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Fünf gruselige Folgen der Kultserie zum Sparpreis in einem Band
Mit über 300 Millionen verkauften Romanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen verkauften Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horror-Serie der Welt.
Begleite John Sinclair auf seinen gruseligen Abenteuern aus den Jahren 1973 - 1978, die in der Reihe Gespenster-Krimi erschienen sind und erlebe mit, wie die Serie Kultstatus erreichte.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 6 - 10 der John Sinclair Gespensterkrimis:
6 Friedhof der Vampire
7 Die Töchter der Hölle
8 Das Rätsel der gläsernen Särge
9 Dämonos
10 Die Bräute des Vampirs
Tausende Fans können nicht irren - über 320 Seiten Horrorspaß garantiert!
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 648
Veröffentlichungsjahr: 2018
Jason Dark
John Sinclair Gespensterkrimi Collection 2 - Horror-Serie
Cover
Über die Serie
Über den Autor
Impressum
Friedhof der Vampire
Vorschau
John Sinclair ist der Serien-Klassiker von Jason Dark. Mit über 300 Millionen verkauften Heftromanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horrorserie der Welt. Für alle Gruselfans und Freunde atemloser Spannung.
Tauche ein in die fremde, abenteuerliche Welt von John Sinclair und begleite den Oberinspektor des Scotland Yard im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit.
Jason Dark wurde unter seinem bürgerlichen Namen Helmut Rellergerd am 25. Januar 1945 in Dahle im Sauerland geboren. Seinen ersten Roman schrieb er 1966, einen Cliff-Corner-Krimi für den Bastei Verlag. Sieben Jahre später trat er als Redakteur in die Romanredaktion des Bastei Verlages ein und schrieb verschiedene Krimiserien, darunter JERRY COTTON, KOMMISSAR X oder JOHN CAMERON.
Friedhof der Vampire
Geisterjäger John Sinclair ist nach Bradbury gekommen, wo er im nahe gelegenen Sumpf ein altes, mysteriöses Gasthaus untersuchen will. Als der Konstabler von Bradbury dies hört, warnt er den Scotland-Yard-Inspektor: »Sir, dort hausen Gespenster, Dämonen, Vampire. Niemand von uns traut sich nur in die Nähe des Gasthauses. Es ist viel zu gefährlich. Nachts kommen die Kreaturen aus ihren Särgen und schweben über dem Sumpf. Sie glauben mir nicht, wie?«
John zuckt nur mit den Schultern. »Die Menschen erzählen viel. Aber Sie haben meine Neugier geweckt, Konstabler. Ich werde mir dieses verlassene Gasthaus mal ansehen.«
»Um Himmels willen, Sir. Sie laufen in den Tod!«
Mit einer entschlossenen Bewegung schob John Sinclair den dunkelroten Vorhang zur Seite.
»Kommen Sie ruhig näher, junger Mann«, sagte eine kichernde Stimme.
Der Raum, den John Sinclair betrat, wurde durch rote Glühbirnen nur schwach erhellt. Das Zimmer hatte keine Fenster, und es roch muffig.
Die Alte mit der kichernden Stimme hockte hinter einem Tisch. Vor sich hatte sie eine Glaskugel stehen, die sie mit ihren gichtgekrümmten Fingern umklammert hielt. Langsam trat John Sinclair näher.
Die Alte murmelte Beschwörungsformeln. Ihre strichdünnen Lippen bewegten sich kaum, während sie die Kugel anstarrte, die plötzlich zu leuchten anfing.
»Ich sehe«, flüsterte die Alte, »einen Mann. Er liegt in einem Sarg. Ja, ich kann es ganz deutlich erkennen. Da, schauen Sie selbst in die Kugel, junger Mann.«
John Sinclair beugte sich über die magische Kugel.
Was er sah, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Die Alte hatte recht. In den unergründlichen Tiefen der Kugel war ein Sarg zu erkennen. Ein Mann lag darin.
Dieser Mann war er selbst!
Plötzlich war das Bild verschwunden.
John Sinclair spürte, dass er schweißnass war. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn. Er hob den Kopf und sah der Alten in die Augen.
»Manchmal ist es nicht gut, wenn man die Zukunft kennt«, sagte die Wahrsagerin leise. »Aber die Menschen, die zu mir kommen, wollen einen Blick in die Zukunft werfen. Und deshalb darf sich niemand hinterher beschweren.«
»Das hatte ich auch nicht vor«, erwiderte John. »Ich bin sogar froh, dass ich gesehen habe, was mich erwartet. So kann ich mich besser darauf einstellen.«
»Seinem Schicksal kann keiner entgehen«, bemerkte die Alte düster.
John kniff die Augen zusammen und starrte die Wahrsagerin an.
»Woher haben Sie die Kunst, in die Zukunft zu sehen?«
Die Alte lächelte geheimnisvoll. »Dies zu verraten, das wäre mein Tod. Auch einem Inspektor von Scotland Yard kann ich es nicht sagen.«
»Das wissen Sie also auch schon.«
»Mir bleibt nichts verborgen.«
John beschloss, seinen Besuch hier abzubrechen.
»Was habe ich zu zahlen?«
»Nichts.«
»Warum nicht?«
»Ich will einem Todgeweihten nicht noch Geld abnehmen«, sagte die Alte mit dunkler Stimme. »Das, was Sie in der Kugel gesehen haben, wird in spätestens einem Jahr geschehen. Nutzen Sie diese Zeit. Machen Sie Urlaub, tun Sie etwas, was Ihnen Spaß macht, denn bald wird Sie der Tod holen.«
»Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden«, erwiderte John leichthin.
Er nickte der Alten zu und verließ das kleine Steinhaus.
Draußen empfing ihn das lärmende Treiben des Jahrmarktes. John schüttelte den Kopf. Es war schon eine Schnapsidee von ihm gewesen, so mir nichts, dir nichts die Wahrsagerin zu besuchen. Seit Tagen gab es in London nur einen Gesprächsstoff. Eben diese Alte. Da war es ganz natürlich, dass sich John Sinclair, der von Berufs wegen mit rätselhaften Kriminalfällen zu tun hatte, sich diese Frau einmal ansah.
Als John Sinclair seinen Bentley erreichte, hatte er die Sache schon wieder vergessen.
Jedoch sollte er schon bald sehr deutlich daran erinnert werden …
»Wann sind wir eigentlich in Bradbury?«, fragte Charles Mannering den Zugschaffner, der müde durch die fast leeren Wagen schlich.
Der Schaffner kramte umständlich eine Nickelbrille aus der Tasche, klemmte sie sich auf die Nase und suchte in dem Fahrplan herum.
»In genau sechzehn Minuten«, erwiderte er nach einer Weile.
»Danke sehr.«
Der Schaffner verzog sich.
Charles Mannering blickte aus dem Fenster. Wo er hinsah – nur öde, trostlose Sumpflandschaft. Jetzt, bei Beginn der Dämmerung, sah alles noch schlimmer aus. Die kahlen Äste der Krüppelbäume wirkten wie Totenfinger, die anklagend gegen den wolkenverhangenen Himmel wiesen.
Nebel kam auf. In Schwaden zog er über den Boden, machte den Sumpf noch unheimlicher.
Charles Mannering saß ganz allein in dem Wagen. Er hatte das Gefühl, als einziger Reisender in dem Bummelzug zu hocken, der noch von einer alten Dampflok ächzend durch die Landschaft gezogen wurde.
Mannering war Künstler. Er hatte sich der naiven Malerei verschrieben und malte hauptsächlich Landschaften. Er hatte schon auf mancher Ausstellung einen Preis erzielt und konnte von seinen Bildern einigermaßen leben.
Mannering trug einen Cordanzug und ein kariertes Hemd. Er hatte dunkelbraunes Haar.
Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit. Die ersten Häuser von Bradbury huschten an den Fenstern vorüber.
Dann hielt die altersschwache Lok schnaufend auf dem kleinen Bahnhof.
Der Maler holte seinen Koffer aus dem Gepäcknetz und stieg aus. Eine Minute später fuhr der Zug weiter.
Charles Mannering blieb auf dem menschenleeren Bahnsteig zurück. Langsam wandte der Maler den Kopf. Wo er hinsah, Nebel. Er hatte sich noch mehr verdichtet.
Charles Mannering fröstelte. Er nahm seinen Koffer und betrat das Bahnhofsgebäude.
Eine grüngestrichene Bank und ein Fahrkartenautomat waren alles, was der Maler entdeckte.
Vor dem Schalter hing das Schild »Geschlossen«.
Charles zuckte die Schultern und verließ auf der anderen Seite das Bahnhofsgebäude.
Bradbury war ein abgeschiedenes Dorf. Niedrige, windschiefe Häuser standen links und rechts neben der Hauptstraße. Aus einigen Fenstern fiel schwacher Lichtschein nach draußen.
