14,99 €
10 gruselige Folgen der Kultserie zum Sparpreis in einem Band!
Mit über 250 Millionen verkauften Romanen und Taschenbüchern, sowie 5 Millionen verkauften Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horror-Serie der Welt.
Begleite John Sinclair auf seinen gruseligen Abenteuern und ziehe mit ihm in den Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit. Erlebe mit, wie John Sinclair zum Schrecken der Finsternis wurde und die Serie Kultstatus erreichte..
Tausende Fans können nicht irren - über 640 Seiten Horrorspaß garantiert!
Dieser Sammelband enthält die Folgen 171 - 180.
Jetzt herunterladen und sofort losgruseln!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1370
Veröffentlichungsjahr: 2020
Jason Dark
John Sinclair Großband 18 - Horror-Serie
John Sinclair ist der Serien-Klassiker von Jason Dark. Mit über 300 Millionen verkauften Heftromanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horrorserie der Welt. Für alle Gruselfans und Freunde atemloser Spannung.
Tauche ein in die fremde, abenteuerliche Welt von John Sinclair und begleite den Oberinspektor des Scotland Yard im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit.
"Elizabeth!" brüllte Larissa und drohte mit der Faust. "Bleib hier, verdammt, sei nicht feige!" Elizabeth hörte nicht. Sie schwang sich auf den blanken Pferderücken und stob davon. "Das wird dir noch leid tun!" schrie Larissa. "Verflucht, das wird dir noch Leid tun!" Das traf sie der erste Peitschenhieb und schleuderte sie zu Boden. Larissa fiel auf den Rücken und schaute ihrem Peiniger, den Hexenjäger, an. "Allen wird es noch leid tun, allen…"
Jason Dark wurde unter seinem bürgerlichen Namen Helmut Rellergerd am 25. Januar 1945 in Dahle im Sauerland geboren. Seinen ersten Roman schrieb er 1966, einen Cliff-Corner-Krimi für den Bastei Verlag. Sieben Jahre später trat er als Redakteur in die Romanredaktion des Bastei Verlages ein und schrieb verschiedene Krimiserien, darunter JERRY COTTON, KOMMISSAR X oder JOHN CAMERON.
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen RomanheftausgabeBastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG© 2015 by Bastei Lübbe AG, KölnVerlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian MarzinVerantwortlich für den InhaltE-Book-Produktion:Jouve
ISBN 978-3-8387-2930-5
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.dewww.bastei.de
»Elizabeth!«, brüllte Larissa und drohte mit der Faust.
»Bleib hier, verdammt, sei nicht feige!«
Elizabeth hörte nicht. Sie schwang sich auf den blanken
Pferderücken und stob davon.
»Das wird dir noch leidtun!«, schrie Larissa. »Verflucht, das wird dir noch leidtun!«
Da traf sie der erste Peitschenhieb und schleuderte sie zu Boden. Larissa fiel auf den Rücken und schaute ihren
Peiniger, den Hexenjäger, an. »Allen wird es noch leid tun, allen …«
»Und es ist eine verdammte Schande, was in diesem Land geschieht«, rief der Mann, reckte seinen Arm und ballte die Hand. »Irgendwann wird es uns alle treffen, dann bricht die Wirtschaft zusammen. Krawalle, Straßenschlachten, Jugendliche, die keinen Arbeitsplatz haben, der Verfall von Sitte und Moral, all das kommt zusammen und vereinigt sich zu einem mächtigen Wirbel, der uns irgendwann in das große Chaos stürzen wird. Hört auf meine Worte, Leute, heftet sie euch an die Fahnen, denn jetzt ist es noch möglich. Stürzen wir die Regierung, reißen wir das Steuer herum und denken an die Zeiten, als unser good old England noch eine starke Nation war. Stark, einig und auf der Welt einmalig. Diese Zeiten sollen und müssen zurückkehren. God save the Queen!«
Das waren die letzten gesprochenen Worte des Redners, denn einen Augenblick später begann er, die Nationalhymne anzustimmen. Er sang sie laut und kräftig, riss seinen Mund weit auf, der Wind fuhr ihm durch das schon lichte Haar und stellte es hoch.
Die Zuhörer grinsten.
Meist waren es die Einheimischen, die sich abwandten und gingen, während die Touristen noch blieben und mit offenem Mund dastanden und lauschten.
Viele hatten wohl in ihren Schulbüchern von den berühmten Speaker’s im Hyde Park gehört. Hier gab es Ecken, wo jeder seine Meinung sagen konnte, wo er über die Regierung schimpfte, über die Konservativen oder die Linken — egal Speaker’s Corner gab jedem das Recht der freien Meinungsäußerung.
Und daran hatte sich der Mann gehalten. Nicht mehr und nicht weniger.
Er stand auf einer kleinen Kiste und sang noch immer. Ein paar Jugendliche, die in der Nähe auf dem Rasen lagen und sich die Julisonne auf den Bauch scheinen ließen, standen auf. Sie grinsten sich zu, und wie auf Kommando stimmten sie ein Gegenlied an.
Es war die Internationale.
Jetzt lachten die Zuhörer, nur der einsame Sänger nicht. Er brach bei der zweiten Strophe ab und drehte sich wütend um. Als er die Jugendlichen sah, wurde sein Gesicht noch roter. Diesmal nicht vor Anstrengung, sondern vor Ärger. Ja, er ärgerte sich maßlos über diese Bande, die es wagte, gegen ihn anzusingen. Und dann noch mit so einem, in seinen Augen, Schundlied.
»Euch wird das dreckige Maul noch gestopft!«, schrie er. »Wartet nur ab, bald kommt die Zeit, wo ihr reif seid. England wird zu seiner wahren …« Ein Hustenanfall unterbrach die Rede, was abermals einen Lacher hervorrief. »Verschwindet!«, brüllte der Mann, nachdem er dreimal tief Luft geholt hatte. »Haut ab, Mensch!«
Die Jugendlichen klatschten, und die Zuschauer schauten ihnen voller Begeisterung zu.
Es waren Männer und Frauen, Kinder und Alte. Ein gemischtes Publikum, sommerlich angezogen. Viele hatten schon Feierabend, sie wollten jedoch noch die letzten Sonnenstrahlen genießen und gingen deshalb im Park spazieren.
Keinem fiel die schwarzhaarige junge Frau auf, die sich ebenfalls unter die Zuhörer gemischt hatte. Hätte das Publikum nicht auf den Redner und die Jugendlichen geachtet, so wäre ihnen die junge Frau wahrscheinlich nicht entgangen, denn sie war außergewöhnlich hübsch. Sie hatte einen braunen Teint, dunkle Augen und trug das schwarze Haar sehr lang und bis auf den Rücken hinabreichend. Nur ihre Kleidung war ein wenig seltsam, aber darauf achtete heutzutage auch niemand, denn ein direktes Modediktat gab es ja nicht, vor allen Dingen nicht bei jüngeren Leuten.
Die junge Frau hörte nur zu. Sie lachte auch nicht. Vielleicht war sie sogar die Einzige, die ernst blieb. Sie schob ihre Hände nur in die Ärmelausschnitte der Bluse, die aus einem groben Leinenstoff bestand und eigentlich heute nicht mehr getragen wurde. Fast schien es, dass die Kleidung uralt war und auch der Rock, denn er zeigte an verschiedenen Stellen einige Flicken. Bis zu den Waden reichte das Kleidungsstück. Die Beine darunter waren nackt, und die Füße steckten in Sandalen.
Als die Jugendlichen aufhörten zu singen, da sah der Redner seine große Stunde gekommen.
»Da, schaut genau hin. Sie haben aufgegeben. Aber so ist es immer. Erst die große Klappe und dann doch kein Stehvermögen. Ich bin sicher, dass die noch nie in ihrem Leben gearbeitet haben.«
Einige Zuhörer nickten beifällig. Sie standen jetzt nicht mehr so gedrängt, der Menschenring war lockerer geworden, und so konnte die junge Frau es schaffen, sich an den anderen vorbeizumogeln und in die erste Reihe gelangen.
