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Majestätisch blickte das ehrwürdige Grandhotel über den kleinen Schweizer Ferienort Sils Maria hinweg. Es vermittelte Ruhe, Gemütlichkeit, Erholung. Stammgäste kamen seit Jahren. Niemand hatte sich bisher beschwert. Doch das änderte sich eines Tages. Plötzlich waren Tote nicht mehr tot. Menschen verschwanden, kehrten nicht mehr zurück. Die Angst drang ein in das Refugium des Friedens.
Aber auch ich war da. Und mein russischer Freund Wladimir Golenkow. Gemeinsam stemmten wir uns gegen das ...
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Grauen im Grandhotel
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9681-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Grauen im Grandhotel
von Jason Dark
Majestätisch blickte das ehrwürdige Grandhotel über den kleinen Schweizer Ferienort Sils Maria hinweg. Es vermittelte Ruhe, Gemütlichkeit, Erholung. Stammgäste kamen seit Jahren. Niemand hatte sich bisher beschwert. Doch das änderte sich eines Tages. Plötzlich waren Tote nicht mehr tot. Menschen verschwanden, kehrten nicht mehr zurück. Die Angst drang ein in das Refugium des Friedens.
Aber auch ich war da. Und mein russischer Freund Wladimir Golenkow. Gemeinsam stemmten wir uns gegen das Grauen im Grandhotel …
Der Himmel über den Südalpen schimmerte klar wie ein Tuch aus hellblauer Seide, in dem sich die Strahlen der wunderschönen Herbstsonne verfingen, als wollte sie ein goldenes Nest weben.
Das Wetter kam den Menschen entgegen. Es machte sie fröhlich, es ließ ihre Urlaube noch schöner werden und sorgte für ein unvergessliches Erlebnis.
Doch nicht alle dachten so.
Cornell Degen wartete auf den Tod!
Er sehnte ihn herbei, er wollte sterben. Er hockte in seinem Zimmer auf dem Bett, den Rücken gegen die Wand gedrückt und den Blick auf das Fenster gerichtet, dessen Scheibe von den Vorhängen verdeckt wurden, weil Degen die Dunkelheit haben wollte.
Er hasste die Sonne, er hasste das Licht, er hasste das Helle, er hasste alles, was damit zusammenhing.
Nur die Dunkelheit war für ihn schön, sie war herrlich, so wunderbar, sie umschwemmte ihn, sie gab ihm Sicherheit, er ließ sich gern von ihr tragen und hatte dann das Gefühl, dem Tod ganz nahe zu sein.
Ja, dem Tod …
Immer wenn Degen daran dachte, glänzten seine Augen. Er mochte ihn, er sehnte sich nach ihm, und er wusste auch, dass er sich genau am richtigen Ort befand.
Er würde sterben …
Hoffentlich in der nächsten Nacht, vielleicht sogar schon am Abend, sie hatten es ihm versprochen.
Bereits seit mehr als einer Stunde hockte er auf dem Bett. Den Rücken gegen die Wand gedrückt, die Beine angezogen, die Hände um die Knie gelegt. Er atmete mit offenem Mund, der Schweiß rann über sein Gesicht und lief auch in die Augen.
Cornell Degen trug ein dünnes T-Shirt und eine Röhrenhose aus verwaschenem Jeansstoff. Sein Haar war so kurz geschnitten, dass es wie ein dunkler Schatten auf seinem Kopf lag. Das Gesicht darunter wirkte wie gelber Teig, in den jemand Augen hineingepresst hatte. Der Mund war ein Spalt, sehr breit und dünn.
Dunkel, dachte Degen, es muss doch einfach dunkel werden. Ich will nicht mehr im Grau der Dämmerung hocken, ich will es nicht, verdammt, ich will es nicht!
Aus seinen Gedanken hervor formten sich Worte, die er keuchend und stotternd in die Stille hineinstieß. Immer wieder leckte er sich über die Lippen, als würde ihm der Schweiß besonders gut schmecken.
Dann hörte er die Tritte.
Sie klangen draußen im Flur auf. Die Person, die durch den Gang ging, bewegte sich neben dem roten Teppich, der den Flur wie ein breiter Blutstreifen teilte. War das da draußen schon der Bote, der ihm den Tod bringen würde?
Cornell Degen hoffte es.
