John Sinclair 2046 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2046 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Wissen ist Macht!
Du weißt, dass es so ist, denn du bist was Besonderes!
Wie alle Menschen besitzt du etwas, dessen sich die meisten nicht bewusst sind. Und noch weniger sind in der Lage, diese Gabe zu nutzen. Du bist anders! Du kannst die Kräfte, die dir geschenkt wurden, kanalisieren, sie willentlich steuern. Trotzdem gebrauchst du nur einen Bruchteil deines Potenzials, das dir mit in die Wiege gelegt wurde.
Als Psychonautin ist es deine Pflicht, das zu ändern ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Nocturnas Nachtgespenster

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Néstor Taylor/Bassols

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-5334-1

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Nocturnas Nachtgespenster

von Ian Rolf Hill

Wissen ist Macht!

Du weißt, dass es so ist, denn du bist etwas Besonderes!

Wie alle Menschen besitzt du etwas, dessen sich die meisten nicht bewusst sind. Und noch weniger sind in der Lage, diese Gabe zu nutzen. Du bist anders! Du kannst die Kräfte, die dir geschenkt wurden, kanalisieren, sie willentlich steuern. Trotzdem gebrauchst du nur einen Bruchteil deines Potenzials, das dir mit in die Wiege gelegt wurde.

Als Psychonautin ist es deine Pflicht, das zu ändern.

Das dritte Auge befähigt dich dazu, das Wissen der Welt zu speichern und nutzbar zu machen, um den Menschen Frieden zu bringen.

Ich werde dir dabei helfen.

Ich erwarte dich, Penelope, zum Äquinoktium im Lichthof des MfK in Berlin.

Deine ergebene Dienerin, Nocturna

»Das kannst du unmöglich ernst nehmen.«

Dagmar Hansen saß gemeinsam mit ihrem Partner Harry Stahl am Frühstückstisch und zog verwundert die Augenbrauen hoch. Bevor sie sich zu einer Antwort hinreißen ließ, trank sie einen Schluck Milchkaffee.

»Muss ich das nicht sogar?«

Beinahe wütend schüttelte Harry den Kopf. Mit ruckartigen Bewegungen butterte er die Brötchenhälfte. »Da hat sich jemand einen dummen Scherz erlaubt. Bestenfalls, wohlgemerkt. Im Schlimmsten Fall ist es nämlich genau das: eine Falle.«

Dagmar ergriff mit spitzen Fingern ihr zur Hälfte verzehrtes Croissant, das sie sich im Ofen aufgebacken hatte und jetzt mit Erdbeermarmelade bestrich. Sie wirkte nachdenklich, und ihre glatte Stirn legte sich dabei in Falten. Sie horchte während der banalen Tätigkeit in sich hinein, achtete darauf, ob sie den vertrauten Druck des dritten Auges spürte, doch da war nichts.

»Wenn dem so wäre, müsste ich das nicht wissen?« Ihre Mundwinkel kräuselten sich zu einem leichten Lächeln.

Fassungslos ließ Harry das Messer sinken. »Machst du dich über mich lustig?«

Dagmar schüttelte den Kopf und legte ihrem Lebensgefährten die Hand auf den Arm. »Nein, Harry, verzeih. So war das nicht gemeint. Aber sieh mal, diese Einladung ist an mich adressiert. Nur hat diese Nocturna mich nicht mit meinem richtigen Namen angesprochen, sondern mit Penelope. Du weißt, wer das war.«

Natürlich wusste er das. Schließlich war er selbst damals in die Hände der Dämonen-Zwillinge geraten, als diese zurückgekehrt waren, um ihre Mutter zu töten, die niemand anderes als Dagmar Hansen gewesen war. Allerdings nicht in ihrer jetzigen Inkarnation, denn Dagmar lebte bereits ihr zweites Leben. Ihr erstes fand vor mehreren tausend Jahren in Griechenland statt, wo sie als eine Frau namens Penelope existiert hatte. Die hatte sich ausgerechnet mit dem gehörnten Gott Pan eingelassen, auf den nicht grundlos das Wort Panik zurückgeführt wurde. Darüber hinaus diente er als Vorlage für die Darstellung des Teufels in der christlichen Mythologie. Und mit ihm hatte Penelope zwei Kinder gezeugt. Zwillinge, die sich in der Jetztzeit an der Reinkarnation ihrer Mutter hatten rächen wollen.1)

Fakt war, dass kaum jemand davon wusste, dass Dagmar Hansen die Wiedergeburt Penelopes war, die von ihren Kindern einst verbrannt wurde, weil diese sich von ihr abgelehnt und verstoßen fühlten. Weder ihre Kollegen, Freunde und Bekannte, noch ihre Vorgesetzten beim BKA. Selbst Becker nicht, ihr direkter Chef. Die einzige Ausnahme lebte in London und trug den Namen John Sinclair. Mit dem Geisterjäger verband die beiden Sonderermittler eine langjährige Freundschaft.