Charles Mannering machte sich auf die Suche nach einem Gasthaus. Er war kaum zehn Meter gegangen, als ihn Hufgetrappel aufhorchen ließ.
Der Maler blieb stehen.
Ein leichter Buggy, der von einem Pferd gezogen wurde, schälte sich aus dem Nebel.
Mannering war erstaunt. Wer fuhr denn heutzutage noch mit einer Kutsche herum? Aber hier, so abgeschieden auf dem Land, war die Zeit wohl stehen geblieben. Jedenfalls galt das für manche Bereiche.
»He, Sie!«, rief Mannering dem Mann auf dem Kutschbock zu und sprang auf die Fahrbahn.
»Brrr.« Der Mann zügelte das Pferd.
Charles musste ein paar Schritte zurückspringen.
»Entschuldigen Sie bitte, aber können Sie mir sagen, wo ich das nächste Gasthaus finde?«, fragte der Maler den Fahrer des Buggys.
Der Mann auf dem Bock beugte sich Charles Mannering entgegen.
Unwillkürlich wich der Maler zurück.
Der Mann hatte nur ein Auge, das andere war durch eine schwarze Klappe verdeckt.
Er grinste und entblößte eine Reihe nikotingelber Zähne.
»Sie können mit mir kommen«, sagte er mit einer Reibeisenstimme. »Ich fahre nach Deadwood Corner.«
»Deadwood Corner?«, wiederholte Charles Mannering.
»Es ist ein Gasthof. Gar nicht weit von hier. Ich bin dort Hausknecht. Sie werden sich bestimmt bei uns wohlfühlen. Kommen Sie.«
»Tja, warum nicht?«
Charles Mannering warf seinen Koffer auf die Ladefläche und kletterte auf den Bock.
Der Fahrer knallte mit den Zügeln, und das Pferd setzte sich langsam in Bewegung.
Charles Mannering hatte Zeit, sich den Einäugigen näher anzusehen.
Der Mann war gedrungen. Riesige Muskelpakete drohten fast die Leinenjacke zu sprengen. Charles Mannering schien es, als habe sein neuer Bekannter keinen Hals. Der Kopf saß direkt auf den Schultern. Außerdem hatte der Mann ein wirklich hässliches Gesicht. Die Nase war ein Fleischklumpen, und die Oberlippe sprang vor.
»Wie sind die Zimmer denn so in eurem Hotel?«, fragte der Maler.
»Gut«, lautete die einsilbige Antwort.
Charles Mannering zuckte die Schultern und schwieg.
Irgendwann bogen sie von der Straße auf einen schmalen Feldweg ab.
Der Weg führte mitten durch den Sumpf. Rechts und links gluckste das Wasser, und ab und zu hörte Charles Mannering schmatzende Laute. Irgendwo quakten Frösche. Manchmal tauchten auch ein paar Bäume aus der milchigen Nebelsuppe auf, und Charles Mannering hatte immer das Gefühl, als würden die kahlen Äste nach ihm greifen und ihn ins Moor ziehen wollen.
Der Fahrer lenkte den Buggy so sicher durch die gefährliche Gegend, als befände er sich auf einer breiten Straße.
»Wie weit ist es denn noch?«, wollte Charles wissen.
»Wir sind gleich da«, knurrte der Hässliche.
Er hatte nicht gelogen. Wenige Minuten später sah Charles Mannering einige Lichter durch den Nebel blinken. Der Pfad wurde auch ein wenig breiter, und schließlich hielt der Buggy vor Deadwood Corner.
Charles Mannering nahm seinen Koffer und sprang vom Bock.
Von dem Haus selbst sah er nicht viel, jedoch glaubte er zu erkennen, dass es ziemlich groß war.
Knarrend öffnete sich eine Tür. Gelber Lichtschein fiel nach draußen.
Charles Mannering sah eine Gestalt im Türrahmen stehen.
Eine weibliche Gestalt.
Der Maler beschleunigte seine Schritte. Dann sah er die Frau genauer. Es handelte sich um eine noch recht junge Frau. Eine, wie er es selten gesehen hatte.
Pechschwarzes Haar umrahmte ein Gesicht, wie es schöner nicht sein konnte. Zwei dunkle Augen sahen Charles Mannering lockend an.
»Willkommen in Deadwood Corner«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns.«
Charles Mannering musste zweimal ansetzen, ehe er sprechen konnte. »Das wird es, Miss, darauf können Sie Gift nehmen.«
»Dann kommen Sie ins Haus, Mister …«
»O Verzeihung. Ich heiße Mannering. Von Beruf Maler.«
»Ein interessanter Beruf, Mr. Mannering. Ich heiße Grace Winlow.«
»Sehr erfreut, Miss Winlow.«
»Sie können Grace zu mir sagen.«
»Und meine Freunde nennen mich Charles.«
Sie führte den Maler ins Haus.
Eine große Diele nahm sie auf. Der Fußboden bestand aus roten Kacheln. An den Wänden hingen düstere Bilder, die alle die Moorlandschaft zeigten. Eine alte Standuhr tickte monoton. Neben der Uhr stand eine Harfe.
Charles, der einiges von Kunst verstand, war von diesem Instrument fasziniert.
»Sie ist schon sehr alt und ein Erbstück«, sagte die junge Frau.
Der Maler nickte schweigend und trat an das Instrument. Sacht strichen seine Fingerkuppen über die Saiten.
Glockenklare Töne schwangen durch den Raum und verklangen mit leisem Echo.
»Fantastisch«, sagte Charles Mannering und blickte Grace Winlow an.
Sie nickte. »Ja«, erwiderte sie leise. »Es ist die Todesharfe. Meine Ahnen haben auf ihr gespielt. Immer, wenn eine bestimmte Melodie erklang, musste jemand sterben. Aber lassen wir das. Sie werden müde sein, Charles. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
»Nein, nein, Grace«, wehrte der Maler ab. »Es ist doch noch früh am Abend. Ich werde mich nur ein wenig frisch machen und dann zum Essen kommen. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.«
»Na, wir werden Sie schon satt bekommen.«
Grace Winlow führte ihn über eine breite Treppe in die erste Etage.
»Sind eigentlich noch mehr Gäste hier?«, erkundigte sich der Maler.
»Im Augenblick nicht«, antwortete Grace und öffnete die Tür zu Charles’ Zimmer. Sie schaltete das Licht an.
Das Zimmer war behaglich eingerichtet. Ein breites Bett, ein Tisch, zwei Stühle und ein Kleiderschrank bildeten das Mobiliar. Die Tapete war bunt und passte in der Farbe genau zu den Vorhängen.
»Wann darf ich Sie unten erwarten?«, fragte Grace.
Sie stand genau unter der Lampe. Der warme Lichtschein umschmeichelte ihr knöchellanges, hochgeschlossenes hellblaues Kleid, das mit einer weißen Borte abgesetzt war und in dem Grace aussah wie ein Wesen aus dem vorigen Jahrhundert.
Charles Mannering räusperte sich, ehe er weitersprach. »In einer Viertelstunde ungefähr.«
»Gut.« Grace lächelte. »Wo die Gaststube ist, wissen Sie ja.«
»Natürlich.«
Grace Winlow verließ das Zimmer und schloss leise die Tür.
Charles Mannering verstaute seinen Koffer im Schrank und trat an das kleine Waschbecken in der Ecke. Er wusch sich die Hände und das Gesicht.
Er hatte sich gerade abgetrocknet, als er eine seltsame Melodie hörte.
Jemand spielte auf einer Harfe.
Charles Mannering lauschte.
Er kannte das Stück nicht, das dort unten gespielt wurde, trotzdem faszinierte ihn diese Melodie.
Und plötzlich fielen Charles Mannering wieder die Worte der jungen Frau ein.
»Meine Ahnen haben auf ihr gespielt. Immer, wenn eine bestimmte Melodie erklang, musste jemand sterben.«
Charles Mannering schluckte. Er hielt nicht viel von diesem Aberglauben. Trotzdem hatte er ein unbehagliches Gefühl.
Vielleicht war er das nächste Opfer?
»Ahhh!«
Der schrillte Entsetzensschrei, geboren aus höchster Todesangst, gellte durch das Haus und verstummte abrupt.
Für Sekunden stand Charles Mannering wie festgenagelt. Der Schrei klang immer noch in seinen Ohren.
Doch dann fasste sich der Maler, rannte zur Tür, riss sie auf und sprang in den Gang.
Hier oben war es stockfinster. Charles wusste nicht, wo sich der Lichtschalter befand. Er nahm sich auch nicht die Zeit, ihn zu suchen, sondern lief in Richtung Treppe.
Charles sah die Stufen zu spät. Er stolperte, fiel polternd ein halbes Dutzend Stufen hinunter, versuchte sich vergeblich am Geländer festzuhalten und landete schließlich krachend auf dem ersten Treppenabsatz.
Der Maler rappelte sich hoch, quetschte einen Fluch durch die Zähne und lief den Rest der Treppe hinunter.