Sie schaute zu dem Mann hoch.
Der holte erneut Luft, um einen weiteren Angriff zu starten, als sein Blick zufällig nach unten fiel und das Gesicht der Schwarzhaarigen traf.
Es verzog sich zu einem Lächeln.
Irritiert zwinkerte der Mann mit den Augen. Was wollte die Kleine? Ihn vielleicht becircen?
Da reagierte das Mädchen. Es griff unter ihre Bluse und holte etwas hervor, was der Redner im ersten Moment nicht erkennen konnte. Es war ein rundlicher Gegenstand, und die Frau hielt ihn mit zwei Händen umfasst.
»Hier«, sagte sie. »Schau her!«
Der Mann senkte den Kopf.
»Du stehst auf meinem Platz«, erklärte das Mädchen mit sehr ernster Stimme. Sie hatte das Wort kaum ausgesprochen, als sie den Gegenstand auf den Mann zuwarf.
Instinktiv streckte der die Arme aus und fing ihn auf. Plötzlich sah er, was er in der Hand hielt.
Einen Totenschädel!
Seine Gesichtszüge schienen einzufrieren. Es schüttelte ihn durch, als würden Stromstöße durch seinen Körper treiben, und er schrie krächzend auf.
Dann explodierte der Schädel.
Es gab keinen Krach, nur einen puffenden Laut. Es schoss jedoch ein roter Blitz aus dem Schädel hoch, der den Mann schräg in die Brust traf.
Eine Szene wie im Film entstand, als hätte jemand eine rote Fackel angezündet.
Der Mann schrie noch, nur schemenhaft war sein Körper zu erkennen, dann sah man auch ihn nicht mehr.
Der Platz auf der Kiste war leer. Schon beim ersten Blitz waren die Menschen schreiend davongestoben. Als die zweite Explosion erfolgte, rannte auch der mutige Rest, doch keinem passierte etwas.
Nur den Redner gab es nicht mehr.
Verschwunden waren auch der kleine Totenkopf und das schwarzhaarige Mädchen …
*
Mit dem Taxi war sie zum Park gefahren, denn an diesem warmen Tag musste man einfach rausgehen. Und sie hatte keine Lust, in Mayfair spazieren zu gehen, denn da sah sie doch immer dieselben Leute, die sie kannte und mit denen sie sich unterhalten musste, wollte sie nicht unhöflich sein.
Der Hyde Park war groß, niemand fiel ihr dort auf den Wecker, und einen Bekannten konnte sie sich jederzeit aussuchen.
So sah sie die Sache.
Und deshalb ging sie spazieren.
Sie, das war keine geringere als Sarah Goldwyn, Insidern auch unter dem Begriff Horror-Oma bekannt. Am Wellington Museum, wo sich die Grenze zum Green Park befindet, hatte sie das Gelände betreten und sich regelrecht über den Trubel gefreut, der hier herrschte.
Da gingen Frauen mit ihren Kindern spazieren, da schoben die Ehemänner die Kinderwagen vor sich her, da lagen Liebespärchen auf dem Rasen oder spielten Jungen Fußball.
Im Hyde Park konnte jeder tun und lassen, was er wollte. Leider gab es da auch die Dealerszene, und die Horror-Oma sah mit geschultem Blick, wer süchtig war oder nicht.
Dann presste sie jedes Mal die Lippen fest zusammen. Am liebsten hätte sie die Jugendlichen mitgenommen und in eine Entziehungskur gesteckt, aber das war schlecht möglich.
Unter einer alten Eiche, um deren Stamm eine Bank herumlief, ließ sie sich nieder.
Sarah Goldwyn wollte ein wenig ausruhen, denn es lag noch eine weite Gehstrecke vor ihr.
Sie hatte sich neben ein junges Ehepaar gesetzt, das seinen beiden kleinen Sprößlingen zuschaute, die mit ihren Schaufeln den Boden aufgruben und nach Regenwürmern suchten.
Sarah Goldwyn zählte zwar schon über siebzig Lenze, aber sie hatte oft mehr Energie als manch Zwanzigjähriger. Das Leben meisterte sie mit einer wahren Pracht, und drei verstorbene Männer hatten ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen.
Wichtig war für sie nur ihr Hobby. Und das waren Horror und Krimi. In ihrem Haus in Mayfair gab es eine sagenhafte Bibliothek, wo all die Romane und populärwissenschaftlichen Bücher über die Gebiete Horror und Krimi standen. Auch Scotland Yard bediente sich hin und wieder ihrer umfangreichen Auswahl.
Sarah Goldwyn war beim Friseur gewesen. Er hatte das graue Haar wieder weich gekämmt, es hochgesteckt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. So sah eigentlich ihre typische Frisur aus. Sarah Goldwyn hatte ein schmales Gesicht und gutmütige Augen, die von einem Kranz von Falten umgeben waren.
Lachfältchen, sagte die Horror-Oma immer, denn sie war eine Frau, die gern lachte.
Auch heute war sie nicht ohne ihre Ketten losgezogen. Vierfach hingen sie um ihren Hals, und wenn sie sich bewegte, klirrten sie gegeneinander. Da hingen Perlenketten neben Metallketten. Gerade die Mischung fand die Horror-Oma gut, und sie freute sich, wenn andere über die Ketten den Kopf schüttelten.
Da gab es noch etwas, das von Sarah Goldwyn nicht wegzudenken war. Ihr Stock.
Auf ihn verließ sie sich immer. Er war Hilfe und Stütze zugleich. So mancher Schädel hatte bereits Bekanntschaft mit dem bleigefütterten Knauf gemacht. Sarah hatte den Stock ein paar Mal einsetzen müssen. Sei es in der Subway gewesen oder auf einem Bahnhof. Es gab eben einige Typen, die sie als leichtes Opfer ansahen. Hinterher wunderten sich die Knaben dann, wie böse das Erwachen war.
Aber daran dachte die Horror-Oma nicht, als sie auf der Bank saß und den spielenden Kindern zuschaute. Sarah Goldwyn liebte Kinder. Eigene waren ihr verwehrt gewesen, sodass sie sich immer mit anderen hatte zufrieden geben müssen.
Sie schaute ihnen zu, wie sie den Dreck in die Luft warfen und sich darunterstellten.
Die Mutter schimpfte ein wenig, aber das störte die Kleinen nicht. Der Vater las in einem Comic-Heft.
Sarah Goldwyn wollte schon ein Gespräch mit der jungen Frau anfangen, als sie das Heulen von Polizeisirenen hörte. Sofort änderte sich ihr Augenausdruck. So etwas wie Spannung war darin zu lesen. Wenn die Sirenen ertönten, war irgendetwas passiert.
Die Horror-Oma stand auf. Der Wind erfasste ihr beiges Kleid und ließ den Stoff flattern. Sarah wunderte sich. Zwei Streifenwagen schossen querbeet, sie hielten sich nicht an die Wege und passierten den Baum in etwa zwanzig Yards Entfernung.
Da musste wirklich etwas Schlimmes geschehen sein, wenn die Polizisten so losrasten.
Die Neugierde der älteren Frau steigerte sich noch. Sie drehte sich einmal noch kurz um, nickte dem Ehepaar zu und ging dorthin, wo auch der Wagen hergefahren war.
Zahlreiche Augenpaare starrten dem Fahrzeug nach. Die Polizei war eben immer etwas Besonderes. Die Räder hatten den Staub aufgewirbelt, der wie lange Fahnen in der Luft schwebte. Den Gesprächen der Menschen entnahm Sarah Goldwyn, dass niemand wusste, worum es sich handelte.
Sarah packte den Griff ihres Stockes fester und rückte ihren breitkrempigen Strohhut zurecht, dessen Rand sie dann in die Stirn drückte. So machte die Horror-Oma einen richtig entschlossenen Eindruck. Sie ging nicht schnell, aber auch nicht langsam, dafür sehr zielstrebig. So kam es, dass sie Leute überholte, die zuerst an ihr vorbeigegangen waren.
