpte sich wie ein schwarzer Sack über die Szenerie, deren Anblick Max Brodie regelrecht gelähmt hatte.

Aber er sah das Bild selbst im Dunkeln noch vor Augen. Und es blieb auch das Gefühl, das dieses Bild in ihm ausgelöst hatte.

Er war da! Hierher hatte er gemusst und gewollt. Er war … wieder zu Hause.

***

Draußen grollte Donner, erste schwere Regentropfen klatschten gegen die Buntglasscheiben der Rundbogenfenster. In der Kirche waren die Kerzen, die Father Gregory Lane angezündet hatte, die einzige Lichtquelle. Die vielen kleinen Flammen erfüllten das alte Gotteshaus mit waberndem Schein.

Father Gregory – oder Father Greg, wie der noch junge Pfarrer sich von seiner Gemeinde lieber nennen ließ – saß auf der Empore an der Orgel und entlockte dem Instrument traurige Töne. Sie vermischten sich mit dem Heulen des Windes, der mit einer Wucht um die Ecken der altehrwürdigen St. Etheldreda’s Church fuhr, als wollte er sie abschleifen.

Normalerweise hätte Father Greg um diese Zeit längst im Bett gelegen, denn er musste morgen früh raus. Aber in stürmischen Nächten wie dieser schlief er bestenfalls schlecht, in der Regel jedoch gar nicht.

Ein Überbleibsel aus seiner Kindheit. Die Angst, dass in einer solchen Nacht etwas Schlimmes passieren könnte …

Dabei war ja gerade erst etwas Schlimmes passiert. Hier, draußen auf dem Friedhof, der zur Kirche gehörte und zwischen dem trutzigen Bauwerk und der Straße lag.

Auch deshalb schlief Father Greg in den vergangenen Tagen schlecht bis gar nicht. Er konnte einfach nicht fassen, was da vor einigen Nächten geschehen war. Die Polizei hatte nichts gefunden, was den seltsamen Vorfall auch nur ansatzweise erklärt hätte. Es gab keine Einbruchspuren, keine Hinweise, dass Diebe ihre makabre Beute abtransportiert hätten.

Father Greg zuckte zusammen. Sein melancholisches Orgelspiel brach mit einem quäkenden Misston ab. Das Echo hallte noch ein paarmal von den Wänden und Decken des Kirchenschiffs wider, dann war es verklungen. Und Father Greg hörte, dass er sich nicht geirrt hatte.

Es hämmerte gegen das Kirchenportal. Mit Fäusten schien da draußen jemand auf das Holz einzuhauen, als wollte er die massive Tür einschlagen.

Auch eine Stimme war durch das Brausen des Windes zu vernehmen. Aber was sie rief, konnte Father Greg nicht verstehen. Also musste er hinuntergehen und nachsehen.

Der junge Geistliche erhob sich von der Orgelbank und eilte über die Empore. Seine Schritte klangen laut auf dem hölzernen Boden. Er stieg eine Wendeltreppe hinab, ging die wenigen Meter über den Steinboden zum Portal und blieb davor stehen.

Von draußen wurde immer noch dagegen gehämmert. Die Rufe, die dazu erklangen, konnte der Pfarrer auch jetzt noch nicht verstehen.

Inzwischen vermutete er, dass es sich wahrscheinlich um einen Obdachlosen handelte, der dringend eine Zuflucht vor dem Unwetter suchte.

Father Greg entriegelte das Portal und zog einen der beiden schweren Flügel auf. Er hatte ihn gerade erst einen Spaltbreit geöffnet, da drängte derjenige, der so ungestüm Einlass begehrte, auch schon herein.

Sein Gesicht geriet augenblicklich in den Lichtschein der Kerzen, sodass Father Greg es gleich erkannte.

Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Er war geschockt. Er wollte etwas sagen, aber er fand keine Worte.

»Ich bin wieder da«, sagte der Mann, der vor ihm stand, mit rauer, erschöpfter Stimme.

Draußen platschten dicke Regentropfen auf die Stufen, die zum Portal heraufführten. Ein Blitz flackerte auf, Sekunden vergingen, dann krachte ein Donnerschlag.

Father Greg schrak auf, wie aus einem Traum gerissen, und nickte. Endlich brachte er doch einen Satz hervor. »Du bist heimgekehrt«, sagte er mit ebenfalls rauer Stimme zu seinem Gegenüber und schluckte trocken. »Wie der verlorene Sohn.«

***

Nördlich von London gewitterte es. Ich konnte durchs Fenster das Flackern von Blitzen zwischen den fernen Wolken sehen, als ich von meiner Küche ins Wohnzimmer ging. In der einen Hand hatte ich mein verdientes Feierabendbier, in der anderen einen Teller mit Sandwiches.

Ich war froh, heute Nacht nicht draußen sein zu müssen, und hatte mich schon den ganzen Tag über auf den Abend gefreut. Im Fernsehen lief heute die erste Folge der neuen Staffel einer großartigen Krimiserie.