Unten in der großen Diele brannte eine Wandlampe. Ihr Schein fiel auf die Harfe, die immer noch neben der alten Standuhr an der Wand lehnte.
Stand die Melodie, die darauf gespielt worden war, in einem Zusammenhang mit dem Schrei?
Charles konnte noch nicht einmal sagen, ob es ein Frauen- oder Männerschrei gewesen war.
Der Maler biss sich auf die Lippen. Er ließ den Blick schweifen und zählte unbewusst die Türen, die von der großen Diele abzweigten.
Hinter welcher Tür war wohl der Schrei aufgeklungen?
»Suchen Sie etwas, Mr. Mannering?«
Charles fuhr erschreckt herum.
Grace Winlow stand in dem offenen Türrechteck, das zum Gastraum führte.
»Ja, ich, ich …«, stotterte Charles.
»Die Gaststube ist hier, Mr. Mannering.«
»Ich weiß.« Charles hatte sich wieder gefangen. »Haben Sie nicht den Schrei gehört, Miss Winlow?«
Unbewusst waren sie wieder zu der etwas förmlicheren Anrede übergegangen.
»Welchen Schrei? Hier hat niemand geschrien.« Grace Winlow schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich verhört haben.«
»Aber ich bin doch nicht taub!«, begehrte Charles auf.
Grace lächelte. »Kommen Sie mit, Mr. Mannering. Sie werden Hunger haben. Zudem scheinen Sie etwas nervös zu sein.« Sie gab die Tür frei und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte schön.«
Charles betrat zögernd die Gaststube.
Sie war so eingerichtet, wie er es erwartet hatte. Auf den Holzdielen standen klobige Tische und Stühle. Von der Decke baumelte ein schwerer Leuchter, und neben den vier mit Butzenscheiben versehenen Fenstern brannten Wandlampen.
Ein Tisch war gedeckt. Für zwei Personen.
»Erwarten Sie noch einen Gast?«, fragte Charles, als er sich setzte.
»Nein, Mr. Mannering. Ich werde mit Ihnen essen.« Grace sah ihm in die Augen. »Es ist Ihnen doch recht?«
»Aber sicher. Setzen Sie sich nur.«
»Gleich. Ich muss noch das Essen holen.«
Grace Winlow verschwand durch eine kleine Tür.
Charles Mannering blieb allein in der Gaststube zurück. Ein unbehagliches Gefühl hatte ihn beschlichen. Er wusste nicht, woher es kam, aber wahrscheinlich lag es an der tristen Umgebung.
Grace Winlow kam mit einem Tablett voll Speisen und Getränken zurück.
»So, Mr. Mannering, jetzt langen Sie ordentlich zu.«
»Vorhin haben Sie noch Charles gesagt.«
Grace lachte auf. »Richtig, wir wollten uns ja beim Vornamen nennen. Ich hatte es ganz vergessen. Tja, man wird langsam alt.«
Charles, der sich gerade eine Toastschnitte schmierte, sah Grace an.
»Das müssen Sie gerade sagen. In Ihrem Alter möchte ich noch mal sein. Im Vertrauen, Grace, Sie sind doch kaum zwanzig.«
»Sie irren sich, Charles«, erwiderte Grace Winlow. »Ich bin über zweihundert Jahre alt.«
»Was?«, fragte er. »Sie sind …?«
»Vergessen Sie es, Charles.«
Charles ging davon aus, dass er sich verhört hatte. Vielleicht hatte Grace auch einen Scherz machen wollen.
Er wandte sich dem Essen zu. Es schmeckte wirklich ausgezeichnet, und der Maler hatte auch einen guten Appetit.
Als er fertig gegessen hatte, konnte er seine Neugier nicht mehr bremsen.
»Jetzt mal ehrlich, Grace. Was geht hier vor? Das seltsame Harfenspiel, der Schrei, Ihr angebliches Alter von über zweihundert Jahren … Außerdem bin ich der einzige Gast hier.«
»Das stimmt, Charles.«
Der Maler schluckte. Das gefiel ihm gar nicht.
»Und wer betreut hier die Gaststätte?«, wollte er wissen.
»Ich«, antwortete Grace.
»Sie können doch nicht eine ganze Pension allein bewirtschaften.«
Grace zuckte nur die Schultern.
»Was ist zum Beispiel mit dem Mann, der mich hergefahren hat? Wie heißt er? Was tut er hier?«
»Das sind sehr viele Fragen, Charles. Es ist nicht gut, wenn man zu viel fragt.«
Grace Winlow stand auf und räumte den Tisch ab. Charles sah ihr ärgerlich nach, wie sie in der Küche verschwand.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Hier stimmte doch eine ganze Menge nicht. Außerdem …
Mitten in Charles’ Gedanken hinein verlöschte das Licht.
Finsternis umgab den Maler.
Irgendwo knarrte eine Tür.
Charles Mannering glitt von seinem Stuhl und duckte sich neben den Tisch. Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit.
Schritte! Schwer und dumpf.
Charles riss die Augen weit auf, versuchte, in diesem Stockdunkel etwas auszumachen.
Da begann wieder die Harfe zu spielen. Die Töne dröhnten in Charles’ Ohren, machten es ihm unmöglich, sich zu konzentrieren.
Plötzlich sah er Grace Winlow!
Aber war es noch dieselbe wie vorhin?
Sie stand direkt vor ihm, trug immer noch das hellblaue Kleid.
Doch was war mit ihrem Gesicht?
Es sah auf einmal alt und hässlich aus, war bedeckt mit unzähligen Falten und Runzeln. Doch am schrecklichsten waren die beiden oberen Eckzähne. Sie waren lang und spitz und ragten fast bis zur Unterlippe.
Gedankenfetzen schossen Charles Mannering durch den Kopf.
»Ich bin über zweihundert Jahre alt«, hatte Grace gesagt.
So alt werden keine Menschen. So alt werden nur Vampire!
Grace Winlow war ein Vampir!
Diese Erkenntnis traf den jungen Maler wie ein Keulenschlag.
Er wollte aufspringen, irgendetwas sagen, doch seine Glieder und Sinne gehorchten ihm nicht mehr. Er starrte nur unverwandt dieses grässliche Wesen an.
Und dann war alles vorbei.
Das Licht flammte auf, und Grace Winlow stand tatsächlich an der gleichen Stelle.
»Was machen Sie denn da auf dem Fußboden, Charles?«, fragte sie lachend.
Der Maler brauchte Sekunden, bis er begriff.
Er stemmte sich hoch. Als er wieder auf dem Stuhl Platz nahm, spürte er, wie seine Knie zitterten.
»Warum ist denn plötzlich das Licht ausgegangen?«, wandted er sich an Grace, die ebenfalls Platz genommen hatte.
»Irgendein Defekt an der Leitung. Das passiert öfter. Haben Sie Angst im Dunkeln?«
»Nein, eigentlich nicht. Nur …«
»Nur was?«
»Ach, lassen wir das. Ich bin müde. Die Reise war doch etwas anstrengend.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Grace Winlow teilnahmsvoll. »Am besten, Sie legen sich ins Bett und schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Schlafen ist gut, dachte Charles Mannering.
Er stand auf und nickte Grace zu. »Das Essen war ausgezeichnet.«
»Danke. Gute Nacht.«
Charles Mannering wünschte dem Mädchen ebenfalls eine gute Nacht und ging nach oben in sein Zimmer.
Er legte sich jedoch nicht ins Bett, sondern holte seinen Koffer aus dem Schrank. Mit einem Spezialschlüssel öffnete er die beiden Schlösser. Als der Deckel zurückschwang, fuhren Charles’ Hände unter die Wäschestücke und holten ein kleines Gerät hervor.
Charles zog eine Antenne heraus und begann mit seinem Bericht.
Nach den ersten Worten wurde schon klar, dass Charles Mannering nie im Leben Maler war, sondern Beamter von Scotland Yard …
Charles Mannering stand am offenen Fenster und rauchte eine Zigarette. Er rauchte immer nur, wenn er nervös war.
Mit müden Augen starrte er nach draußen. Der Nebel hatte sich verdichtet und lag nun wie dicke Watte auf dem Land.
Über dem Eingang des Gasthauses schaukelte eine Laterne. Ihr trüber Lichtschein erreichte gerade noch das Fenster zu Charles’ Zimmer und ließ auch ein winziges Stück des Platzes vor der Haustür erkennen.
Tief sog Charles Mannering den Rauch der Zigarette in die Lungen. Er hatte einen Funkspruch an seine Dienststelle abgegeben und wartete fast ungeduldig darauf, dass etwas passierte.
Die Minuten tickten dahin.
Unten im Haus war kein Laut zu hören. Charles Mannering drückte die Zigarette aus, schloss das Fenster und trank einen Schluck Wasser. Dann nahm er seinen Beobachtungsplatz am Fenster wieder ein.