Dann sah sie die Wagen wieder. Sie parkten mitten auf dem Rasen. Die Beamten waren ausgestiegen und standen irgendwie ratlos herum. Einige hoben sogar die Schultern.
Zwei Leute sprachen mit den umstehenden Zuschauern. Sie redeten auf sie ein, ernteten auch Antworten, aber zufrieden schien keiner der Beamten zu sein.
Einer suchte den Boden ab. Er tat dies wie Sherlock Holmes, nur ohne Lupe.
Der Mann hätte Lady Sarah fast umgerannt. Im letzten Augenblick sah er das Hindernis und schaute überrascht auf. Er wollte anfangen zu schimpfen, doch Lady Sarah lächelte so freundlich, dass er die Luft anhielt und nichts sagte.
»Guten Abend«, sagte die Horror-Oma und wollte vorbei.
»Halt, halt!«, rief der Polizist. »Haben Sie etwas gesehen, Madam?«
»Einiges.«
»Ja, was denn?« Hoffnung leuchtete in den Augen des Beamten.
»Ich habe gesehen, dass Sie und Ihre Kollegen wie die Verrückten über den schönen Rasen gefahren sind, obwohl meiner Ansicht nach gar kein Grund dafür bestand; denn sie stehen jetzt ratlos herum und wissen nicht, was …«
»Seien Sie ruhig. Ich lasse mich von Ihnen nicht auf den Arm nehmen«, schnaufte der Beamte.
»Das hätte ich in meinem Alter auch gar nicht mehr geschafft«, erklärte die Frau.
Der Polizist winkte unwirsch ab und ging weiter. Sarah Goldwyn aber schritt dem Tatort zu, wo gar nichts zu sehen war. Nur eine umgestürzte kleine Bank, wie sie von den Speaker’s benutzt wurde, war der einzige Hinweis.
Die Horror-Oma spitzte die Ohren. Und sie stellte fest, dass es doch Zeugen eines zumindest sehr ungewöhnlichen Vorfalls gab. Sie näherte sich einer Gruppe von Menschen, die von zwei Polizisten befragt wurden. Alles redete durcheinander, bis der Beamte einen bestimmte. Es war ein Mann im mittleren Alter.
»Also das war so«, sagte er. »Zuerst redete der Knabe gegen die Regierung, gegen den Krieg, gegen den Verfall von Moral und Sitten …«
»Kommen Sie zur Sache.«
»Ich bin ja dabei, Officer!«
»Weiter.«
»Und dann sang er die Nationalhymne.« Der Mann grinste. »Ehrlich, er sang.«
»Ja und?«
»Das hörten einige Jugendliche, die in der Nähe auf dem Rasen lagen. Sie standen auf und sangen die Internationale dagegen. Wir haben vielleicht gelacht. Der einzelne Sänger hat sich ungeheuer aufgeregt. Schließlich hörten die Jugendlichen auf, er aber wollte weiterreden. Ein paar Sätze hat er auch geschafft, dann geschah etwas, was ich kaum gesehen habe.«
»Reden Sie.«
»Jemand warf dem Mann etwas zu.«
»Aha«, sagte der Polizist. »Und was war das?«
»Ein Ball.«
Der Beamte schluckte. »Wie sagten Sie?«
»Nein, das war kein Ball«, meldete sich eine Frau im roten Kleid. »Das war ein kleiner Totenschädel.«
Jetzt fingen die anderen an zu lachen.
Die Frau wurde sauer. »Ihr verdammten Ignoranten. Ich habe das selbst gesehen. Der Mann fing den Schädel auf, dann gab es eine leise Explosion, einen roten Blitz, der sogar blendete, und schließlich war der Kerl verschwunden.«
»Und wer hat diesen Totenkopf geworfen?« , wollte der Polizist wissen.
»Das habe ich nicht gesehen.«
»Die spinnt«, meinte ein anderer.
»Wie können Sie das behaupten?«
»Wer schleudert schon Totenköpfe?«
Daraufhin lachten die Umstehenden wieder. Auch der Polizist musste schmunzeln.
Nur Sarah Goldwyn lachte nicht. Die Sicherheit der Frau beeindruckte sie irgendwie, und Sarah glaubte ihr. Die hatte bestimmt etwas gesehen. Aber man nahm sie nicht ernst. Schließlich wandte sich die Frau brüsk ab und ging weiter.
Lady Sarah folgte ihr. Die Person interessierte sie. Nach wenigen Yards schon holte die Horror-Oma die Zeugin ein.
»Entschuldigen Sie«, sagte Lady Sarah, »aber kann ich einige Minuten mit Ihnen sprechen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Gehören Sie auch zu den Ignoranten?«
»Im Gegenteil, ich glaube Ihnen.«
Die Frau blieb stehen. Sie mochte etwa vierzig sein, hatte schwarz gefärbtes Haar, ein verlebt wirkendes Gesicht und eine ziemlich dralle Figur.
»Was haben Sie denn damit zu tun? Sie in Ihrem Alter?«
»Ich interessiere mich eben für ungewöhnliche Dinge. Und hier ist doch etwas Ungewöhnliches passiert oder nicht?«
»Schon.«
»Sehen Sie.«
»Ich habe ja alles gesagt.«
»Sie haben tatsächlich nicht gesehen, wer diesen Totenschädel geworfen hat?«
»Wirklich nicht.«
»War es ein Mann oder eine Frau?«
»Keine Ahnung.«
»Und der Redner verschwand.«
»Ja doch.«
»Danke für Ihre Auskünfte, Madam. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.«
Sarah Goldwyn wandte sich ab. Sie spürte das Kribbeln in ihren Fingerspitzen. Für sie ein Zeichen, dass mal wieder etwas im Busch war. Irgendwie konnte es sein, dass finstere Mächte ihre Hände im Spiel hatten, davon war Lady Sarah überzeugt.
In den letzten Wochen hatte sie sich zwar einige Horror-Filme angesehen und sie auch als Video-Kassetten gekauft, um zu Hause die Streifen noch einmal anzuschauen, aber das waren alles Kinostücke, aufgemotzt und publikumsgerecht serviert. Die Wirklichkeit war für Lady Sarah viel spannender. Sie brauchte da nur an ihr letztes Abenteuer zu denken, das sie in den Zombie-Bus geführt hatte.1
Sie dachte schon daran, ihren Bekannten John Sinclair zu informieren, ließ es jedoch vorerst bleiben, da sie zu wenig Fakten in den Händen hielt. Sie wollte selbst noch einige Nachforschungen anstellen. Als sie zu den Polizisten zurückkehrte, waren die ebenso ratlos wie zuvor. Sie wussten nicht weiter.
Das mit dem Totenkopf glaubte niemand.
Die Horror-Oma ging weiter. Dabei überlegte sie genau. War dies nur eine einzelne Demonstration gewesen oder würde sich so etwas wiederholen?
Wenn ja – wann?
Lady Sarah hoffte, dass es in naher Zukunft geschehen würde. Möglichst dann, wenn sie sich noch im Park befand. Es blieb ja lange hell, der Abend hatte soeben erst begonnen.
Sie passierte auch die Stelle, wo die Jugendlichen gesessen und gegen den einzelnen Sänger angebrüllt hatten. Jetzt war der Platz leer. Die jungen Leute hatten sich verzogen? Waren sie vielleicht noch gute Zeugen?
Die Horror-Oma verließ den Rasen und schritt auf dem Weg weiter. Nach wie vor herrschte Trubel im Hyde Park. Keine Angst war bei den Menschen zu spüren, sie vergnügten sich und freuten sich über den warmen Sonnenschein.
Nichts Ungewöhnliches fiel der Horror-Oma auf. Und doch hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas in der Luft lag. Hier stimmte was nicht. Das Kribbeln in den Fingerspitzen bewies es.
Viele junge Menschen kamen ihr entgegen. Es waren auch Pärchen darunter, luftig gekleidete Mädchen, die sich eng an ihre Partner schmiegten.