»Eben«, platzte Harry auch sogleich hervor. »Die Frage ist nur, wer weiß noch davon, dass du schon einmal gelebt hast? Abgesehen von John natürlich. Da fällt mir auf Anhieb nur Pan ein. Vielleicht dient ihm diese … diese Nocturna oder ist ihm zumindest hörig.«

»Meinst du wirklich?«

»Sonst hätte ich es nicht gesagt.«

»Aber sie will der Menschheit Frieden bringen«, murmelte Dagmar versonnen und biss endlich in ihr Croissant.

Harry richtete sich auf und wackelte mit dem Kopf. »Sag mal, spreche ich hier mit der Wand? Ich brauch dir wohl nicht zu sagen, was Menschen und Dämonen so alles versprechen, um ihre Ziele durchzusetzen. Die einen sind in der Politik, die anderen leben in der Hölle.«

»Wer jetzt wo?«, fragte Dagmar spitzbübisch, und Harry seufzte frustriert.

»Dir ist einfach nicht zu helfen.«

»Soll ich die Einladung etwa ignorieren? Sie wegwerfen und vergessen?«

»Das wäre zumindest ein Anfang.«

»Nehmen wir mal an, du hast recht mit dem, was du sagst. Du hast gesagt, im besten Falle wäre es ein dummer Scherz.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nun, dann wird auch nicht viel passieren. Wenn aber dein schlimmster Fall eintritt und unsere dämonischen Freunde dahinterstecken, dann werden sie Vorkehrungen getroffen haben und sich auf andere Weise an mich heranmachen. Ich betrachte diese Einladung als Warnung und zugleich als Gelegenheit, das Heft des Handelns selbst in die, äh, Hand zu nehmen.«

Harry betrachtete nachdenklich das halbe Brötchen, das er immer noch nicht angerührt hatte. »Deine Argumentation hat was für sich. Aber ich möchte nicht, dass du alleine fährst.«

Dagmar grinste. »Wer sagt, dass ich das vorhatte?«

Er hob den Blick und erwiderte ihr Lächeln. »Ich nehme an, du hast die kryptische Orts- und Zeitangabe bereits entschlüsselt? Spontan fällt mir zumindest nicht ein, welcher Lichthof gemeint sein könnte.«

Dagmar nickte und machte es spannend. Zunächst verschlang sie den letzten Bissen des Croissants, den sie mit einem Schluck Kaffee herunterspülte. »Oh ja, dazu reichte das Internet locker aus. Das hätte ein Kind im Halbschlaf herausbekommen. Das MfK ist das Museum für Kommunikation in Berlin, das in einem beeindruckenden historischen Gebäude untergebracht ist und einen nicht minder beeindruckenden Lichthof hat.«

»Und das Äquinoktium? Bezeichnet das nicht die Tag-Nacht-Gleiche?«

»Ganz recht. In diesem speziellen Fall gehe ich stark davon aus, dass das Sekundär- oder Herbst-Äquinoktium gemeint ist. Immerhin ist das Frühlings-Äquinoktium dieses Jahr schon vorbei. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Ekliptik der Sonne den Himmelsäquator übertritt. Der Schnittpunkt wird in der Astronomie Waagepunkt genannt.«

»Wahnsinnig interessant. Aber wann genau ist das?«

»Dieses Jahr am zweiundzwanzigsten September um zweiundzwanzig Uhr zwei.«

Harry runzelte die Stirn, als Dagmar den Zeitpunkt so genau definierte.

»Also kommenden Freitag«, stellte er fest.

»In der darauffolgenden Woche startet in dem Museum eine Sonderausstellung mit dem bedeutsamen Titel Die Nacht. Alles außer Schlaf.

»Schlafen wollen wir auch nicht und unsere Gegner erst recht nicht. Da wir beide nicht an Zufälle glauben, gehe ich davon aus, dass unsere nächtliche Nocturna irgendwie damit zu tun hat.«

»Wäre möglich. Um das herauszufinden und uns entsprechend vorzubereiten haben wir ja noch etwas Zeit.«

»Aber ausgerechnet Berlin«, murmelte Harry, der mit der Hauptstadt ein paar unschöne Erinnerungen verband. Unter anderem eine Vampirplage, die jedoch schon geraume Zeit zurücklag. Damals hatten sie sich noch nicht gekannt.