Charles wusste nicht, wie lange er in den Nebel gestarrt hatte, da schlug unten die Haustür zu.
Sofort öffnete Charles Mannering wieder das Fenster und beugte sich nach draußen.
Eine Gestalt trat in den Lichtschein der Laterne.
Es war eine Frau. Grace Winlow. Sie tat ein paar zögerliche Schritte und blickte instinktiv nach oben.
Charles huschte vom Fenster zurück.
Hatte Grace ihn gesehen?
Er wartete einige Sekunden und peilte dann vorsichtig nach unten.
Nein, er war wohl nicht entdeckt worden.
Grace war bereits weitergegangen in Richtung Moor. Charles sah sie nur noch ganz kurz, ehe der Nebel sie verschluckte.
Der als Maler getarnte Inspektor zögerte keinen Augenblick. Er lief aus dem Zimmer und schlich im Dunkeln die Treppe hinunter. Ihn interessierte es brennend, wohin Grace zu dieser Stunde noch wollte.
Die Haustür hatte sie nicht abgeschlossen.
Charles Mannering huschte ins Freie. Er hatte sich die Richtung gemerkt, in die Grace verschwunden war.
Schon bald war der Inspektor in der dicken Nebelsuppe untergetaucht.
Neben ihm gluckste und schmatzte es.
Das Moor! Ein mörderischer Moloch, der alles verschluckte. Ein falscher Tritt konnte den Tod bedeuten.
Obschon es kalt war, schwitzte Charles Mannering am ganzen Körper. Er hatte, ohne es zu wollen, Glück gehabt. Es gab nur einen schmalen Pfad durch das Moor, und auf diesen war Charles Mannering durch Zufall gelangt.
Von Grace Winlow war nichts zu sehen. Sie musste irgendwo vor ihm in dem dichten Nebel stecken.
Etwas schrammte an Charles Mannerings Arm vorbei.
Der Inspektor erschrak. Doch nur der Ast eines kahlen Baumes hatte ihn gestreift.
Charles Mannering hatte solch einen Auftrag noch nie bekommen. Er hatte sich schon mit manchem Verbrecher herumgeschlagen. Da wusste man wenigstens, wo man dran war. Aber hier? Keine Spuren, keine Fakten – nichts. Es schien, als hätte der Nebel alles verschluckt.
Charles Mannering verspürte plötzlich den Drang, umzukehren. Doch dann siegte sein Pflichtbewusstsein, und er ging weiter.
Dann wurde der Weg auf einmal fester. Charles Mannering versank nicht mehr bis zu den Knöcheln im Schlamm.
Sollte er das Ziel erreicht haben?
Nach einigen Minuten war es tatsächlich so weit. Aus dem Nebel sah Charles Mannering die Umrisse eines kleinen Steinhauses auftauchen. Und noch etwas sah er.
Grace Winlow.
Sie stand vor dem Haus und hatte die Arme erhoben.
Charles ging keinen Schritt weiter. Er wollte vorerst nur beobachten.
Er sah, dass Grace Winlow gegen irgendetwas klopfte. Wahrscheinlich war es eine Tür. Hören konnte er nichts, da der Nebel die Geräusche verschluckte.
Charles Mannering ging noch einige Schritte vor. Daraufhin konnte er erkennen, dass es tatsächlich eine Tür war, und er bekam auch mit, wie sie geöffnet wurde.
Wie ein Schemen war Grace Sekunden später in dem Haus verschwunden.
Die Tür wurde wieder geschlossen.
Wenig später stand Charles Mannering davor. Er hatte sich vorher, so gut es ging, das Haus angesehen, und ihm war aufgefallen, dass es keine Fenster hatte.
Charles atmete noch einmal tief durch und schlug mit der Faust gegen die Tür.
Gespannt wartete er ab.
Nach einigen Sekunden hörte er schwere Schritte. Ein Schlüssel knarrte im Schloss, dann wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen.
Charles Mannering wich unwillkürlich einige Schritte zurück. Der Mann, der so plötzlich vor ihm stand, schien einem Horrorfilm entsprungen zu sein.
Grünliche, weit aus den Höhlen hervorquellende Augen starrten Charles an. Anstelle der Nase hatte dieses Ungeheuer nur zwei Löcher. Der Mund war ein formloser Klumpen, aus dem abgebrochene, verfaulte Zähne hervorsahen. Der Mann trug ein altes Hemd, eine geflickte Hose und hielt in der linken Hand eine Laterne.
Ein Monster, schoss es Charles durch den Kopf.
Er wich noch weiter zurück.
Der Unheimliche kicherte hohl. Er krümmte den Zeigefinger der rechten Hand.
»Komm ruhig näher, Freund«, sagte er mit seltsam hoher Fistelstimme. »Gäste sind uns immer willkommen.«
Charles Mannering wollte sich herumwerfen, einfach weglaufen von diesem gespenstischen Ort, doch er war dazu nicht fähig,
Das Monster verließ das Türrechteck, kam schwerfällig auf Charles zu.
Lauf weg!, schrie es in ihm. Mein Gott, lauf doch weg!
Der Unheimliche griff mit seiner freien Hand nach Charles’ Arm.
Und plötzlich war der Bann gebrochen.
Charles duckte sich, versuchte dem harten Griff zu entwischen.
Das Monster war stärker.
Wie eine Stahlklammer presste es Charles’ Arm zusammen.
Der Inspektor drosch dem Unheimlichen die rechte Faust in die schreckliche Fratze.
Ihm war, als hätte er in einen Teigklumpen geschlagen.
Das Monster zeigte keine Reaktion. Im Gegenteil.
Unbarmherzig zog es Charles Mannering in Richtung Haus. Die Tür kam immer näher.
Charles versuchte, sich an einem Mauervorsprung festzuhalten. Doch seine Finger rutschten an dem rauen Gestein ab, und er schrammte sich die Hand auf.
Stück für Stück wurde er in das unheimliche Haus gezogen.
Dann ließ ihn der Unheimliche auf einmal los, schlug ihm aber sofort mit der freien Hand gegen die Brust.
Charles Mannering wurde zur Seite geschleudert und knallte mit dem Rücken schmerzhaft gegen eine Wand.
Das Monster warf die Tür zu, schloss ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche.
Charles rappelte sich auf die Füße. Noch immer hielt das Monster die Laterne in der Hand. Seine hervorquellenden Augen starrten Charles Mannering an.
Langsam ließ bei dem Inspektor der Schreck der ersten Minuten nach.
»Was soll das?«, fragte er schwer atmend. »Was haben Sie mit mir vor?«
Charles setzte sich in Bewegung. Er hielt den Kopf schräg, um zu sehen, was das Monster hinter ihm mit ihm vorhatte.
Der Schein der Laterne reichte gerade aus, um das Nötigste erkennen zu können.
Charles Mannering sah einen schmalen Gang, dessen Seiten aus dicken Felsquadern bestanden.
Der Gang war nur kurz. Er mündete in einen fast quadratischen Raum, in dem seltsame Kisten standen. Charles glaubte jedenfalls, dass es Kisten waren.
Bis sich der Unheimliche an ihm vorbeischob, den Raum betrat und die Laterne hochhielt.
Es waren keine Kisten.
Es waren Särge!
Steinsärge. Insgesamt sieben Stück. Sie standen nebeneinander wie in einer Leichenhalle.
»Hier schlafen meine Freunde«, sagte der Unheimliche. »Und ich sorge dafür, dass ihre Ruhe nicht gestört wird.«
Charles Mannering spürte, wie er am gesamten Körper zitterte. Was er hier erlebte, war unvorstellbar. Das Grauen drohte ihn zu überwältigen.
Das Monster ging ein paar Schritte vor. Dann stand es dich vor dem ersten Sarg. Mit fast spielerischer Leichtigkeit schob es den schweren Steindeckel zur Seite.
Ob er wollte oder nicht, Charles Mannering starrte gebannt auf den Sarg, der jetzt zum Teil offenstand.
In dem Sarg lag ein Mensch.
Eine Frau.
Es war Grace Winlow …
Der eisige Schreck lähmte Charles Mannerings Muskeln. Er versuchte etwas zu sagen, doch seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht mehr.
»Ist sie nicht schön?«, kicherte hinter ihm der Unheimliche, trat an den Steinsarg und leuchtete mit der Laterne in Grace Winlows Gesicht.
Charles Mannering konnte nicht anders. Er musste Grace einfach ansehen.
Sie erschien ihm noch schöner. Das lackschwarze Haar umrahmte das ebenmäßige Gesicht wie ein Vlies. Grace hatte die Hände über der Brust gekreuzt und hielt die Augen geschlossen.
»Bald ist Mitternacht«, flüsterte der Unheimliche. »Dann stehen sie auf. Sie werden bis zum frühen Morgen ein Fest feiern. Und wenn der Mond untergegangen ist, kehren sie wieder in ihre Särge zurück.«
Das Monster trat an einen anderen Sarg und schob auch diesen Deckel beiseite.