Plötzlich stutzte die Horror-Oma. Ihr war ein Paar aufgefallen, von dem sie einen Teil kannte, den weiblichen.
Die junge Frau hatte pechschwarzes Haar, trug enge weiße Leinenjeans und ein ebenfalls weißes T-Shirt, das deutlich ihre gute Oberweite nachmodellierte.
Die Frau kannte sie doch. Nur der junge Mann war ihr unbekannt.
Auch die Frau hatte Lady Sarah gesehen. Sie blieb stehen.
»Mrs. Goldwyn?«, fragte sie.
»Natürlich.«
»Was machen Sie denn hier?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich überlegen, wo ich Sie hinstecken soll«, lächelte die Horror-Oma. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. » Ich hab’s, Sie sind Glenda Perkins, die Sekretärin von John Sinclair …«
*
»Stimmt genau«, sagte die schwarzhaarige Glenda und lachte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, obwohl Sie doch nur einmal in Mr. Sinclairs Büro waren.«
»Das stimmt.«
»Und? Mrs. Goldwyn? Was treibt Sie hierher?«
»Das schöne Wetter.«
Glenda lachte. »Ich dachte schon, es wäre ein Fall.« Sie wandte sich an den Mann. »Darf ich Ihnen meinen Begleiter vorstellen. Er heißt Rod Farrington und ist ein Bekannter aus dem Squash-Klub.«
»Sie spielen Squash?«
»Man muss ja was für die schlanke Linie tun.«
»Da sagen Sie was.« Sarah Goldwyn reichte dem Mann die Hand. Er gehörte zum Typ Aufreißer. Breit in den Schultern, schmale Hüften, ein ewiges Siegerlächeln und lässig gekleidet. Das hellblonde Haar trug er halblang.
»Ich hatte mir heute einen freien Tag genommen«, erklärte Glenda, »das schöne Wetter muss man ausnutzen.«
»Da sagen Sie etwas.« Lady Sarah legte beide Hände auf den Schirmgriff. »Was macht denn mein junger Freund John Sinclair?«
Als Rod Farrington den Namen hörte, wandte er sich ab und schaute zwei anderen Mädchen nach.
»John ist sauer.«
»Gibt es da einen Grund?«
»Ja, der Krake.«
»Oh, dann habe ich doch richtig gehört. Es hat diesen Teufelskraken also gegeben?«
»Und wie. John hat ihn schließlich mit einem Schwert erledigen können. Muss ein verdammt harter Kampf gewesen sein, wenn man ihn hört. Außerdem hatte der Krake Bill Conolly in seiner Gewalt gehabt.2 John wollte heute einen Bericht darüber schreiben.«
»Und das bei dem Wetter.« Lady Sarah lachte. »Da kann ich mir seine Laune vorstellen.«
»Sollen wir nicht weitergehen?« fragte Glendas Begleiter. »Ich dachte, du hättest Urlaub, aber jetzt redest du vom Betrieb.«
»Sei doch nicht so ungeduldig. Wir kommen noch früh genug zum Essen.«
»Dann will ich Sie auch nicht länger aufhalten«, sagte die alte Dame.
»Kommen Sie doch einfach mit«, schlug Glenda vor. »Rod wird sicherlich nichts dagegen haben – oder?«
»Nein!«, knirschte Rodney Farrington und lächelte dabei wie ein hungriger Wolf.
Lady Sarah schüttelte den Kopf. »No, euch junge Leute soll man allein lassen. Ich störe nur.«
»Ach woher. Kommen Sie.«
»Und Ihr Begleiter?«
»Wird sich schon mit der neuen Lage abfinden. Ich kenne hier ein nettes Gartenlokal.«
»Gut, ich bin dabei«, erklärte die Horror-Oma kurzentschlossen.
Rod Farrington brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das keiner verstand.
Glenda lächelte mokant. »Passt es dir nicht, Rod, dass Mrs. Goldwyn uns begleitet?«
»Nein, ich mag keine Altersheime.«
Glenda wurde blass, und Sarah Goldwyn presste hart die Lippen zusammen. Das war eine Beleidigung.
»Dafür entschuldigst du dich«, sagte Glenda. »Und zwar hier und auf der Stelle.«
»Sehe ich doch gar nicht ein.« Farrington schob seine Sonnenbrille von der Stirn vor die Augen. »Ich verschwinde jetzt. Du kannst ja mit deiner Oma allein weitergehen. Ich dachte, wir wollten uns einen heißen Abend machen, aber so …«
»Deine Tour kenne ich.«
Farrington breitete beide Arme aus. »Okay, ist ja gut …« Dann ging er und lachte dabei.
»Den bin ich los«, stöhnte Glenda.
»Durch meine Schuld.«
»Von Schuld kann man da nicht reden. Ich bin sogar froh dabei, dass er nicht mehr hier ist.«
»Sie haben aber mit ihm Squash gespielt.«
»Das ist auch alles. Und weil das Wetter so schön war, habe ich mich eben zu einem Spaziergang überreden lassen. Kommen Sie, Mrs. Goldwyn, jetzt trinken wir aber einen Schluck. Außerdem habe ich Hunger.«
Die beiden altersmäßig so unterschiedlichen Frauen gingen nebeneinander her und steuerten ein Lokal an, wo auch draußen serviert wurde. Fast alle Tische waren besetzt. Schließlich entdeckte Lady Sarah noch einen freien Tisch direkt an der Holzbarriere. Schnell nahmen sie die beiden Stühle in Beschlag.
Zufällig kam der Kellner vorbei, und sie bestellten zweimal Mineralwasser.
»Und das Essen?«, fragte Lady Sarah.
»Können wir später einnehmen. Ich nehme sowieso nur einen Salat.« Glenda lehnte sich zurück. »Morgen soll es auch so warm werden, und ich sitze im Büro.«
»Wie John Sinclair.«
»Genau.«
»Hat er keinen aktuellen Fall?«
»Der denkt noch an den Kraken.«
Lady Sarah nahm einen Schluck von dem kalten Wasser. »John gefällt Ihnen besser, als dieser Farrington.«
»Das stimmt«, gab Glenda zu, wobei sie nicht einmal rot wurde.
»Aber glauben Sie denn, dass jemals daraus etwas wird?«
»Ich habe keine Ahnung. Da ist noch Jane Collins. Sie wird mir die Augen auskratzen.«
»Na ja, so schlimm wird es nicht werden.«
»Ich weiß nicht.« Glenda hob die Schultern. »Aber reden wir von etwas anderem. Wie geht es Ihnen denn so?«
»Wie soll es einer alten Frau schon gehen?«
»Alt?« Glenda lachte. »Jetzt machen Sie mal einen Punkt. Sie sind jünger als die meisten Leute.«
»Keine falschen Komplimente.«
Glenda trank und nickte gleichzeitig. »Ich meine es ehrlich, Mrs. Goldwyn.«
»Dann bedanke ich mich.«
Die nächsten beiden Minuten vergingen schweigend. Glenda hatte die Augen halb geschlossen und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen, während Sarah Goldwyn immer noch über den rätselhaften Vorgang nachdachte, der in Speaker’s Corner passiert war.
Jemand hatte einen Totenkopf geworfen, und dann verschwand der Mann einfach.
Das war ein Phänomen!
Die Blicke der Horror-Oma glitten über die Rasenfläche, wo einige alte Bäume standen und ihr gewaltiges Astwerk schattenspendend ausbreiteten. Unter den Bäumen saßen ganze Familien. Kinder spielten, lachten, tobten. Alles wirkte völlig normal.
Und doch spürte Lady Sareh wieder das Kribbeln. Da lag was in der Luft, wie sie meinte.
Glenda öffnete die Augen. »Es ist herrlich«, sagte sie. »Man kann so richtig abschalten.«
»Das stimmt.« Lady Sarah schaute wieder zu den Bäumen hin. Da fiel ihr etwas auf.
Ein Mädchen.
