John Sinclair 1993 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 1993 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Isabella sah die Flammen. Ein gewaltiges Loch tat sich über ihr auf, durch das die Dämonin, die dieses Chaos verursacht hatte, nun in das Haus hineinglitt und auf dem Trümmerberg landete.

"Ich hatte dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören", erklärte die lächelnde Kreatur.

"Wer bist du?", wollte Isabella wissen. "Oder besser - was? Eine Kreatur der Finsternis?"

"Ja. Ich bin eine Harpyie. Du darfst mich Okypete nennen, wenn dich das glücklich macht. Aber sterben wirst du so oder so!"

Die Harpyie breitete erneut ihre Schwingen aus und jagte der ehemaligen Polizistin einen weiteren Feuerball entgegen.

Doch auch Isabella handelte. Ohne sich nur einen Zentimeter zu bewegen, drehte sie die Klinge der Axt herum - dieser besonderen Axt, die sie von George Frambon bekommen hatte -, und hielt die breite Seite schützend vor ihr Gesicht ...

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Seitenzahl: 157

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Inhalt

Cover

Impressum

Hetzjagd der Harpyie

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-3617-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Hetzjagd der Harpyie

von Rafael Marques

Ein gewaltiger, greller Blitz zuckte über den Wolkenhimmel!

Ihm folgte ein Grummeln, das selbst die Wände des alten Pfarrhauses zum Wackeln zu bringen schien. Unwillkürlich zuckte Isabella Vittori zusammen. Starke Windböen ließen die alten Bäume rings herum im Wind schwanken. Ganz im Gegensatz zum Turm der Kirche, der wie ein Fanal des Guten in die Höhe wuchs.

Isabella wusste selbst nicht, warum ihr dieser Vergleich in den Sinn kam. Sie war nicht gläubig, auch wenn ihre Eltern ihr immer das Gegenteil hatten einreden wollen. Dennoch hatte sie sich in den Dienst der Kirche gestellt. Oder vielmehr einer besonderen Organisation, die dem Heiligen Stuhl sehr nahe stand: der Weißen Macht!

Einzelne dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheibe und rissen die Dreißigjährige aus ihren Gedanken. Im Haus war es totenstill. Und das, obwohl sie nicht allein war. Christian Matell, ihr Partner, saß im Arbeitszimmer des alten George Frambon und las wieder einmal ein Buch. Der ehemalige Pfarrer selbst hatte seit Tagen sein Schlafzimmer nicht verlassen.

Isabella wusste genau, was vor einigen Monaten hier geschehen war. Father Ignatius hatte sie über jedes Detail informiert, bevor er ihr den Auftrag erteilt hatte, mit Christian Matell zusammen nach Gravelines zu reisen und zu Frambons Leibwächtern zu werden. Während ihr Partner die Rolle des Pfarrers einnahm, spielte sie selbst die Haushälterin. Etwas, auf das sie gerne verzichtet hätte.

Kurz dachte sie daran, was mit den Personen geschehen war, die vor ihnen diese Rollen ausgefüllt hatten. Der Pfarrer – in dessen Mansardenwohnung Christian eingezogen war – war ermordet worden, die Haushälterin dagegen hatte sich als Dämonin entpuppt. Als Kreatur der Finsternis.

Isabellas Hände ballten sich zu Fäusten. Wieder einmal stieg eine unbändige Wut auf diese Wesen in ihr empor. Aber sie konnte nichts tun. Stattdessen saß sie auf einem kleinen Stuhl in einer kleinen Küche und wartete darauf, dass die Zeit verging.

Ihre Finger glitten zum Griff der Pistole, die vor ihr auf dem Küchentisch lag. Die Waffe war mit geweihten Silberkugeln geladen. Ignatius hatte sie selbst für seine Agenten hergestellt. Gegen manche Kreaturen der Finsternis waren sie eine wirkungsvolle Waffe, aber längst nicht gegen alle. Auch das geweihte Kreuz, dass der Chef der Weißen Macht ihr mitgegeben hatte, war kein Schutz gegen einen koordinierten Angriff dieser Dämonen.

