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10 gruselige Folgen der Kultserie zum Sparpreis in einem Band!
Mit über 300 Millionen verkauften Romanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen verkauften Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horror-Serie der Welt.
Begleite John Sinclair auf seinen gruseligen Abenteuern aus den Jahren 1978 - 1989 und ziehe mit ihm in den Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit. Erlebe mit, wie John Sinclair zum Schrecken der Finsternis wurde und die Serie Kultstatus erreichte.
Tausende Fans können nicht irren - über 640 Seiten Horrorspaß garantiert!
Dieser Sammelband enthält die Folgen 221 - 230.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Jason Dark
John Sinclair Großband 23 - Horror-Serie
John Sinclair ist der Serien-Klassiker von Jason Dark. Mit über 300 Millionen verkauften Heftromanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horrorserie der Welt. Für alle Gruselfans und Freunde atemloser Spannung.
Tauche ein in die fremde, abenteuerliche Welt von John Sinclair und begleite den Oberinspektor des Scotland Yard im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit.
»Und ich sage euch, Kinder, in diesem See lauert ein grauenvolles Geheimnis …« Der alte Mann senkte seine Stimme zu einem Flüstern, während der Widerschein des kleinen Lagerfeuers tanzende Schatten auf sein zerfurchtes Gesicht malte.
Die beiden jungen Mädchen lachten silberhell, sodass der Alte erschreckt hochzuckte. »Was ist denn los?«
»Nein, nein, ich kann Ihnen nicht glauben«, sagte Jill Livingstone, wobei sie ihr langes blondes Haar schüttelte. »Das sind Ammenmärchen.«
»Und das Ungeheuer von Loch Ness gibt es auch nicht«, behauptete die Zweite im Bunde, die auf den Namen Karen White hörte. »Nur Übertreibungen. Keiner hat das Ungeheuer je gesehen.«
»Pah«, regte sich der Alte auf. »Nessie ist schon des Öfteren fotografiert worden.«
Jason Dark wurde unter seinem bürgerlichen Namen Helmut Rellergerd am 25. Januar 1945 in Dahle im Sauerland geboren. Seinen ersten Roman schrieb er 1966, einen Cliff-Corner-Krimi für den Bastei Verlag. Sieben Jahre später trat er als Redakteur in die Romanredaktion des Bastei Verlages ein und schrieb verschiedene Krimiserien, darunter JERRY COTTON, KOMMISSAR X oder JOHN CAMERON.
»Und ich sage euch, Kinder, in diesem See lauert ein grauenvolles Geheimnis …« Der alte Mann senkte seine Stimme zu einem Flüstern, während der Widerschein des kleinen Lagerfeuers tanzende Schatten auf sein zerfurchtes Gesicht malte.
Die beiden jungen Mädchen lachten silberhell, sodass der Alte erschreckt hochzuckte. »Was ist denn los?«
»Nein, nein, ich kann Ihnen nicht glauben«, sagte Jill Livingstone, wobei sie ihr langes blondes Haar schüttelte. »Das sind Ammenmärchen.«
»Und das Ungeheuer von Loch Ness gibt es auch nicht«, behauptete die Zweite im Bunde, die auf den Namen Karen White hörte. »Nur Übertreibungen. Keiner hat das Ungeheuer je gesehen.«
»Pah«, regte sich der Alte auf. »Nessie ist schon des Öfteren fotografiert worden.«
»Die Fotos sind ein Witz«, behauptete Jill.
Der Alte wurde zornig. »Hast du sie je gesehen?«
»Klar, die sind durch sämtliche Zeitungen gegeistert. Nein, nein, Mister, so einfach lassen wir uns nicht in Schrecken jagen, das merken Sie sich mal.«
Der alte Mann hob die Schultern. Trotz des lauen Sommerabends trug er seinen zerschlissenen Fischgrätmantel. Von seinem Gesicht war so gut wie gar nichts zu erkennen. Die obere Hälfte wurde von der breiten Krempe des alten Filzhutes bedeckt, während ein wildes Bartgestrüpp Kinn und Wangen überwucherte. Nur wenn er den Mund öffnete, erschien ein Loch, an dessen Rändern die rosigen Lippen zu sehen waren. »Dann kann ich euch auch nicht helfen«, sagte der Alte und stemmte sich mühsam hoch, während die beiden zwanzigjährigen Mädchen sitzenblieben. Der Mann schaute noch einmal auf ihre Köpfe, hob dann die Schultern und sagte: »Ich habe euch gewarnt. Schlagt meine Worte nicht in den Wind. Sie sind ehrlich gemeint. Und vielen Dank für den Schnaps.«
»Gern geschehen«, antwortete Jill. Wie auch ihre Freundin sah sie dem alten Mann nach, als er das Lagerfeuer verließ. Nach einigen Sekunden schon hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Die Zurückgebliebenen schwiegen. Unabhängig voneinander hingen sie ihren Gedanken nach. Irgendwie hatten die Worte des Alten doch Eindruck hinterlassen. Vielleicht sorgte auch die gesamte Umgebung dafür, dass ihnen nicht sehr wohl zumute war.
Vor ihnen lag der See!
Eine dunkle Wasserfläche, die unheimlich wirkte und über die der Wind wie mit leichten Flügeln strich, das Wasser bewegte und auf seine Oberfläche ein kräuselndes Muster malte. Wer lange hinschaute, konnte schon glauben, auf dem See Figuren oder Schatten zu sehen, die allerdings stammten nicht von irgendwelchen vorsintflutlichen Ungeheuern, sondern von den dicht belaubten Kronen der alten Bäume, die das Seeufer umsäumten.
Aber auch bei Sonnenschein war das Wasser niemals klar. Es zeigte halt eine zu starke Verschmutzung, die durch Torfrückstände herrührte. Der See war voll davon. Deshalb hatten Einheimische dem Gewässer auch den Beinamen See des schwarzen Wassers gegeben.
Das andere Ufer war in der Finsternis nicht zu erkennen, obwohl das Gewässer an der Stelle, wo die Mädchen saßen, seine schmalste Form besaß. Ansonsten sah es aus wie eine übergroße Niere, und es lag eingebettet in Hügel, die an der West- und Südseite einen dichten Baumwuchs aufwiesen.
Nur ein Ort lag am Ufer. Ein kleines Dorf, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Dafür gab es allerdings mehrere alte, längst verfallene Burgen, die sich um den See verteilten.
Das Gewässer lag im Nordwesten von England, in den Cumberland Mountains, einem Distrikt, in dem es kaum Ansiedlungen oder Städte gab, der auch von der nächsten Autobahn, dem Motorway 6, weit genug entfernt war, als dass Wochenend-Touristen Lust verspürt hätten, ihm einen Besuch abzustatten. So konnte er sich entwickeln, konnte versanden oder vertorfen, und niemand kümmerte sich um ihn.
Die beiden Mädchen allerdings waren im Zuge ihrer Arbeiten auf die Existenz dieses Gewässers gestoßen. Sie hatten vor, einmal Biologie zu studieren und wollten sich bereits kurz vor dem Studium um die einheimische Pflanzenwelt im Bereich der Gewässer kümmern. Dazu gehörte es eben, dass sie besonders attraktive Seen anfuhren, um sich ein Bild machen zu können. Dieses schwarze Gewässer war der erste See.
Die alte Ruine, die sich so herrlich als Übernachtungsplatz eignete, hatten sie nur durch einen Zufall gefunden. Von der Straße her, die zur Hälfte um den See führte, war sie nicht zu sehen gewesen. Auf einem ihrer Ausflüge hatten sie das verlassene Gemäuer mit dem viereckigen dachlosen Turm entdeckt.