»Da, sieh dir nur alles genau an. Sie sind alle belegt. Bald wirst du auch zu ihnen gehören. Und ich muss dir einen Sarg besorgen, in dem du tagsüber schlafen kannst, wenn die grässliche Sonne scheint.«
Ich werde dir einen Sarg besorgen! Ich werde dir einen Sarg besorgen! Die Worte brannten sich in Charles Mannerings Gehirn fest.
»Nein«, flüsterte der angebliche Maler. »Nein, ich will nicht. Ich will nicht, verstehst du?«
Charles warf sich plötzlich herum, rannte durch den Gang und prallte gegen die stabile Eingangstür.
Verzweifelt rüttelte er an der Klinke.
Verschlossen.
In sinnloser Wut trommelte Charles mit beiden Füßen gegen das dicke Holz.
»Ich will hier raus! Ich will hier raus!«, brüllte er. Seine Stimme überschlug sich.
Schluchzend brach Charles Mannering zusammen. Wieder hörte er das Kichern hinter sich. Der Schein der Laterne streifte ihn.
»Es ist sinnlos. Du gehörst jetzt zu uns. Alle, die nach Deadwood Corner kommen, gehören zu uns. Wir haben noch viele Särge.«
»Ich, ich kann nicht mehr«, schluchzte Charles Mannering. Er war einem Nervenzusammenbruch nahe.
Eine Pranke mit spitzen Fingernägeln krallte sich in seine rechte Schulter.
Mühelos zog das Monster Charles hoch.
»Komm wieder zurück«, flüsterte der Unheimliche. »Es ist jeden Moment soweit. Du musst doch deine zukünftigen Freunde begrüßen.«
Halb blind taumelte Charles vor dem Unheimlichen her. Als sie in den Raum kamen, wo die Särge standen, lehnte sich Charles zitternd gegen die kalte Steinwand.
Der Unheimliche ging an der Sargreihe vorbei und schwenkte die Laterne. Dabei murmelte er Worte, die Charles nicht verstand.
Plötzlich drang ein hässliches Knirschen an das Ohr des Inspektors.
Charles’ Kopf ruckte herum. Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln.
Ein schwerer Sargdeckel wurde kratzend weggeschoben, gerade so viel, dass ein Mensch aus dem Sarg steigen konnte.
Ein Mensch?
Ein Vampir stieg aus dem Sarg!
Blutunterlaufene Augen starrten Charles an. Nadelspitze Eckzähne wurden drohend gefletscht. Knochige Hände mit spitzen, langen Fingernägeln schoben sich Charles Mannering entgegen.
Der Inspektor wich zurück. Er spürte, wie sein Herz rasend schnell schlug, wie das Blut durch seine Adern pulste.
Der Unheimliche stieß ihn in den Rücken, genau dem Vampir entgegen.
Die spitzen Fingernägel griffen nach Charles’ Gesicht.
Im letzten Moment konnte der junge Inspektor wegtauchen. Es war mehr ein Reflex als eine gesteuerte Reaktion.
Der Vampir griff ins Leere.
Während dieser Zeitspanne hatten sich auch die anderen Särge geöffnet.
Mit puppenhaften Bewegungen stiegen die übrigen Vampire ins Freie. Charles Mannering brüllte auf. Was er hier sah, ging über seinen Verstand.
Die Vampire kreisten Charles ein. Einer sah schrecklicher aus als der andere.
Auch Grace Winlow war nicht mehr wiederzuerkennen. Das Gesicht war nur noch eine Grimasse, und die spitzen Zähne sahen aus wie weiße Dolche.
Charles Mannering drehte sich im Kreis, suchte nach einem Ausweg, um den Wall der Vampire zu durchbrechen.
Es gab keinen.
Die ersten Hände griffen nach ihm.
Charles Mannering riss sich los, taumelte einen Schritt zurück und prallte gegen die Wand.
Die Vampire lachten, weideten sich an seiner grenzenlosen Angst.
Fäulnisgeruch drang in Charles’ Nase.
Starke Arme rissen ihn herum.
Charles Mannering starrte in schrecklich entstellte Gesichter, in Fratzen, wie er sie in seinen schlimmsten Albträumen noch nicht gesehen hatte.
Das Grauen lähmte Charles Mannerings Verstand. Er bekam nicht mehr richtig mit, wie er zu Boden geworfen wurde, wie scharfe Fingernägel ihm die Kleider zerfetzten.
Charles Mannering war wahnsinnig geworden!
Plötzlich ließen die Vampire von ihrem Opfer ab. Kreischend traten sie zurück, flohen in Richtung Ausgang. Der Unheimliche musste blitzschnell die Tür aufschließen und die Vampire nach draußen lassen.
Er, der selbst zu den Dämonen gehörte, spürte ebenfalls mit einem Mal die starke Ausstrahlung, die von Charles Mannering herrührte. Panikartig floh das Monster nach draußen. Die Tür ließ es offen.
Nur Minuten später erhob sich Charles Mannering.
Aus stumpfen, glanzlosen Augen sah er sich um, bemerkte das etwas hellere Rechteck der offenen Tür und lief nach draußen.
Hier begann der Inspektor plötzlich zu tanzen und rannte dann in Richtung Deadwood Corner. Mit fast traumwandlerischer Sicherheit fand er den Pfad durch das Moor.
Charles Mannering war zwar den Vampiren entkommen, doch der Preis dafür war sehr hoch gewesen.
Charles hatte den Verstand verloren!
Tack, tack.
Unruhig wälzte sich Gil Dexter im Bett herum. Hatte er nicht eben ein Geräusch gehört?
Da, jetzt wieder.
Tack, tack.
Mit einem Fluch fuhr Dexter im Bett hoch. Seine flache Hand knallte auf den Schalter der Nachttischlampe.
»Was ist denn?«, murmelte Lilian, seine junge Frau, neben ihm.
»Ich glaube, da ist jemand am Fenster. Ich seh mal nach.«
»Ach, lass doch, du hast bestimmt nur geträumt.«
Gil gab keine Antwort, sondern schlüpfte in seine Pantoffeln.
Leise näherte er sich dem Zimmerfenster und schob behutsam die Vorhänge zurück.
Ein grinsendes Gesicht starrte ihn an!
Im ersten Impuls zuckte Gil zurück, doch dann wurde er wütend.
Mit einem Fluch riss er das Fenster auf. »Verdammt noch mal. Ich werde dir …«
Seine weiteren Worte gingen in ein dumpfes Gurgeln über, denn zwei Hände legten sich wie Stahlklammern um seinen Hals. Blitzartig wurde Gil Dexter die Luft abgeschnürt. Gleichzeitig zog ihn der Unbekannte nach draußen.
Gil Dexter bekam das Übergewicht und fiel aus dem Fenster. Den Schrei seiner Frau nahm er gar nicht richtig wahr.
Zum Glück schliefen die Dexters Parterre, sodass Gil relativ sanft auf die feuchte Erde des Vorgartens fiel.
Der Kerl hatte ihn zwangsläufig loslassen müssen, doch nun bückte er sich, um abermals Gils Kehle zu umklammern.
Gil Dexter war Karatekämpfer. Sein Körper war durchtrainiert, und seine Reflexe waren besonders ausgebildet.
Ehe ihn der Kerl zum zweiten Mal überraschen konnte, rollte sich Gil zur Seite.
Die würgenden Hände fassten ins Leere.
Dann stand Gil Dexter schon auf den Beinen, und ehe sich der Unbekannte versah, hatte ihm Gil einen Schlag verpasst.
Der Kerl flog zurück und krachte in die Büsche des Vorgartens.
Gil setzte nach.
Der Mann arbeitete sich soeben aus dem Gebüsch hervor. Und plötzlich begann der Unbekannte zu lachen. Es war ein hohles, geiferndes Lachen, das Gil einen Schauer über den Rücken jagte.
Weit schallte das Gelächter durch die Nacht.
Gil Dexter wurde es zu viel.
»Der ist verrückt«, murmelte er und schlug zu.
Sein Handkantenschlag leistete ganze Arbeit. Der Unbekannte verdrehte die Augen und fiel seufzend zu Boden.
Schwer atmend sah Gil auf ihn hinab.
Durch den Schrei seiner Frau waren Menschen aus dem Schlaf geschreckt. Hinter vielen Fenstern flammte Licht auf.
Lilians Stimme brachte Gil in die Wirklichkeit zurück.
»Was ist passiert?«
Dexter wischte sich über die Stirn. »Gar nichts ist passiert. Wahrscheinlich wollte der Kerl einbrechen. Aber ich habe ihm die Schau gestohlen.«
Lilian sah schaudernd auf den am Boden liegenden Mann. »Ist er …? Ist …?«
»Nein, er ist nicht tot. Nur bewusstlos.«
Flüchtig angekleidete Menschen rannten auf die beiden zu. Fragen schwirrten durch die Nacht. Doch Gil gab keine Antwort. Er bückte sich und suchte in den Taschen des Bewusstlosen nach irgendwelchen Papieren.