Die Horror-Oma warf der am Tisch sitzenden Glenda noch einen schnellen Blick zu, doch die hielt die Augen wieder geschlossen, sodass Lady Sarah sich auf das zweite Girl konzentrieren konnte.
Irgendwie passte es nicht in den übrigen Rahmen hier. Es trug keine moderne Kleidung, sondern Sachen, die man schon als alt und lumpig bezeichnen konnte. Wie verloren stand es da und hatte den Kopf gesenkt, sodass sein volles schwarzes Haar wie ein Vorhang über das Gesicht fiel und Mrs. Goldwyn nichts erkennen konnte.
Wer war dieses Mädchen?
Jetzt ging es langsam vor.
Es war wohl nur die Horror-Oma, die die Kleine beobachtete und auch mitbekam, wie sie den Kopf hob. Nach rechts und links fielen die Haare zur Seite.
Das Gesicht schien von einem Bildhauer modelliert worden zu sein, so ebenmäßig war es. Der sonnenbraune Teint passte dazu, die Bewegungen waren geschmeidig und erinnerten irgendwie an die einer jungen Tänzerin.
Die Unbekannte blieb stehen. Sarah Goldwyn sah sehr deutlich, wie sie auf die im Gartenrestaurant sitzenden Menschen blickte. Und plötzlich spürte die Horror-Oma auch die Blicke des Mädchens auf sich gerichtet.
Ein seltsames Gefühl überkam sie, und abermals verspürte sie das Kribbeln in den Fingerspitzen.
In diesem Moment öffnete Glenda die Augen. Sie bemerkte, dass Sarah Goldwyn nach links schaute und drehte ebenfalls den Kopf.
Auch sie sah die Unbekannte.
»Kennen Sie das Mädchen?«, fragte Glenda.
»Nein.«
»Komisch«, murmelte Glenda.
»Was ist komisch?«
»Mir kommt es so vor, als hätte ich die Schwarzhaarige schon irgendwo einmal gesehen. Ich komme nur nicht darauf, wo es war. Aber bekannt kommt sie mir vor.« Glenda trank einen Schluck. »Jetzt schaut sie mich genau an.«
»Und?«
Glenda verzog das Gesicht. »Ich … ich weiß nicht …«
»Was haben Sie denn?«
»Nichts, Mrs. Goldwyn. Es ist schon vorbei. Mir kam es nur so vor, als hätten soeben fremde Gedanken meine eigenen überdeckt. Doch das ist sicherlich eine Täuschung.«
»Vielleicht.«
»Sie sind so ernst«, sagte Glenda.
»Mit dieser Fremden stimmt etwas nicht«, erklärte Sarah Goldwyn in fester Überzeugung.
»Das bilden Sie sich ein.«
»Nein, da bin ich sicher.«
»Und wieso?«
»Ein Gefühl. Ein komisches Gefühl sogar. Man kann vor der Kleinen direkt Angst bekommen.«
»Sie und Angst?«
Sarah Goldwyn schaute ihr Gegenüber sehr ernst an. »Ja, Glenda. Ich habe Angst. Das Mädchen strahlt etwas Unheimliches aus, das ich nicht begreife.«
»Jetzt kommt sie sogar auf uns zu«, bemerkte Glenda. »Ich glaube, die will etwas.«
Sie hatte nicht gelogen, wie Mrs. Goldwyn schnell feststellte. Das Mädchen kam tatsächlich, und es hatte beide Hände in die weit geschnittenen Ärmel seiner Bluse gesteckt.
Die Unbekannte ging nicht schnell, allerdings sehr zielstrebig. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte sie ihr Ziel erreicht.
Noch drei Schritte trennten sie von dem weißen Gatter, als sie stehen blieb.
Schweigend schaute sie auf Lady Sarah und Glenda Perkins.
»Kennen wir uns?«, fragte die Horror-Oma.
»Ihr sitzt falsch«, sagte die Unbekannte.
»Wieso?«
»Das ist mein Platz. Mir hat hier alles gehört. Und jetzt gehört es mir wieder.«
Da begann Glenda zu lachen. »Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt. Wenn Sie etwas trinken wollen und kein Geld haben, lade ich Sie gern ein, aber dass wir auf Ihrem Platz sitzen, kann ich nicht glauben. Das hier ist ein öffentliches Lokal, hier kann sich jeder hinsetzen, wo er will.«
»Du irrst!«
Die Fremde sagte dies mit einer so großen Bestimmtheit, dass Glenda irritiert war.
»Wollen Sie uns das nicht genauer erklären, Miss …«, fragte Sarah Goldwyn.
»Gern.« Sie kam näher. Nach zwei Schritten blieb sie stehen. Dabei schaute sie nur Glenda an. »Dich habe ich gesucht und endlich gefunden«, flüsterte sie.
»Sie haben mich gesucht?« Glenda lächelte ungläubig. »Aber wir kennen uns nicht.«
»Doch.«
»Nein, ich würde mich daran erinnern. Wo haben wir uns denn kennengelernt?«
»Du siehst aus wie sie. Du musst eine von ihnen sein.«
Sarah Goldwyn mischte sich ein. »Reden Sie doch endlich mal im Klartext, junge Unbekannte. Wir verstehen Sie nicht. Was wollen Sie genau sagen?«
Das Mädchen hob den Arm und streckte den Zeigefinger aus. »Ich will sie.« Der Finger deutete auf Glenda Perkins.
Glenda zog die Stirn kraus. Sie versuchte zu lächeln, daraus wurde nichts, das fremde Mädchen vor ihr wirkte unheimlich. Eine wirklich seltsame Person. »Was wollen Sie von mir?«
»Du musst mitkommen.«
»Wohin?«
»Zu mir.«
Da lachte Glenda. »Ich kann nicht mit dir gehen. Ich weiß nicht einmal, wo du wohnst.«
»Das wirst du schon sehen.«
Lady Sarah war der Unterhaltung bisher schweigend gefolgt. Nun mischte sie sich ein. »Jetzt hören Sie mal zu, mein liebes Kind. Ich weiß nicht, wer Sie sind oder wie Sie heißen. Aber Sie können nicht einfach herkommen und uns stören, dabei seltsame Antworten geben, die keiner versteht und zudem noch verlangen, dass meine Begleiterin mit Ihnen geht. Das verstößt gegen die guten Sitten.«
»Schade«, sagte das Mädchen. »Ich habe gedacht, Sie wären vernünftiger. Aber so …«
»Wer sind Sie?«, fragte Lady Sarah.
»Larissa!«
»Und weiter?«
»Das dürfte reichen.«
Die Horror-Oma und Glenda Perkins schauten sich an. Beide hoben sie die Schultern. Mit diesem Namen konnten weder Glenda noch Sarah Goldwyn etwas anfangen.
»Ich kenne Sie nicht«, erklärte Glenda. »Bitte lassen Sie uns jetzt allein.«
Larissa schüttelte den Kopf. »Schade, sehr schade. So muss ich zu anderen Mitteln greifen.«
»Und?«
Larissa behielt ihr Lächeln bei, als sie die Hände aus den Blusenärmeln nahm. Nur waren sie nicht leer. Etwas Rundes schimmerte gelblich zwischen ihnen.
Lady Sarah bemerkte es zuerst. »Der Totenschädel!«, flüsterte sie.
Da passierte es schon …
*
Dieser verdammte Krake!
Ich konnte das Wort schon nicht mehr hören. Was das für eine Aufregung nach sich gezogen hatte. Anrufe aus der Bevölkerung waren bei uns eingetroffen, die Menschen wollten wissen, ob es den Kraken überhaupt gegeben hatte und wenn ja, ob er vernichtet worden war.
Ich hatte Glenda Perkins die Order gegeben, den Kraken als Zeitungsente abzutun, woran sie sich auch hielt. Es brauchte keiner zu wissen, dass der Riesenkrake tatsächlich existiert hatte. Und die Leute, die es wussten, hielten bestimmt den Mund.