Ein wildromantischer Ort. Vor der Ruine fiel das Gelände zum Ufer hin ab, sodass die beiden erhöht sitzenden Mädchen einen fantastischen Blick über das Gewässer besaßen.
Obwohl sich hoch am Himmel die dunklen Nachtwolken türmten, war es auch jetzt, eine Stunde vor der Tageswende, noch längst nicht kalt. Man konnte im Freien schlafen, das hatten sich die beiden auch vorgenommen. Ihre Schlafsäcke hatten sie bereits aus dem kleinen Morris geholt, der im Schatten einer alten Mauer parkte. Dann war der Alte gekommen. Wie ein Geist tauchte er auf, begann zu erzählen und warnte die beiden auch vor einem schrecklichen Ungeheuer, das in den Tiefen des vertorften Sees lauern sollte.
»Du bist so schweigsam«, sagte Jill Livingstone nach einer Weile.
Karen White hob die schmalen Schultern. Sie war ein hübsches Mädchen, hatte rötlich schimmerndes Haar, sehr dunkle Augen und ein rundes Gesicht, in dem besonders die vollen Lippen auffielen, die geradewegs zum Küssen einluden.
»Was ist denn?«, hakte Jill nach.
»Ich … ich weiß nicht so recht.«
»Du denkst an den Alten, nicht?«
»Ja.«
»Glaubst du etwa den Käse, den er verzapft hat?«
»Ich weiß nicht so recht, ob es nur Käse war.«
Da lachte Jill auf. »Du bist gut, Mädchen. Natürlich ist es Mist. Jede Landschaft hat ihre Geister, Gespenster und Geschichten. Ungeheuer natürlich auch, warum soll hier keine Seeschlange oder ein Riesenkrake leben? Das ist doch möglich.«
»Ach, hör auf!«
Jill lachte. »Du hast wirklich Angst. Denk daran, dass wir morgen früh tauchen wollen. Da kann uns noch einiges blühen. Vielleicht sehen wir da sogar das Ungeheuer.«
»Damit spaßt man nicht.«
Jill erhob sich aus ihrem Schneidersitz, reckte sich, sodass sich deutlich ihre Brust unter dem dünnen T-Shirt abzeichnete, und schaute dabei auf das Wasser.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ihr Blick wurde starr, sie gefror mitten in der Bewegung, und der Lichtschein des kleinen Feuers reichte aus, um ihr entsetztes Gesicht erkennen zu können.
Das sah auch Karen. »Was ist mit dir?«
»Ich habe was gesehen!«
Karen runzelte die Stirn. Auf ihrer Haut bildete sich ein Schauder. »Wo? Im See?«
»Ja, zum Henker.«
Karen starrte ebenfalls in die Richtung, aber sie sah nichts, nur die Wasserfläche. »Tut mir leid, aber ich habe da nichts erkannt.«
»Jetzt ist es auch weg.« Jill Livingstone atmete aus.
»Was war es denn?«
»Nicht das Ungeheuer, wie du vielleicht jetzt annimmst. Etwas anderes, das ebenfalls nicht in den See gehört. Ich … ich habe eine Hand gesehen.«
»Eine Hand?«
»Ja, und ein Stück Arm, das ebenfalls dazu gehörte.«
»Mein Gott, das ist …« Karen wollte sprechen und lächeln, beides misslang ihr. Schließlich sagte sie: »Du hast geträumt.«
Jill schüttelte den Kopf.
»Von Händen hat der Alte aber nichts gesagt. Wenn es so etwas gäbe, hätte er es erwähnt.«
»Ich weiß nicht so recht. Die Hand sah schrecklich aus. So … so bleich, das war deutlich zu erkennen. Sie ragte wie ein Pfahl aus dem Wasser. Und überhaupt nicht weit vom Ufer weg.«
»Ich schaue mal nach«, sagte Karen entschlossen.
Jill wollte ihre Freundin zurückhalten, da war diese schon vorgelaufen und rutschte die taufeuchte Wiese hinunter, die erst dicht am Ufer aufhörte, wo ein schmaler Schilfgürtel begann.
Karen White blieb stehen und schaute über den See. Gespenstisch war es schon, das musste sie zugeben. Das grauschwarze Wasser, die sich kräuselnden Wellen, die keinerlei Schaumkronen aufwiesen, oben am Himmel die düsteren Wolken, die ihre langsame Wanderung quer über das Firmament aufnahmen, und an der linken Seite, wo sich ein Stück Land wie eine Zunge in den See schob, standen die uralten Bäume wie düstere Todesboten.
Nur eine Hand sah sie nicht.
Karen starrte so lange auf die Wasserfläche, bis ihre Augen anfingen zu tränen. Sie hätte die Hand sehen müssen, denn in ihrer Farbe hob sie sich deutlich von der dunklen Wasserfläche ab, aber da war nichts. Leer und verlassen lag der See.
Sie drehte sich wieder um.
Jill Livingstone war ein paar Schritte vorgegangen. Sie winkte Karen zu und wollte dass sie zu ihr kam.
»Ich habe nichts gesehen«, sagte Karen laut. »Du musst dich geirrt haben.«
Jill hob die Schultern. Ihre Gestalt zeichnete einen schwachen Schatten auf den Boden, dann wandte sie sich ab und ging dorthin, wo die Flammen des Feuers die letzten Holzreste niederbrannten, sodass der Wind in die zurückgebliebene graue Asche wehen und sie davontragen konnte.
»Vielleicht war es auch eine Einbildung«, sagte Jill, als Karen neben ihr stand.
»Ganz bestimmt sogar.«
Jill lachte. »Nie hätte ich gedacht, dass mich die Worte des Alten so anmachen würden.« Sie drehte sich plötzlich und streifte ihr T-Shirt über den Kopf. Darunter trug sie nur ein dünnes gelbes Oberteil, durch das die weiße Haut schimmerte.
»Möchtest du ein Bad nehmen?«, erkundigte sich Karen White erstaunt.
Ihre Freundin löste bereits den Verschluss des Gürtels. »Das gerade nicht, aber ich habe keine Lust in den durchschwitzten Kleidungsstücken zu schlafen.«
»Das ist wahr, komm …« Damit meinte Karen, dass Jill ihr dabei helfen sollte, die Flammen endgültig zu löschen. Sie traten und schlugen sie aus, sodass ein Brand verhindert wurde.
Dann schlüpfte auch Karen aus ihrer Kleidung. Nur im Slip kroch sie in den Schlafsack. Den Reißverschluss zog sie bis zum Hals zu, legte sich auf den Rücken und starrte in den dunklen Himmel und lauschte den Geräuschen der hier noch unberührten Natur.
Vielfältige Laute und Geräusche durchbrachen die Stille der Nacht. Da raunte und wisperte es in den Bäumen, da schrie hin und wieder ein Tier und jenseits der alten Ruine erscholl sogar der Ruf eines Käuzchens.
Sein lang gezogenes »Uuuuhhh!« drang an die Ohren der beiden Mädchen, die nicht einschlafen konnten.
»Haben wir schon Mitternacht?«, erkundigte sich Jill Livingstone flüsternd.
»Fast.«
»Geisterstunde.«
»Hör auf und mach dich nicht selbst verrückt. Es gibt keine Geister und Gespenster …«
»Auch keine Ungeheuer!« Jill lachte leise.