Sein Blick bekam einen sehnsuchtsvollen Glanz, als er den Kopf drehte und auf die Tür schaute, vor der die Schritte verstummt waren.
Er hatte abgeschlossen, aber das machte der anderen Person nichts aus. Sie hatte einen Generalschlüssel.
Dann glitt die Tür nach innen. Sie war schwer, trotzdem bewegte sie sich lautlos.
Degen wartete und lauerte.
Er saß wie auf dem Sprung, seine Blicke starr gegen die Tür gerichtet. Aus dem Mund strömten hechelnde Laute, die Lippen zuckten zugleich, als würden sie sich nach einer Musik bewegen, die nur er hörte.
Die Tür schwang weiter nach innen …
Wie ein Schlund, dachte Degen. Wie ein Schlund, der sich öffnete, um der Dunkelheit freie Bahn zu lassen, damit sie mich endlich verschlingen kann.
Doch der Schlund entließ kein Ungeheuer, sondern eine Frau!
Wie eine Gestalt angenommene Drohung stand sie auf der Schwelle und schaute in das Zimmer.
Sie war schwarz angezogen. Das Kleid sah aus wie eine Kutte, war an der Taille umschnürt vom Band der Schürze, die in einem hellen Weiß strahlte und erst dicht über dem Saum des knöchellangen Kleides endete. Eine sehr strenge Kleidung, zu der auch das Gesicht passte, das asketisch wirkte, was an den zahlreichen Fältchen und Falten liegen konnte.
Der Mund fiel in diesem Gesicht kaum auf, auch die Augen nicht. Deren Farbe hatte sich der grauen Haut im Laufe der Zeit angepasst und war kaum zu erkennen.
Sie trug ein Tablett.
Auf ihm stand eine weiße Schüssel mit einem dunklen Deckel, der nicht ganz passte, denn beim Gehen schob er sich hin und her, wobei er kratzende Geräusche verursachte.
»Deine Henkersmahlzeit, Degen!«
Degen holte tief Luft. Es hörte sich an, als hätte ein Raubtier eingeatmet.
Er hüpfte auf seinem Bett, anders konnte er seiner Freude keinen Ausdruck verleihen.
Dann schaute er zu, wie die Frau mit sehr sicheren Schritten auf den Tisch zuging, der gerade ausreichte, um zwei Personen Platz zu bieten. Die Frau stellte das Tablett ab und drehte sich dem noch immer auf dem Bett hockenden Mann zu.
»Du kannst essen!«
Der federte auf und ab. »Ist das … ist das wirklich meine letzte Mahlzeit?«
»Ja, verdammt. Oder glaubst du, dass ich dich hier noch anlüge?« Die Frau ging zur Tür und schloss sie. »Wenn du die Schüssel leer hast, sehen wir weiter.«
»Ja, das ist gut, das liebe ich. So ist es mir auch versprochen worden«, sagte er mit einem schon vorwurfsvollen Ton in der Stimme. »Ihr müsst euch daran halten.«
»Keine Sorge, Degen.« Die Frau hatte den Tisch wieder erreicht und hob mit einem Ruck den Deckel ab.
Mit dem Dampf breitete sich ein scharfer Fleischgeruch aus.
»Kennst du den Geruch, Degen?«
»Ich … ich weiß nicht so recht.«
»Komm her.« Sie holte aus ihrer Tasche einen Löffel. »Es ist dein Lieblingsgericht.«
»Ja, danke, danke, ich komme.« Er jubelte die Antwort. Plötzlich steckte er wieder voller Energie, er sprang vom Bett und holte schwungvoll den Stuhl mit einem sicheren Griff herbei, damit er vor seinem Teller Platz nehmen konnte. Er nahm den Löffel, schielte noch einmal hoch in das Gesicht der neben ihm stehenden Frau, sah ihr aufforderndes Nicken und fing an, seine letzte Mahlzeit einzunehmen.
Es war kein Essen, es war ein Schaufeln, ein Schlingen, begleitet von schmatzenden, schlürfenden und keuchenden Lauten, denn bei dieser Eile hatte er Schwierigkeiten, Luft zu holen.
»Du weißt, dass du die Schüssel leeren musst, nicht wahr, Degen?«
Der Mann nickte, ohne sich beim Essen stören zu lassen. Es machte ihm nichts aus, dass die Soße wie braune, alte Blutstreifen an seinem Kinn entlangrann. Was er mit der Zunge weglecken konnte, das leckte er weg, alles andere glitt den Hals hinab, um im Kragen des T-Shirts zu versickern.