»Warum ist denn seine Kleidung so zerrissen?«, wollte Lilian wissen.
»Was weiß ich. Warte mal. Verdammt, da ist doch was.«
»Wo?«
»Unter dem Jackenfutter.«
Neugierig beugten sich die Menschen zu Gil hinunter. Eine Taschenlampe flammte auf.
Gil Dexter riss das Jackenfutter kurzerhand auseinander. Er fühlte eine Plastikhülle zwischen den Fingern.
»Leuchten Sie doch mal«, sagte er zu dem Mann mit der Taschenlampe.
Der Strahl richtete sich auf die Plastikhülle.
In der Hülle steckte ein Ausweis.
Langsam entzifferte Gil Dexter die Buchstaben. Er las dabei laut vor.
»Charles Mannering. Inspektor bei … Scotland Yard?«
Gemurmel wurde laut.
Gil Dexter schüttelte den Kopf. »Also, ehrlich gesagt, jetzt verstehe ich gar nichts mehr …«
»Das kann Sie teuer zu stehen kommen, Mr. Dexter«, knurrte Jim Burns, Konstabler des kleinen Ortes Bradbury.
Gil Dexter schüttelte verwirrt den Kopf. »Wieso denn das?«
Jim Burns, ein Mann in mittleren Jahren und dürr wie eine Bohnenstange, warf sich in die kaum vorhandene Brust. »Mr. Mannering ist immerhin Inspektor beim Scotland Yard.«
»Ein Dieb ist er, mehr nicht!«, regte sich Gil Dexter auf. »Er wollte bei uns einbrechen, verstehen Sie? Aber die Suppe habe ich ihm versalzen!«
Lilian Dexter legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Sei doch nicht so nervös, Gil.«
»Das sagst du so. Da denkt man an nichts Böses, will nur Urlaub machen, und dann passiert so was! Nee, Konstabler, nicht mit uns. Wir reisen heute noch ab!«
Konstabler Burns räusperte sich. »Nicht, bevor die Sache geklärt ist. Außerdem wird der Beamte seine Gründe gehabt haben.«
»Jetzt werden Sie nur nicht kindisch!«
»Ich verbitte mir diesen Ton! Sie sprechen mit einer Amtsperson!«
Burns hageres Gesicht zuckte.
»Schon gut.« Gil Dexter winkte ab. »Ich wollte Sie nicht in Ihrer Beamtenehre beleidigen.«
Seine Frau, Lilian Dexter, war zweiunddreißig Jahre alt und sah aus wie fünfundzwanzig. Sie trug das blonde Haar kurz geschnitten und hatte eine fast knabenhafte Figur.
Sowohl sie als auch ihr Mann waren übermüdet. Sie hatten den Rest der Nacht nicht mehr geschlafen und saßen nun, um neun Uhr morgens, im kahlen Büro des Konstablers.
Gil Dexter war von Beruf Generalvertreter eines großen Waschmittelkonzerns,
Es war der erste Urlaub in ihrem Heimatland. Sonst fuhren sie immer in den Süden, aber dann waren sie den Rummel leid geworden und hatten sich einmal richtig ausspannen wollen. Doch wie die Sache jetzt lag, sah es nicht danach aus.
»Wo ist denn Ihr komischer Inspektor?«, wandte sich Gil Dexter an den Dorfpolizisten.
»In der Zelle«, erwiderte Burns. »Wir haben leider kein Krankenhaus.«
»Zelle ist gut«, grinste Gil. »Was haben Sie eigentlich in dem Fall unternommen?«
Konstabler Burns fixierte Gil Dexter aus zusammengekniffenen Augen. »Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber ich sag es Ihnen trotzdem. Ich habe bereits mit Scotland Yard in London telefoniert.«
»Und?«
»Sie werden Inspektor Mannering abholen.«
Gil wollte noch etwas sagen, aber in diesem Augenblick ertönte ein entsetzliches Gebrüll.
Der Konstabler sprang hoch wie ein Stehaufmännchen. »Das kam aus einer der Zellen!«
Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da rannte er schon los.
»Bleib du hier, Lilian«, sagte Gil Dexter und setzte sich ebenfalls in Bewegung.
»Sei vorsichtig, Gil.«
Gil folgte dem Konstabler in die Hinterräume der Polizeistation. Ein grüngelb getünchter Gang nahm ihn auf, in dem sich zwei vergitterte Zellen befanden.
Vor einer stand der Konstabler und hatte beide Hände auf den Mund gepresst, während das infernalische Gebrüll durch den Gang schallte.
Gil Dexter warf einen Blick in die Zelle. Was er sah, ließ ihn die Haare zu Berge stehen.
Der Inspektor stand an der Wand und trommelte mit beiden Fäusten gegen den rauen Putz. Seine Handballen waren bereits blutig. Dazu kam noch das verrückte Gebrüll, das bei einem normalen Menschen fast die Trommelfelle platzen ließ.
Dann hatte Charles Mannering die beiden Männer entdeckt.
Schreiend und mit gefletschten Zähnen warf er sich gegen das Gitter. Seine blutbesudelten Fäuste umklammerten die Stäbe, und er versuchte, sie auseinanderzubiegen.
Gil Dexter und der Konstabler wichen unwillkürlich zurück. Gil sah, dass auf der Stirn des Polizeibeamten ein dicker Schweißfilm lag.
Plötzlich verstummte das Gebrüll.
Fast ohne Ansatz sackte Charles Mannering zusammen und blieb keuchend am Boden liegen. Sein Körper zuckte wie unter schweren Stromstößen.
»Der ist ja nicht mehr normal«, flüsterte der Konstabler.
»Merken Sie das jetzt erst?«, erwiderte Gil sarkastisch.
Burns warf ihm einen bösen Blick zu und sagte: »Kommen Sie. Ich glaube, hier haben wir nichts mehr zu suchen.«
»Wollen Sie nicht lieber einen Arzt holen?«
Burns schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Unser Doc ist schon die ganze Nacht im Nachbardorf bei einer Entbindung. Vor heute Mittag wird er bestimmt nicht zurückkommen.«
Die Männer betraten wieder das Dienstzimmer.
Lilian blickte ihren Mann ängstlich an. »Was war los?«
»Nichts«, antwortete Gil. »Wenigstens nichts, was dich beunruhigen sollte.«
Lilian stellte daraufhin keine Fragen mehr.
»Kannten Sie den Inspektor eigentlich?«, wollte Gil Dexter von dem Konstabler wissen.
»Nein. Ich habe ihn nie gesehen. Und als ich beim Yard anrief, tat man sehr geheimnisvoll. Weiß auch nicht, warum.«
Inzwischen hatten sich Menschen vor der Polizeistation versammelt. Sie alle waren durch das Brüllen aufgeschreckt worden.
Ein schwergewichtiger Mann betrat das Dienstzimmer und wollte wissen, was geschehen war.
»Nichts von Bedeutung«, erwiderte Burns. »Geht wieder an eure Arbeit.«
Draußen von der Straße hörte man das Brummen eines Automotors. Sekunden später stoppte ein Krankenwagen vor dem Haus.
Zwei Männer sprangen heraus, öffneten die hintere Tür und betraten dann mit einer Trage das Zimmer.
»Wir sollen Inspektor Mannering abholen«, sagte einer, ein Kerl wie ein Baum.
»Er ist hinten in der Zelle«, murmelte Burns. »Warten Sie, ich gehe mit. Muss die Tür aufschließen.« Er griff nach seinem Schlüsselbund.
Die drei verschwanden nach hinten.
Wenig später waren sie schon wieder zurück. Charles Mannering lag festgeschnallt und mit geschlossenen Augen auf der Trage. Konstabler Burns musste noch ein Protokoll unterschreiben, dann zogen die beiden Männer wieder ab.
»Komisch«, murmelte Gil Dexter. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Machen Sie sich mal da keine Gedanken«, sagte der Konstabler. »Es ist bestimmt besser.«
Doch Gil Dexter hörte nicht auf ihn. Ihm erschien der Fall verdammt mysteriös.
»Irgendjemand muss diesen Inspektor doch gesehen haben«, sprach er mehr zu sich selbst.
Der Konstabler sah ihn argwöhnisch an. »Was haben Sie vor?«
»Mich ein wenig um die Sache kümmern. Der Urlaub wird mir sonst zu langweilig.«
»Gil, ich bitte dich«, rief Lilian Dexter. »Das geht dich doch alles nichts an.«
»Und ob mich das was angeht. Der Mann wollte schließlich bei uns einbrechen. Wir haben ja noch vierzehn Tage Urlaub vor uns. Und in der Zeit werden wir uns mal ein wenig die Gegend um Bradbury ansehen.«
Der Arzt nahm die Goldrandbrille ab, rieb sich die Augen und sah seine beiden Gegenüber nachdenklich an.