»Die ebenfalls nicht.«
Es war ein langer Tag gewesen, der hinter den Mädchen lag. Die Natur forderte ihr Recht. Der Drang nach Schlaf wurde stärker als die Furcht, und so war es nur eine ganz natürliche Folge, dass den Mädchen die Augen zufielen.
Schon bald verrieten tiefe Atemzüge, dass beide eingeschlafen waren. Sie wurden eins mit der Natur, die ebenfalls einem neuen Tag entgegenträumte.
Doch nicht alles schlief, auch wenn es den Anschein hatte. Einer war noch wach. Der Alte, der die beiden Mädchen gewarnt hatte. Er stand auf der schmalen Uferstraße und schaute hinunter zum See.
»Das ist die Nacht des Unheils!«, flüsterte er. »Es wird kommen, daran gibt es keinen Zweifel.«
Hastig schlug er ein Kreuzzeichen, bevor er sich umdrehte und fast fluchtartig weglief …
*
Das Unheil lauerte in der Tiefe!
Über 200 Yards unterhalb der Wasseroberfläche hatte es sich verkrochen, war eingetaucht in einen wahren Dschungel aus dickem schlammigem Torf, der so dicht war, dass nie ein Strahl hellen Sonnenlichts ihn erreichte.
Er bildete einen gefährlichen Wald, in dem das Böse seinen Schlupfwinkel finden konnte.
Aber nicht für immer, denn hin und wieder kroch es hervor, kam an die Oberfläche und holte sich seine Opfer, so wie es die alten Gesetze vorschrieben.
Während die Oberfläche des Sees ruhig lag, bewegten sich am Grund des Gewässers lange Tangpflanzen, zwischen denen die Torffäden wie kleine Netze hingen, in einem nie enden wollenden Rhythmus. Lautlos schwangen sie von einer Seite zur anderen. Sie hüteten das grauenvolle Geheimnis, das dieser See in sich barg.
Nur wenige Menschen hatten dieses Grauen je gesehen, und diejenigen, die damit konfrontiert worden waren, konnten es nicht mehr weitererzählen, denn sie waren gepackt und in die rätselhafte Tiefe des Sees gezogen worden, um nie mehr an die Oberfläche zu steigen.
Wen der See einmal hatte, den gab er nicht mehr frei!
Auch in dieser Nacht wogten die aus dem Grund hochwachsenden Pflanzenwälder in ihrem ewigen Rhythmus, und nichts erschien ihre Monotonie zu stören, bis kurz vor Mitternacht.
Auf einmal war alles anders.
Als hätte Sturm das Wasser aufgewühlt, so entstanden gewaltige Schlammwolken, die träge über den Grund zogen und die Dunkelheit noch mehr verstärkten. Dabei wurden die Bewegungen der Wasserpflanzen heftiger, kein gleichmäßiger Rhythmus war zu erkennen, und es hatte den Anschein, als würden sich die hohen, grünbraunen Stiele vor dem schütteln, was auf sie zukam. Zwischen ihnen, noch vom Schlamm verborgen, bewegte sich etwas.
Ein dunkles, schwarzes Etwas, versehen mit Krallenarmen und einem langen, peitschenden Schwanz war erweckt worden und schickte sich an, den Tangwald zu verlassen.
Die wuchtigen Schwanzschläge waren so stark, dass sie die Unterwasserpflanzen wegknickten.
Das Monster bahnte sich seinen Weg! Lange genug hatte es nur auf dem Grund gelauert, jetzt war die Nacht da, um sich wieder neue Opfer zu holen.
Schon bald schwamm es schneller und hatte den unterseeischen Wald hinter sich gelassen.
Ein düsterer, drohender Schatten trieb der Oberfläche entgegen, um sich die Beute zu holen, die ihm zustand …
*
Die beiden Mädchen merkten nichts von dem Grauen, das sich ihnen näherte. Sie schliefen nach wie vor tief und fest und waren eingepackt in ihre Schlafsäcke.
Keiner war mehr da, der sie vor dem Unheil warnen konnte, und die schwarze Oberfläche des Sees schwieg.
Noch …
Unruhig wälzte sich Jill auf die rechte Seite. Sie schlief zwar sehr fest, doch die Worte des Alten steckten tiefer in ihrem Unterbewusstsein, als sie zugegeben hätte.
Träume quälten sie. Schwere Albträume von Geistern, Dämonen und Ungeheuern. Von Wesen, wie sie in den alten Sagen- und Märchenbüchern standen. Sie träumte, dass diese Gestalten auf sie zukommen würden, ihr den Schlafsack aufrissen und sie packten, um sie mit in eine finstere Tiefe zu ziehen, aus der es kein Entrinnen gab.
Die Träume steigerten sich. Sie wurden zu einem Zerrbild des Schreckens, das tief aus ihrer Seele hervorstieg, das Unterbewusstsein verdrängte und sich in das Bewusstsein schob.
Jill Livingstone erwachte!
Das geschah nicht wie sonst, wenn sie in ihrer Studentenbude lag, sondern ruckartig, als hätte ihr jemand einen kalten Eimer Wasser über das Gesicht gegossen.
Sie setzte sich hin.
Für wenige Augenblicke starrte sie benommen in die Dunkelheit. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, musste erst nachdenken und auch das Gefühl der Leere überwinden, denn sie glaubte, aus einem tiefen Brunnenschacht an die Oberfläche gezerrt zu werden.
Endlich fiel ihr ein, wo sie und ihre Freundin übernachteten. Am See, am Loch Cumberland, vor den Gemäuern einer alten Ruine. Und als sie das Schnarchen ihrer Freundin Karen hörte, da atmete sie direkt auf. Dieser kaum abreißende Laut war so herrlich normal. Er hatte überhaupt nichts mit ihrer finsteren Traumwelt zu tun, und so etwas beruhigte sie zu diesem Zeitpunkt ungemein.
Tief atmete sie durch.
Erst beim dritten Luftholen ging es ihr besser und sie kam auch dazu, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Zuerst hatte sie überlegt, ob sie Karen wecken sollte, nahm aber doch davon Abstand, denn die Freundin schlief so tief und fest, dass es einer Schandtat gleichkam, sie aus dem Schlummer zu reißen. Nein, Karen brauchte ihren Schlaf. In wenigen Stunden war die Nacht vorbei, ein neuer, für beide anstrengender Tag begann. Denn sie hatten sich vorgenommen, im See nach seltenen Pflanzen zu tauchen.
Der See lag vor ihr.
Düster, dunkel, drohend und unheimlich kam ihr die Wasserfläche vor. Sie wurde wieder an die Hand erinnert, die sie aus dem Wasser hatte ragen sehen. Die Hand mit den leicht gekrümmten Fingern und dem Teil eines Armes.
Ein kaltes Gefühl bemächtigte sich des Mädchens und brachte eine Gänsehaut mit.
Erst jetzt fiel ihr die Stille auf. Hatten die beiden Mädchen vor dem Einschlafen noch den Geräuschen der Natur gelauscht, so waren diese völlig verstummt.
Auch der Wind fuhr nicht mehr über den See. Er schien eingeschlafen zu sein, dafür aber war ein anderer hinter den dicken Nachtwolken hervorgekommen.
Der Mond!
Eine Kugel, die ein wenig abgenommen hatte. Blass, fahl und weißgelb leuchtend stand er am Himmel. Jill empfand seinen Anblick nicht als romantisch, auch das Licht nicht, das den See traf und einen breiten Kreis auf die schwarze Fläche malte.
Es kam ihr irgendwie kalt und nüchtern vor. Nicht warm oder beruhigend, wie sie es gern gehabt hätte und wie der Mondschein von Verliebten interpretiert wurde.
