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Wiebke Crotano wurde gedemütigt, körperlich und geistig gequält. An ihr ließen die Lehrer des Internats ihren Frust aus, und Wiebke war ihnen schutzlos ausgeliefert ‒ bis zu der Nacht, da sich ihr die dämonischen Kräfte aus dem nahen Sumpf offenbarten. Kurz darauf wurde der erste Tote mit zerrissener Kehle gefunden. Aus der sechszehnjährigen Wiebke war jemand anderes geworden. Sie war nicht mehr die wehrlose Schülerin, die man drangsalieren konnte. Sie war jetzt ...
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Miss Monster
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9682-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Miss Monster
von Jason Dark
Wiebke Crotano wurde gedemütigt, körperlich und geistig gequält. An ihr ließen die Lehrer des Internats ihren Frust aus, und Wiebke war ihnen schutzlos ausgeliefert ‒ bis zu der Nacht, da sich ihr die dämonischen Kräfte aus dem nahen Sumpf offenbarten. Kurz darauf wurde der erste Tote mit zerrissener Kehle gefunden. Aus der sechszehnjährigen Wiebke war jemand anderes geworden. Sie war nicht mehr die wehrlose Schülerin, die man drangsalieren konnte. Sie war jetzt Miss Monster!
Der alte Maschendrahtzaun glänzte in der Dunkelheit wie ein dichtes Spinnennetz!
Bis hierher und nicht weiter, hieß es immer. Jenseits des Zaunes begann die andere Welt, da lag das Moor, der Sumpf mit all seinen Gefahren und Geheimnissen.
Tagsüber düster, grau und von grünen, verschwommenen Farben durchzogen, in der Nacht aber war er eine schwarze, manchmal glänzende Fläche, über die hin und wieder geheimnisvolle Irrlichter tanzten, als wollten sie irgendwelche Botschaften vermitteln.
Diese Nacht war eine besondere, denn es herrschte Vollmond. Der Erdtrabant stand bleich wie ein runder Ausschnitt inmitten der Schwärze. Es war kein Silberlicht, das er der Erde entgegenschickte, sondern ein fahler, unwirklich anmutender Schein, dessen Blässe sich auch auf der dunklen Fläche des Sumpfes widerspiegelte. Sie gab den zahlreichen Gräsern und Gewächsen einen leichenhaften Anstrich. Sie spiegelte sich auf den Tümpeln und Pfützen, als wären diese unheimliche Spiegel, die das Bild einer zum Sterben verurteilten Landschaft zurückgeben sollten.
Bis hierher und nicht weiter!
Niemand hatte ein Warnschild aufgestellt. Jeder wusste Bescheid, und jeder wusste auch, dass harte Strafen drohten, wenn diese Regel durchbrochen wurde.
Einige hatte es getan, wenige taten es noch immer.
Aber eine ließ sich durch nichts abschrecken. Keine Strafe konnte zu hart sein, denn sie wusste genau, wohin ihr Weg führte. Sie sah nicht die Verbote, sie sah das Ziel, allein das Ziel, das hinter allem stand.
Auch in dieser Nacht.
Barfuß hatte sich Wiebke Crotano aus dem Internat geschlichen und ihre Schuhe erst später übergestreift. Sie war dann auf leisen Sohlen bis zum Zaun gehuscht, stand jetzt vor ihm und presste ihr Gesicht gegen das Metall.
Sie starrte hinüber.
Ihre Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz angenommen. In ihm spiegelten sich Freude, Erwartung und Hoffnung. Was andere abschreckte, zog sie an.
Hinter dem Zaun lag die andere Welt, eine Welt, die ihr gehörte, in die sie eindrang, die sie gerufen hatte.
Aus der Schülerin Wiebke Crotano war eine andere geworden.
Miss Monster!
Den Namen hatte sie sich selbst gegeben, und sie wollte endlich einen Erfolg erzielen.
Der Sumpf stank nach Verwesung, einfach widerlich.
Sie aber liebte ihn.
Abhalten konnte der Gestank sie nicht. Im Gegenteil, sie sah ihn als beruhigend an.
Geschmeidig sprang sie am Außengitter in die Höhe. Blitzschnell fassten ihre kleinen, aber doch sehr kräftigen Hände zu. Die Finger fanden die richtigen Lücken. Auch wenn der Draht in die Haut drückte, es kümmerte Wiebke nicht. Sie musste hoch, den Zaun überklettern, und war dann in ihrer Welt.
Heimlich hatte sie sich für diesen nächtlichen Ausflug umgezogen. Sie trug Jeans, einen Pullover und jetzt auch feste Schuhe. Das lange Haar hatte sie im Nacken zusammengesteckt. Vier Klammern hielten es fest.
Es war kühl geworden. Der nahe Herbst war bereits zu riechen. Die Natur zeigte sich irgendwie verändert.