Für einen solchen Fall hatte Ignatius ihr eine Liste von Telefonnummern mitgegeben. Unter anderem befand sich darauf der Name John Sinclair. Ihr Chef hatte in höchsten Tönen von dem Londoner Polizisten gesprochen.

Isabella war das egal. Sie wartete darauf, dass die Dämonen endlich erschienen. Ihr Hass auf sie war unbeschreiblich. Es verging kein Tag, an dem sie sich nicht vorstellte, wie sie eine Kreatur nach der anderen vernichtete.

Langsam zog Isabella die Hand wieder zurück und ließ die Glock auf dem Tisch liegen. Lautlos stand sie auf und ging zum Fenster. Das Gewitter hatte sich in den letzten Minuten noch weiter intensiviert. Sintflutartige Regenfälle ergossen sich auf den Wald, die Kirche und die Stadt Gravelines.

Zu den Einwohnern hatte Isabella nur wenig Kontakt. Sie wollte auch lieber für sich bleiben.

Über kurz oder lang würde ihr Auftrag hier enden. Vor seinen Feinden hatte sie George Frambon beschützen können, nicht jedoch vor sich selbst. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Als Isabella und Christian in Gravelines angekommen waren, war Frambon gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Zunächst hatte er noch recht fit gewirkt, doch mittlerweile kam er kaum noch aus dem Bett heraus. Die physischen und psychischen Folgen des Angriffs auf sein Leben forderten ihren Tribut. Er war nun einmal schon ein alter Mann.

Um diese Zeit lag er meistens im Halbschlaf in seinem Bett und murmelte unverständliche Dinge vor sich hin. Einmal hatte sie versucht, ihm zuzuhören, es nach wenigen Minuten jedoch aufgegeben. Der ehemalige Pfarrer hatte zwar etwas von einem Geheimnis gesprochen, das seine silberne Axt umgab, und dabei ein unlesbares Dokument erwähnt, ansonsten aber ergaben seine Aussagen keinen Sinn.

Frambon würde sterben. Isabella sah es ihm an. Es war nur eine Frage der Zeit.

Das Gewitter war wie ein Spiegelbild ihrer Seele. Immer wieder rissen Blitze die Umgebung aus der Düsternis der Nacht, so wie der Hass plötzlich wieder in ihr hoch loderte.

Gerade als sie sich von dem Fenster abwenden wollen, zuckte sie leicht zusammen. Etwas hatte sich verändert. Ein Gesicht zeigte sich auf der Scheibe!

Kalt lief es Isabella über den Rücken. Es war ein Abbild ihres toten Geliebten, Giorgio Amato. Ihre Hände begannen wie Espenlaub zu zittern. Verlor sie nun endgültig den Verstand? Ein Blitz zuckte über den Wolkenhimmel, so grell, dass sie die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, war Giorgios Gesicht verschwunden.

Die Zähne der Agentin mahlten aufeinander. Mit Tränen in den Augen presste sie ihre Finger gegen die Scheibe. Die dünne Rosenhecke im Pfarrgarten bewegte sich hektisch im Wind hin und her.

Plötzlich entdeckte sie etwas, das sie zuvor nicht gesehen hatte. Nicht nur die Blitze allein waren es, die die Finsternis erhellten. Zwei kleine Lichtpunkte bewegten sich auf die Kirche zu.

Ein Scheinwerferpaar! Durch den dichten Regen und den Dunst, der neben den alten Mauern in die Höhe gestiegen war, war von dem Wagen nichts zu erkennen. Nur das Abblendlicht eben.

Isabella trat einen Schritt zurück und griff nun doch nach der Glock. Sie gab ihr ein sicheres Gefühl. Dabei wusste sie noch nicht einmal, ob der Wagen wirklich die Kirche und damit auch das Pfarrhaus als Ziel hatte.

Die Scheinwerfer näherten sich. Gleichzeitig verstärkten sich der Sturm und der Regenguss noch einmal. Der fremde Wagen stoppte nicht weit von der Kirche entfernt. Bis zum Pfarrhaus waren es vielleicht noch hundertfünfzig Meter.