So eine Nacht hatte sie noch nie erlebt, obwohl sie die Stunden nach der Tageswende schon des Öfteren im Freien verbracht hatte. Auch hatte sich die Luft verändert. Sie schien schwerer geworden zu sein und drückte auf das Gemüt der Jill Livingstone. Zudem hatte das Girl das Gefühl, beobachtet zu werden.
Aber von wem? Wer sollte sie hier unter Beobachtung nehmem? Vielleicht ein Spanner?
Jill öffnete den Reißverschluss ihres Schlafsacks noch weiter, sodass sie im Notfall bequem hinaussteigen konnte. Dann drehte sie sich in ihrer sitzenden Stellung und suchte nach irgendwelchen Anzeichen für eine heimliche Beobachtung.
Jill entdeckte nichts.
Es war nur wieder ein wenig dunkler, da sich eine gewaltige Wolke vor den Mond schob.
Ihr Blick glitt über den See, und plötzlich weiteten sich ihre Augen.
Da hatte sich etwas verändert. Er lag nicht mehr so ruhig da wie noch vor wenigen Minuten, denn genau dort, wo noch ein Rest des Mondlichts hinfiel, bewegte sich die Oberfläche.
Da kräuselte sich das Wasser zusammen. Es warf Wellen, und direkt über der Oberfläche lag sogar ein dünner Streifen, der Jill Livingstone fatal an Nebel erinnerte.
Wo kam der nur her?
Jill schluckte. Sie drehte den Kopf und warf einen hastigen Blick auf ihre Freundin.
Karen schlief. Ihr Gesicht leuchtete bleich auf dem Schlafsack-Kopfkissen. Manchmal zuckten die Mundwinkel, und dann glitt auch ein Lächeln über ihre Lippen, ansonsten tat sich nichts.
Jetzt stieg Jill aus dem Schlafsack. Als sie stand und wieder zum See schaute, da bemerkte sie, dass sich der Nebel verdichtet hatte. Er war tatsächlich stärker geworden und bildete eine Säule.
Jill war ein aufgewecktes Mädchen. Zudem wollte sie ein Gebiet der Naturwissenschaft studieren, besaß einige Vorkenntnisse und konnte sich nicht erklären, was diese plötzliche Nebelbildung zu bedeuten hatte.
Wieder fielen ihr die warnenden Worte des Alten ein. Sie konnte sie einfach nicht aus ihrem Gedächtnis vertreiben, während sie die langen Haare zurückschob und wie unter Zwang zum Ufer schritt. Die Turnschuhe hatte sie auch nicht ausgezogen, als sie im Schafsack lag. Die griffigen Sohlen nutzten ihr jetzt, als sie durch das feucht gewordene Gras ging.
Dicht vor dem Schilfgürtel blieb sie stehen. Sie war etwas näher an die Nebelwand herangekommen, konnte sie jetzt besser erkennen und sah auch, dass das Wasser innerhalb des Nebels brodelte. Da entstanden Wellen, da schäumte es auf, aber die Wellen verliefen sich nicht. Sie rannen nicht auf das Ufer zu, und dies empfand sie als sehr seltsam.
Ein Phänomen!
Minutenlang stand Jill Livingstone da und rührte sich nicht, ihren Blick immer auf dieses seltsame Schauspiel inmitten des Sees gerichtet.
Hatte der Nebel nicht eine andere Farbe angenommen? Schimmerte er nicht in seinem Zentrum leicht bläulich?
Ja, es war keine Täuschung. Da tat sich etwas. Jill bemerkte, dass sie nervös wurde. Sie begann zu zittern, wollte eigentlich weglaufen, doch es gelang ihr nicht, den Blick von der Nebelwand zu lösen. Sie strahlte einfach eine zu große Faszination aus.
Ein blaues Licht im Nebel!
Wo kam es her? War es aus dem Wasser gestiegen? War es ein Zeichen? Wollte es etwas sagen?
Ihre Gedanken wirbelten. Sie beschäftigten sich so stark mit dem Phänomen, dass sie auf die übrige Umgebung nicht achtete. Jill behielt zwar das Wasser im Auge, aber sie schaute nicht auf die Fläche, die vor dem Nebelphänomen lag.
Dort kam et was …
Dicht unter der Wasserfläche fand es seinen Weg, schob sich näher und näher …
Ein großer dunkler Schatten, lautlos, unheimlich, gefährlich und darauf bedacht, Opfer zu finden.
Jill Livingstone nahm wohl wahr, dass sich der Schilfgürtel an einer bestimmten Stelle links von ihr bewegte, aber sie achtete nicht weiter darauf, ihr Interesse galt dem Nebel.
Noch hätte sie Zeit gehabt, dem Unheil auszuweichen, doch als die nächsten Sekunden vergingen, war ihr Schicksal besiegelt.
Der Schatten hatte sich gedreht. Die Schilfrohre schwankten stärker, einige wurden geknickt, dann peitschte etwas durch das flache Wasser am Uferrand, und im nächsten Moment fuhr ein blaugrüner Gegenstand aus dem Wasser und der Deckung des Schilfs.
Jetzt erst sah Jill, was da geschah!
Sie wurde starr vor Entsetzen. Unwillkürlich dachte sie an eine Riesenschlange, denn der Schwanz dieses Monstrums ähnelte in der Tat dem Körper einer Schlange, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, war es schon geschehen.
Wie eine Peitsche schnellte der Schwanz hoch, gleichzeitig erschien ein weit aufgerissenes Maul mit nadelscharfen Zähen aus dem Schilf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jill dieses widerliche schuppige Monster vor sich, bevor sie einen Schlag bekam, der sie nicht nur zu Boden schleuderte, sondern auch ihren Warnschrei erstickte.
Jill fiel in den weichen Uferschlick. Sie war völlig durcheinander, konnte es nicht fassen, der Schock lähmte sie, und dann erfolgte der zweite Angriff des Monstrums.
Wieder schlug das Ungeheuer mit seinem Schwanz zu. Diesmal allerdings rollte er sich wie ein Band um den Körper des jungen Mädchens, schleuderte ihn an den Beinen hoch und wickelte sich gedankenschnell um die Hüfte.
Dann gab es einen Ruck, und im nächsten Augenblick spürte die entsetzte Jill, wie sie durch den Schilfgürtel und ins kalte Seewasser gezogen wurde …
*
Das Gesicht meines Chefs zeigte einen verbissenen Ausdruck, als er mir auf dem Flur entgegenkam.
»Was ist denn los, Sir?«, fragte ich und wollte schon sein Büro ansteuern, doch er wies auf eine Fahrstuhltür. »Wir fahren in den Keller.«
Ich hob die Augenbrauen, betrat den Lift und schwieg. Sir James kam mir nach. Wie immer trug er einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine korrekt gebundene Krawatte. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten. Sie wirkten unnatürlich groß, die Lippen waren hart zusammengepresst.
»Geht es noch um die Mumie?«, fragte ich. Dabei spielte ich auf unseren letzten Fall an.
Sir James schüttelte den Kopf. Er antwortete mit einer Frage, die ich von ihm nicht erwartet hätte. »Haben Sie gut gefrühstückt, John?«
Ich grinste, wobei ich mit fünf Fingern durch die Frisur strich. »Es war zwar nicht sehr üppig, aber immerhin.«
»Dann sehen Sie mal zu, dass Sie es trotzdem behalten«, meinte Sir James sarkastisch.
