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Fünf gruselige Folgen der Kultserie zum Sparpreis in einem Band
Mit über 300 Millionen verkauften Romanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen verkauften Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horror-Serie der Welt.
Begleite John Sinclair auf seinen gruseligen Abenteuern aus den Jahren 1973 - 1978, die in der Reihe Gespenster-Krimi erschienen sind und erlebe mit, wie die Serie Kultstatus erreichte.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 36 - 40 der John Sinclair Gespensterkrimis:
36 Zirkus Luzifer
37 Die Totenkopf-Gang
38 Der Unheimliche von Dartmoor
39 Die Nacht des schwarzen Drachen
40 Die Killerpuppen
Tausende Fans können nicht irren - über 320 Seiten Horrorspaß garantiert!
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Seitenzahl: 711
Veröffentlichungsjahr: 2019
Jason Dark
John Sinclair Gespensterkrimi Collection 8 - Horror-Serie
Cover
Über die Serie
Über den Autor
Impressum
ZIRKUS LUZIFER
Vorschau
John Sinclair ist der Serien-Klassiker von Jason Dark. Mit über 300 Millionen verkauften Heftromanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horrorserie der Welt. Für alle Gruselfans und Freunde atemloser Spannung.
Tauche ein in die fremde, abenteuerliche Welt von John Sinclair und begleite den Oberinspektor des Scotland Yard im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit.
Jason Dark wurde unter seinem bürgerlichen Namen Helmut Rellergerd am 25. Januar 1945 in Dahle im Sauerland geboren. Seinen ersten Roman schrieb er 1966, einen Cliff-Corner-Krimi für den Bastei Verlag. Sieben Jahre später trat er als Redakteur in die Romanredaktion des Bastei Verlages ein und schrieb verschiedene Krimiserien, darunter JERRY COTTON, KOMMISSAR X oder JOHN CAMERON.
ZIRKUS LUZIFER
»Hereinspaziert, Ladies and Gentlemen! Grauen, Entsetzen, Angst – Sie werden alles erleben. Nichts ist uns schaurig genug. Die Geheimnisse der Hölle warten auf Sie. Werwölfe lauern auf ihre Opfer. Vampire schleichen durch die Nacht, gieren nach dem frischen Blut junger Mädchen. Albträume werden Wirklichkeit. Tote steigen aus ihren Gräbern. Lassen Sie sich entführen in geheimnisvolle uralte Grüfte, und geben Sie dem Sensenmann persönlich die Hand! Sie meinen, das wäre übertrieben? Dann überzeugen Sie sich vom Gegenteil. Kommen Sie zu uns! Kommen Sie in den Zirkus LUZIFER!«
Mit bebenden Gliedern presste sich Cora Bendix gegen die rissige Wand des Wohnwagens. Aus weit aufgerissenen Augen starrte das hübsche schwarzhaarige Mädchen in die Dunkelheit, die sich zwischen den einzelnen Wohnwagen ballte.
Drüben – vom Zelt her – kämpfte eine schwache Lichtglocke vergeblich gegen die Finsternis an. Der helle Schein kam von der Leuchtschrift, die über dem Tor bogenförmig angeordnet war.
Ab und zu drang ein schriller Musikfetzen an Coras Ohren und hin und wieder das hysterische Schreien eines übernervösen Zuschauers. Eine Geräuschkulisse, die Cora schon seit Monaten kannte – ihr aber immer wieder einen neuen Schauder über den Rücken jagte.
Zirkus Luzifer! Wie oft hatte sie diesen Namen schon verflucht. Ja, es war tatsächlich ein Teufelszirkus, in dem der Satan persönlich Regie führte. Und wer sich nicht unterordnen wollte, war verloren, starb einen grauenvollen Tod.
Aber Cora wollte sich gegen den Terror auflehnen. Lange hatte sie überlegt, hatte in den Nächten nicht geschlafen, sich mit Fluchtgedanken gequält, Zweifel aus dem Weg geräumt und war dann schließlich zu einem Entschluss gekommen.
In dieser finsteren Nacht wollte sie es versuchen.
Cora trug noch immer ihr knappes einteiliges Kostüm. Sie hatte sich nicht getraut, zurück in ihren Wagen zu laufen, um sich umzuziehen. So wie sie war, wollte sie verschwinden. Sie wollte diesen höllischen Kreis aus Angst, Grauen und Tod hinter sich lassen. Aber ob ihr das jemals gelingen würde, war mehr als fraglich. Der Mandarin hatte seine Spitzel und Häscher überall.
Cora presste die Lippen zusammen, als sie an diesen Namen dachte. Der Mandarin war für sie der Inbegriff des Bösen. Verschlagen, tückisch, grausam.
Niemand kannte seinen richtigen Namen, seine Herkunft – und sein Gesicht. Er verbarg es stets hinter einer roten seidenen Halbmaske. Und doch war er der Herrscher des Zirkus. Was er sagte, wurde getan. Dafür sorgte schon Andrax, sein Stellvertreter. Andrax war der Einzige, der den Mandarin näher kannte.
Tagsüber hielt sich der Dämon mit der Seidenmaske, wie der Mandarin auch genannt wurde, versteckt. Doch nachts sah man seine Gestalt zwischen den Wohnwagen umhergeistern. Und wehe dem, dessen Wagen er betrat …
Gerüchte kursierten. Der Mandarin wäre ein Vampir, ein Abgesandter der Hölle oder ein Dämon.
Noch hatte er sich der hübschen Cora Bendix nicht genähert. Aber was nicht war, konnte noch werden, und Cora wollte das Schicksal gar nicht erst herausfordern.
Coras Atem hatte sich wieder beruhigt. Sie war etwas zu schnell gelaufen. Sie wollte noch das Ende der Vorstellung abwarten. Wenn die Leute aus dem Zelt strömten, würde es ihr vielleicht gelingen, ungesehen zu entkommen.
Cora lauschte in die Dunkelheit, und als sie kein verdächtiges Geräusch hörte, verließ sie die Deckung des Wohnwagens. Ihre engen Stoffschuhe versanken im Schlamm. Es hatte erst in der vergangenen Nacht geregnet, und tagsüber war es auch ziemlich kühl gewesen. Zu kühl für Mitte Mai.
In keinem der Wohnwagen brannte Licht. Eine bedrückende Stille lag über dem Platz. Wasserpfützen glänzten. Cora passte einmal nicht auf und versank bis zu den Knöcheln in einer Lache. Das Wasser nässte ihre enge Strumpfhose durch und bildete einen schmierigen Film um ihren linken Knöchel.
Cora war die Partnerin eines Messerwerfers. Das war jedes Mal ein besonderes Schauspiel. Cora wurde auf eine rotierende Scheibe gebunden, und Lui Latero warf die höllisch scharfen Dolche. Er war ein Meister seines Fachs, doch der Clou bestand darin, dass er die Messer nicht neben Cora in die Scheibe warf, sondern genau auf sie zu.
Bei dieser Szene überlief die Zuschauer das kalte Entsetzen, doch Cora war nicht ein einziges Mal verletzt worden. Die Messer drehten jeweils wenige Millimeter vor ihrem Körper ab und wuchteten in die Scheibe.
Cora hatte Lui Latero einmal nach dem Trick gefragt, doch keine Antwort bekommen. Für sie ging das nicht mit rechten Dingen zu, wie auch einige andere Zirkusnummern.
Cora Bendix lief quer über den Platz. Sie wollte das Zelt umrunden, um an den Eingang zu gelangen.
Der Schatten eines Traktors tauchte vor ihr auf. Der Wagen war mit einer Plane abgedeckt. Cora spielte schon mit dem Gedanken, sich unter der Plane zu verstecken, als sie plötzlich ein Geräusch hörte.
Schritte …?
Cora Bendix lauschte mit offenem Mund.
Ja, sie hörte sie ganz deutlich. Jemand näherte sich ihrem Standort.
Aber wer?
Angst kroch in dem Mädchen hoch. Vergeblich versuchte Cora ein Zittern ihrer Glieder zu unterdrücken. Die Angst war einfach stärker.
Diese Unentschlossenheit wurde Cora Bendix zum Verhängnis. Als sie endlich losrennen wollte, war es zu spät.
Der Unbekannte war plötzlich hinter ihr. Ein bärenstarker Arm umfasste Coras Leib, riss das Mädchen zurück, und dann spürte es die scharfe Klinge eines Messers an ihrer Kehle …
Starr vor Angst hing Cora Bendix in den Armen des Unbekannten. Und doch arbeitete ihr Gehirn in diesen schrecklichen Sekunden auf Hochtouren, suchte nach einer glaubhaften Ausrede.
»Wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, schneide ich dir die Kehle durch«, flüsterte eine raue Männerstimme.
Cora gab es einen Stich. Sie kannte die Stimme nur zu gut. Sie gehörte Lui Latero, dem Messerwerfer. Und Cora wusste auch, dass Latero ein treuer Diener des Mandarin war.