Angst oder Panik in London war das letzte, was ich brauchen konnte. Ich hatte einmal erlebt, wie so etwas wirken konnte. Asmodina hatte mir damals diese schreckliche Vision gesandt. Wo vieles um mich herum Vision war, ich selbst aber real, und ich gegen diese Schrecken ankämpfen musste.3
An dem Bericht brütete ich bereits einen Tag und wurde einfach nicht fertig. Sie kennen das bestimmt. Es gibt solche Tage im Sommer, wo man überhaupt keine Lust hat, hinter dem Schreibtisch zu sitzen, und ich hockte noch nach Feierabend in meinem Büro. Da hatte es Glenda besser. Sie nahm kurzerhand einen Urlaubstag, um das schöne Wetter zu genießen. Jane Collins war auch nicht da, sondern tummelte sich irgendwo an der See. Wahrscheinlich sogar in der Nähe von Brighton, wo wir das Abenteuer mit dem Rattenkönig erlebt hatten.
Bill Conolly erholte sich zu Hause von dem letzten Fall. Schließlich hatte er sich in der Gewalt des Kraken befunden. Suko und Shao waren auch nicht zu Hause, sondern irgendwo aufs Land gefahren. Jetzt war es eine Wohltat, mit der Harley durch die Gegend zu brausen.
Nur ich Esel saß hinter meinem Schreibtisch und bekam langsam lange Zähne vor Hunger.
Es wurde Zeit, den knurrenden Magen mit einem kleinen Imbiss zu verwöhnen. Durst hatte ich auch noch.
Mit einer Verwünschung klappte ich den Schnellhefter zu. Daran würde ich am nächsten Tag weiterarbeiten. Jetzt wollte ich etwas essen. Seufzend griff ich zum leichten Jackett. Es war eine Qual, die Jacke überzustreifen, doch das musste sein, denn sonst fiel meine Beretta auf, die in einer Halfter am Hosengürtel steckte. Und wer zeigt sich schon gern mit einer Waffe in der Öffentlichkeit?
Die Türklinke hielt ich bereits in der Hand, als das Telefon anschlug. Sollte ich oder sollte ich nicht? Beim vierten Klingeln hatte ich mich entschieden.
Für das Pflichtbewusstsein.
Ich nahm den Hörer. Mein »Sinclair« klang nicht gerade begeistert, denn am anderen Leitungsende vernahm ich ein verlegenes Räuspern.
»Oberinspektor Sinclair?«, vergewisserte sich der Anrufer.
»Ja.«
»Ich bin Sergeant Bennet, Sir, und möchte Ihnen von einem Vorgang Meldung machen, der uns sehr mysteriös erscheint.«
Auf der Schreibtischkante ließ ich mich nieder. »Schießen Sie los, Sergeant.«
»Die Sache hat sich im Hyde Park abgespielt …« Dann redete er, und ich lieh ihm mein Ohr. Ein bisschen seltsam war das Ganze schon, was er mir da mitteilte, deshalb fragte ich, als er seinen Bericht beendet hatte: »Sagen Sie mal, Sergeant, Sie selbst waren nicht dabei?«
»Nein.«
»Dann haben Sie sich nur auf die Aussage von Zeugen verlassen?«
»So ist es, Sir.«
»Und einen Sonnenstich hatten die Leute nicht.«
»Danach sahen sie mir nicht aus, Sir. Ich hätte Sie auch nicht angerufen, wenn nicht diese Anordnung bestehen würde, weil die Sache mir selbst sehr suspekt ist.«
Die Anordnung kannte ich. Sie stammte von Sir James Powell, meinem direkten Vorgesetzten. Sämtliche nicht in den Rahmen passenden Fälle waren augenblicklich seiner Abteilung zu melden, so hatte es der Alte beschlossen.
Den Erfolg sah ich jetzt.
»Ich danke Ihnen auf jeden Fall, dass Sie mich informiert haben«, lobte ich
Sergeant Bennet.
»Werden Sie sich um den Fall kümmern, Sir?«
Ich schaute auf die Uhr. Ein Abend im Hyde Park – das war keine schlechte Idee. »Ja, ich fahre hin. Wo ist das eigentlich genau passiert?«
Er erklärte mir die Stelle.
»Danke.«
Ob ich nun in einem schwülen Lokal etwas aß oder mich in den Park setzte, das war im Endeffekt egal. So fuhr ich nach unten und ging zum Parkplatz, der an der Rückseite des Yard liegt. Dort stand auch mein Bentley.
Nein, es war unmöglich, sich in den Wagen hineinzusetzen. Da drinnen war die reinste Hölle. Das Fahrzeug war zwar mit einer Klimaanlage ausgerüstet, die hatte ich aber vergessen einzuschalten.
Ein paar Minuten wartete ich. Dann konnte ich auf dem Leder Platz nehmen, ohne mir die Schenkel zu verbrennen.
Sehr weit hatte ich es nicht bis zum Hyde Park. Es gab drei Parks, die praktisch ineinander übergingen. Der St. James Park, der Green Park und der Hyde Park.
Über den Birdcage Walk rollte ich am St. James Park vorbei, passierte Buckingham Palace am Green Park, schlug den Bogen an der Südspitze vorbei und fuhr über den Grosvenor Place auf Hyde Park Corner zu. Nicht weit davon lag schon mein Ziel.
Die Scheibe an der Fahrerseite hatte ich nach unten fahren lassen. Der schwüle Wind brachte kaum Kühle. Ich sah zu, dass ich für den Bentley einen Parkplatz bekam und bewältigte das letzte Stück auf Schusters Rappen.
Es herrschte noch reger Betrieb. Man konnte meinen, halb London wäre auf den Beinen.
Sehr schnell fand ich die Stelle, wo das seltsame Ereignis geschehen war. Und noch immer standen Menschen herum und diskutierten darüber. Ich fing Gesprächsfetzen auf und hörte Sätze wie:
»Der ist einfach verschwunden.«
»Stimmt, das habe ich auch gesehen.«
»Ich glaube das nicht.«
Und für mich war es auch sehr schwer vorstellbar, obwohl ich in meinem Job eigentlich mit allem rechnen musste. Ich lief ein paar Mal im Kreis und ließ mir die Abendsonne in den Nacken scheinen. Nichts kam dabei heraus. Auch mein Kreuz zeigte keinerlei Reaktionen. Es erwärmte sich nicht.
Sollte hier tatsächlich ein magisches Ereignis stattgefunden haben, so war die Magie jetzt längst verschwunden. Da konnte ich nichts machen.
Leider hatte mir der Sergeant nichts sagen können. Ich lief praktisch ohne Anhaltspunkte umher, doch die sollte ich bekommen. Schon in den nächsten Sekunden, und das auf eine sehr drastische Art und Weise …
*
»Vorsicht!«, rief Sarah Goldwyn. Ihre Stimme war so laut, dass Menschen an den Nebentischen aufmerksam wurden.
Die Warnung kam zu spät. Larissa hatte den kleinen Totenkopf bereits geschleudert.
Er flog genau auf Glenda Perkins zu.
Das schwarzhaarige Mädchen hatte sich nicht verrechnet. Glenda reagierte so, wie sie es haben wollte. Instinktiv fing sie den Totenkopf auf und schaute auf ihre Hände.
Der rote Blitz folgte einen Atemzug später. Plötzlich war er da, gleichzeitig erfolgte diese puffende Explosion, und rötlich schimmernder Rauch hüllte Glenda ein.
Sie schrie.
Noch während sie schrie, packte eine gewaltige Druckwelle die an den Nebentischen sitzenden Menschen und schleuderte sie wie Puppen von ihren Stühlen.
Niemand konnte sich mehr halten. Stühle flogen um, die Tische ebenfalls. Dabei wurden sie leergeräumt. Gläser, Flaschen, Teller und Schalen landeten am Boden, wo sie zerbrachen. Auf die Scherben fielen die völlig überraschten Menschen, wobei sie ein wirres Knäuel aus mehreren Körpern bildeten.