»So schlimm wird es schon nicht werden«, beruhigte Dagmar ihn – und irrte sich fatal.

***

Und jetzt stand sie vor dem imposanten Gebäudekomplex, in dem das Museum für Kommunikation untergebracht war, und blickte an der wunderschön illuminierten Fassade empor. Dabei ging ihr automatisch durch den Kopf, was sie über das Museum herausgefunden hatte.

Als erstes Postmuseum der Welt im Auftrag des Generalpostmeisters Heinrich von Stephan im Jahr 1898 eröffnet, erhielt es vom Kaiser das Prädikat »Gut! Reiner und einfach würdiger Styl.«

Nun, mit Lob und Begeisterung gehen meine Landsleute ja schon seit jeher sparsam und zurückhaltend um, dachte Dagmar schmunzelnd und schritt auf die mittlere der drei Doppelflügeltüren zu, hinter deren kunstvoll verzierten Oberlichtern ein warmes, gelbes Licht erstrahlte.

Dagmar überprüfte unbewusst den Sitz der Beretta im Gürtelhalfter. Aufgrund der Tatsache, dass es um den Themenkomplex der Psychonauten ging, hatte sie sich, wie ihr Partner Harry, für die Pistole mit den Silberkugeln entschieden.

Der ehemalige Kommissar wartete auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem Hotel-Café nebst Bar, nahe der bulgarischen Botschaft. Gewohnheitsmäßig sah sich Dagmar um, konnte die vertraute Gestalt ihres Lebensgefährten aber nicht entdecken. Vermutlich saß er bereits im Inneren des Lokals.

Unablässig rauschte der Verkehr die Leipziger Straße und die Mauerstraße entlang. Ihr Gehirn blendete das Brummen der Motoren, das Wummern lauter Bässe aus den aufgepimpten Soundmaschinen jugendlicher Fahrer, das Quietschen von Bremsen und das vereinzelte, ferne Hupen komplett aus. Nichts weiter als der stete Fluss motorisierten Blutes, durch die Gefäße jener Stadt, die das Herz der Bundesrepublik bildete.

Dagmar warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die genau zweiundzwanzig Uhr anzeigte. Noch zwei Minuten bis zur verabredeten Zeit, dem sogenannten Herbstäquinoktium. Dabei war die Sonne längst untergegangen und hatte einer milden Spätsommernacht Platz gemacht. Über das dunkelblaue Himmelszelt, das von den Lichtern der nimmermüden Millionenstadt beleuchtet wurde, zogen dichte Wolken. Durch einzelne Lücken lugte die helle Mondsichel.

Mehr eine Nacht für Spaziergänge, gutes Essen, Rotwein und Romantik, doch gewiss nicht für ein obskures Treffen mit einer gesichts- und identitätslosen Gestalt namens Nocturna.

Über die hatten sie leider überhaupt nichts herausfinden können.

Im Internet fanden sich lediglich die Übersetzung aus dem Spanischen oder irgendwelche Verweise auf Filme, Animeserien und dergleichen, in denen Figuren dieses Namens auftraten. Keine davon schien aber aufgrund ihrer Rezeption für die Einladung infrage zu kommen. In keiner der Medien hatte Dagmar einen Hinweis auf die Psychonauten gefunden, ebenso wenig wie auf die griechische Mythologie, der der Hirtengott Pan entstammte. Dass die Psychonauten eng mit dieser verknüpft waren, wusste sie nicht zuletzt von John Sinclair.

Der Geisterjäger war bei seinem ersten Aufeinandertreffen mit einer Gruppe von Psychonauten, die sich auch die Loge der Mystiker nannte, einem leibhaftigen Pegasus begegnet.

Auch die ägyptische Mythologie spielte eine erhebliche Rolle.

Dagmars Blick streifte ein neben den Eingangstüren herunterhängendes Banner, auf dem für die Ausstellung geworben wurde. Nocturna bedeutete die Nächtliche, aber auch in den verschiedenen Mythologien hatte sie keine Gestalt dieses Namens finden können.

Dagmar spürte ein Kratzen in der Kehle und einen dumpfen Druck im Magen. Gerne hätte sie einen Schluck Wasser getrunken, doch eine Flasche trug sie nicht bei sich. Sie konnte nur hoffen, dass das Treffen mit Nocturna harmlos verlief und diese an das leibliche Wohl ihres Gastes gedacht hatte.