Ihre Chancen zerrannen wie Butter in der Sonne.
Das Messer verschwand. Cora sah die Klinge noch kurz aufblitzen, dann bekam sie einen harten Schlag in den Rücken, der sie gegen den Traktor warf.
Cora konnte sich nicht schnell genug abstützen und prallte mit dem Kinn gegen einen vorspringenden Gegenstand. Der Schmerz fuhr ihr bis in den letzten Gehirnwinkel. Noch im gleichen Atemzug spürte sie eine harte Hand auf ihrer Schulter, die sie zurückriss.
Aus einer Handbreit Entfernung starrten sich Cora Bendix und Lui Latero in die Augen.
Der Blick des Messerwerfers war von tödlicher Kälte. Latero trug noch immer sein Kostüm. Nur den breitkrempigen Stetson hatte er abgenommen. Das ölig glänzende, schwarze Haar fiel ihm bis in den Nacken.
»Bist du mir nicht eine Erklärung schuldig?«, fragte Latero gefährlich leise. »Aber ich rate dir gut. Lass dir ja die Wahrheit einfallen, sonst prallt kein Messer mehr ab.«
Der Messerwerfer hatte Coras Handgelenke gepackt und drückte sie zusammen.
»Ich warte!«, zischte er.
Cora zog pfeifend den Atem ein. »Ich – ich wollte ein wenig frische Luft schnappen«, sagte sie. »Mir war es nicht besonders.«
»Wirklich nur Luft schnappen?«, höhnte Latero und drückte zu.
Cora Bendix stöhnte auf und ging in die Knie.
Wie aus unendlicher Ferne vernahm sie die Beifallsovationen aus dem Zelt. Sie wusste, dass die Vorstellung jetzt beendet war. In wenigen Minuten würden die Menschen aus dem Eingang strömen. Und sie hatte vorgehabt, mit ihnen zu laufen und …
Coras Gedankenkette zerbrach.
»Du wolltest abhauen, wie?«, zerschnitt die kalte Stimme des Messerwerfers sie Stille.
»Ich – ich …«
»Ja oder nein?« Latero drückte wieder fester zu.
»Ja!«, schrie Cora Bendix. »Ja, ich wollte weglaufen. Ich …« Ein Tränenstrom erstickte ihre weiteren Worte.
»Ich hatte es mir doch gedacht!« Latero lachte und riss Cora Bendix hoch. »Dein Benehmen war in den letzten Tagen schon recht seltsam. Wie gut, dass ich dich nie aus den Augen gelassen habe. Na, der Mandarin wird sich freuen.«
Cora hörte jetzt Stimmen und Gelächter. Die übrigen Mitglieder der Zirkustruppe verließen das Zelt und strebten auf ihre Wohnwagen zu. Lichter flammten auf, zerschnitten mit ihren hellen Inseln die Finsternis.
»Los, geh!«, kommandierte der Messerwerfer. »Aber denk daran, dass ich immer hinter dir bin.«
Cora versuchte es ein letztes Mal. »Bitte, Lui«, flüsterte sie. »Bitte, lass mich gehen. Ich werde nichts sagen, ich verspreche es dir.«
»Halt dein Maul! Wir gehen beide. Aber zum großen Mandarin. Was meinst du, wie er sich freuen wird. Bestimmt gibt er dir heute noch eine Gala-Show. Und jetzt vorwärts.«
Lui Latero packte das Mädchen kurzerhand an den langen schwarzen Haaren und stieß es mit der anderen Hand ins Kreuz.
Latero war voller sadistischer Vorfreude auf das, was gleich noch folgen würde …
Im Innern des Zeltes war es stockdunkel.
Als Lui Latero die Plane zur Seite schob, kam es Cora Bendix vor, als würde sie geradewegs in den Schlund der Hölle gehen.
Sie zögerte.
Lateros Stoß in den Rücken warf sie vor, und einen Atemzug später wurde sie von der Dunkelheit verschluckt.
Lui Latero zog die Klappe des Seiteneingangs wieder zu. Jetzt war Cora endgültig gefangen. Gefangen in einem Grab, das sich Manege nannte und noch vor einer halben Stunde mit Zuschauern gefüllt war.
Hinter Cora knirschten die Schritte des Messerwerfers im Sand.
»Geh weiter, Süße«, flüsterte Latero, »bis in die Mitte der Manege. Du kennst dich ja hier aus, auch im Dunkeln.«
Cora gehorchte. Ihre Knie zitterten. Eine fürchterliche Angst hielt sie gepackt. Angst vor der Bestrafung des Mandarin, denn diese Bestie kannte keine Gnade!
»Wir sind da!« Lateros Stimme schallte durch das Rund der Manege.
Das Echo der Worte lag noch in der Luft, da flammte ein Scheinwerfer auf. Der breite Lichtstrahl übergoss den Körper des Mädchens mit seiner grellen Lichtfülle.
Geblendet schloss Cora die Augen. In einer plötzlichen Eingebung versuchte sie den Lichtkegel zu verlassen, doch schon nach dem ersten Schritt stoppte sie eine harte Männerstimme.
»Bleib stehen!«
Cora zuckte zurück.
Die Stimme gehörte Andrax. Sie wurde durch einen Lautsprecher verstärkt und klang blechern und unheimlich.
Andrax musste irgendwo in der Dunkelheit der Zuschauerränge lauern.
Ein zweiter Lichtspeer flammte auf, kreuzte den Ersten und blieb auf der runden Scheibe haften, auf die Cora bei ihrem Auftritt festgeschnallt wurde.
Die Scheibe war mit blutrotem Samt bespannt. Es gab Lederschlaufen für Hand- und Fußgelenke. Sie waren jeweils diagonal zueinander angebracht, sodass der Körper mit gespreizten Armen und Beinen an der Scheibe hing.
Die Scheibe selbst stand auf einem schmalen Holzpodium, in das ein Elektromotor eingebaut war, der sie zur Rotation brachte.
Cora ahnte, was man mit ihr vorhatte, und sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.
Doch dann wurde sie abgelenkt, denn ein dritter Scheinwerferstrahl durchbrach das Dunkel.
Er war exakt auf den Mandarin gerichtet!
Der Mandarin saß auf einer Empore über den Zuschauerrängen. Er hockte dort auf seinem hochlehnigen Thron wie ein Geist aus einer anderen fremden Welt.
Eine rote Halbmaske verdeckte die obere Hälfte seines Gesichts. Der giftgrüne, dreiviertellange Umhang war weit geschnitten und besaß einen hochstehenden, bis zum Kinn reichenden Kragen. Auf der Brust des Umhangs befand sich ein weißer Kreis, der mit einem roten M ausgefüllt war.
M – wie Mandarin!
Die Beine des Mandarin steckten in halbhohen dunklen Stiefeln. Der Mann wirkte im ersten Augenblick wie eine lächerliche Comicfigur, doch wer den Mandarin näher kannte, spürte die Aura des Bösen, die von ihm ausging.
Cora Bendix konnte den Unheimlichen nicht sehen, zu sehr wurde sie von den Scheinwerfern geblendet.
Und da erscholl auch schon seine Stimme. Kalt, grausam und herrisch.
»Du wolltest fort, Cora Bendix?«
Cora nickte.
»Ich will eine Antwort!«
»Ja, ich wollte weg!« Cora hatte beschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben. Vielleicht hatte sie dann noch eine kleine Chance.
»Wohin wolltest du?«
»Ich – ich weiß nicht!«
»Du lügst. Bestimmt wolltest du zur Polizei gehen!«
»Nein! Nein!« Cora schrie die Worte heraus und schüttelte wild den Kopf. »Ich – ich wollte nur irgendwo anders leben. Nicht mehr hier. Bitte, lassen Sie mich doch gehen. Ich werde keinem Menschen verraten, was ich in diesem Zirkus erlebt habe.«
Der Mandarin lachte. »Was hast du denn erlebt?«
»Ich – ich …« Cora begann zu stottern.
»Hat sie etwas mitbekommen, Andrax?«, peitschte die Stimme des Mandarin.
»Ich weiß es nicht, Meister!« Die Antwort kam irgendwo aus der Dunkelheit der Ränge.
»Nun gut«, sagte der Mandarin. »Wir müssen auf Nummer Sicher gehen. Ich werde dich nicht in meinen Kreis mit aufnehmen, Cora Bendix. Du bist tief in deinem Innern gegen mich, bist mein Feind. Und Feinde rotte ich aus. Gnadenlos!« Der Mandarin klatschte in die Hände. »Spann sie auf das Rad, Lui!«
Cora hatte den Befehl zwar gehört, aber nicht gedanklich erfasst. Erst als sich die muskulösen Arme des Messerwerfers um ihren Körper spannten, begann sie zu schreien.
Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, stieß ihre angewinkelten Arme nach hinten, um Latero die Ellenbogen in den Körper zu rammen.