Der Alte sprach mal wieder in Rätseln, und ich verstand nur Bahnhof. »Was ist eigentlich los?«
»Werden Sie gleich sehen.« Der Fahrstuhl stoppte, wir hatten unser Ziel erreicht.
Dieser von uns Keller genannte unterirdische Komplex des Yard Buildings stellte ein kleines Phänomen dar. Hier feierte die moderne Technik wahre Urstände. Es gab perfekt eingerichtete Labors, das große Rechenzentrum hatte ebenfalls seinen Platz gefunden, und in einem Trakt wurden die Untersuchungshäftlinge festgehalten. Es gab aber auch ein Schauhaus und die Obduktionsabteilung. Dort gingen ebenfalls speziell ausgebildete Ärzte ihrer makabren Arbeit nach, genau wie überall hier unten nur Spezialisten arbeiteten.
Ich war gespannt, was ich hier sollte und wurde überrascht, als uns Suko entgegentrat.
»Du bist hier?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, man hat mich gleich unten abgefangen.«
Der Chinese war ein wenig später ins Büro gekommen. Er fuhr immer mit seiner Harley. Auf den Renner wollte er keinesfalls verzichten.
»Was sollen wir hier?«
Mein Freund hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Kommen Sie, meine Herren«, sagte Sir James und stiefelte voran. Wir schritten durch einen langen Gang, gelangten an eine Kreuzung und wandten uns nach links, wo es zur Obduktionsabteilung ging. Suko und ich warfen uns einen schrägen Blick zu. Wir dachten wohl das gleiche. Wahrscheinlich mussten wir eine Leiche identifizieren. Ich spürte plötzlich ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend, da mir ein schrecklicher Verdacht gekommen war. Wenn Sir James uns schon für so eine Aufgabe heranzog, dann war der oder die Tote sicherlich ein Bekannter von uns. Und ich hatte meine Befürchtungen, denn ich dachte an Jane Collins. Seit in sie der Geist des Rippers gefahren war, hatte ich kaum eine ruhige Minute mehr gehabt. Jane war praktisch zu einem Monstrum geworden, und nicht nur das. Sie hatte durch diese grausame Veränderung auch den Weg zu der gefährlichen Hexe Wicka gefunden und war von ihr mit Freuden in den Kreis ihrer Diener und Dienerinnen aufgenommen worden.
Jane Collins stand jetzt auf der anderen Seite. Damit hatte ich fertigwerden müssen, und es war mir verdammt schwer gefallen, Freunde, das können Sie mir glauben. Verzweifelt hatten wir sie gesucht, aber nicht gefunden. Die Fahndung lief noch immer, und ich hoffte für Jane, dass es irgendwann mal ein Zurück für sie geben würde, obwohl das sehr, sehr schwer war.
Und jetzt, als wir durch den langen Gang schritten, kam mir der Gedanke, dass Jane gefunden worden war und als Leiche auf dem Obduktionstisch lag.
Meine Gesichtsfarbe hatte sich verändert, das merkte ich, ohne es zu sehen. Ich stellte nur fest, dass Suko mir von der Seite her einen prüfenden Blick zuwarf. Der Chinese sagte allerdings nichts.
Unser erstes Ziel war ein kleines Büro. Dort residierte der Leiter dieser medizinischen Abteilung. Er war ein alter Fachmann, ihm konnte so leicht niemand etwas vormachen, und er begrüßte uns mit einem Handschlag.
»Haben Sie alles vorbereitet?«, fragte Sir James.
»Gewiss.«
»Konnte man sie identifizieren?«, hakte unser Chef nach.
Mir gab es einen Stich. Sie, hatte Sir James gesagt. Hieß das vielleicht, dass wir jetzt mit der toten Jane Collins konfrontiert wurden oder einer anderen Bekannten?
Ich schluckte hart und atmete scharf durch die Nase.
»Sie müssen sich beide zusammenreißen«, sagte Sir James Powell, während er dem Arzt zunickte, der auf eine Tür zuschritt, die in den Obduktionsraum führte.
Es gab nicht nur einen, sondern mehrere. Die einzelnen Räume gingen ineinander über.
Ich habe schon in finsteren Grüften gesteckt, verfluchten Schlössern oder Burgen, also Orten, wo man als normaler Mensch eine Heidenangst bekommen konnte, aber nie ist mein Gefühl der Beklemmung so stark wie in dieser nüchternen Obduktionsabteilung. Wenn ich diese gekühlten und mit kalten Fliesen ausgelegten Räume betrat, dann hatte ich jedes Mal den Eindruck, als würde ein Eisenreif mein Herz umklammern und mich auch an der Atmung hindern.
Die anderen Ärzte schauten kaum auf, als wir den größten Raum durchquerten. Mich interessierte nicht, womit sie beischäftigt waren, ich sah stur geradeaus.
Meine Spannung stieg. Der Arzt und Sir James unterhielten sich. Die Worte verstand ich nicht. Trotz der Kühle sammelte sich auf meinem Rücken ein dünner Schweißfilm.
Dann betraten wir einen kleineren Raum, der ebenfalls von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Hier war unser Ziel.
Neben der Tür blieb ich stehen. Ich sah die Schubfächer an der linken Seite, die vom Boden bis zur Decke reichten. In ihnen wurden die Toten so lange aufgebahrt, bis es zu einer Obduktion kam.
Ich spürte Sukos Hand auf meinem Arm. »Ich glaube, dass sie es nicht ist«, flüsterte der Chinese.
Sir James hatte die Worte trotzdem vernommen. Er schaute uns an, runzelte die Stirn, gab ansonsten keinen Kommentar. Der Arzt trat nicht an ein Schubfach heran, sondern wandte sich dem mitten im Raum stehenden Holztisch zu.
Sir James drehte den Kopf und winkte Suko sowie mich herbei. Die beiden Schritte, die mich vom Tisch trennten, legte ich schleppend zurück.
Eine graue Decke aus sterilem Plastik verdeckte das, was auf dem Tisch lag. Der Arzt hielt die Decke bereits mit einer Hand fest und wartete nur auf das Zeichen.
Sir James nickte.
Mit einem Ruck zog der Arzt die Decke weg!
*
Karen White hörte den Schrei wie aus unendlicher Ferne. Als wäre er in einer anderen Dimension geboren worden, um durch die unermeßliche Ferne des Weltalls zu eilen, wobei er dennoch ein Ziel fand, immer lauter wurde und in Karens Gehirn explodierte.
Sie wurde wach.
Dieser Schrei hatte sie aus tiefstem Schlaf gerissen. Ihr kam es vor, als hätte man sie mit kaltem Wasser begossen, und sie war sofort da, fand sich auch zurecht, denn im Gegensatz zu Jill brauchte sie keine Zeit, um sieh zu orientieren.
Ihr Blick glitt nach links.
Jills Schlafsack war leer!
Sofort dachte Karen an den Schrei, den sie gehört hatte, und sie folgerte, dass nur Jill ihn ausgestoßen haben konnte. Karen verlor keine Sekunde. Sie zog den Reißverschluss des Schlafsacks auf, klappte beide Hälften zur Seite und rollte sich nach draußen. Dann stand sie auf und schaute zum See, weil sie ihre Freundin dort vermutete.
»Jill!«, rief sie, wobei ihre Stimme zitterte, denn sie konnte ein Gefühl der Panik nicht unterdrücken.
Eine Antwort bekam sie nicht. Die dunklen Mauern der unheimlich wirkenden Ruine schwiegen.
Karens Herz klopfte hart, in ihre Augen legte sich ein ängstlicher Ausdruck, und sie biss sich so hart auf die Lippe, dass sie Schmerzen verspürte.