Sarah Goldwyn fiel nicht. Sie hatte sich instinktiv mit beiden Händen an der Balustrade festgehalten. Zwar spürte auch sie die Einwirkung der Explosion, wo Kräfte an ihrem Körper zerrten, aber sie konnte sich halten.
Und sie sah, was mit Glenda Perkins geschah.
Noch immer wurde diese von der roten Wolke umschwebt. Doch ihr Schreien wurde leiser.
Und das hatte einen makabren Grund.
Glenda verschwand!
Ja, sie löste sich buchstäblich vor den Augen der entsetzten Sarah Goldwyn auf. Ihr Körper wurde durchscheinend und war nur noch ein Nebelstreif, bis auch der verweht wurde.
Dann hörte sie das Lachen.
Larissa stand noch immer neben ihr. Ihre Augen glänzten, der Mund war halb geöffnet.
»Ich hole mir alle«, flüsterte sie. »Alle, die dazugehören. Denkt an die Hexe vom Hyde Park. Vergeßt sie nicht, sie kommt zurück, und dann wird es schlimm …«
Das waren ihre letzten Worte. Danach wurde auch sie zu einem Nebelstreif, der sich verflüchtigte.
Sarah Goldwyn stöhnte auf. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nichts begreifen. Der Stuhl, auf dem Glenda gesessen hatte, stand noch dort. Er hatte der Explosion wie zum Hohn getrotzt.
Aber Glenda blieb verschwunden, daran ließ sich nichts ändern. Die ersten Menschen erhoben sich wieder. Stöhnend und ächzend kamen sie auf die Beine und befühlten ihre Körper, ob ihnen auch nichts geschehen war.
Es gab keine Verletzten, nur Geschockte.
Man schrie durcheinander, einige verzogen sich, ohne die Rechnung zu bezahlen, und schließlich saß Sarah Goldwyn allein in einem Chaos aus umgestürzten Tischen, Stühlen, Tellern und Gefäßen.
Sie, die schon einiges erlebt und mitgemacht hatte, begriff überhaupt nichts mehr …
*
Ich hörte zwar keine Explosion, dafür aber die Schreie der überraschten Menschen. Sie übertönten sogar noch das Stimmengewirr, das mich umschwirrte.
Sofort ruckte mein Kopf herum. Wenn ich an einigen Bäumen vorbeiblickte, fiel mein Blick auf die Terrasse eines Gartenrestaurants. Und von dort waren die Schreie aufgeklungen.
Welche Szenen sich im Einzelnen da abspielten, war nicht zu erkennen. Ich sah jedoch, dass Menschen die Arme hochrissen und zwischen die Tische oder Stühle fielen.
Jetzt hielt mich nichts mehr. Trotz der Hitze rannte ich mit Riesenschritten los. Menschen kamen mir in wilder Panik entgegen. In ihren Gesichtern las ich die Angst und den Schrecken, den die Menschen empfanden.
Ich musste einigen Leuten ausweichen, ansonsten hätten sie mich buchstäblich umgerannt.
Keuchend erreichte ich den Ort des Geschehens. Diese kurze Rennstrecke hatte mich verdammt geschafft. Ich war in Schweiß gebadet, fiel fast gegen die Abgrenzung, schaute in das Chaos aus Stühlen und Tischen und sah eine Frau, die ich nie im Leben hier vermutet hätte.
Sarah Goldwyn, die Horror-Oma! Aufrecht saß sie in all dem Trubel und hatte beide Hände auf den Griff des Schirms gelegt.
»John Sinclair«, sagte sie. »Der Himmel schickt Sie, mein Junge!«
Ich schüttelte den Kopf. Reden konnte ich vor Überraschung nicht. Dann wischte ich mir über die Augen.
»Ja, ich bin es wirklich«, sagte sie.
»Was ist los?«
»Sollen wir das hier besprechen?«
»Nein, natürlich nicht.«
Sarah Goldwyn stand auf, stieg mit staksigen Schritten über die Scherben und Möbelstücke und schritt auf ein kleines Tor zu, durch das sie die Terrasse verlassen konnte.
Ich wartete auf sie.
»Es war schlimm«, sagte sie.
»Tote oder Verletzte hat es nicht gegeben – oder?«
»Das nicht, aber jemand ist verschwunden. Eine Person, die Sie gut kennen.«
»Wer?«
»Glenda Perkins.«
Das war der zweite Hammer innerhalb einer Minute. »Was?«, keuchte ich. »Sie waren mit Glenda zusammen?«
»Ja.«
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.«
Die Horror-Oma lächelte. »Das wird sich sehr bald ändern, mein Junge.« Anschließend berichtete sie, was sie bisher erlebt hatte. Ich hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder. Und ich wusste, dass der Sergeant nicht gelogen hatte oder einer Einbildung irgendwelcher Zeugen zum Opfer gefallen war. Alles, auch der erste Fall, musste sich so abgespielt haben wie der Zweite.
Hier war eine ungemein kräftige und gefährliche dämonische Kraft am Werk.
Wie konnten wir sie stoppen?
Ich fragte die Lady noch nach den Worten, die ihr die Hexe gesagt hatte.
Sie überlegte kurz. »Ich hole mir alle. Alle, die dazugehören. Denkt an die Hexe vom Hyde Park oder so ähnlich.«
»Eine nähere Erklärung hat sie nicht abgegeben?«
»Nein, John, die müssten wir schon finden.«
»Wir?«
»Natürlich. Glauben Sie denn im Ernst, dass ich Sie allein lasse. Jetzt habe ich Blut geleckt, wie man so schön sagt. Das ist endlich wieder ein Fall für mich. Im Sommer ist ja meist die Saure-Gurken-Zeit, wie man so schön sagt.«
»Aber leider nicht für Dämonen«, erwiderte ich. »Das haben wir jetzt erlebt.«
Ich hörte die Polizeisirenen. Im Hyde Park selbst gibt es ein Revier. Von dort kamen die Beamten.
»Wollen Sie mit denen sprechen?« fragte Lady Sarah.
»Nicht unbedingt.«
»Was dann?«
»Diese Larissa hat mit ihren Worten doch etwas verraten. Irgendwo muss es eine historische Bindung geben, ein Glied, das die Kette der Geheimnisse schließt.«
»Wie bei der Feuerhexe, meinen Sie?«4
»So ähnlich.«
»Dann fahren wir doch zu mir, John. Ich kann mich schließlich rühmen, eine der besten Bibliotheken zu besitzen.«
Da hatte sie recht. Die Horror-Oma zeigte sich sehr optimistisch. Ich teilte dieses Gefühl nicht. Die Worte der Hexe hatten an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen.
Und Glenda befand sich in Larissas Gewalt …
*
Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebte Glenda Perkins am eigenen Leibe einen Dimensionssprung. Sie selbst sah, wie die Umgebung um sie herum verblasste, wie die Menschen verschwanden, als würde auf einer Leinwand der Film schwächer und schwächer.
Sie wollte noch die Arme ausstrekken, um nach Sarah Goldwyn zu greifen, das gelang ihr nicht.
Die andere Kraft war stärker.
Dann kam die Dunkelheit, das Grauen, die unheimlichen Kräfte, die nicht mehr kontrollierbar waren und an Glenda zerrten. Sie wurde hineingerissen in den gewaltigen Tunnel der Dimensionen, wo die Zeit stillstand und das absolute Nichts herrschte.
Raum und Zeit waren aufgehoben.
Die Vergangenheit wurde zur Gegenwart, Welten verschoben sich, doch davon merkte Glenda nichts.
Sie sah sich völlig allein gelassen in einer unendlichen Leere und Vergessenheit.
Sie hatte auf einmal das Gefühl, ihr Körper wäre in eine Presse geraten, die langsam, aber fortlaufend zugedrückt wurde. Glenda bekam keine Luft mehr, sie wollte schreien, doch nicht ein Laut drang aus ihrem Mund.
Dann kam das, was sie in ihrer Qual erhoffte.
Die Bewusstlosigkeit.