Der Messerwerfer hob Cora kurzerhand hoch, warf sie zu Boden und schlug mit der Handkante zu.
Cora Bendix’ Körper wurde schlaff.
Es war ein genau dosierter Schlag gewesen. Das Mädchen erwachte erst, als es bereits gefesselt an dem Rad hing.
Lui Latero stand zwei Schritte vor ihr. In der Hand hielt er seinen Gurt mit den blitzenden Messern.
Sieben Klingen waren es insgesamt!
Sie steckten in breiten festen Lederscheiden, die unterhalb des Gurtes angebracht worden waren. Die mit Perlmuttschalen verzierten Knäufe schauten hervor.
Latero lächelte satanisch. Seine eng stehenden Augen hatten sich zu schmalen Sicheln verengt. Man sah ihm die teuflische Vorfreude auf die ›Bestrafung‹ an.
Aber noch hatte Cora Bendix eine Galgenfrist.
Der Mandarin ergriff wieder das Wort. »Es ist ja dein Auftritt gewesen, Cora Bendix«, sagte er. »Und es wird auch dein letzter sein. Nur habe ich sonst die Messer durch meine magischen Kräfte an dir vorbeigelenkt. Aber diesmal musst du dich völlig auf Lui Latero verlassen. Er ist ein geübter Messerwerfer, doch es kann auch sein, dass ihm ein Fehler unterläuft. Wir werden es abwarten. Fang an, Latero!«
Cora Bendix fühlte in diesen Augenblicken eine nie gekannte Leere in sich. Sie wunderte sich, dass sie nicht einmal Todesangst gepackt hielt. Sie hatte schon mit Menschen gesprochen, die dem Sensenmann im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen waren und von einer großen Angst berichtet hatten. Aber bei ihr war alles anders. Seltsam …
Lui Latero legte sich den Ledergürtel um die Hüften, ging an der gefesselten Cora vorbei und betätigte einen hinter dem Rad liegenden Schalter.
Das Rad begann sich zu drehen. Erst langsam, dann aber immer schneller.
Cora Bendix wurde zu einem rotierenden Schatten. Wie bei jedem Auftritt hatte sie das Gefühl zu schweben, von unbekannten Kräften fortgetragen zu werden.
Etwa zehn Schritte vor dem Rad nahm Lui Latero Aufstellung. Er stellte sich breitbeinig hin und knickte etwas in den Knien ein.
Dann griff er nach dem ersten Messer!
Prüfend wog er es in der Hand, verengte seine Augen. Hart traten die Wangenmuskeln hervor.
Aus dem Handgelenk schleuderte Latero das erste Messer.
Die Klinge wirbelte durch die Luft, drehte sich um die eigene Achse und blieb dicht neben Coras linker Hüfte stecken.
Das zweite Messer!
Es fetzte neben Coras rechter Hüfte in das Holz.
Innerhalb von Sekunden warf Lui Latero sechs Messer. Sie rahmten Cora Bendix ein, waren nicht einmal fingerbreit von ihrem Körper entfernt in das Holz gedrungen.
Noch ein Messer hielt Latero in der Hand.
»Stell die Scheibe ab!«, dröhnte die Stimme des Mandarin durch die Zirkusarena.
Lui Latero gehorchte.
Langsam kam das Rad zur Ruhe, pendelte aus und blieb so stehen, dass Cora Bendix ihrem Mörder in die Augen blicken konnte.
Latero ging wieder zurück.
Die Spannung im Rund des Zirkuszeltes schien mit den Händen greifbar zu sein.
Latero hatte kleine Schweißperlen auf der Stirn. Es war sein erster Mord, er schreckte instinktiv davor zurück. Er wusste aber auch, dass es um ihn geschehen war, wenn er nicht genau das tat, was der Mandarin verlangte.
Latero hob den Arm mit dem Messer.
Er sah den schlanken Mädchenkörper vor sich, eingerahmt von sechs Klingen. Coras Augen schienen ihn durchbohren zu wollen. Er meinte, die Todesangst darin lesen zu können.
Mit dem Rücken der linken Hand wischte sich Latero den Schweiß aus der Stirn.
Nur keinen Fehlwurf …
Latero schleuderte die Klinge.
Blitzend fegte sie durch die Luft, und im Bruchteil von einer Sekunde geschah das Unfassbare.
Die Messerklinge wurde zu einem Flammenbündel. Und sie traf haargenau ins Ziel.
Latero kniff die Augen zusammen und presste sich seine Hände gegen die Ohren.
Er wollte und konnte den Schrei des Mädchens nicht hören, der jedoch von dem gellenden teuflischen Gelächter des Mandarin übertönt wurde.
Cora Bendix starb. Und wieder einmal erlebte der Mandarin einen Triumph …
Lui Latero wusste nicht, wie lange er unbeweglich auf einem Fleck gestanden hatte. Der Scheinwerfer, der die Scheibe angestrahlt hatte, war verloschen.
Seit dem Tod des Mädchens waren nicht einmal fünf Sekunden vergangen.
Fünf Sekunden, die jedoch im weiteren Verlauf des Falls eine große Rolle spielen sollten.
»Hol sie von der Scheibe, Lui!«, befahl der Mandarin. »Und dann steck sie in einen Sack und wirf sie in …«
Weiter kam der Unheimliche nicht. Ein gellender panischer Schrei hallte durch das Zelt, überschlug sich und erstarb jäh.
Jetzt war sogar der Mandarin geschockt!
Sein Kopf ruckte herum. Der Schrei war von einer Frau ausgestoßen worden. Sie musste an dem kleinen Seiteneingang stehen, durch den auch Latero und Cora Bendix gekommen waren.
»Andrax! Latero! Packt sie!«, brüllte der Mandarin. »Und dann bringt sie her!«
Andrax und Latero rannten los. Andrax jagte oben von der Galerie durch einen engen Zuschauergang. Lui Latero rannte direkt auf den Seitenausgang zu.
Wer die unbekannte Zeugin auch war, sie durfte den nächsten Morgen nicht erleben …
Terry Bendix hatte gezittert und gebebt wie all die anderen Zuschauer auch. Sie hatte die blitzenden, höllisch gefährlichen Klingen durch die Luft zischen sehen und bei jedem Wurf die Augen geschlossen.
Dann war die atemlose beklemmende Stille einem ohrenbetäubenden Beifallsorkan gewichen. Genau wie die anderen Zuschauer war Terry Bendix von ihrem Platz gesprungen und hatte sich die Hände fast blutig geklatscht.
Der Auftritt ihrer Schwester Cora und deren Partner gehörte wirklich zu den absoluten Höhepunkten des Programms. Und die durch Fernsehen und Film nicht gerade sensationsarmen Zuschauer forderten stürmisch eine Zugabe.
Doch das Paar verschwand.
Terry Bendix stieß prustend den Atem aus. Sie und Cora waren Schwestern. Halbschwestern, um korrekt zu sein. Terry war die ältere, Cora hatte die Mutter mit in die Ehe gebracht.
Die beiden Geschwister hatten sich trotz des Altersunterschiedes von zehn Jahren immer verstanden. Terry hatte stets auf Cora aufgepasst, und auch wenn die Mutter da war, hatte sie sich um die ›Kleine‹ gekümmert. Die Mädchen waren älter geworden, und die Interessen liefen zwangsläufig auseinander.
Dann kam der Tag, an dem Cora siebzehn Jahre alt geworden war. Von diesem Zeitpunkt an war sie verschwunden. Einfach von zu Hause weggelaufen, ohne eine Angabe von Gründen.
Die Mutter hatte die Polizei eingeschaltet, doch auch sie hatte keine Spur von Cora entdeckt. Man tippte sogar auf ein Verbrechen, dem Cora Bendix zum Opfer gefallen sein konnte. Im Laufe der Zeit wurde Cora jedoch vergessen, und als vor einem Jahr ihre Mutter starb, stand Terry allein da.
Nun, sie war eine Frau, die das Leben nicht umwarf. Terry hatte sich schon immer durchsetzen können und vor keinen Schwierigkeiten kapituliert.
Und vor drei Tagen hatte Terry Bendix den Namen ihrer Schwester auf einem Plakat des Zirkus Luzifer gelesen. Terry hatte sofort gehandelt und sich eine Karte für die Eröffnungsvorstellung besorgt. Sie hatte eigentlich vorgehabt, schon vorher mit Cora in Verbindung zu treten, doch berufliche Gründe hatten sie davon abgehalten. Schließlich war sie mit dem Vorsatz in die Vorstellung gegangen, Cora danach zu treffen.
Aufatmend ließ sich Terry Bendix nach dem gelungenen Auftritt ihrer Schwester wieder auf den Sitz zurückfallen. Sie strich sich den hellgrünen, modisch langen Rock über die Knie und tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Stirn ab.
Es war heiß unter dem Zeltdach, dafür sorgten schon die zahlreichen Scheinwerfer in dem großen Rund.