Die letzten beiden Minuten waren verstrichen, und Dagmar schickte sich an, das Museum zu betreten, als wie aus dem Boden gewachsen zwei Gestalten vor ihr auftauchten. Das war so schnell und lautlos geschehen, dass Dagmar ein leiser Schrei entfuhr. Ihr Herz begann zu klopfen, und ihr wurde warm, als der Adrenalinpegel anstieg.

Die beiden hochgewachsenen Männer hätten Zwillinge sein können. Die gleichen ausdruckslosen, kantigen Gesichter, die gleiche ovale Schädelform. Kein einziges Haar wuchs auf den glatten wie poliert wirkenden Häuptern. Auch ihre Kleidung war komplett schwarz, sodass sie beinahe wie Schatten wirkten. Schwarze, glänzende Schuhe, ein schwarzer Anzug nebst Jackett und darunter ein dunkles Hemd, auf dem die schmale, ebenfalls schwarze Krawatte wie eine tote Schlange herabhing. Am befremdlichsten war jedoch, dass die zwei Typen trotz der Dunkelheit Sonnenbrillen trugen.

Men in Black, dachte Dagmar in einem Anflug von Humor, doch das Lächeln verkam zu einer Grimasse. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Kehle saß zu, sodass sie sich erst räuspern musste. In dieser winzigen Zeitspanne wichen die Kerle synchron zur Seite und machten mit den Armen eine einladende Geste in Richtung Eingangstür, die bereits offen stand. Durch sie waren die Männer vermutlich herausgekommen. Dagmar gefiel nur nicht, dass sie davon überhaupt nichts mitbekommen hatte.

Für einen kurzen Augenblick erwog sie, kehrtzumachen und zu Harry zu laufen, doch dann gab sie sich einen Ruck. Nein, sie konnte jetzt nicht einfach kneifen. Sie hatte sich die Suppe eingebrockt und musste sie nun auch auslöffeln. Himmel, sie war immerhin bewaffnet und kein heuriger Hase. Nicht zuletzt verfügte sie über das dritte Auge der Psychonauten, das ihr schon mehr als einmal aus brenzligen Situationen geholfen hatte.

Gemessenen Schrittes ging sie zwischen den beiden Typen hindurch, würdigte sie keines weiteren Blickes und betrat den Eingangsbereich des Museums. Ein hoher säulengetragener Saal empfing sie. Rechts befand sich ein offener Tresen mit einem Schild darüber, das dem Besucher verdeutlichte, wo die Kasse stand. Linkerhand sah Dagmar den obligatorischen Museums-Shop.

Geradeaus öffnete sich der beeindruckende Lichthof. Sie wusste durch die Recherche, dass der dreihundertachtzig Quadratmeter messende Saal des Museums für Privatveranstaltungen gemietet werden konnte. Möglich, dass genau dies geschehen war, und insgeheim war Dagmar froh, ihren Freund als Rückendeckung im Hintergrund zu wissen.

Im Gebäude selbst hielt sich offenbar keine Menschenseele auf, bis auf die Schwarzgekleideten hinter ihr, die ihr wie stumme Wächter vorkamen. Ansonsten sah sie weder Mitarbeiter noch Angehörige eines Sicherheitsdienstes. Sie war also allein mit ihren zwei unheimlichen Begleitern.

Hinter ihr wurde die Tür ins Schloss gezogen und verriegelt. Dagmar zuckte bei den Geräuschen unwillkürlich zusammen, denn sie hatten etwas Endgültiges, und schlagartig kehrte das drückende Gefühl in der Magengegend zurück. Sie erschrak ein weiteres Mal, als sich die Hände der Schwarzgekleideten schwer auf ihre Schultern legten. Sie hatte keine Schritte vernommen, obwohl ein geräuschloses Gehen auf dem Marmor unmöglich war. Zumindest wenn man Schuhe trug, was die Kerle definitiv taten.

Waren das überhaupt Menschen?

Aus den Augenwinkeln schielte sie ihre Bewacher an, die plötzlich dicht neben ihr standen. Ihre Gesichter wirkten glatt und irgendwie künstlich. Wie Masken …

Nicht eine Falte war in der Haut zu sehen, keine einzige Unreinheit. Nicht einmal ein kleines Muttermal oder ein Leberfleck.