Endlich konnte Isabella etwas von den Insassen erkennen, wenn auch nur schemenhaft. Im Wageninneren brannte Licht. Zwei menschliche Silhouetten bewegten sich hin und her. Waren es Frauen? Die Agentin glaubte, lange schwarze Haare erkannt zu haben.

Trotz dieser Entdeckung löste sich ihre innere Anspannung nicht. Wie angewurzelt blieb sie vor dem Fenster stehen und hielt die Glock

An dem Fahrzeug tat sich etwas. Wieder kamen die Insassen in Bewegung. Da öffnete sich die Beifahrertür!

Ein weiteres Mal erhellte ein Blitz die Finsternis. Er riss auch die junge Frau aus dem Schutz der Dunkelheit, die als einzige den Wagen verlassen hatte. Lange schwarze Haare flossen bis zu den Schultern herab. Im Moment jedoch klebten sie auf der Kopfhaut. Innerhalb weniger Sekunden wurde sie von dem Regen völlig durchnässt.

Ihr Ziel war klar – das Pfarrhaus. Mit schnellen Schritten lief sie über den gepflasterten Weg auf die Tür zu, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden war.

Für einige Sekunden geschah nichts. Dann schlug die Türglocke an. Das schrille Geräusch ging Isabella durch Mark und Bein. Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung und ging vor.

Auch in ihrer Nähe hörte sie dumpfe Schritte. Als sie die Küche verließ und in den Flur trat, erkannte sie Christian, der mittlerweile das Arbeitszimmer verlassen hatte. Etwas irritiert blickte er die Agentin an und rückte dabei seine dünne Brille zurecht.

In diesem Moment klingelte es erneut. Während Isabella wieder zusammenzuckte, blieb Christian äußerlich ruhig. »Hast du eine Ahnung, wer das sein kann?«

Isabella erklärte es ihm.

»Hast du deshalb deine Waffe dabei?«, fragte er.

»Sicher ist sicher.«

Christian ging zur Garderobe neben der Tür und nahm seine schwarze Jacke an sich. »Und was hast du jetzt vor?«, fragte er. »Ihr deine Pistole ins Gesicht halten?«

»Nein«, erwiderte sie mit harter Stimme. »Ich gehe zur Tür am anderen Ende des Flurs – und halte ihr von dort meine Pistole ins Gesicht. Dann sieht sie mich dabei wenigstens nicht.«

Christian hob die Schultern. »Wie du meinst«, murmelte er und schüttelte den Kopf.

Mit schnellen Schritten bewegte sich Isabella auf die Tür zu, die sich nur wenige Meter hinter dem Arbeitszimmer befand und Frambons private Räumlichkeiten vom Rest des Pfarrhauses trennte.

Ihr Partner hatte das Licht im Flur angeschaltet und so gedimmt, dass es nicht bis zu Isabellas Position reichte. So konnte sie in Ruhe durch die Tür treten und sie halb offen stehen lassen, ohne von der Frau gesehen zu werden. Ihre Waffe hielt sie dabei mit beiden Händen fest.

Gerade als es ein drittes Mal klingelte, zog Christian die Tür auf. Der Agent der Weißen Macht trat dabei einen Schritt zur Seite, sodass Isabella freie Sicht auf die Fremde hatte.

Vom Küchenfenster aus hatte sie sie als junge Frau eingeschätzt, jetzt allerdings erkannte sie, dass es sich bei ihr um ein Mädchen handelte. Vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Ihr Gesicht war rund und ebenmäßig. Besonders auffällig war jedoch der stechende Blick ihrer Augen. Die Kleidung, die aus einer hellblauen Bluse und Jeans bestand, klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper.

»Kann ich Ihnen helfen, Mademoiselle?«, fragte Christian in akzentfreiem Französisch.