Die nächsten beiden Auftritte interessierten sie nicht mehr besonders. Einmal kam ein verwachsener, nur mit einem Lendenschurz bekleideter Kerl und aß lebende Mäuse. Als Nachtisch verspeiste er dann noch ein paar Gläser. Eine ziemlich unappetitliche Sache.
Dann tauchte ein Feuerschlucker auf. Er schob die brennenden Schwerter wie Lakritzstangen in seinen Rachen und setzte sich dabei noch in ein gläsernes Terrarium mit armdicken langen Schlangen.
Anschließend nahmen sämtliche Künstler noch die Parade ab, und unter den Beifallsovationen des Publikums verschwanden sie durch ein breites Tor nach draußen.
Terry nahm ihre Schultertasche und stand auf. Sie hatte einen guten, aber relativ ungünstigen Platz erwischt, saß ziemlich weit von einem der Gänge entfernt.
Es dauerte seine Zeit, bis sie sich aus der Sitzreihe geschoben hatte.
Mit kleinen Schritten – und eingekeilt in eine Menschenmenge – strebte sie einem der zahlreichen kleinen Ausgänge zu. Stimmengewirr umbrandete sie. Die Zuschauer hatten die Sensationen noch längst nicht verdaut. Immer wieder wurden die schaurigen Ereignisse im Zirkus Luzifer besprochen.
Draußen atmete Terry die frische Nachtluft in die Lungen. Es war schon dreiundzwanzig Uhr, und sie musste sich beeilen, wenn sie Cora noch sprechen wollte.
Terry umrundete das Zelt. Es kam ihr riesig vor, da sie darauf achtgeben musste, nicht über Schnüre oder herumliegende Balken und Bretter zu stolpern.
Terry wunderte sich, dass ihr kaum ein Mensch begegnete. Die Zuschauer strömten alle in eine andere Richtung. Meistens zu den Parkplätzen oder zur nächsten Bushaltestelle.
Aber hier – im Bereich der Wohnwagen – schien Terry in einer anderen Welt gelandet zu sein.
Alles war dunkel, finster – unheimlich.
Terry fröstelte. Vor ihren Augen sah sie die Schatten der Wohnwagen aufwachsen. Sie konnte auch die Scheiben erkennen, doch hinter keinem der Fenster brannte Licht.
Merkwürdig …
Terry Bendix sucht nach einer Person, die sie nach Cora hätte fragen können, aber nicht einmal ein Hund strich an ihren Beinen vorbei.
Alles wirkte tot, ausgestorben.
Terry beschloss kurzerhand, ihr Glück am nächsten Tag noch einmal zu versuchen.
Sie wollte gerade wieder den Rückweg antreten, als sie den Lichtschein sah. Wie ein schmaler heller Balken drang er unter der Zeltplane hervor und verlor sich in der Dunkelheit.
Licht im Zelt? Terry überlegte. Mit den Zähnen nagte sie auf der Unterlippe. Dort war vielleicht jemand, den sie nach Cora fragen konnte.
Terry hörte Stimmen, konnte aber kein Wort verstehen.
Sie bückte sich und huschte in das Zelt.
Nur drei Scheinwerfer brannten, warfen ihre langen Lichtspeere auf drei verschiedene Punkte.
Und dann stockte Terry der Atem.
Sie sah ihre Schwester! Auf der Scheibe festgebunden. Und Coras Partner warf seine Messer.
Terry hatte nur Augen für dieses Bild. Ihre Gedanken überstürzten sich. Was sollte das bedeuten? Eine Probe? Aber jetzt mitten in der Nacht?
Kaum vorstellbar.
Der Mann hielt nur noch ein Messer in der Hand. Er zögerte etwas mit dem Wurf, und dann schleuderte er die Klinge hoch.
Terry Bendix erlebte den schrecklichen Tod ihrer Schwester mit, als würde ein Zeitlupenfilm vor ihrem Auge ablaufen. Sie konnte das Grauen nicht fassen, stand auf dem Fleck und hatte die Fingernägel in die Handballen gegraben.
Doch dann war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Ein gellender, überkippender Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Ein Schrei, der durch das Zelt hallte und als schauriges Echo zurückgeworfen wurde.
Trotz des Entsetzens, das Terry gepackt hielt, war in ihrem Hirn noch ein Fünkchen Logik vorhanden. Und das sagte ihr: Du musst weg hier!
Terry warf sich auf dem Absatz herum und rannte. Rannte wie noch nie in ihrem Leben.
Hinter ihr gellten Schreie auf. Der Mandarin gab seine scharfen Befehle. Verfolger setzten sich auf die Fährte der unfreiwilligen Zeugin.
Terry hatte die modischen hochhackigen Schuhe fortgeschleudert. Auf Strümpfen hetzte sie durch den Schlamm, riss sich an einem scharfen Gegenstand den rechten Ärmel ihres Pullovers auf. Sie spürte zwar den Schmerz, achtete aber nicht darauf, sondern rannte weiter.
Hinter ihrem Rücken hörte sie die Stimmen der Verfolger. Jetzt flackerte auch in einigen Wohnwagen Licht auf. Bald würde sich eine ganze Meute auf ihre Fersen setzen.
Zum Glück hatte sich Terry den Weg gemerkt, den sie gekommen war. Trotz ihrer Panik fand sie zurück zum Haupteingang. Jetzt musste sie die Richtung zu den Parkplätzen einschlagen, wo auch ihr Wagen – ein zwei Jahre alter Fiat – stand.
Beinahe verloren stand er auf der riesigen Wiese.
Terrys Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Ihr Atem flog. Viel länger hätte sie auch nicht laufen können.
Sie riss sich die Tasche von der Schulter und wühlte nach ihrem Autoschlüssel.
Terry Bendix hatte so viel Schwung, dass sie nicht rechtzeitig stoppen konnte und gegen den Wagen prallte. Aber das war ihr jetzt egal. Endlich hatten ihre tastenden Finger den Schlüssel gefunden. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, das Schloss aufzuschließen.
Da erwischte sie der Strahl einer Taschenlampe.
Terry schrie unwillkürlich auf und zog den Kopf ein. Gleichzeitig riss sie die Tür auf.
»Wir haben sie!«, gellte eine Stimme.
Terry warf sich in den Wagen, verriegelte die Tür, schob den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn herum.
Der Anlasser orgelte.
Herr Gott, lass mich jetzt nicht im Stich!, betete Terry mit zitternden Lippen.
Schon sah sie die ersten Gestalten. Es waren furchterregende Geschöpfe. Mutationen, die im Zirkus auftraten.
Terry erkannte den Verwachsenen, der die lebenden Mäuse gegessen hatte.
Da sprang der Motor an.
Terry fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Sie jagte den ersten Gang ins Getriebe, gab Gas.
Klauenhände krallten sich an dem Fiat fest, versuchten, ihn zurückzuhalten.
Die Räder wühlten im Dreck, warfen Rasen und Erde hoch. Grässliche Fratzen tanzten vor der Frontscheibe, eine Faust hämmerte gegen das Rückfenster.
Der Fiat schleuderte. Terrys Hände krampften sich um das Lenkrad. Hart und weiß traten die Knöchel hervor.
Der Wagen ließ sie nicht im Stich. Er machte einen gewaltigen Sprung und raste los.
Die Verfolger heulten wütend auf. Es war wie in einem Albtraum. Die Sachen klebten Terry am Körper. Ein dünner Blutfaden sickerte an ihrem Kinn entlang, so sehr hatte sich Terry auf die Unterlippe gebissen.
Die junge Frau schaltete die Scheinwerfer ein. Fernlicht!
Die beiden langen hellen Arme zerteilten die Dunkelheit. Terry sah noch einige grauenerregende Gestalten, die wütend mit den Fäusten drohten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schon eingekreist gewesen war.
Plötzlich sprang ihr einer der Teuflischen in den Weg. Er hatte eine grüne Haut mit hervorquellenden Augen und war über und über mit einer schleimigen Flüssigkeit bedeckt.
Ein Ghoul!
Aber das konnte Terry nicht wissen.
Der Ghoul – der abartigste aller Dämonen – warf sich dem Wagen entgegen.
Terry sah ihn plötzlich riesengroß vor der Frontscheibe auftauchen.
»Neiiinnnn!«, schrie sie, rammte den vierten Gang ins Getriebe und trat aufs Gaspedal.
Es gab einen dumpfen, kurzen Schlag. Wie vom Katapult geschleudert, flog der Ghoul durch die Luft, überschlug sich und blieb liegen.
Im gleichen Moment verlöschte auch der linke Scheinwerfer des Fiats. Er hatte den Aufprall nicht überstanden.
Terry raste auch mit nur einem funktionsfähigen Scheinwerfer weiter. Und sie hatte Glück. Der Ghoul war der Letzte gewesen, der sich ihr in den Weg gestellt hatte.