Dagmar stemmte sich gegen die Griffe der beiden Männer. Sie wollte zurückweichen und spürte mit einem Mal den immensen Druck hinter ihrer Stirn, dort wo sich das dritte Auge, unsichtbar für ihre Mitmenschen verbarg und erst zum Vorschein kam, wenn seine Magie wirksam wurde.

Dagmar wusste, was der Druck zu bedeuten hatte. Es war eine Warnung. Die Furcht schoss wie eine Lohe in ihr hoch. Ihr Puls raste jetzt, und Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Trotzdem konnte sie der Kraft dieser Geschöpfe nicht Paroli bieten. Ja, in ihren Augen konnten das einfach keine Menschen sein. Es waren seelenlose Kreaturen, vielleicht sogar Zombies. Atmeten sie überhaupt?

Dagmar wollte sich darauf konzentrieren, doch ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Vor ihr öffnete sich der Lichthof des Museums, und ihr stockte der Atem.

Zu dritt traten sie zwischen den Säulen hindurch in einen runden Saal, der von einem sanften blauen Licht erhellt wurde. Dagmar hob den Kopf und blickte hinauf zur Decke, über die sich eine gewaltige Kuppel aus unzähligen Glasscheiben spannte. Durch sie leuchtete dieses psychedelische blaue Licht, das den gesamten Innenhof, der über drei Etagen reichte, erhellte.

Ansonsten war er leer!

Sie wusste, dass er nicht nur privat angemietet werden konnte, sondern auch für Festlichkeiten, Konzerte und Bankette Verwendung fand, doch sie sah nicht einmal Stühle oder ein Podest. Erstmals kam ihr zu Bewusstsein, dass sie möglicherweise nicht die Einzige war, die eine derartige Einladung erhalten hatte. Es gab schließlich noch weitere Psychonauten und bestimmt auch solche, die ebenfalls wiedergeboren worden waren. Bislang war sie jedoch die einzige Besucherin.

Von der mysteriösen Gastgeberin fehlte weiterhin jede Spur, aber Dagmar wusste, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Wozu sonst dieser Aufwand?

Dagmar sah zu Boden und betrachtete den großen weißen Kreis, der die Mitte des Lichthofs markierte, und bemerkte erst dann, dass der Druck der Hände auf ihren Schultern gewichen war. Auf der Stelle fuhr sie herum, wobei ihre Hand automatisch unter den Blazer glitt und sich auf den Griff der Beretta legte. Noch ehe sie die Waffe aus dem Holster ziehen konnte, erstarrte sie.

Ihre beiden stummen Wächter waren spurlos verschwunden.

Wie vom Erdboden verschluckt.

Dagmar schluckte trocken und überlegte, was sie tun sollte. Am besten Harry anrufen.

Zunächst aber zog sie die Beretta. Man konnte ja nie wissen. Doch bevor sie das Smartphone aus der Tasche des Blazers nesteln konnte, wurde sie von hinten angesprochen.

»Ich freue mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist, Penelope.«

***

Harry Stahl ärgerte sich maßlos.

Weniger über seine Partnerin Dagmar, auch nicht unbedingt über sich selbst, sondern mehr über die Umstände dieses Falls, der eigentlich noch gar keiner war.

Trotzdem kam Harry sich schon jetzt wie ferngesteuert vor. Wie gerne hätte er diesen kleinen Ausflug dazu genutzt, um mit Dagmar an der Spree spazieren zu gehen und die Zweisamkeit zu genießen, fernab des aufreibenden Jobs und Feinden aus anderen Welten und Dimensionen. Freie Wochenenden waren ohnehin schon rar gesät, da erging es ihnen wie ihrem Kollegen John Sinclair im fernen London. Es hatte Harry schon die gesamte Woche über in den Fingern gejuckt, seinen englischen Freund anzurufen und ihn zumindest über die Einladung in Kenntnis zu setzten.

Dass er es dann doch nicht getan hatte, lag daran, dass er einfach nicht die Pferde scheu machen wollte. Der Geisterjäger wäre wohl kaum auf Verdacht nach Deutschland gejettet. Und so lange nicht feststand, ob es sich nicht doch um einen Scherz handelte, lag es Harry fern, sich zu blamieren.

Jetzt saß er in einem gemütlich und zugleich modern eingerichteten Café, dicht an der verglasten Wand, und beobachtete seine Partnerin, wie sie ungeduldig vor dem Museumseingang auf und ab ging. Vor ihm auf dem kleinen Tisch stand eine Tasse mit Cappuccino.