Die Frau schaute ihm zu. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mit ihrem ›Patienten‹ sehr zufrieden war. Wie alle anderen auch hielt er sich an die Regeln, und er kratzte auch den letzten Rest Fleisch und Soße aus der gekanteten Schüssel.
Die Frau nickte ihm zu. »War es gut?«
»Ja«, stöhnte er, drückte sich auf dem Stuhl zurück, rieb sich den Bauch. »Sogar sehr gut.«
»Das freut mich.«
»Bin ich jetzt würdig, in den Tod zu gehen?«
Sie streichelte ihm über den Kopf. Das borstige Haar schien dabei zu knistern. »Ja, mein Lieber, du bist würdig. Die große Chance wartet auf dich.«
»Und wann?«
»Sofort, wenn du willst.«
Hätte die Frau ihn nicht an der Schulter festgehalten, wäre er in die Höhe gesprungen. So aber blieb er sitzen und leckte sich noch einmal über die Lippen wie eine Katze, der es ausgezeichnet geschmeckt hat.
Zwei Finger steckte die Frau in den Mund.
Ein schriller Pfiff ertönte.
Wieder drangen Schritte vom Gang her in den Raum.
Und dann kamen die Henker!
☆
Sie waren zu zweit. Die Frau war einen Schritt zur Seite getreten, um Degen den Blick nicht zu versperren. Er starrte die beiden Männer an, er war glücklich, er nickte ihnen zu, er breitete die Arme aus.
»Meine Freunde!«, rief er. »Meine lieben Freunde. Bringt mich auf den letzten Weg, meine Freunde. Begleitet mich. Bringt mich zu meiner neuen Welt, bitte …«
Die Frau nickte. Degen wünschte sie eine gute Reise in die andere Welt, dann verließ sie den Raum. Erst als sie nicht mehr zu sehen waren, kamen die beiden Henker näher.
Ihre Bewegungen waren identisch. Die beiden hätten Zwillinge sein können, und sie fassten auch zugleich zu.
Der eine die rechte, der andere die linke Schulter des Mannes.
Degen schrak zusammen, als er die harten Griffe spürte, dachte an sein Schicksal und schaute zum Fenster, während er fragte, ob es draußen schon dunkel war.
»Dunkel genug!«
»Ich danke euch …«
Mit unbewegten Gesichtern und hart klingenden Schritten schleiften sie Cornell Degen aus dem Raum in den düster wirkenden Hotelflur. Sie gingen nicht zum normalen Lift, sondern nahmen die Nottreppe.
Unten befand sich die Stahltür mit der roten Aufschrift DURCHGANG VERBOTEN.
Das galt nicht für die Henker.
Einer von ihnen schloss die Tür auf.
Frische Luft strömte herein. Sie roch nach Tannen, nach Heu und vielleicht auch ein wenig nach Regen.
Schatten breiteten sich vor Degen aus. Gewaltige Schatten, wie die Schwingen des Todes, die ihn bald umfangen und dafür sorgen würden, dass er hineinglitt in eine andere, ferne Welt.
Er ging schnell vor, die beiden Henker brauchten ihn nicht erst anzustoßen. Seine Füße schleiften schon sehr bald durch das dichte, saftige Gras des Hangs, auf dem die so mächtigen und starken Tannen wuchsen, die ihren Schatten ausbreiteten.
Er nickte dorthin, wo die Tannen wuchsen. »Ist es dort? Finde ich da mein Ende?«
Die Henker gaben keine Antwort. Sie packten ihn wieder und zerrten ihn auf den Waldsaum zu, der einen dunkelgrauen Schatten bildete.
Cornell Degen schaute zurück, während er voranstolperte. Er sah die Rückfront des mächtigen Grand Hotels, das auf dem Hügel stand und aus einer Mischung aus Lärchen- und Tannenwäldern hervorwuchs. Es war ein gewaltiges Hotel, beinahe schon ein Schloss. Es hatte Geschichte und Geschichte gemacht, und es stand wie eine Trutzburg über dem kleinen Ort Sils Maria nahe des Nobeldorfs St. Moritz im Engadin.