Terry ging nicht vom Gas. Der Fiat jagte über die Bodenunebenheiten, wurde hochgeschleudert und die Stoßdämpfer bis zur äußersten Belastung strapaziert.
Aber sie hielten. Nach fünf Minuten Querfeldeinfahrt erreichte Terry Bendix die Straße, auf der auch der Bus fuhr.
Die Straße mündete in die London Road, die geradewegs ins Zentrum führte.
Terry Bendix schaltete zurück, fuhr jetzt langsamer. Und erst jetzt kam der Schock. Sie merkte, dass sie am ganzen Körper anfing zu zittern, und musste anhalten. Sie legte ihren Kopf gegen das Lenkrad und begann zu weinen.
Terry Bendix bewohnte ein Dachappartement. Es war wie ein Atelier ausgebaut. Ein großer Raum diente gleichzeitig als Schaf- und Wohnzimmer. Durch eine Tür gelangte man in einen winzigen Korridor, in dem ein paar Haken als Garderobe an der Wand hingen und von dem eine Holztür zur Dusche und Toilette führte. Die Südseite des Wohnraums wurde von einem großen Fenster eingenommen, durch das man einen herrlichen Blick auf die Themse und die Tower Bridge hatte.
Terry Bendix erreichte ihre Wohnung fast zwei Stunden nach Mitternacht. Ihre Hände zitterten, als sie die Wohnungstür aufschloss. Sie schaffte es erst beim zweiten Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
Sofort machte Terry Licht. In der Diele flammte die alte, von ihrer Mutter geerbte Hängelampe auf, und im Wohnzimmer brannten wenig später die vier Wandleuchten.
Aufatmend ließ sich Terry in einen Sessel fallen. Neben dem Sessel stand ein kleines, mit einer Kühlung versehenes Fass. Es diente als Hausbar.
Terry Bendix gönnte sich einen französischen Cognac. Sie trank auch noch einen zweiten und betrachtete dann ihre blutigen Füße.
Die Fußsohlen waren dick angeschwollen und blutig. An den Schmerz hatte sich Terry inzwischen gewöhnt.
Sie stand auf, streifte sich die Kleider vom Leib, humpelte in den winzigen Duschraum und stellte sich unter die Brause.
Terry nahm mehrere Wechselbäder, frottierte sich dann ab und rieb sich die Füße mit einer Salbe ein. Sie wollte aber trotzdem später noch einen Arzt aufsuchen.
Terry Bendix hatte inzwischen ihre Panik verdrängt. Jetzt begann sie zu überlegen. Sie hatte einen Mord gesehen, okay. Normal wäre gewesen, sofort die Polizei zu verständigen. Aber daran hatte sie in ihrer ersten Angst gar nicht gedacht. Doch hätten ihr die Beamten die Geschichte von einem brennenden Dolch überhaupt abgenommen? Unwahrscheinlich, und außerdem hatten die Mörder sicherlich schon alle Spuren verwischt.
Was also tun? Terry fiel ein Mann namens Simon Dexter ein, den sie vor Kurzem auf einer Party kennengelernt hatte. Der Mann war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen, und sie hatte sich auch schon zweimal mit ihm getroffen. Dabei hatte sie von Dexter erfahren, dass er für die Regierung arbeitete. Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen.
Terry nahm an, dass er beim Secret Service – beim Geheimdienst also – beschäftigt war.
Vielleicht konnte Dexter ihr helfen?
Das Notizbuch mit den Adressen steckte in ihrer Handtasche. Terry blätterte es hastig durch und fand auch die Telefonnummer des Mannes. Noch zögerte sie, ihn anzurufen. Schließlich war es eine ziemlich unchristliche Zeit.
Doch hier lag ein echter Notfall vor. Entschlossen wählte Terry die Nummer. Fünfmal klingelte es, dann wurde auf der anderen Seite abgehoben.
»Dexter«, meldete sich eine raue, verschlafene Stimme.
»Simon, ich bin’s, Terry. Du, entschuldige, dass ich dich um diese Zeit anrufe, aber mir ist etwas Schreckliches passiert.«
Dexter brummte nur und fragte: »Hatte das nicht Zeit bis morgen?«
»Nein, Simon.« Terry biss sich auf die Lippe. »Bitte, hör mir einen Augenblick zu. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Okay, Baby, schieß los.« Terry hörte, wie sich Dexter in den Kissen aufrichtete.
Die junge Frau begann mit ihrem Bericht. Sie sprach hastig und musste sich ein paar Mal wiederholen. Schließlich – es waren einige Minuten vergangen – fragte sie: »Was hältst du nun von der Sache, Simon?«
Dexter sagte erst einmal nichts. Dann kam seine vorsichtige Stimme: »Sag mal, Baby, hast du schlecht geträumt? Oder warst du in einem Horrorfilm?«
»Nein, Simon. Ich bin auch nicht betrunken, falls du das vielleicht meinst. Alles hat sich tatsächlich so abgespielt, wie ich es dir erzählt habe.«
»Nun gut, nehmen wir mal an, es stimmt. Aber wie soll ich dir dabei helfen?«
»Ich dachte, wir – wir könnten zusammen …«
»Was du auch vorhast, Baby, es geht nicht. Ich fliege in einigen Stunden dienstlich nach Teheran und kann auf keinen Fall etwas für dich tun.«
»Dann entschuldige«, sagte Terry mit trauriger Stimme.
Vielleicht war es gerade diese Antwort, die in Simon Dexter so etwas wie Mitleid weckte, denn er sagte: »Einen Rat kann ich dir noch geben, Terry. Es ist klar, du hast einen Fehler gemacht, daran geht kein Weg vorbei. Aber es gibt beim Yard einen Mann, der sich für solche Sachen, wie du sie angeblich erlebt hast, interessiert. Er ist Oberinspektor und heißt John Sinclair. Hast du verstanden?«
»Ja, Simon.«
»So, und jetzt lass mich schlafen. Ich melde mich irgendwann mal wieder.«
Mit diesen Worten hängte Simon Dexter ein.
Auch Terry Bendix legte den Hörer auf. Sie riss einen Zettel aus ihrem Notizbuch und schrieb in großen Buchstaben einen Namen auf das Blatt: JOHN SINCLAIR.
Gleich morgen, beziehungsweise heute, wollte sie den Mann aufsuchen. Hoffentlich verstand er sie besser.
Der Mandarin hatte seine Meute um sich versammelt. Es waren grässliche Gestalten, Albtraumgeschöpfe aus der finsteren Hölle. Der Mandarin – selbst ein Ausgestoßener – hatte die Verdammten und Verstoßenen unter seine Fittiche genommen. Er hatte sie aus aller Welt zusammengeholt, wo sie sich vor Menschen und Dämonen verkrochen hatten.
Die meisten hatten als Einzelwesen dahinvegetiert. Sie hatten sich irgendwann in ihrem unseligen Dasein etwas zuschulden kommen lassen, und die Strafe der Hölle war brutal und gnadenlos. Jeder Dämon hatte das Recht, sie zu töten, wenn er einen von ihnen entdeckte, und viele waren schon Opfer ihrer früheren Freunde geworden.
Manche waren auch in die Hände von Menschen geraten, die sie dann einem sensationslüsternem Publikum auf Jahrmärkten zur Schau stellten. Und auf diesen Jahrmärkten hatte auch der Mandarin seinen treuen Stamm gefunden.
Als Einzelne bedeuteten die Ausgestoßenen nichts. Doch gemeinsam stellten sie eine tödliche Gefahr dar, vor allem dann, wenn ein Mann wie der Mandarin ihnen die Befehle gab.
Natürlich hatte er nicht nur Dämonen um sich gesammelt. Nein, auch normale Menschen waren in seine Abhängigkeit geraten, wie Lui Latero oder Andrax, sein Stellvertreter.
Zirkus Luzifer! Das sollte die Basis für seinen Erfolg werden. Die Menschen würden kommen, zu Hunderten würden sie zu den Vorstellungen strömen, und dann konnte er sie mit seinen dämonischen Fähigkeiten zu seinen Sklaven machen.
Am heutigen Abend hatte er seine Generalprobe gehabt und seine schwarzen Künste noch nicht eingesetzt. Aber morgen schon, wenn die Vorstellung ausverkauft war – gab es kein Pardon mehr. Dann würde die Besucher der Bannstrahl des Dämons treffen und sie willenlos machen. Ein Chaos bahnte sich an …
Doch im Augenblick dachte der Mandarin gar nicht daran. Er hatte andere Sorgen. Seine Häscher hatten versagt. Die Zeugin war entkommen!
In demütiger Haltung standen Lui Latero und Andrax vor ihm. Angst zeichnete die Gesichter der beiden Männer. Die anderen Dämonen hielten sich im Hintergrund. Unter ihnen befanden sich auch zwei Mädchen, rassig und schön, aber mit den nadelspitzen Zähnen von Vampiren ausgestattet.