»Es gibt keinen Zweifel«, sagte er in seiner ruhigen, bedächtigen Art. »Ihr Kollege ist wahnsinnig geworden.«
»Also doch«, erwiderte Superintendent Powell von Scotland Yard.
Der zweite Mann enthielt sich einer Antwort. Es handelte sich um John Sinclair.
John war groß, durchtrainiert und hatte blondes, kurz geschnittenes Haar. Er wurde nur dort eingesetzt, wo normale Polizeiarbeit versagte. Hauptsächlich bei Fällen, die ins Mystische, Okkulte reichten. John hatte in den letzten zwei Jahren sagenhafte Erfolge errungen. Sein letzter Fall lag erst knapp einen Monat zurück. Er hatte Sakuro, einem Dämonen aus der Fernen Vergangenheit, das Handwerk gelegt.1)
Und jetzt sah es so aus, als bahne sich wieder ein neues Abenteuer an.
»Was halten Sie von der Sache, John?«, wandte sich Superintendent Powell an den Inspektor.
»Ich fürchte, unser Kollege ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«
»Aber keinem gewöhnlichen Verbrechen«, warf der Arzt ein. »Der Kranke hat oft im Wahn gesprochen. Worte wie Vampire und Särge kamen darin vor. Ich schreibe das allerdings eher seiner überreizten Fantasie zu.«
»Inspektor Mannering war kein Fantast«, sagte Superintendent Powell.
Der Arzt sah etwas pikiert auf. »Wie Sie meinen, Sir.«
Powell nickte. »Das wäre dann wohl alles.«
»Ja«, erwiderte der Arzt. »Sollte sich irgendetwas bei dem Patienten ändern, lasse ich Sie sofort benachrichtigen.«
Wenig später saßen Powell und John Sinclair in dem Dienstwagen des Superintendenten und ließen sich nach New Scotland Yard bringen. Während der Fahrt ging John den Fall noch einmal durch.
Alles hatte damit begonnen, dass ein Mann verschwunden war. An und für sich eine alltägliche Sache. Doch dann verschwand ein zweiter, ein dritter, und schließlich waren es sechs Vermisste.
Erst durch eine Anzeige war Scotland Yard darauf aufmerksam geworden, und Charles Mannering war mit der Aufgabe betraut worden, den Fall aufzuklären. Er hatte Spuren gefunden, die zu dem kleinen Ort Bradbury führten. Und noch etwas hatte Charles Mannering herausgefunden. Alle sechs Verschwundenen gehörten einer okkulten Gemeinschaft an, die mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen wollte. Bei einem der Verschwundenen wurde in der Wohnung ein Hinweis auf Deadwood Corner gefunden. Für Charles Mannering natürlich eine heiße Spur. Er war in die Rolle eines Malers geschlüpft und hatte sich auf den Weg gemacht.
Sein erstes und gleichzeitig letztes Lebenszeichen war ein rätselhafter Funkspruch gewesen. Den Text hatte John Sinclair fast noch genau im Kopf.
Bin auf Deadwood Corner eingetroffen. Habe eine junge Frau kennengelernt namens Grace Winlow. Diese Frau scheint ein Vampir zu sein! Ja, Vampir. Bitte stellt Nachforschungen an. Melde mich morgen wieder.
Ein Morgen gab es für Charles Mannering nicht mehr. Wenigstens nicht in einer normalen Verfassung.
Die Dienstlimousine hielt vor dem Scotland-Yard-Gebäude.
»Kommen Sie noch mit in mein Büro«, sagte Sir Powell.
Oben in Powells Büro ging der Superintendent an einen in der Wand eingebauten Tresor und holte einen schmalen Aktenordner hervor.
»Hier sind Mannerings Ergebnisse zusammengefasst«, sagte Powell. »Wir haben unter anderem auch nach dieser gewissen Grace Winlow geforscht. Es gibt natürlich Hunderte von Frauen dieses Namens. Aber es gibt nur eine Grace Winlow in der Gegend von Bradbury.«
»Dann ist uns schon viel geholfen«, meinte John Sinclair.
»Gar nicht ist uns geholfen, Inspektor. Diese Grace Winlow ist schon zweihundert Jahre tot.«
Johns Gesicht wurde hart. »Dann hatte Charles Mannering doch recht«, sagte er leise.
»Ja, es sieht so aus«, erwiderte Superintendent Powell. »Sie müssen sich sofort um die Sache kümmern, John. Mit Vampiren haben Sie ja einige Erfahrung.«2)
»Ich werde inkognito hinfahren. Es ist besser so.«
Sir Powell war einverstanden.
John klemmte sich in seinen silbergrauen Bentley, fuhr nach Hause und packte einen Koffer. Anschließend fuhr er in Richtung Norden, der kleinen Ortschaft Bradbury entgegen.
»Willst du dir wirklich die Gegend um Bradbury ansehen?«, fragte Lilian Dexter ihren Mann.
Gil biss herzhaft in die Toastschnitte. »Und ob«, sagte er kauend. »Was ich mir einmal vorgenommen habe, ziehe ich auch durch.«
»Ich weiß nicht so recht.« Lilian zuckte fröstelnd die Achseln.
»Du kannst hierbleiben. Schläfst einige Stunden, und heute Abend machen wir es uns gemütlich.«
Lilian streichelte Gils Handrücken. »Ich komme mit, Gil. Ich kann dich einfach nicht allein gehen lassen.«
Gil nahm einen Schluck Orangensaft. »Fein.«
Das Ehepaar Dexter wohnte während des Urlaubs in einer kleinen Pension, die zwar kaum Komfort bot, dafür bekam man aber was auf den Teller.
Gil blickte auf seine Uhr. »In einer halben Stunde gehen wir los.«
»Gut.« Lilian stand auf. »Ich geh nur kurz nach oben und mach mich ein wenig frisch.«
Während das Hausmädchen, eine etwas dralle Person, abräumte, blieb Gil Dexter noch ein wenig sitzen und las in einer Illustrierten, als Konstabler Burns das Gastzimmer betrat.
»Ist es gestattet?«, fragte er.
»Bitte.«
Burns zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Gil Dexter an den Tisch.
»Haben Sie schon etwas gehört, Konstabler?«, fragte Gil.
Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nein, die hohen Herren von Scotland Yard haben sich noch nicht gerührt. Na ja, wenn unsereins was sagt, reagieren die sowieso nicht. Wir leben ja hier auf dem Lande.«
»Warten Sie doch mal ab, Konstabler«, meinte Gil. »Immerhin sind seit dem nächtlichen Vorfall erst zwei Tage vergangen.«
»Trotzdem!«, regte sich der Konstabler auf. »Schließlich halten sie sich für die beste Polizeiorganisation Europas.«
Gil Dexter lachte. »Das tut wohl jede Polizei. Aber mal was anderes, Konstabler. Meine Frau und ich wollten uns mal ein wenig die Gegend ansehen. Wo kann man denn hier hingehen?«
Der Konstabler schüttelte den Kopf. »Haben Sie dieses Vorhaben immer noch nicht aufgegeben?«
»Nein. Ich habe sogar bei den Dorfbewohnern Erkundigungen eingezogen. Man erzählte mir, hier in der Nähe gäbe es ein Gasthaus, Deadwood Corner.«
»Um Gottes willen, Mr. Dexter. Fangen Sie nicht davon an. Das Gasthaus ist verflucht. Es steht mitten im Sumpf. Nur ein schmaler Pfad führt dorthin. Jeder, der zu diesem Gasthaus ging, kam nie wieder zurück.« Der Konstabler beugte sich vor, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Es geht die Sage um, dass dort Vampire und Dämonen hausen. Vampire, verstehen Sie? Die trinken Menschenblut! Ein alter Mann aus dem Dorf hat sie gesehen, wie sie nachts über dem Sumpf getanzt sind. Schrecklich muss das gewesen sein! Zum Glück haben die Vampire nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurden. Sie hätten dem Alten sonst das Blut ausgesaugt!«
Gil Dexter lachte. »So schlimm wird es wohl nicht sein. Vampire, so etwas gibt es nicht!«
»Das sagen Sie, Mr. Dexter. Sie kommen aus der Großstadt. Aber hier in den Dörfern gelten andere Gesetze. Hier sind die alten Sagen und Geschichten noch lebendig. Es gibt auch Gespenster, Mr. Dexter.«
»Gespenster?« Gil Dexter wusste lachen.
»Was soll das Gekicher?«, regte sich Burns auf. »Ich selbst habe mal ein …«
Der Konstabler wurde in seinen weiteren Ausführungen unterbrochen, denn Lilian betrat die Gaststube wieder.
»So, ich bin fertig!«, rief sie.
Der Konstabler stand höflich auf und begrüßte die Frau.
»Und Sie wollen wirklich gehen?«, fragte er noch mal.