Hinter mir lag ein langweiliger, aber nichtsdestotrotz ermüdender Tag. Suko und ich hatten ihn in unserem Büro im Yard verbracht und Papierkram aufgearbeitet, der über Wochen hinweg liegen geblieben war.

Ich setzte Teller und Bier auf dem Beistelltisch ab und ließ mich in meinen Lieblingssessel sinken. Der Fernseher lief bereits, gerade erschien auf dem Bildschirm ein Hinweis auf den bevorstehenden Auftakt der neuen Serienstaffel.

Perfektes Timing!

Ich griff nach meinem Bier, das ich mir in einen grauen Steinkrug eingeschenkt hatte, ein Andenken aus Deutschland. Gerade als ich trinken wollte, klingelte das Telefon.

Es lag ebenfalls auf dem kleinen, runden Tisch neben dem Sessel. Ich angelte mit der freien Hand nach dem Apparat, stieß dabei fast den Teller mit den Sandwiches herunter und fluchte.

Die Nummer auf dem Display kannte ich nicht, und ich war schon versucht, den Anrufbeantworter drangehen zu lassen. Aber dann siegte doch das Pflichtbewusstsein des Polizisten in mir, und ich nahm den Anruf an.

»Ja?«, meldete ich mich kurz angebunden. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Vorspann meiner Serie über den Bildschirm lief. Ich schnaubte.

»Mister Sinclair?«, fragte der Anrufer. Die Stimme klang jung und etwas unsicher. »Oberinspektor John Sinclair?«

»Ja, der bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Hier, äh …«, der Anrufer wirkte durch meine Ungehaltenheit ein bisschen aus dem Konzept gebracht, »… hier spricht Father Gregory Lane. Father Greg von der St. Etheldreda’s Church in Hatfield.«

Ich wusste, wo die kleine Stadt Hatfield lag. Nördlich von London. Ungefähr dort, wo es gerade ein Gewitter gab, wie ich vorhin durchs Fenster gesehen hatte.

Wie zur Bestätigung hörte ich aus dem Telefon ein Donnerkrachen.

»Father Greg, aha. Guten Abend«, grüßte ich. »Und was liegt an?«

Es war im Laufe der Jahre schon einige Male vorgekommen, dass mich ein Pfarrer zu nachtschlafender Zeit anrief. Und nie war dabei etwas Gutes herausgekommen.

»Sir«, setzte Father Greg an, und ich konnte hören, wie hinter ihm jemand irgendetwas rief. Es war nicht zu verstehen, aber es klang verzweifelt und klagend.

»Sie müssen herkommen, Sir.« Der Geistliche machte einen aufgewühlten und irgendwie konfusen Eindruck auf mich, soweit ich das seinem Tonfall entnehmen konnte.

»Bitte kommen Sie zu uns in die Kirche, Sir«, bat er noch einmal und mit Nachdruck.

»Und warum?«, fragte ich. Denn ich wollte schon wissen, worauf ich mich einließ und was mich erwartete.

»Weil …«, begann Father Greg, und ich hörte ihn schlucken, bevor er mit etwas festerer Stimme endlich antwortete: »Hier ruft ein Toter Ihren Namen, Mister Sinclair!«

***

Bei Suko, der nicht nur mein Partner, sondern auch mein Nachbar war, hatte ich vor meinem Aufbruch geklingelt, aber er war nicht zu Hause gewesen. Er ging auch nicht ans Handy. Also sprach ich ihm nur kurz auf die Mailbox, wo ich hinfuhr, und gönnte wenigstens ihm einen ungestörten Feierabend.

Ich erreichte Hatfield recht zügig. Die Fernstraße A1 war wie eine Autobahn ausgebaut und durchschnitt die kleine Stadt, die heute nur etwas mehr als dreißigtausend Einwohner zählte und etwa zwanzig Meilen nördlich von London lag.

Je weiter ich nach Norden gekommen war, desto mehr hatte der Verkehr nachgelassen. Dafür war der Regen stärker geworden. Und als ich nun durch die nächtlichen Kleinstadtstraßen fuhr und mich von meinem Navi ans Ziel lotsen ließ, schüttete es wie aus Kübeln. Als sollte ganz Hatfield von der Landkarte gespült werden.

Die Scheibenwischer meines Rovers liefen auf höchster Stufe, trotzdem war die Sicht wegen des heftigen Niederschlags miserabel. Ohne die Anweisungen aus dem GPS-Gerät hätte ich die Abzweigung zur St. Etheldreda’s Church sicher verpasst.

So aber fand ich die Kirche und fuhr so weit wie möglich an das Portal heran.

Das wuchtige Bauwerk beeindruckte mich. Besonders der Turm gefiel mir. Er ragte wie der Bergfried einer Burg in die Nacht empor und wurde von breiten Zinnen gekrönt. Im Licht der Scheinwerfer sah ich, dass das vor Nässe glänzende Bruchsteinmauerwerk mit Moos und Efeu bewachsen war.