Noch einmal rief sie den Namen.
Als sie wieder keine Antwort bekam, dachte sie an den See, drehte sich hastig um, und in diesem Augenblick geschah es. Plötzlich sah Karen White, was mit ihrer Freundin geschehen war.
Die bläuliche Nebelspirale auf dem Wasser nahm sie kaum wahr. Sie interessierte sich nur dafür, was vor dieser Nebelwand alles geschah. Und dort kämpfte Jill Livingstone um ihr Leben.
Ein Monster hatte sie gepackt!
»Nein, nein!«, keuchte Karen. »Ich werde verrückt, ich drehe noch durch! Jill …!« Ihr Ruf hallte über das Wasser, wurde vielleicht auch von Jill vernommen, aber sie konnte nichts tun.
Mit der Wucht eines Dampfhammers war sie aus dem Wasser geschleudert worden. Das Untier hatte sich unter Wasser gedreht, aber sein langer Schwanz umklammerte noch immer die Hüften des Mädchens. Jill schoss aus den Fluten, ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens, der Mund weit aufgerissen, sie schrie und keuchte in einem, drehte sich, wollte aus dieser Umklammerung und wurde wieder zurück in das Wasser geschleudert, wobei das Untier sie ein paar Yards in die Tiefe zog, sie dann losließ, mit ihr spielte, wie eine Katze mit der Fliege, und erneut hart zugriff.
Diesmal allerdings nicht mit dem Schwanz, sondern mit seinen Krallen. Das Untier hatte relativ kurze Arme, die mit grünblauen Schuppen besetzt waren. Die Arme selbst mündeten in zwei Hände, die man nur noch als gefährliche Krallen bezeichnen konnte, denn die Enden der Finger waren spitz wie Messer.
Und die griffen zu.
Jill spürte, wie sie sich in ihren Oberschenkel bohrten und sie selbst wieder aus dem Wasser geschleudert wurde, und zwar so, dass sie in Richtung Ufer schauen konnte, wo Karen White, ihre Freundin, stand und das grauenhafte Geschehen mit anschauen musste.
Jill brüllte!
Ihre Angst- und Schmerzensschreie hallten durch die stille Nacht, zerrissen sie, und das Monster hievte sie ein letztes Mal in die Höhe, um sie dann wieder zurückzureißen.
Bevor Jill Livingstone, die sich verzweifelt wehrte, endgültig verschwand, hatte das Ungeheuer sein Maul so weit geöffnet, wie es eben ging. Dann biss es zu.
Es war ein mörderischer Biss. Karen bekam es mit. Sie sah das Wasser plötzlich aufschäumen und das Untier mit Jill Livingstone in der Tiefe des Sees versinken.
Noch einmal sah Karen White etwas von ihrer Freundin. Es war ein Fuß, der aus dem Wasser ragte, dann verschwand auch er, sodass sich der See wieder glätten konnte.
Karen White glaubte, verrückt zu werden. Sie stand nur mit ihrem Slip bekleidet am auslaufenden Schilfgürtel des Ufers und starrte auf das Wasser. Tränen rannen über ihre Wangen und nässten das Gesicht. Eine beinahe wahnsinnige Angst hatte sie ergriffen, und sie zitterte vor Grauen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, hämmerten einen wilden, verzweifelten Takt, während sie den Kopf schüttelte, weil sie das Unbegreifliche nicht fassen konnte.
In diesem See lebte ein Ungeheuer.
Es gab die Bestie, der alte Mann hatte nicht gelogen. Und sie holte sich ihre Opfer.
Mein Gott …
Aber das Grauen war noch nicht beendet, denn jetzt sah Karen White auf die Nebelwand, und sie hatte das Gefühl, als würde sie sich bewegen.
Ja, sie rückte näher. Die blaue Farbe in ihr hatte sich verdichtet, war intensiver geworden, und Karen glaubte, trotz ihrer tränennassen Augen eine Gestalt innerhalb des Nebels zu sehen.
Zitternd wartete sie ab.
Die Nebelspirale drehte sich, wurde dann zur Seite geweht, legte sich fast auf das Wasser und gab das preis, was in ihr steckte.
Karen White bekam freies Sichtfeld.
Als sie sah, was sich da aus dem Nebel löste, da glaubte sie, den Verstand zu verlieren …
*
Es war nicht Jane Collins!
Gütiger Himmel, ich hatte mich geirrt, meine schreckliche Ahnung hatte sich nicht bestätigt. Ein jeder der Anwesenden hörte mein Aufatmen und sah, wie ich einen Schritt zurücktrat. Dieser schreckliche Kelch war noch einmal an mir vorbeigegangen.
»Kommen Sie!« Ich hörte Sir James Powells Stimme wie durch einen Schleier aus Watte, riss mich zusammen und trat an den Tisch, wobei ich den Kopf senkte, um auf das schauen zu können, was sich unseren Augen bot.
Es war schrecklich genug!
Jetzt wusste ich, weshalb sich Sir James nach meinem Befinden erkundigt hatte.
Auf dem Tisch lagen mehrere Leichenteile!
Ich möchte Ihnen eine detaillierte Beschreibung ersparen, nur so viel sei gesagt. Wir waren einiges gewohnt, doch dieser Anblick ging uns allen durch und durch. Vielleicht machte der Arzt da eine Ausnahme, sein Gesicht hatte die Farbe nicht verloren, was man von Sir James und Suko nicht behaupten konnte.
Wir schauten uns die Teile an, die man in Plastiktüten gelegt hatte, bis Sir James sich abwandte, wobei er nickte und dem Arzt ein Zeichen gab.
Der legte die Decke wieder über den grausigen Fund.
»Kommen Sie«, sagte Sir James. Er verließ als Erster den Raum. Wir folgten ihm und trafen im Büro des Arztes wieder zusammen. Der Doc wusste, was uns jetzt fehlte. Er schloss die Tür eines Schranks auf und holte eine Flasche und drei Gläser hervor.
»Das ist guter Whisky«, sagte er. »Jetzt können wir wohl alle einen Schluck vertragen.«
Ich schaute auf Suko. Sogar er nickte. Das kam bei ihm wirklich selten vor, denn den Chinesen konnte man fast als Antialkoholiker einstufen.
Der Arzt schenkte ein, reichte uns die Gläser, und ich zündete mir noch eine Zigarette an.
Sir James, der immer Last mit dem Magen hatte, pfiff auf die Vorschriften und nahm ebenfalls einen Schluck. Danach stellte er das Glas zur Seite.
Ich leerte es mit einem Schluck, während der Arzt auf Stühle deutete, wobei er uns bat, Platz zu nehmen.
Wir setzten uns.
»Sie haben es nun gesehen«, sagte er, »und werden sicherlich einige Fragen haben.« Auffordernd schaute er uns an.
»Die haben wir auch«, erwiderte ich. »Zuerst möchte ich wissen, zu wievielen Menschen diese Gliedmaßen gehören.«
»Zu dreien.«
»Und das ist sicher?«
»Natürlich. Wir irren uns da nicht.«
»Wo haben Sie die Leichen gefunden?«, wollte Suko wissen.