Das Mädchen fuhr sich scheinbar nervös durch ihre nassen Haare. »Entschuldigen Sie die Störung, aber meine Mutter und ich haben Probleme mit unserem Wagen. Ich glaube, wir schaffen es nicht mehr bis Gravelines. Vielleicht könnten Sie uns einen Abschleppdienst bestellen. Ach – und wie unhöflich: Mein Name ist Nadine Suchet. Aber nennen Sie mich ruhig Nadine.«

Christian nickte ihr zu. »Gut, aber kommen Sie doch erst mal herein. Sie holen sich sonst noch den Tod.«

Das Mädchen lächelte und trat an ihm vorbei ins Haus. »Danke«, hauchte es ihm zu.

Der Agent ließ die Tür wieder ins Schloss fallen. Inzwischen war Nadine einige Schritte vorgegangen und ließ ihren Blick über das Innere des Pfarrhauses schweifen.

Als sie für einen Moment in Richtung der halb offenen Tür am Ende des Flurs starrte, bildete sich eine Gänsehaut auf Isabellas Armen. Das Mädchen gab mit keiner Geste zu verstehen, dass es die Agentin gesehen hatte, und doch hatte sie das Gefühl gehabt, von Nadine Suchets Blick regelrecht fixiert worden zu sein.

»Soll ich dir eine Decke bringen?«, riss Christian sie wieder aus ihren Gedanken.

Das Mädchen nickte. »Das wäre nett.«

»Gut.«

Der Pfarrer trat an der Dunkelhaarigen vorbei und ging zurück ins Arbeitszimmer. Für einige Sekunden blieb das Mädchen allein im Flur zurück. Erst als es einen Schritt zur Seite trat, konnte Isabella wieder seine Gesichtszüge erkennen.

Nadine Suchet lächelte!

***

Automatisch richtete Isabella ihre Waffe auf das Mädchen. Dieses Lächeln ist nicht normal, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie wagte nicht, auch abzudrücken. Was, wenn diese Nadine einfach nur lächelte, weil sie froh war, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr half?

Die Agentin schüttelte dem Kopf. Sie hatte das Gefühl, langsam verrückt zu werden. Beinahe hätte sie ein Mädchen erschossen, weil es gelächelt hatte.

Christian kehrte zurück und überreichte Nadine eine Decke, die sie dankend entgegennahm und sofort über ihre Schultern warf. Daneben hielt er noch sein Handy und ein Telefonbuch in der Hand.

»Ich suche dir einen Abschleppdienst heraus«, erklärte er und lächelte dem Mädchen sanft zu. »Kann ich dir so lange etwas zu trinken anbieten – einen Tee vielleicht?«

Nadine Suchet fuhr sich erneut durch ihre nassen Haare. »Ach, nein danke. Es geht schon so. Wohnen Sie eigentlich allein hier, Pater?«

Christian blickte vom Telefonbuch auf. »Wieso fragst du?«

»Nur so«, erwiderte das Mädchen lächelnd. »Ich fände es, ehrlich gesagt, ziemlich unheimlich, hier die Nächte zu verbringen. Bei so alten Gemäuern bekomme ich immer eine Gänsehaut.«

Der Agent hob die Schultern. »Als Kind ging mir das auch so. Aber heute weiß ich, dass es keinen Grund gibt, sich zu fürchten. Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, ich wohne hier allein.«

Isabella verzog die Lippen. Christian hatte der Fremden ins Gesicht gelogen. Ahnte er etwa, dass mit dem Mädchen doch etwas nicht stimmte?

»Kommst du aus der Gegend?«, fragte er, während er in dem dicken Buch blätterte.

»Nein, aus Boulogne-sur-Mer. Aber meine Mutter hat früher hier in Gravelines gewohnt.«

Der Agent blickte kurz auf, lächelte ihr zu und blätterte weiter in seinem Buch. Christian war ein guter Schauspieler, aber Isabella konnte ihm trotzdem ansehen, dass er sich ertappt fühlte.