Degens Lippen zuckten, als er die viereckige Turmspitze sah. Dort wehte die Schweizer Flagge, ein weißes Kreuz auf rotem Grund. Es kam ihm vor, als wollte ihm diese Fahne einen letzten Gruß zusenden.
Niemand schaute zu.
Die zahlreichen Fenster an der Rückseite waren leer. Niemand hatte sie geöffnet, um sich hinauszulehnen. Die Scheiben sahen in der Dämmerung beinahe schwarz aus.
Der Hang endete dort, wo der Ort Sils Maria begann. Erst dann hörten die Bäume auf, weil dort das große breite Tal begann, dessen Mittelpunkt der Silvaplananersee war, ein herrlich reines Gewässer, das im Winter zugefroren war und Langläufern als Piste diente.
Cornell Degen hatte das Gewässer nur bei seiner Ankunft in natura gesehen. Danach hatte er sein Zimmer so gut wie nicht verlassen. Er hatte sich eben auf die große Stunde vorbereiten wollen.
Und die war nicht mehr weit entfernt. Zweige peitschten hart gegen die Gesichter der Männer, als sie sich in den Wald drückten und damit anfingen, sich einen Weg zu bahnen. Die Bäume wuchsen sehr dicht beisammen, ihre Zweige berührten sich, sie waren wie starre Arme ineinander verschlungen, bildeten grüne Dächer in unterschiedlicher Höhe, während auf dem Erdboden ein Teppich aus Nadeln lag.
Es war eine Gegend zum Erholen und nicht zum Sterben.
Die Henker wussten Bescheid. Sie hatten sich eine besonders günstige Stelle ausgesucht. Die Tanne war sehr stark. Sie hatte dicke Äste, die wie mächtige Arme vom Stamm wegwuchsen.
Und über einem Ast hing das Seil!
Es endete in einer Schlinge, die zuvor fachmännisch geknüpft worden war. Der Kopf des Delinquenten würde genau hineinpassen, das wussten die beiden Henker, denn sie gehörten zu den routinierten Killern.
Als sie Cornell losließen, rutschte der noch ein Stück vor, hielt sich fest, atmete heftig und schaute hoch gegen die Schlinge, die vor seinen Augen hing.
Sie bewegte sich leicht, der Wind spielte mit ihr. Sie war noch jungfräulich, der Hanf glänzte hell, und der Delinquent lächelte. »Wann macht ihr es?«
»Sofort!« Einer der Henker griff zu. Er hievte ihn an und so weit hoch, dass der zweite die Schlinge bequem über seinen Kopf streifen konnte.
Degen spürte den Hanf, als er über seinen Hals scheuerte. Seine Zunge zuckte aus dem Mund, noch einmal feuchtete er sich die Lippen an. Der zweite Henker prüfte den Sitz, der andere stemmte ihn noch immer hoch. Wenn er ihn losließ, würde Degen in die Schlinge hineinfallen und gehenkt werden, denn seine Füße würden keinen Kontakt mehr mit dem Boden bekommen.
Im Nacken wurde die Schlinge noch einmal festgezurrt. Der Knoten saß gut, schon perfekt.
»Jetzt?«, fragte der Henker, der Degen festhielt.
»Ja.«
Degen lachte. Er freute sich, er erwartete den Tod, auch die anderen hatten ihn erwartet.
Der Mann ließ ihn los.
Degen lachte noch immer, bis dieser Laut zu einem Würgen würde, das überging in ein dumpfes Gurgeln.
Die Beine bewegten sich zuckend, und die beiden Henker schauten zu.
So lange blieben sie stehen, bis sich der Mann nicht mehr rührte. Erst dann nickten sie sich zu und gingen.
Cornell Degen aber ließen sie zunächst hängen …
☆
In der Wohnung war es düster, weil die Vorhänge nur wenig Licht hindurchließen. Deshalb setzte ich mich auch an den Schreitisch und schaltete die Lampe ein, deren Licht in schrägen Bahnen auf meine Hände fiel, die einen Brief hielten.
Es war ein interessanter Brief. Geschrieben hatte ihn ein Mann namens Cornell Degen. Gefunden worden war der Brief in seiner Wohnung, in der ich mich zusammen mit einem Mann vom Secret Service aufhielt, denn Cornell Degen hatte für den Geheimdienst gearbeitet.
Dass diese Typen sich wieder einmal an meinen Chef gewandt hatten, ließ darauf schließen, dass sie allein nicht mehr zurechtkamen, weil der Fall eine okkulte Seite zeigte.