Diesmal bekam er von Sir James die Antwort. »Nicht in London, sondern im Nordwesten von England. Außerdem haben wir die Leichenteile nicht gefunden, sondern Spaziergänger oder Touristen. Es ist eine etwas lange Geschichte, und ich werde versuchen, sie so knapp wie möglich zu erzählen. Der See heißt Loch Cumberland und liegt inmitten der Cumberland Mountains. Von den Einheimischen allerdings wird das Gewässer nur See des schwarzen Wassers genannt, weil es ähnlich dunkel ist wie Loch Ness. Die Teile wurden angespült. Das geschah nicht an einem Tag, sondern zog sich hin. Direkt am See liegt ein kleines Dorf. Es heißt Darkwater, und die Menschen dort waren natürlich entsetzt, als die Leichenteile angeschwemmt wurden. Es gab polizeiliche Untersuchungen, die allerdings zu nichts führten. Schließlich wurden wir eingeschaltet, als die lokalen Behörden nicht mehr weiterkamen.« Sir James schaute den Arzt an. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Doc.«
»Natürlich. Wir haben die Leichenteile genauestens untersucht und festgestellt, dass die unglücklichen Menschen einer reißenden Bestie in die Klauen geraten sein müssen. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen.«
»Das passt genau zu den Aussagen, die uns von den Dorfbewohnern vorliegen«, erklärte Sir James. »Man glaubt in Darkwater nämlich nicht an eine natürliche Todesursache, und die alte Mär von dem Ungeheuer, das innerhalb des Sees lauern soll, gewinnt wieder an Bedeutung. Da Sie beide Erfahrungen haben, was Ungeheuer angeht, ich denke da nur an Loch Morar, habe ich mir gedacht, dass Suko und Sie, John, den Fall übernehmen.«
»Wir sollen also nach Darkwater.«
»Genau das.«
»Gibt es noch mehr Hinweise auf das Ungeheuer?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, was Sie bisher gesagt haben, Sir, ist relativ vage – oder irre ich mich da?«
»Nein, aber ich kann Ihnen mehr auch nicht bieten. Sie können die Akten einsehen. Ob das allerdings etwas bringt, weiß ich nicht. Es sind dort nur medizinische Gutachten verewigt. Über das Motiv und den eigentlichen Hergang der Tat steht nichts drin. Da müssen Sie schon an Ort und Stelle recherchieren.«
»Und Sie glauben tatsächlich an ein Ungeheuer?«, hakte der Arzt noch einmal nach.
»Ja«, erwiderte ich und nickte.
»Das fällt mir als Mediziner und Naturwissenschaftler natürlich schwer«, bekam ich zur Antwort, wobei der Doc noch lächelte.
»Haben Sie eine andere Lösung?«
»Leider nein. Ich für meinen Teil würde allerdings auf einen Menschen schließen oder auf ein Raubtier, das sich irgendwo in der Nähe des Sees herumtreibt. Man hört ja immer wieder, dass Löwen oder Tiger aus einem Zirkus ausbrechen und auch Menschen anfallen. Da ist so etwas leicht möglich.«
Die Argumentation des Arztes war allerdings nicht von der Hand zu weisen. Rückendeckung bekam ich von meinem Chef, denn Sir James sagte: »Dagegen spricht vor allem, dass man die Leichen im Wasser gefunden hat. Meines Wissens halten sich Ihre Art von Raubtieren dort nicht auf.«
»Stimmt auch wieder«, sagte der Arzt. »Allerdings könnten die Fundstücke dort hineingeworfen worden sein.«
»Wie dem auch sei, wir werden es herausfinden«, gab Suko seinen optimistischen Kommentar. Und mit diesen Worten hatte er gleichzeitig unseren Aufbruch eingeleitet.
Wir erhoben uns. Jedem einzelnen reichte der Arzt die Hand. Er bat uns noch, ihn auf dem laufenden zu halten, denn dieser Fall interessierte ihn sehr.
Wir versprachen, unser Bestes zu tun.
Wieder im Fahrstuhl, fragte mich Sir James: »Sie dachten an Jane Collins?«
»Das kann ich nicht bestreiten.«
»Ich aber auch, Sir«, meinte Suko.
»Hoffen wir, dass so etwas nicht mal Wirklichkeit wird«, sagte unser Chef, wobei mir bei seinen Worten ein kalter Schauer über den Rücken rann.
Im Büro trafen wir unsere letzten Vorbereitungen. Wir warfen auch noch einen Blick in die Akten. Sie bestätigten ungefähr das, was wir auch schon von dem Arzt gehört hatten.
All unsere Waffen nahmen wir mit. Dann wurde es Zeit, denn wir wollten noch am gleichen Tag in Darkwater sein …
*
Gab es noch eine Steigerung des Entsetzens, nach dem, was Karen White hinter sich hatte?
Ja, es gab sie. Und sie bekam die Bestätigung, denn was sich da aus der über dem Wasser stehenden Nebelwand schälte, war das absolute Grauen und hätte eher in einen Horrorfilm gepasst, als in die Wirklichkeit.
Dort kam ein Skelett!
Aber kein normales, sondern eines, das blau schimmerte. Es hatte in der Tat blaue Knochen, und sie leuchteten von innen heraus, während um die gesamte Horror-Figur ein leichter, ebenfalls blauer Schleier lag.
Das blaue Skelett schwebte nicht über dem Wasser, sondern stand in einem schmalen Boot, das mehr einer Barke oder einem Nachen ähnelte. Zudem hielt es eine lange Stange in der Knochenfaust, die sie immer wieder in das schwarze Wasser eintauchte, um so das Boot zu bewegen.
Dieser Vorgang geschah in einer lautlosen geisterhaften Art. Da war kein Plätschern zu hören, wenn die Stange eintauchte, nicht einmal den winzigen Kranz einer schmalen Bugwelle konnte Karen White erkennen.
Jetzt hatte das blaue Skelett genau die Stelle erreicht, wo Jill Livingstone verschwunden war. Der Nachen huschte darüber hinweg, und der unheimliche Ruderer tauchte die Stange tief in das Wasser ein, wobei er sich vorbeugte, sein Ruder hart durch die Fluten zog und den Nachen beschleunigte.
Karen stand da und rührte sich nicht. »Nein, nein«, hauchte sie. »Das kann nicht wahr sein. Ich werde noch verrückt. Ich träume. Das ist ein Albtraum …« Sie zitterte, weinte und redete in einem, wobei sie ihren Mund geöffnet hatte und pfeifend Atem holte.
Der Nachen kam näher!
Und mit ihm das blaue Skelett, diese unheimliche Gestalt, die von Karen deutlicher wahrgenommen werden konnte. Jetzt konnte sie auch den Kopf besser erkennen, wobei Kopf das falsche Wort für diesen angsteinflößenden Schädel war, in dessen Augenhöhlen ein ebenfalls blaues Licht leuchtete.
Es war so hell, als wären die Augen in dem Schädel mit Diamanten gefüllt, und der Blick des Mädchens wurde so direkt von den blauen Augen angezogen, als wären sie Magnete.
Karen White stand da und starrte auf die knöcherne Erscheinung. Sie dachte auch nicht mehr an ihre Freundin Jill, jetzt interessierte sie nur das Skelett in dem seltsamen Nachen, der über den See fuhr, als würde er schweben.
Plötzlich durchzuckte es das Mädchen wie ein Stromstoß. Urplötzlich wurde ihr bewusst, wie nahe der Unheimliche schon war, denn nur wenige Yards weiter, dann würde der Bug des Nachens bereits den Schilfgürtel erreichen.
Karen White ballte die Hände zu Fäusten. In ihrem Inneren meldete sich eine Stimme, der Selbsterhaltungstrieb erwachte, und sie wusste mit einem Mal, dass sie hier wegmusste, wollte sie nicht ein Opfer des blauen Skeletts werden.