»So, ich habe einen Abschleppdienst gefunden«, erklärte Christian und tippte eine Nummer in sein Handy. »Pierre Emmanuel Autoservice. Er hat sogar eine Werkstadt hier in Gravelines.«

Nadine grinste und streckte die Hand aus. »Super, darf ich?«

»Wenn du möchtest«, erwiderte der Pfarrer überrascht und gab dem Mädchen das Handy.

Nadine lächelte weiterhin. Ein ungutes Gefühl stieg in Isabella auf. Etwas sagte ihr, dass dieses Lächeln mehr bedeutete als lediglich die Freude darüber, dass ihr Christian so geholfen hatte.

Auch ihr französischer Partner merkte, dass etwas nicht stimmte. Allerdings war er ebenso wie Isabella nicht in der Lage, etwas zu unternehmen.

Als das Mädchen das Handy an ihr Ohr drückte, öffnete es langsam den Mund. Ein heller, unmenschlicher Ton drang hervor. Was folgte, war für Isabella nur schwer zu fassen. Das Mädchen begann zu singen!

Christian war wie erstarrt, und auch die Agentin war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Dieser seltsame, laute und dabei glockenhelle Gesang drang förmlich in ihre Glieder ein. Sie hatte den Eindruck, als würden ihre Arme von tonnenschweren Gewichten nach unten gezogen werden.

»Nein!«, presste sie hervor, als ihr klar wurde, dass sie ihre Ahnung nicht getrogen hatte.

Ihre Feinde hatten sie erreicht, und sie hatten sie auch noch ins Haus gelassen. Diese Nadine war alles, nur kein Mensch.

Und sie verwandelte sich! Achtlos ließ das Mädchen das Handy fallen und breitete seine Arme aus. Mit gespenstischer Lautlosigkeit sprossen kleine Federn aus der Haut hervor. Mit dem Oberkörper geschah dasselbe. Dichtes Gefieder wölbte sich unter der Kleidung hervor, die irgendwann einfach abfiel.

Nackt stand die junge Frau vor Christian. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, seine Gesichtszüge starr, als wären sie versteinert. Auch Isabella war kaum in der Lage, sich zu bewegen. Der Zauber des hellen Gesangs griff nach ihr. Doch sie war nicht bereit, so einfach aufzugeben.

Stöhnend hob sie ihren Waffenarm an, schob ihn Zentimeter für Zentimeter in die Höhe. Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Sie spürte bereits, wie ihre Knie angesichts der Anstrengungen nachgaben. Doch sie gab nicht auf.

Schließlich wies die Mündung der Glock direkt auf die Kreatur, in die sich das Mädchen verwandelt hatte. Ein dämonisches Wesen, das auf den ersten Blick an einen übergroßen Adler erinnerte. Die Arme hatten sich in gewaltige Schwingen verwandelt, die Beine in Klauen, deren spitze Nägel sich in den Fußboden gruben. Nur Nadines Kopf und ihre Haare waren gleich geblieben. So wirkte das Mädchen wie ein bizarres Geschöpf, das einem kranken, dämonischen Geist entsprungen war.

Trotz der Enge des Flurs schlug das Wesen mit seinen Flügeln. Wie von Geisterhand gelenkt schwebte es in die Höhe. Blitzschnell schossen die Vogelkrallen vor und bohrten sich in die Decke. Das Maul des Monstrums war weit aufgerissen. Zwei Reihen spitzer, messerscharfer Zähne blitzten hinter den Lippen auf.

Dennoch sang der Dämon weiter. Isabella konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Sie wusste nur eines – sie musste weg, und das so schnell wie möglich!

Verzweifelt versuchte sie noch einmal, den Abzug der Glock herunterzudrücken. Erneut gelang es ihr nicht. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Finger begannen zu zittern, bis die Waffe aus ihrem Griff glitt und zu Boden fiel. Sie fühlte sich so schwach und hilflos, wie schon einmal, als sie vor Giorgios totem Körper in die Knie gegangen war.

Noch hatte das Wesen sie nicht entdeckt. Zumindest beachtete es sie nicht. Trotz des Gesangs musste es das polternde Geräusch, das beim Aufschlagen der Glock entstanden war, gehört haben.