Mein Chef, Sir James, hatte mich losgeschickt. Informationen hatte ich so gut wie keine. Angeblich sollte der Inhalt des Briefs die Brisanz einer Bombe haben, aber das musste ich erst überprüfen. Untersucht worden war das Schreiben bereits. Die Experten des Secret Service hatten sich damit beschäftigt, aber nur die Fingerabdrücke des Briefschreibers gefunden, mehr nicht.
Für mich zählte einzig und allein der Inhalt. Und der war kurz, knapp, aber brisant.
Ich las den Text halblaut und murmelnd vor. »Was ich bisher getan habe, dazu stehe ich nicht mehr. Diese Arbeit hat mir den falschen Weg gewiesen. Nun aber habe ich meine Erfüllung gefunden. Ich gehe den Weg in den Tod, um das Leben zu gewinnen. Ich werde im Grand Hotel in Sils Maria auf ihn warten, und ich werde bald wieder da sein, um von dem zu berichten, was das Jenseits für uns Menschen bereithält.«
Ich las ihn einmal, ich las ihn zweimal. Ich hätte es auch im Büro tun können, aber der Mann vom Geheimdienst hatte darauf bestanden, dass ich mir Degens Wohnung in der City anschaute und mir eine eigene Meinung darüber bildete.
Ich ließ den Brief sinken und legte ihn auf dem Jugendstil-Schreibtisch. Überhaupt war diese sehr große Wohnung im Jugendstil eingerichtet. Wer hier in der City of London diese Zimmer mietete, konnte ein halbes Vermögen als Mietzins loswerden. Bei Degen war das nicht der Fall gewesen, er hatte die Wohnung geerbt.
Seinen Job hatte er gewissermaßen nur als Hobby ausgeübt. Er lebte von den Zinsen seines Vermögens.
Ich hatte mich über seine Tätigkeit lautstark gewundert, aber die Antwort bekommen, dass Degen ein guter Agent gewesen sei. Einer der besten, weil er so harmlos wirkte und ihn jeder für einen Playboy hielt, der nur sein Vermögen verprasste.
Und jetzt war er verschwunden. Im Grand Hotel hatte man angeblich nichts von ihm gehört. Er wäre dort unbekannt gewesen, was die Kollegen aber nicht glauben wollten. Zudem hatte es sich bei ihnen herumgesprochen, dass es einen Mann wie mich gab, der sich um mysteriöse Fälle kümmerte. Das stimmte auch, zudem war ich auch schon mehr als einmal für den Secret Service in die Bresche gesprungen.
Ich stand im Arbeitszimmer und schaute mich um.
Die Möbel atmeten ein Stück Vergangenheit aus. Sie waren mehr als achtzig Jahre alt, sehr wuchtig, ziemlich geometrisch, ohne große Schnörkel.
Da gab es einen Bücherschrank, der bis zur Decke reichte und mit Folianten vollgestopft war.
Ich trat auf die Glasscheiben zu und ließ meine Blicke über die Rücken der Bücher gleiten.
Oft kann man anhand der Bücher auf das Wesen und die Person des Besitzers schließen, aber diese Schwarten sahen aus, als wären sie von Degen nie gelesen worden. Sie erinnerten mich an ein Stück Erbmasse, das er von seinen Eltern übernommen hatte.
Das Zimmer war so groß, um auch einen zweiten Bücherschrank fassen zu können.
Zwischen den beiden Schränken befand sich die breite Tür.
Sie war nicht völlig geschlossen. Unterarmlang stand sie offen. Deshalb hörte ich auch das Geräusch von außerhalb.
Ich hatte mich wieder umdrehen und zum Schreibtisch gehen wollen, erstarrte aber in der Bewegung.
Das Geräusch hatte mir gar nicht gefallen. War da jemand mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden geschlagen?
Ich dachte sofort an Ryman, den Mann vom Secret Service. Ob er tatsächlich so hieß, wusste ich nicht. Jedenfalls hatte er sich mir gegenüber mit diesem Namen vorgestellt, und er kam mir so ähnlich vor wie ein Aufpasser.
Ich ging auf leisen Sohlen zur Tür. Das fiel mir nicht schwer, denn der dicke Teppich machte meine Schritte absolut geräuschlos. Ich schien geradezu über den Boden zu gleiten und blieb neben der Tür stehen, die Hand ausgestreckt und auf die mächtige Klinke gelegt.