Der Mandarin fletschte die Zähne. »Wie war es möglich, dass euch diese Frau entkommen konnte?«
Andrax gab die Antwort. »Sie hatte einen Wagen auf dem Parkplatz geparkt. Wir hätten sie auch fast gekriegt, aber dann war sie doch eben schneller.«
Der Mandarin lachte böse. »Und ihren Namen wisst ihr auch nicht?«
»Nein!«
Nur mit Mühe konnte sich der Mandarin beherrschen. Sein gesamter Plan konnte durcheinandergeraten. Diese Frau war eine wichtige Zeugin. Sie hatte einen Mord gesehen, würde zur Polizei laufen. Die Bullen konnten ihm zwar nicht viel anhaben, aber es würde endlose Verhöre geben, und unter Umständen musste die Vorstellung am nächsten Abend ausfallen.
Das durfte auf keinen Fall geschehen.
»Wie ist sie überhaupt auf das Gelände gekommen?«, wollte der Mandarin wissen. »Und was hatte sie hier zu suchen? Kann mir da einer eine Erklärung geben?«
»Vielleicht war sie in der Vorstellung«, meinte Lui Latero.
»Und weshalb ist sie dann nicht nach Hause gegangen wie die anderen?«, höhnte der Mandarin. »Warum hat sie sich noch auf dem dunklen Gelände herumgetrieben? Sie muss doch einen Grund gehabt haben!«
Auf diese Frage konnte ihm niemand eine Antwort geben. Aber der Mandarin ließ nicht locker.
»Wir werden sie finden«, dröhnte er. »Ihr werdet morgen London auf den Kopf stellen. Und vielleicht war auch einer von euch so schlau und hat sich die Autonummer gemerkt.«
Die Antwort war ein allgemeines Kopfschütteln.
Am liebsten hätte der Mandarin seine Leute der Reihe nach totgepeitscht, aber er beherrschte sich. Stattdessen deutete er auf die Scheibe, an der noch immer die tote Cora Bendix hing.
»Steckt sie in einen Sack, und werft sie in die Themse!«, befahl er. »Wir müssen alle Spuren verwischen.«
Lui Latero und Andrax wollten diese Aufgabe übernehmen. Doch bevor sie die Leiche von der Scheibe losbinden konnten, ereignete sich ein Zwischenfall, der dem Geschehen eine drastische Wende geben sollte.
Conga, der im Zirkus als Steinzeitmensch auftrat und dicke Ketten sprengte, kam plötzlich mit seinem watschelnden Gang in das Zelt gelaufen.
Conga konnte keinen Ton sprechen. Er stieß nur urige Laute aus. Der Mandarin hatte ihn in Russland aufgelesen. Conga war in den Wäldern der Taiga groß geworden und hatte sich von Wild und Beeren ernährt. Er trug raue Fellkleidung, hatte krauses, pechschwarzes Haar, eine wulstige Nase und dicht zusammenstehende Augen, die seinem Gesicht ein böses Aussehen verliehen.
Conga fiel vor dem Mandarin auf die Knie und schwenkte triumphierend einen grünen Damenschuh.
Der Mandarin riss ihm den Schuh aus der Hand.
Sekundenlang betrachtete er ihn, dann warf er Andrax den Schuh zu.
»Hier, den wird die Frau verloren haben.«
Andrax nahm den Schuh, und plötzlich glitt ein böses Lächeln über sein Gesicht. Grinsend hielt er das Beutestück hoch.
»Ich glaube, wir werden gar nicht so lange nach der Frau zu suchen brauchen«, sagte er. »Im Innern des Schuhes steht der Name BOUTIQUE PARIS. Ich kenne den Laden. Ein ziemlich teures Geschäft, dort kauft nicht jeder. Vielleicht haben wir Glück und können die Spur des Schuhs bis zu seiner Käuferin zurückverfolgen.« Andrax presste den Schuh wie ein wertvolles Kleinod an sich. »Morgen früh werden wir wohl die ersten Kunden im Laden sein«, sagte er gefährlich leise …
Wie jeder normale Mensch so freute sich auch Oberinspektor Sinclair auf das Wochenende. Deshalb hatte er eine strahlende Freitagslaune, als er sich morgens um acht Uhr hinter seinen Schreibtisch pflanzte. Hinzu kam noch, dass Superintendent Powell – John Sinclairs Chef – für einige Tage dienstlich unterwegs war und den Oberinspektor nicht mit Aktenkram zuschütten konnte.
Doch erst einmal kam Glenda Perkins – ein schwarzhaariges Wesen und seit einer Woche beim Yard. Sie servierte den Morgenkaffee.
John lächelte. »Wenn der Kaffee so schmeckt, wie Sie aussehen, Glenda, kann nichts mehr schiefgehen. Vielen Dank übrigens.«
Glenda wurde rot, lächelte zurück und verließ das Büro.
»Netter Käfer«, murmelte John, nahm einen Schluck Kaffee, nickte zufrieden und dachte daran, dass beim Yard eigentlich zu wenig hübsche Mädchen beschäftigt waren. Wenn er da so an Superintendent Powells Vorzimmerdrachen dachte …
Eine Minute später war Glenda Perkins wieder da. Allerdings nicht persönlich, sondern am Telefon.
»Eine Miss Terry Bendix möchte Sie sprechen, Sir«, sagte sie.
»Hm.« John ließ das Feuerzeug anschnippen und zündete sich eine Zigarette an. »Hat sie denn nach mir verlangt, Glenda? Sonst können Sie sie ja auch …«
»Sir, Sie möchte nur mit Ihnen sprechen. Mit Oberinspektor John Sinclair, wie sie sagt.«
»Okay, dann bringen Sie die Dame mal hoch, Glenda. Und lassen Sie in Zukunft das Sir weg.«
»Ja, Si…«
Als Terry Bendix wenig später in Johns Büro stand, war er überrascht. Er hatte selten eine Frau mit einer solchen Ausstrahlungskraft gesehen, obwohl unter den Augen seiner Besucherin dunkle Ringe lagen, die auf eine schlaflose Nacht schließen ließen.
Außerdem wunderte sich John, dass Terry Bendix keine normalen Schuhe trug, sondern eine Art Pantoffeln, in die ihre Füße bald zweimal hineinpassten.
Auch Terry Bendix schien überrascht zu sein. Wahrscheinlich hatte sie einen älteren Mann erwartet, aber nicht jemanden knapp über dreißig, mit blonden, kurz geschnittenen Haaren, stahlblauen Augen und einer halbmondförmigen Narbe auf der rechten Wange.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Miss Bendix«, sagte John, nachdem er sich vorgestellt und seiner Besucherin die Hand geschüttelt hatte.
»Danke.« Terry Bendix setzte sich. Nachdem sie auch einen Kaffee bekommen hatte, kam sie endlich zur Sache. »Wahrscheinlich werden Sie mich für übergeschnappt halten, Sir, aber was ich Ihnen zu berichten habe, entspricht voll und ganz den Tatsachen.«
»Wissen Sie«, entgegnete John, »ich bin haarsträubende Geschichten gewöhnt. Reden Sie offen, und dann werden wir schon weitersehen.«
Und Terry erzählte. Von Anfang an.
John Sinclair war ein geduldiger Zuhörer und unterbrach seine Besucherin mit keinem Wort.
Schließlich fragte Terry: »Nun, glauben Sie mir noch immer, Herr Oberinspektor?«
»Sie werden lachen – ja.«
Terry lehnte sich aufatmend in ihren Stuhl zurück.
»Himmel, dann bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon Angst, dass Sie mich auslachen würden. Genau wie mein Bekannter.«
»Nein, Ihr Bekannter hat Sie exakt an die richtige Stelle verwiesen. Aber jetzt mal zu dem Fall. Ich habe natürlich schon von diesem Teufelszirkus gehört und auch das reißerische Plakat gelesen, hatte aber nicht damit gerechnet, dass Schwarze Magie im Spiel ist. Normalerweise treten Dämonen mehr versteckt auf. Sie wissen natürlich, Miss Bendix, dass Sie sich in großer Gefahr befinden. Man wird alles daransetzen, um Sie umzubringen.«
Terry lächelte beruhigend. »Sie kennen ja meinen Namen nicht.«
»Von der Hoffnung will ich Sie gleich befreien«, erwiderte John. »Dämonen haben mehr Möglichkeiten als Menschen. Sie könnten zum Beispiel durch eine magische Beschwörung Ihren Namen und den Wohnort herausfinden, oder, was vielleicht ganz normal ist, sie haben sich Ihre Autonummer gemerkt.«
Terry Bendix war blass geworden. »Sie können einem ja richtig Angst einjagen.«
»Ich wollte Sie nur zur Vorsicht mahnen, Miss Bendix.« Johns Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Die Leiche Ihrer Schwester werden diese Leute sicherlich beseitigt haben, das liegt auf der Hand. Leider wissen wir auch nicht, was sie vorhaben, und in diesem Fall ist Angriff die beste Verteidigung.«
»Wie meinen Sie das, Herr Oberinspektor?«
»Ganz einfach. Ich hatte fürs Wochenende sowieso noch nichts vor, und deshalb werde ich heute Abend mal in den Zirkus gehen.«
Terry Bendix’ grüne Augen blitzten auf. »Das ist eine Idee. Ich bin dabei.«
John schüttelte den Kopf. »Das kommt gar nicht infrage. Ich lasse nicht zu, dass Sie sich in tödliche Gefahr begeben.«
Deutlich malte sich die Enttäuschung auf dem Gesicht der Frau ab.