Mit größter Kraftanstrengung gelang es Isabella, einen Schritt zurückzuweichen. Die Tür, die bisher an ihrer Schulter gelehnt hatte, glitt dadurch in ihre Richtung. Plötzlich fand sie sich in tiefer Dunkelheit wieder.

Die Tür schlug nicht zu, blieb jedoch nur noch einen Spaltbreit offen. Der helle Gesang des Vogelwesens war noch immer zu hören, nur viel leiser als zuvor. Isabella spürte, wie allmählich das Gefühl in ihre Glieder zurückkehrte.

Stöhnend presste sie beide Hände gegen ihr Gesicht. Sie fühlte sich so gedemütigt. Wochenlang hatte sie darauf gewartet, dass es zu einer Konfrontation zwischen ihr und den Kreaturen der Finsternis kam. Und jetzt versagte sie. Dass es sich bei dem Vogelwesen um einen Dämon dieser Art handelte, stand für sie außer Frage.

Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie dachte daran, dass es noch jemanden gab, der sich in dem alten Pfarrhaus aufhielt: George Frambon! Sie hatte die Aufgabe erhalten, ihn zu beschützen. Wenn schon Christian nicht mehr zu retten war, wollte sie wenigstens ihren Auftrag erfüllen. Frambon und sie mussten so schnell wie möglich das Haus verlassen. Wenn sie es schaffte, den Mann bis zu ihrem Wagen zu bringen und loszufahren, war schon einmal viel gewonnen.

Sehr langsam drehte sich die Agentin um. Die Tür zu Frambons Schlafzimmer lag am Ende des Gangs. Schwacher Lichtschein sickerte durch sie hindurch.

Vorsichtig schritt sie auf die Tür zu. Noch immer spürte sie, wie der leiser werdende Gesang nach ihrem freien Willen griff. Nicht mehr so stark wie zuvor, aber die fremde Macht war weiterhin vorhanden.

Schließlich erreichte Isabella die Tür und legte eine Hand auf den Knauf. Sie atmete schwer, als sie ihn herumdrehte. Etwas knackte, dann glitt die Tür auf.

Sofort sah die Agentin, was geschehen war: George Frambon war wach. Und nicht nur das – er stand vor dem Bett und hielt die silberne Axt mit beiden Händen fest umschlossen!

***

Isabella musste schlucken. Mit diesem Anblick hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Etwas lief ihr eiskalt den Rücken herunter.

George Frambon hatte sich radikal verändert. Hatte er in den letzten Tagen noch alt, gebrechlich und dem Tod nahe gewirkt, starrte er sie nun mit einem Blick an, in dem die Kraft eines jungen, zu allem entschlossenen Mannes schimmerte. Statt seines Schlafanzugs trug er sein altes, schwarzes Pfarrergewand.

Erst auf den zweiten Blick sah Isabella, dass seine Hände stark zitterten. Diese Aktion musste ihm unglaublich viel Kraft kosten. Es glich schon einem Wunder, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen hielt.

»Sie sind gekommen«, presste er mit bebender Stimme hervor. »Die Dämonen sind wieder da. Ich kann sie spüren.«

Isabella nickte ihm zu. »Wir müssen gehen, Pater.«

Frambon schüttelte den Kopf. »Nein. Wir müssen uns dem Bösen stellen. Wenn wir vor ihm davonlaufen, wird es uns immer wieder einholen. Ich bin niemals in meinem Leben vor etwas davongelaufen. Weder als Werwölfe über den Ort hergefallen sind, noch als die Kreaturen der Finsternis bei mir eingedrungen sind, um die Axt zu stehlen. Ich weiß nicht, was genau es mit ihr auf sich hat. Ich habe sie damals in der Kirche gefunden, ebenso wie ein Dokument, das ich niemals entziffern konnte. Aber in ihr stecken Kräfte, die weit über die einer normalen Axt hinausgehen. Und genau dieser Kräfte wollen sich die Kreaturen der Finsternis bemächtigen. Aber das werde ich nicht zulassen.«