Die Flucht war eine Folge ihrer Gedanken. Sie hastete auf ihre neben dem Schlafsack liegenden Kleidungsstücke zu, raffte sie auf und rannte den Hang zur Ruine hoch, wo auch ihr Wagen im Schatten der baufälligen Mauer parkte.
Weg. Nur weg von diesem Ort des Schreckens. Die Polizei musste benachrichtigt werden, Hilfe sollte kommen, das Grauen musste gestoppt werden, und Taucher sollten nach ihrer Freundin Jill suchen.
Die Wagentüren hatten sie nicht abgeschlossen. Das erwies sich als Vorteil. Karen warf ihre Kleidungsstücke auf den Rücksitz des Morris, und ihr fiel mit Schrecken ein, dass sich der Zündschlüssel in den Jeans befand.
Sie drehte sich auf dem Fahrersitz, während sie vor Angst zitterte. Erst mit dem zweiten Griff bekam sie die Jeans zu fassen, griff natürlich in die falsche Tasche, musste wechseln und hielt endlich den Schlüssel in der rechten Hand.
Ihre Finger zitterten dabei so sehr, dass es ihr große Mühe bereitete, überhaupt das Schloss zu finden. Dann endlich hatte sie es geschafft, der Schlüssel steckte, sie drehte ihn herum, und der kalte Motor wollte nicht so recht kommen.
»Spring doch endlich an!«, flüsterte Karen. »Bitte, spring an!« Sie biss so hart auf ihre Lippe, dass sie Blut schmeckte, drehte den Schlüssel und schaute nach rechts, denn sie hatte aus den Augenwinkeln einen blauen Schein wahrgenommen, der nicht still auf dem Boden lag, sondern sich bewegte.
Er glitt näher.
Das Skelett kam …
Wollte es sie holen?
Karen schrie, und in ihren Schrei mischte sich das stotternde Spotzen des Motors.
Endlich!
Kuppeln, dann gasgeben, alles ging überhastet, und sie hätte den Motor fast noch abgewürgt, schließlich fuhr der Wagen mit einem Ruck an.
Die Hinterreifen drehten auf dem glatten Grasboden ein paar Mal durch, fassten aber, und der Wagen beschleunigte.
Das blaue Skelett blieb zurück. Karen hatte es geschafft. Sie war dem Grauen entkommen.
Verkrampft hockte sie auf dem Sitz. Die Hände hielten das Lenkrad so hart fest, als wäre es ein letzter Rettungsanker.
Der Untergrund war nicht glatt und stieg leicht an. Bodenwellen, Querrinnen, herumliegende Äste und Zweige machten ihn zu einer Holperstrecke für den Wagen. Zudem war der kleine Morris vom Gewicht her ziemlich leicht, die Unebenheiten des Bodens übertrugen sich auch auf das Lenkrad und damit auf die Fahrerin, die Mühe hatte, den Wagen unter Kontrolle zu halten.
Plötzlich bemerkte sie den hochgewachsenen Schatten dicht vor der Kühlerschnauze, ein riesiges Monstrum mit sehr langen Armen. Karen dachte an ein Ungeheuer, ihr Mund öffnete sich wieder zu einem Schrei, doch sie tat instinktiv das richtige, indem sie das Lenkrad nach links kurbelte und den Baum knapp passierte.
Nichts anderes war das »Monster« gewesen, nur ein alter Baum. Die tiefer hängenden Zweige schabten noch über das flache Autodach, und für Karen White hörte es sich an wie das Kratzen von kalten Totenfingern.
Erst jetzt dachte sie daran, die Scheinwerfer anzuschalten. Die beiden Lampen flammten auf. Breit und hell stachen die Strahlen durch die Finsternis, huschten über Baumstämme, trafen Büsche, leuchteten sie aus und wanderten weiter, mal nach links, dann wieder nach rechts. Es kam darauf an, in welche Richtung Karen ihren kleinen Morris lenkte.
Einfach geradeaus fahren konnte sie nicht. Das ließ das Gelände nicht zu. So musste sie Schlangenlinien fahren, um die Straße zu erreichen.
Karen White schaffte es. Der Morris nahm die letzte Bodenwelle. Karen wurde noch einmal durchgeschüttelt und kurbelte das Lenkrad nach rechts, um in die schmale Kurve zu kommen, die sie fahren musste. Endlich befanden sich alle vier Räder ihres Wagens auf dem Asphaltbelag der Uferstraße, die hier noch gut ausgebaut war. Weiter östlich mündete die Straße in einen Schotterweg.
Gas!
Der Motor des kleinen Morris überdrehte sich fast. Karen machte in ihrer Panik vieles falsch. Was ihr sonst in Fleisch und Blut eingegangen war, hatte sie wieder vergessen. So kam es, dass sie den Motor abwürgte und der Wagen mitten auf der schmalen Straße stehen blieb.
Karen konnte einfach nicht mehr. Sie hatte in den letzten Minuten zu viel durchgemacht und musste sich eine Pause gönnen. Ein paarmal schüttelte sie den Kopf, beugte sich vor und lehnte ihre Stirn gegen den Lenkradring.
So blieb sie sitzen.
Minuten verrannen. Erst als der Schweiß getrocknet war und Karen anfing zu frieren, da wurde ihr bewusst, dass sie nur den Slip trug. Zum Glück hatte sie ihre persönlichen Dinge zusammengerafft, auch Geld befand sich noch in ihrer Jeans.
Sie drehte sich, griff zwischen den beiden Rückenlehnen der Vordersitze hindurch und holte die Jeans sowie ihr T-Shirt nach vorn. Dabei traute sie sich nicht, den Wagen zu verlassen, sie verrenkte sich fast die Glieder, als sie, hinter dem Lenkrad hockend, in die Kleidungsstücke stieg.
Immer wieder warf sie skeptische Blicke in den Spiegel. Karen White dachte an das blaue Skelett und befürchtete, dass es sie verfolgen würde, was jedoch nicht der Fall war, denn sie sah nicht einmal den Hauch eines Scheins im Spiegel.
Allmählich beruhigten sich ihre Nerven. Einen Plan hatte sie ebenfalls schon gefasst. Sie musste nach Darkwater und dort Bescheid sagen, was geschehen war. Da sollten Leute nach ihrer Freundin suchen. Man konnte sie nicht einfach dieser schrecklichen Tiefe überlassen, das ging auf keinen Fall.
Darkwater lag etwa drei Meilen entfernt, am großen Bogen des Sees. Sonntags schallte das Geläut der Kirchenglocken weit über das dunkle Wasser.
Sie fuhr weiter. Diesmal nicht so schnell und hektisch, sondern ruhiger. Dabei konnte sie noch nachdenken, und ihr fiel ein, dass Darkwater überhaupt keine Polizeistation besaß. Es gab zwar einen Konstabler, aber der war gleichzeitig Postmann und teilte sich seine Arbeit.
Kurvig wurde die Straße. Mal konnte Karen den See erkennen, dann wiederum nahmen ihr hohe Bäume oder dicht wachsende Büsche den Blick auf die dunkle Wasserfläche.
Als sie endlich die ersten Häuser von Darkwater sah, da atmete sie auf.
Gerettet …
*
Wir hatten eine wirklich heiße Fahrt hinter uns und dem Bentley alles abverlangt.
Das alte Schätzchen schnurrte noch wie in seinen besten Tagen, obwohl es schon über fünf Jahre alt war. Ich sah noch nicht ein, mir einen neuen Wagen zuzulegen, der Alte tat es auch, zudem war ja nichts daran. Der Silbergraue wurde regelmäßig gewartet und hatte mich noch nie im Stich gelassen.