Aber ich war nicht zum Sightseeing hier. Seufzend stellte ich den Motor ab, stieg aus und lief durch den Regen. Ich musste aufpassen, dass ich auf den nassen Stufen, die zum Portal hinaufführten, nicht ausrutschte.

Oben angekommen, drückte ich die große, eiserne Klinke nieder. Der mächtige Türflügel schwang träge und knarrend nach innen. Ich schüttelte die Nässe von meiner Lederjacke und trat ein.

Drinnen empfing mich Kerzenschein, warm und so anheimelnd, dass ich im ersten Moment fast vergaß, weshalb ich eigentlich hier war.

Weil ein Toter nach mir verlangt hatte …

Ich fröstelte und schob es auf das kalte Regenwasser, das unter meinen Jackenkragen gelangt war und mir jetzt den Rücken hinabrann.

Es waren viele Dutzend Kerzen, die das Innere des Gotteshauses erhellten. Allerdings leuchteten sie es nicht vollständig und gleichmäßig aus, sondern schufen Inseln aus wogender Helligkeit, zwischen denen es zwar nicht völlig dunkel, aber doch dämmrig war.

Ich hielt Ausschau nach dem Pfarrer. Die St. Etheldreda’s Church stammte unübersehbar aus der Epoche der Romanik und war damit ein wirklich altes Bauwerk. Frühes Mittelalter. Das Innere romanischer Kirchen war mitunter etwas unübersichtlich, so auch hier.

Entsprechend schwer fiel es mir, den Pfarrer, der mich angerufen hatte, auf die Schnelle zu finden.

»Father Greg?«, hallte meine Stimme durch das Kirchenschiff.

Ich ließ Blicke folgen, schaute auch zur Empore hinauf, die links und rechts über mir größtenteils aus Holz bestand. Nur über dem Eingangsportal, wo die Orgel stand, hatte man beim Bau auch Stein verwendet.

Dann nahm ich endlich eine Bewegung wahr, weiter vorne in der Kirche, fast schon im Altarraum.

»Mister Sinclair?«, rief jemand von dort.

Bei der Gestalt, die hinter einer Säule hervorgetreten war, konnte es sich nur um den Pfarrer handeln. Auch wenn er nicht so aussah. Aber gut, auch ein Geistlicher lief eben nicht rund um die Uhr im Talar herum.

Bei Father Greg lag der Fall jedoch noch ein wenig anders, wie ich erst erkannte, als ich zwischen den Bänken, die sich links und rechts des Gangs hintereinander reihten, auf ihn zuging.

Er trug T-Shirt, Jeans und Crocs, und er war in der Tat noch jung, wie ich schon am Telefon vermutet hatte. Aber wer ihn sah, der konnte leicht annehmen, dass er das Priesterseminar noch gar nicht abgeschlossen hatte. Er wäre glatt als Student durchgegangen. Jungenhaft war ein Wort, das wie für ihn gemacht schien. Er war hochaufgeschossen und schlaksig, als wäre er noch nicht einmal der Pubertät ganz entwachsen.

Ich hätte darauf gewettet, dass sich vor allem die älteren Kirchgängerinnen über seine Haare mokierten. Nicht weil sie rot waren wie die eines irischen Leprechauns, sondern so strubbelig, als hätten sie keinen Kamm mehr gesehen, seit Gregory Lane wirklich noch ein Junge gewesen war.

Mir gefiel dieser Father Greg auf Anhieb!

Ich begrüßte ihn. Sein Händedruck war angenehm kräftig. Aus der Nähe sah ich jetzt, dass unter einem Ärmel seines schwarzen T-Shirts ein kleiner Teil eines blauschwarzen Tattoos hervorschaute. Was es insgesamt darstellte, konnte ich nicht sehen. Weiß Gott ein ungewöhnlicher katholischer Priester.

»Wo ist Ihr Gast, Father?«, fragte ich gleich. Ich musste etwas lauter sprechen, weil der Regen gegen die Buntglasscheiben prasselte.

Bevor der junge Pfarrer antworten konnte, drang aus einem etwas dunkleren Winkel hinter ihm ein gequältes Stöhnen: »Sinclair …«

***

Father Greg wies auffordernd in die Richtung, aus der ich meinen Namen vernommen hatte.

Ich atmete durch und ging voran in eine Nische, in der auch das Taufbecken der Kirche stand. Eine Engelsfigur aus Gips oder Porzellan, deren Arme segnend ausgebreitet waren, schmückte die steinerne Schale.

Der angebliche Tote, der meinen Namen rief, saß vornübergebeugt auf einer Kirchenbank aus dunklem Holz. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, dessen blondes Haar schon etwas schütter war. Die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, die bleichen Hände zwischen den Knien gefaltet, machte er im Kerzenschein den Eindruck, als sei er im Gebet versunken.

Wie ein Zombie sah er für mich auf den ersten Blick nicht aus.

Allerdings war ich schon auf viele verschiedene Arten von Untoten getroffen. Der typische Zombie, der im Zerfall begriffen und eher behäbig war, nach Menschenfleisch gierte und seinen Keim weitergab, war dabei nicht einmal der gängigste Vertreter.