Schlagartig überfiel sie das Gefühl, und Glenda wusste von nichts mehr. Sie wurde erst wieder wach, als etwas über ihre Wangen strich, das sich anfühlte wie ein dünnes Spinnennetz.
Glenda öffnete die Augen. Vor ihr zuckte ein Schatten zurück, dann vernahm sie ein Kichern.
Du träumst, dachte sie und wollte die Augen wieder schließen, doch die Stimme ließ sie innehalten.
»Schlafen Sie nicht mehr weiter, Miss. Der ewige Schlag wird sowieso bald kommen. Hi, hi, hi.«
Da richtete sich Glenda auf.
Verwirrt schaute sie sich um. Nein, sie befand sich nicht im Bett ihrer Wohnung, das war auch kein Traum, was sie hier erlebte, sondern Wirklichkeit.
Sie war gefangen.
Gefangen in einer Welt, die sie nicht kannte.
Seltsam, dass sie so denken konnte. So realistisch und auch ohne Angst. Glenda wusste plötzlich, was passiert war, und ihre Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit. Sie sah sich mit Sarah Goldwyn am Tisch sitzen, dann kam das Mädchen Larissa. Es hatte die seltsamen Andeutungen gemacht, auf einmal war alles anders.
»Lady Sarah?« Als Glenda den Namen aussprach, ahnte sie, dass sie sich doch noch nicht zurechtgefunden hatte.
Aus der Düsternis vor ihr antwortete ihr eine Männerstimme. »Ich bin nicht Lady Sarah, sondern heiße Trevor Bingham, schöne Frau.«
»Ich kenne Sie nicht, Mr. Bingham. Mein Gott, was ist überhaupt geschehen?«
»Wir werden uns noch kennenlernen. Warten Sie, ich komme zu Ihnen.« Der Mann ging nicht, er kroch, denn so hoch, um aufrecht zu stehen, war der Raum nicht.
Jetzt sah Glenda ihn besser. Er war fast doppelt so alt wie sie, hatte nur noch wenig Haare auf dem Kopf und ein rundes Gesicht. Die Ohren standen ab, die Nase war nach oben gebogen, die Augen klein. Er trug eine graue Hose, ein blaues Hemd, auf dem die hellen Hosenträger besonders auffielen.
»Wie kommen Sie hierher, Mr. Bingham?«
Der Mann kroch noch näher. Glenda roch seine unangenehmen Schweißausdünstungen. »Ich weiß es selbst nicht so recht, ich habe im Hyde Park gestanden …«
»Sie auch?«
»Ja, auf einem Podest. Ich hatte lange gebraucht, um die Rede vorzubereiten, sie musste fertig werden. Sie wurde auch fertig, und dann passierte es. Da stand diese Frau plötzlich vor mir. Ein tolles Mädchen, schaute mich an, lächelte sogar, und sie warf etwas. Einen Totenschädel, den ich auffing.«
»Danach kam der Blitz, nicht?« fragte Glenda.
»Genau. Woher wissen Sie?«
»Ich selbst habe das Gleiche erlebt. Auch bei mir erschien das schwarzhaarige Mädchen …«
»Wissen Sie den Namen?«
»Larissa.«
»Nie gehört.«
»Auch nicht unter dem Begriff Hexe vom Hyde Park?«
»Nein, nicht.« Der Mann leckte sich Schweißtropfen von der Lippe, und Glenda verzog das Gesicht. Auch sah sie die Angst in den Augen des anderen. Als sie einen Blick auf seine Hände warf, bemerkte sie das heftige Zittern.
»Jetzt sind wir sicher bei ihr«, sagte Glenda.
»Wo meinen Sie?«
»Bei der Hexe.«
Trevor Bingham nickte. »Bestimmt.« Er fasste nach Glendas Schulter. »Irgendwie bewundere ich Sie, meine Liebe. Sie haben einen ungeheuren Mut, ehrlich.«
»Ach, das scheint nur so.«
»Nein, nein, haben Sie keine Angst?«
Doch, sie hatte Angst. Das gab Glenda gern zu. Aber sie wollte dieses Gefühl nicht zeigen. Was nützte es ihr, wenn sie schrie und sich wie eine Tobsüchtige aufführte? Das alles hatte keinen Zweck. Sie musste sich mit den Tatsachen abfinden. Vielleicht war sie auch deshalb so gelassen, weil sie sich auf die neue Situation noch nicht richtig eingestellt hatte. Glenda begriff sie gar nicht. Man bedrohte sie nicht unmittelbar. Geschah das, würde sie sicherlich anders reagieren.
»Ich warte noch auf Ihre Antwort«, sagte der Mann.
»Meine Angst hält sich in Grenzen.« Da lachte Bingham. »Sie würden ganz anders reden, wenn sie es wüssten, Miss …«
»Wenn ich was wüsste?«
Bingham drehte den Kopf und duckte sich zusammen. Fahrig fuhr er sich über den Mund, bevor er antwortete: »Wenn Sie wüssten, dass sie nicht mehr lange zu leben haben, Miss …«
*
Das war wirklich eine makabre Eröffnung. Glenda wusste sofort keine Antwort.
Bingham nickte. »Sehen Sie, jetzt haben Sie Angst.«
»Warum will man mich töten?«
»Sie machen die Hexenprobe.« Glendas Herz klopfte schneller.
»Wer ist sie?«
»Diese Larissa und andere. Glauben Sie nur nicht, dass sie allein ist. Da sind die Schergen, die gefährlichen Henker. Die bringen Sie um, genau wie sie mich umbringen werden. Und da sind die wilden Bestien, die unser Gefängnis bewachen. Hier kommen wir nicht raus, das sage ich Ihnen.«
»Welche Henker, welche Schergen?« Es war ein bisschen viel auf einmal, was Glenda da verkraften musste.
»Ich habe sie gesehen, sie lauern draußen.« Er streckte den Arm aus und deutete in die Düsternis.
Erst jetzt wurde es der Gefangenen bewusst, dass sie sich ihr eigentliches Gefängnis noch gar nicht angesehen hatte. Sie wusste nur, dass sie sich in einem Verlies befand, das zwar relativ groß, aber nicht sehr hoch war.
Und wo befand sich die Tür?
Glenda richtete sich auf und zuckte sofort zusammen, als sie mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Sie bestand aus harten Holzbohlen, sogar Splitter waren vorhanden, die sich in ihrem Haar verfingen. Glenda bewegte sich auf Händen und Füßen in die von Bingham angezeigte Richtung. Zum ersten Mal sah sie auch die Ritzen und Spalte in den Wänden, wo das Licht durchfiel. Als Licht konnte man es kaum bezeichnen, es war nur ein graues Dämmer, das kaum ausreichte, um das Verlies provisorisch zu erhellen.
Glenda fand die Tür. Sie war sehr niedrig und erinnerte sie mehr an eine Luke.
Das Mädchen fand sogar einen Türgriff. Es geschah aus reiner Routine, dass sie den Griff nach unten drückte. Deshalb war Glenda doppelt überrascht, als sie merkte, dass die Tür nicht verschlossen war. Sie konnte sie aufziehen, wobei ihr das hässliche Kreischen und Knarren der rostigen Angeln schwer auf die Nerven fiel.
Glenda ließ die Tür spaltbreit offen und drehte sich dann zu Bingham um. »Kommen Sie, wir können verschwinden!«
»Nein, nein.«
»Machen Sie schon.«
Bingham wollte nicht. Glenda dachte auch nicht näher darüber nach, sondern öffnete die Tür weiter und schaute nach draußen.
Sie sah einen dunklen Pfad. Gegenüber stand ein Gebäude, mehr eine Ruine, dahinter schimmerte es dunkel und trotzdem seltsam hell und mit Reflexen. Das war Wasser.
Die junge Frau zögerte keinen Augenblick länger. Wenn Bingham die Chance nicht wahrnehmen wollte, dann bitte. Sie würde dieses ungastliche Verlies auf jeden Fall verlassen.