»Aber was soll ich denn machen?«
»Gar nichts. Wir werden Sie in Schutzhaft nehmen. Schließlich befinden Sie sich in Lebensgefahr.«
»Tja, wenn das so ist.« Terry hob die Schultern. »Schwierigkeiten bestehen nicht. Ich habe mir für heute bereits Urlaub genommen, und am Montag …«
»… ist vielleicht alles vorbei«, erwiderte John Sinclair zuversichtlich. Dann deutete er auf Terrys Füße. »Aber zu einem Arzt müssten Sie auch noch. Passen Sie auf. Ich werde Sie dorthin begleiten, und anschließend fahren wir zu Ihrer Wohnung und Sie packen einige Sachen zusammen. Ich kann Ihnen versichern, Sie werden die komfortabelste ›Zelle‹ bekommen, die es bei uns gibt. Ein Luxus-Hotel kann nicht besser sein.«
Terry Bendix lachte. »Sie machen mir die Schutzhaft ja direkt schmackhaft.«
»So war es ja auch gedacht.« John erhob sich. »So, dann wollen wir mal. In einigen Stunden ist für Sie die Sache erledigt.«
John Sinclair hatte sich selten so geirrt wie in diesem Augenblick.
Andrax war der erste Kunde an diesem Morgen.
Kaum hatte sich die gläserne Eingangstür der BOUTIQUE PARIS hinter seinem Rücken geschlossen, als auch schon eine Verkäuferin auf den gutgekleideten Herrn in dem grauen, modernen Nadelstreifen-Anzug zukam.
»Also, es ist so«, sagte Andrax und holte aus einem kleinen Leinenbeutel den gefundenen Schuh hervor. Er legte ihn auf die Handfläche und fragte: »Der ist doch von Ihnen, oder?«
Die Verkäuferin nickte. »Ja, natürlich, Sir, der Name des Geschäftes steht ja auch darin. Es ist übrigens ein besonders schönes Stück. In Paris hergestellt und nur …«
»Das sehe ich doch«, unterbrach Andrax und spielte seinen gesamten Charme aus. »Ich hätte nur gern von Ihnen gewusst, wer diesen Schuh gekauft hat. Vielmehr das Paar Schuhe.«
Die Augen der Verkäuferin wurden groß. Misstrauen flackerte in ihnen auf.
»Warum möchten Sie das wissen?«
Andrax wusste, dass er jetzt aufpassen musste, wollte er sich nicht verraten und auf Widerstand stoßen.
»Ihnen das zu erklären, würde eigentlich zu weit führen, Miss.« Seine Stimme nahm einen beschwörenden Klang an. »Ich bin Privatdetektiv und in einem – na, sagen wir Geheimauftrag unterwegs. Ich sagen Ihnen das nur, aber bitte, halten Sie den Mund.«
»Aber – das ist ja …« Die Verkäuferin wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Terry hat doch nie …«
»Terry heißt sie also.« Andrax ließ das naive Girl, das sich noch nicht einmal seinen Ausweis hatte zeigen lassen, gar nicht erst weiter zur Besinnung kommen. »Und wie weiter?«
»Bendix. Terry Bendix. Sie arbeitet bei uns als erste Verkäuferin. Heute allerdings hat sie sich frei genommen. Sie hat gesagt, sie wäre krank.«
»Glauben Sie das?«
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht mehr. Also, ich hätte nie gedacht …«
»Kann ich Ihnen helfen?« Die Besitzerin der Boutique kam auf das ungleiche Paar zu und sah beide fragend an.
Andrax verbeugte sich leicht. »Nein, Madam, ich hatte nur einige Fragen. Nichts Besonderes.«
»Eine Reklamation?«
»Auch da kann ich Sie beruhigen, Madam. Es war eine private Sache mit Ihrer Angestellten. Sie entschuldigen mich jetzt.«
Andrax verneigte sich und verließ unter den Blicken der beiden Frauen das Geschäft.
Draußen atmete er tief aus. Teufel, da hatte er ja noch einmal Glück gehabt. Er hätte nie gedacht, dass alles so einfach gehen würde. Aber manche Menschen waren eben nicht gerade mit großen Geistesgaben gesegnet.
Lui Latero wartete im Wagen.
»Nun, hat es geklappt?«, fragte er, als Andrax sich auf den Beifahrersitz schwang.
»Und wie. Ich weiß den Namen, und jetzt brauchen wir nur noch die Adresse herauszufinden.«
Latero lachte glucksend. »Na, die wird sich freuen, wenn sie plötzlich Besuch erhält. Wie wollen wir es machen? Fahren wir beide hin?«
»Die Entscheidung überlassen wir dem Mandarin«, erwiderte Andrax. »Erst einmal werden wir ihm die gute Nachricht überbringen, und dann können wir weitersehen.«
Sie waren zu viert.
Der Mandarin hatte befohlen, ganz auf Nummer Sicher zu gehen. Andrax und Lui Latero hatten die beiden Vampirinnen noch mitnehmen müssen.
Mit bleichen, blutleeren Gesichtern saßen die Frauen im Fond des Rovers. Sie fühlten sich nicht wohl bei Tageslicht, das war ihnen deutlich anzumerken.
Der dunkelgrüne Rover rollte mit seiner unheimlichen Besatzung durch London. Latero saß hinter dem Lenkrad, und auf dem vierspurigen, breiten Grosvenor Place ordnete er sich auf den rechten Fahrstreifen ein. Linker Hand schimmerte das satte Grün des Green Parks. Der Grosvenor Place bildete praktisch den Trennstrich zwischen dem Park und dem Stadtteil Belgravia, in dem auch Terry Bendix wohnte.
Ihr Haus stand in der Wilton-Street, die geradewegs in den Grosvenor Place einmündete.
Es war eine reine Wohn- und Geschäftsgegend. Zahlreiche Einzelhändler hatten unten in den Häusern ihre Läden. Toreinfahrten gähnten zwischen den Häusern, führten in Hinterhöfe, die wiederum von anderen Höfen durch Brandmauern oder kleinen Gärten getrennt waren. In diesem Viertel war alles ineinander verschachtelt und deshalb für das Vorhaben der Männer gut geeignet.
Etwa fünfzig Yards von Terry Bendix’ Wohnhaus entfernt fanden sie einen Parkplatz.
Latero ließ den Rover in die Lücke rollen, und Andrax wandte noch einmal den Kopf.
»Ihr wisst also Bescheid«, sagte er. »Seht euch erst einmal um, und dann macht es unauffällig. Vielleicht kann eine von euch auch von der Rückseite des Hauses kommen oder der Frau zumindest den Weg abschneiden.«
Tanja und Ilonka nickten. Dann stiegen sie aus.
Einige Männer blieben stehen, als die beiden schwarzhaarigen Mädchen über den Bürgersteig ihrem Ziel entgegengingen. Mit unbewegten Gesichtern näherten sie sich dem Haus und kümmerten sich nicht um Blicke oder Pfiffe.
Anhand der Klingelschilder sahen sie, dass Terry Bendix in der letzten Etage wohnte. Sie mussten also durch das gesamte Haus, um zu ihrer Wohnung zu gelangen.
Die Haustür stand offen. Eine Bewohnerin putzte den Flur und betrachtete die beiden Vampirinnen mit misstrauischen Blicken.
»Suchen Sie jemanden?«
Tanja antwortete: »Ja, Miss Bendix.«
»Die ist im Geschäft. Da müssten sie schon heute Abend wiederkommen.«
Doch das wussten die beiden Untoten besser. Sie bedankten sich trotzdem für die Auskunft und waren wenig später in der schmalen Einfahrt neben dem Haus verschwunden.
Es roch nach Abfällen und fauligem Obst. Zersplitterte Holzkisten lagen an der Wand, daneben standen Mülltonnen. Die Deckel waren halb offen, der Unrat quoll über.
Der Hinterhof war eng. Ein baufälliger Stil duckte sich gegen eine hohe Ziegelsteinmauer. Auf einer Leine flatterten Wäschestücke mit leichtem Grauschimmer. Und – was den beiden Frauen besonders auffiel – eine rostige Feuerleiter führte an der Rückseite des Hauses in die Höhe. Sie endete dicht unter einem schräg verlaufenden kleinen Dach, über das sich das breite Atelierfenster der Bendixschen Wohnung hochwölbte.