»Ja, warum nicht?« Gil legte Lilian den Arm um die Schultern.
»Denken Sie an meine Worte«, warnte der Konstabler.
»Was hat der Beamte gesagt?«, wollte Lilian wissen, als sie draußen auf der Straße standen.
»Ach, er sprach von Geistern und Dämonen«, erwiderte Gil. »Du kennst ja die alten Dorfgeschichten.«
Lilian Dexter fröstelte plötzlich. »Ich weiß nicht so recht. Denk mal an den Inspektor.«
Gil sah seine Frau an. »Du hast doch nicht etwa Angst?«
»Ein wenig schon«, erwiderte sie.
»Dann wird es Zeit, dass du sie verlierst. Komm.«
Untergehakt gingen die beiden die Hauptstraße entlang. Es war ein herrlicher Septembermorgen. Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen auf das Land und ließ alles direkt freundlicher erscheinen.
»Wo willst du denn genau hin?«, fragte Lilian.
»Es soll hier in der Nähe ein altes Gasthaus geben. Dort können wir eine Tasse Kaffee trinken und dann wieder zurückgehen.«
»Ein Gasthaus? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Es heißt Deadwood Corner. Dorfbewohner haben mir davon erzählt.«
»Deadwood Corner. Schrecklich.« Lilian schüttelte sich. »Kennst du überhaupt den Weg?«
»Ja, den hat man mir beschrieben. Er führt durchs Moor.«
»Auch das noch.« Lilian zog ihren Mann am Arm. »Bitte, Gil, lass uns umkehren.«
Gil Dexter blieb stehen. Er sah zurück zum Dorf, das bereits einige hundert Yards hinter ihnen lag. »Ich gehe weiter, Lilian. Wenn du willst, kehr um.«
Lilian nagte an ihrer Unterlippe, während sie überlegte. »Nein, Gil. Ich gehe mit«, sagte sie schließlich.
»Wunderbar. Wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. So, und jetzt müssen wir uns links halten. Dort beginnt der Pfad.«
Pfad war wirklich der richtige Ausdruck für den Weg, der durch das Moor führte. Die beiden Leute mussten hintereinander gehen, um nicht in den tückischen Sumpf abzurutschen.
Das Moor lebte. Frösche quakten, und glucksende, schmatzende Geräusche drangen an Lilians und Gils Ohren.
Kein Vogel zwitscherte. Es war eine unheimliche Atmosphäre, die hier herrschte. Die kahlen Bäume, die wie Totengerippe wirkten, der Geruch nach verfaulten Pflanzen, und dann der Nebel, der urplötzlich gekommen war.
Vor wenigen Minuten hatte noch die Sonne geschienen, doch nun lag der Nebel wie eine Wand über dem Land.
»Sollen wir nicht lieber umkehren, Gil?«
»Wenn wir auf dem Weg bleiben, kann uns gar nichts passieren«, erwiderte Gil Dexter und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Auch ihm war die ganze Sache nicht recht geheuer. Aber um sein Prestige zu wahren, ging er weiter.
Seit einer Stunde waren sie schon unterwegs. Die Sonne war durch die dichte Nebelwand schon gar nicht mehr auszumachen. Feuchtigkeit legte sich auf die Mäntel der beiden Moorwanderer und ließ die Kleidung klamm und steif werden.
Gil Dexter blieb stehen. »Wir müssten Deadwood Corner bald erreicht haben«, sagte er. »Die Dorfbewohner haben gesagt, man geht ungefähr eine Stunde.«
Lilian wischte sich über das feuchte Gesicht. »Glaubst du denn wirklich, dass Deadwood Corner bewohnt ist? Dass wir dort eine Tasse Tee oder Kaffee bekommen. Wer geht schon durch den Sumpf?«
Gil grinste verunglückt. »Ich hab dir nicht ganz die Wahrheit gesagt, Lilian. Deadwood Corner ist nicht mehr bewohnt. Wenigstens nicht von Menschen. Man erzählt sich, dass dort Vampire hausen.«
»Vampire?«, echote Lilian. »Diese schrecklichen Monsteraus dem Fernsehen?« Lilians Stimme brach ab. Die Frau schüttelte sich. »Ja, gibt’s die denn wirklich?«
»Das will ich ja eben feststellen«, antwortete Gil.
»Bleib hier, Gil. Ich bitte dich.« Lilian klammerte sich an ihrem Mann fest.
Dexter lachte. »Du kannst ja hier auf mich warten.«
»Nein.«
Sie gingen weiter durch die dicke Nebelsuppe.
Dann wurde der Weg breiter, und wenige Minuten später tauchten die Umrisse eines Hauses aus dem Nebel auf. Vor dem Haus stand ein Buggy.
»Na, wer sagt’s denn?«, rief Gil Dexter. »Wir haben es geschafft.«
Lilian schaute mit ängstlichen Augen die Fassade von Deadwood Corner an. »Es ist so unheimlich hier«, flüsterte sie.
»Wenn wir erst in der Gaststube sitzen … Verflixt noch mal, gibt es denn hier keine Klingel oder etwas Ähnliches?«
Gil stand vor der Eingangstür, und seine Augen tasteten prüfend die Fassade ab.
»Nichts zu sehen«, murmelte er.
»Klopf doch mal«, schlug Lilian vor.
Gil tat es.
Die Schläge dröhnten durch das Haus.
Nichts geschah.
»Scheint tatsächlich völlig verlassen zu sein«, meinte Gil.
Lilian schob sich an ihrem Mann vorbei und drückte die gusseiserne Klinke nach unten.
»Verschlossen!«
»Ist wohl nichts mit ’ner Tasse Kaffee«, sagte Gil und grinste. »Warte mal, Lilian, ich geh eben um das Haus. Bin gleich wieder da.«
»Aber …«
Lilian Dexter wollte noch etwas sagen, doch da war ihr Mann schon in dem dichten Nebel verschwunden.
Lilian Dexter hatte Angst. Sie stellte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand und versuchte, die schmutziggraue Brühe mit ihren Blicken zu durchdringen. Überall sah sie schon Gestalten, die nach ihr greifen wollten, um sie in den Sumpf zu ziehen, wo es kein Entrinnen mehr gab.
Plötzlich hörte Lilian Musik.
Harfenmusik!
Es war eine schwermütige Melodie. Die Töne schienen aus unendlicher Ferne zu kommen.
Lilian lauschte gebannt, presste ihr Ohr gegen die Holzfüllung der Eingangstür.
Kein Zweifel, in dem Gasthaus spielte jemand Harfe.
Aber wer?
Ein Mensch? Sie hatten doch geklopft. Dieser Jemand hätte das Klopfen hören müssen.
Sollte wirklich an den Geschichten der Dorfbewohner etwas dran sein?
Lilian bekam plötzlich Angst. Grenzenlose Angst.
»Gil!«, rief sie. »Gil!«
Keine Antwort.
Da! Ein Schatten tauchte aus dem Nebel auf.
»Gil, da bist du ja end … Ahhhh!«
Der Schatten war nicht Gil, sondern ein einäugiger Kerl, der sich mit vorgestreckten Händen auf die wehrlose Frau stürzte.
Lilian spürte zwei Pranken an ihrem Hals und schlug gegen die Hauswand.
Stinkender Atem streifte ihr Gesicht, während sie das eine Auge des Mannes anstarrte und die Pranken immer fester zudrückten.
Lilian Dexter gurgelte. Ihre Hände fuhren fahrig in die Höhe, bekamen die Haare des Unbekannten zu fassen und rissen in einer reinen Reflexbewegung daran.
Der Unbekannte brüllte auf, aber nicht, weil Lilian ihn an den Haaren zog, sondern weil eine knallharte Rechte sein ungeschütztes Ohr getroffen hatte.
Gil Dexter war im richtigen Moment aufgetaucht.
Ein zweiter Schlag traf den Mann.
Der Unhold ließ schreiend die Frau los und wandte sich seinem neuen Gegner zu.
»Dir werde ich’s zeigen!«, zischte Gil Dexter und riss seinen rechten Fuß hoch.
Die Spitze bohrte sich dem Einäugigen in den Magen.
Der Kerl würgte und brach in die Knie.
Ein zweiter Fußtritt traf seinen Kopf. Der Einäugige wankte.
»Hast du nun genug?«, keuchte Gil Dexter.
Er stand mit geballten Fäusten vor dem Unhold. Lilian lehnte noch immer an der Hauswand und war unfähig, sich zu rühren.
Der Einäugige gab keine Antwort.
Gil wischte sich über den Mund. Dann wandte er sich an seine Frau. »Komm, wir gehen zurück.«
Lilian ging auf ihren Mann zu, und Gil schenkte ihr mehr Aufmerksamkeit als dem Einäugigen.
Das war ein Fehler.
Der Einäugige griff plötzlich nach Gils Bein, bekam es zu fassen, zog …
»Gil!«
Die Warnung seiner Frau kam zu spät.