Das Geräusch wiederholte sich nicht. Ich konnte auch nichts sehen, als ich in den breiten Gang peilte, der mich mehr an den in einem Hotel erinnerte.
Aber er gehört zu dieser großen Wohnung, die aus mehreren Zimmern bestand. In einem davon musste Ryman sich aufhalten.
Ich zog die Tür weiter auf.
Auch jetzt, nachdem sich mein Blickwinkel gebessert hatte, sah ich nichts von ihm.
Stille wehte mir entgegen.
Eine trügerische Ruhe, die ich nicht mochte und die bei mir eine Gänsehaut hervorrief. Irgendetwas stimmte nicht. Dafür hatte ich zwar keine Beweise, das sagte mir einzig und allein das Gefühl, denn darauf konnte ich mich verlassen.
Der Verkehr am Piccadilly war nicht zu hören. Die Doppelverglasung der Fenster wehrte den Lärm ab, und ich zog die Tür weiter auf, weil ich in den Gang gehen wollte.
Holzwände verdeckten das Mauerwerk. Unter der ebenfalls getäfelten Decke brannte eine breite Leuchte mit fünf Armen. Sie erinnerten mich an helle Krallen.
Keine Spur von Ryman. Die übrigen Türen waren geschlossen. Dennoch hatte ich den Laut gehört. War Ryman irgendwo gegengestoßen? Damit musste ich rechnen, wenn ja, dann würde er sich ja melden.
Ich rief nach ihm.
Das Holz der Wände schluckte meine Stimme, sodass ich einen zweiten, lauteren Ruf folgen ließ.
Auch jetzt bekam ich keine Antwort.
Ich schaute nach rechts. Am Ende des Flurs befand sich die schwere Wohnungstür. Sie war geschlossen. Hatte Ryman die Wohnung vielleicht verlassen?
Das wiederum wollte mir nicht in den Sinn. Es war einfach unlogisch, denn dann hätte er mir Bescheid gesagt. Auch wenn der Secret Service oft Informationen zurückhielt, so wenig kollegial arbeitete er trotzdem nicht.
Ryman meldete sich auch nach dem dritten Ruf nicht. Allmählich wurde mir mulmig zumute.
Ich dachte an eine Gefahr, an eine Überraschung, die man nicht einkalkulieren konnte.
Mir standen mehrere Türen zur Auswahl, hinter denen die verschiedenen Zimmer lagen. Ich dachte darüber nach, was mir Ryman mitgeteilt hatte, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Er hatte nur gesagt, dass er sich noch einmal umschauen wollte.
Ich hatte die freie Auswahl und entschied mich für die linke Tür.
Im Nebenzimmer sah ich Ryman nicht. Es war als Wohnraum eingerichtet.
Ich fand ein Schlafzimmer, zwei Gästezimmer und gelangte dann in einen Trakt, in dem die Küche untergebracht war. Man hatte hier aus zwei Räumen einen gemacht, dementsprechend groß war er und mit mehreren Fenstern bestückt.
Draußen rollte der Verkehr um den Piccadilly herum, hier aber herrschte eine bedrückende Stille. Vor einigen Jahren war der Platz umgestaltet worden, der Brunnen bildet seitdem keine Insel mehr und ist ohne Einsatz des Lebens erreichbar.
Es waren neue Fenster eingebaut worden, damit mehr Licht in die Räume fallen konnte. Ich fragte mich allerdings, wer hier seine Kochkünste ausprobiert haben könnte.
Am Ende der Küche fiel mir eine schmale Tür auf. Dahinter lag ein ebenso schmaler Flur, der einen Knick machte und abermals vor einer Tür endete. Als ich sie öffnete, stand ich wieder im normalen Gang.
Die Wohnung war groß genug, um einen Fremden verwirren zu können. Von Ryman hatte ich noch immer nichts entdeckt, und deshalb war mein Misstrauen auch nicht verschwunden.
Ich dachte daran, dass ich zwar zahlreiche Zimmer durchwandert hatte, aber noch keinen Blick in die Toilette und ins Bad geworfen hatte.
Ich rechnete nach, erinnerte mich wieder an die Lage des Schlafzimmers und ging davon aus, dass die Nassräume nicht allzu weit davon entfernt lagen.