Eine ideale Ausgangsposition.
Die beiden Vampirinnen hatten wohl die gleichen Ideen.
»Ich versuche es über die Feuerleiter«, sagte Tanja, »und schneide ihr den Rückweg ab. Du kannst ja ganz offiziell an der Tür klingeln.«
Tanja wartete, bis ihre Schwester verschwunden war, dann machte sie sich an den Aufstieg. Sie konnte den unteren Rand der Feuerleiter mit einem gewaltigen Sprung erreichen. Ein schneller Klimmzug, und sie stand schon auf der ersten Stufe. Rasch überwand sie Sprosse für Sprosse.
Gesehen hatte sie bisher niemanden. Nur ein paar spielende Kinder im Nachbarhof wunderten sich über die Frau, die dort die Leiter hochstieg. Doch bald hatten sie dieses Bild vergessen.
Als Ilonka wieder die Straße betrat, kam ihr Andrax schon entgegen. In seinen Augen funkelte es wütend.
»Sie ist gekommen«, sagte er schnell. »Aber nicht allein. Ein Kerl war bei ihr und ist mit in die Wohnung gegangen.«
»Kanntest du ihn?«
»Nein.«
»Ach, mit dem werden wir fertig«, behauptete Ilonka. »Wir haben sie sowieso in der Zange. Tanja kommt von der Rückseite. Es gibt im Hof eine Feuerleiter. Und sollte etwas schieflaufen, kannst du dich ja um den Kerl kümmern.«
»Worauf du dich verlassen kannst. Geh jetzt.«
Die Untote lief auf die Haustür zu. Ein Holzkeil hielt sie offen. Tür und Treppe glänzten noch nass. Die Putzfrau war nicht zu sehen.
Ilonka huschte in den Flur und hatte schon Sekunden später den ersten Treppenabsatz erreicht.
Unten im Flur hörte sie das Scheppern von einem Eimer und dann eine keifende Stimme: »Verdammt noch mal, wer ist mir denn da wieder durchgerannt.«
Die Untote grinste teuflisch. Das Geschrei der Alten kümmerte sie nicht. Sie dachte nur noch an Terry Bendix und deren köstliches Menschenblut …
Der Arzt hatte Terrys Füße verpflastert. Die Wunden sahen schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit gewesen waren.
»Und passen Sie beim nächsten Mal auf, wenn Sie barfuß laufen«, sagte der Arzt noch zum Abschied.
Terry lächelte. »Worauf Sie sich verlassen können.«
John Sinclair hatte es sich in dem muffigen Wartezimmer bequem gemacht.
Als Terry den Raum betrat, stand er auf und legte die Zeitung weg, in der er gelesen hatte.
»Alles klar?«
Terry nickte lächelnd. »Ja, die Füße sind noch dran.« Sie trug noch immer ihre weiten Pantoffeln und humpelte neben John zum Wagen.
Der metallicfarbene Bentley war frisch gewaschen und eingewachst worden. Die Maisonne spiegelte sich auf dem Lack.
»So, und jetzt werden Sie packen, und dann geht es ab«, sagte John, als er den Wagen aus der Parklücke lenkte und sich in den Verkehr einreihte.
Die Frau, die den Flur putzte, wunderte sich, als sie die beiden sah. Sie richtete sich auf, und sofort erwachte ihre Neugierde. Unverblümt musterte sie John von Kopf bis Fuß.
»Zufrieden?«, fragte der Geisterjäger.
Die Frau bekam einen roten Kopf und wandte sich dann an Terry Bendix.
»Zwei Damen haben nach Ihnen gefragt«, sagte sie.
Terry krauste die Stirn. »Wann war das denn?«
»Vor einigen Minuten. Sie sind aber dann wieder gegangen.«
»Das waren bestimmt Verkäuferinnen aus unserem Laden, die einen Krankenbesuch machen wollten«, sagte Terry. »Kommen Sie, John.«
Terry hatte bewusst nicht den Dienstgrad genannt. Die Frau brauchte nicht zu wissen, dass John Sinclair bei der Polizei war.
Kopfschüttelnd sah die putzwütige Alte den beiden nach.
»Das ist richtig«, knurrte sie, »krankfeiern und dann noch einen Kerl mit nach Hause bringen.«
Terry hatte kaum ihre Wohnungstür aufgeschlossen, da klingelte schon das Telefon.
»Wer kann das denn sein?«, sagte sie, lief so schnell es eben ging auf den Apparat zu und hob den Hörer ab.
John schloss die Tür.
Er war ehrlich überrascht, als er die Wohnung sah. So etwas hätte er in diesem alten Haus wirklich nicht vermutet.
Während Terry telefonierte, schaute sich John um. Möbel und Bilder waren aufeinander abgestimmt. Die Einrichtung war modern, aber nicht zu versponnen, und das große Atelierfenster gestattete einen herrlichen Blick auf London, bald bis hinüber zu der berühmten Tower-Bridge.
Ein kleines, vorgebautes Schrägdach befand sich draußen unter dem Atelierfenster. Die Pfannen waren vom vielen Regen stumpf und abgewaschen. Zwischen den Ritzen wucherte Moos.
Terry Bendix hatte ihr Gespräch beendet. Nachdenklich blickte sie den Oberinspektor an.
»Ist irgendetwas?«, fragte John.
»Ja. Meine Chefin hat angerufen. Im Geschäft hat sich ein Mann nach mir erkundigt. Er hat sich als Privatdetektiv ausgegeben und meinen grünen Schuh vorgezeigt, den ich auf der Flucht verloren habe.«
Augenblicklich begannen bei John Sinclair sämtliche Alarmglocken zu rasseln.
»Verdammt«, knirschte er. »Jetzt haben sie Ihre Spur gefunden. Hat man denn Ihren Namen preisgegeben?«
»Ja. Der Mann ist ausgerechnet an Ginny geraten. Sie ist schrecklich naiv.«
John Sinclair presste die Lippen zusammen. Dann blickte er auf seine Uhr.
»Wann können Sie mit Packen fertig sein?«
»In einer halben Stunde.«
»Viel zu spät. Ich gebe Ihnen höchstens zehn Minuten. Wenn die Kerle Ihre Adresse wissen, wird es nicht lange dauern, und sie sind hier. Also, beeilen Sie sich.«
Terry Bendix lief auf den Einbauschrank zu. Sie wollte ihn gerade öffnen, als es klingelte.
Terry zuckte zusammen. Ihr Gesicht war plötzlich blass. »Wer kann das sein?«
»Öffnen Sie ruhig«, sagte John. »Die Kerle werden es kaum wagen, in aller Öffentlichkeit anzukommen.«
»Wenn Sie meinen.« Zögernd ging Terry zur Tür.
John blieb zurück. Sein Blick fiel durch das breite, schräg verlaufende Fenster. Und dann weiteten sich seine Augen. Eine Gestalt tauchte plötzlich auf dem kleinen vorspringenden Dach auf.
Eine Frau!
John sah die schwarzen Haare und den schlanken biegsamen Körper. Im Hintergrund hörte er, wie Terry Bendix die Tür öffnete und irgendetwas sagte.
Doch John interessierte im Moment nur die Frau auf dem Dach.
Die Schwarzhaarige entdeckte den Oberinspektor nur wenige Sekunden später.
Sie kam aus ihrer geduckten Haltung hoch. In ihren Augen blitzte es auf, dann zog sie plötzlich die Oberlippe zurück, und zwei nadelspitze Vampirzähne grinsten John an.
Und im nächsten Moment überstürzten sich die Ereignisse …
Plötzlich breitete die Untote die Arme aus. Sie bog ihren Körper nach vorn, stieß sich kraftvoll ab und flog genau auf das große Atelierfenster zu.
John Sinclair stockte der Atem.
Doch einen Augenblick später ging das Glas klirrend und krachend zu Bruch. Ein Splitterregen fegte ins Zimmer.
John Sinclair riss schützend beide Arme vor sein Gesicht, um von den unzähligen kleinen Glaspartikeln nicht getroffen zu werden.
Die Untote kam wie ein Orkan über den Geisterjäger.
John hörte noch aus der kleinen Diele Terry Bendix’ gellenden Schrei, als eine knochenharte Faust seine erhobenen Arme zur Seite schlug.
John taumelte.
Die Untote heulte auf. Sie hatte mit ihrer Aktion erreicht, was sie wollte. Johns Hals lag frei und damit die dicken Adern, durch die das für Vampire so lebenswichtige Blut floss.
Tanja selbst hatte sich bei ihrem Sprung durch die Scheibe nicht verletzt. Zwar steckten einige Splitter in ihrer Haut, doch kein Tropfen Blut quoll aus den Wunden. Zu leer war der Körper, der nach neuem frischen Lebenssaft dürstete.