Feucht und absterbend, etwas traurig, angefüllt mit einer morbiden Melancholie.
Sie erreichte das Ende des Zauns. Für einen Moment blieb sie auf der schmalen Kante hocken, drehte den Kopf und schaute zurück zum Internat.
Dort lag die Schule.
Ein altes, mächtiges Gemäuer, ein dunkler Kasten, in dem schon Generationen von Schülern zu ›tüchtigen‹ Menschen erzogen worden waren. Wie sie das Wort erziehen hasste. Es war eine einzige Tortur. Sogar geschlagen wurde, und es gab da einige Lehrer, die es mit einer besonderen Freude taten.
Wie Mr. Redstone zum Beispiel…
Wiebke sprang. Sie hatte das oft genug geübt. Nie war ihr beim Aufprall etwas passiert, und auch in dieser so besonderen Nacht kam sie sicher auf. Der Boden war weich, er federte nach, und sie spürte in den Knien einen bissigen Schmerz.
Das lag an ihrem Meniskus. Wenn sie einige Schritte gelaufen war, verschwand das Ziehen wieder. Warum sollte es heute Nacht anders sein als sonst?
Es war nicht anders als sonst. Es ging ihr gut, sie konnte sich wieder auf die Umgebung konzentrieren.
Viel hatte sich nicht verändert. Hügeln, Mulden, kleinen Rinnen, in denen sich Schmutzwasser gesammelt hatte. Das Gras wuchs hier ziemlich hoch. Manchmal streiften die Spitzen an den Knien, als wollten sie den sechzehnjährigen Neuankömmling begrüßen.
Wiebke lief jetzt schneller. Ein Gefühl sagte ihr, dass es Zeit wurde. Sie musste sich beeilen, wenn sie pünktlich um Mitternacht an dem Ort sein wollte, wo es passierte.
Auf ihr Gesicht trat ein Lächeln, als sie daran dachte. Alle sprachen über den Sumpf, jeder wusste etwas, aber es gab keinen, sie ausgenommen, der genau informiert war.
Der Zaun lag bereits so weit zurück, dass er selbst im Mondlicht nicht mehr zu sehen war. Zudem veränderte sich der Untergrund. Er war nicht mehr so fest wie sonst, wurde weicher, an manchen Stellen sogar glatt und schlammig.
Drei krumme Bäume wuchsen auf einem kleinen Hügel. Sie sahen aus wie alte Gespenster, die sich vor einem noch größeren Geist verbeugten. Das Trio der Bäume war für Wiebke ein Fixpunkt. Sie umrundete den Ort und sah vor sich eine dunkle, dennoch auf der Oberfläche geheimnisvoll schimmernde Fläche, auf die sich das bleiche Mondlicht wie ein Schleier verteilt hatte.
Ein See.
Sie nannte ihn so. Andere sagten verfluchter Tümpel dazu. Das Ufer war auch bei Tageslicht kaum zu erkennen, weil Schilfrohre, hohes Gras und anderes Buschwerk es verdeckten. Alles war irgendwie ineinander verfilzt und bot so gut wie kein Durchkommen.
Doch es gab einen Weg, und Wiebke kannte ihn.
Sie lief darauf zu, sprang über einen vorstehenden Buckel hinweg und landete in einer kleinen Mulde, die sich zum Gewässer hin verengte. Ein Steg war nicht vorhanden. Um das versteckte Boot zu erreichen, musste sie schon in den Schilfgürtel hineingehen.
Die Erde war sehr hier weich. Wiebke sank ein. Das Wasser schwappte bis zu den Rändern ihrer hohen Schuhe. Sie dachte daran, dass die Lehrer des Öfteren die Schuhe der Schüler kontrollierten, um zu sehen, ob jemand in der Nacht ausgerissen war.
Sollten sie, es störte sie nicht.
Nicht mehr …
Die Schilfrohre schienen sie zu umklammern, sie waren sehr sperrig, und das junge Mädchen musste sich schon anstrengen, um den richtigen Weg zu finden.
Dann hatte es Wiebke geschafft!
Sie sah das dunkle Wasser, die Blätter und die Seerosen darauf, die am nahen Ufer auf den leichten Wellen schwammen. Der Wind glitt wie der Atem eines fremden Wesens über die Wasserfläche hinweg.
Wiebke bückte sich, musste noch einen Schritt vorgehen, um das Boot zu erreichen. Ihre Beine patschten durch das Wasser. Sie lauschte den dabei entstehenden Geräuschen und blickte, noch in gebückter Haltung, über den kleinen See hinweg.
Bis zur Mitte musste sie rudern. Wenn alles gutging, würde er sich ihr dort offenbaren.
Sie stieg in den alten Kahn. Sein Holz war im Laufe der Zeit weich geworden, und auch die Sitzbank in der Mitte war längst angefault.
Ihr stand nur ein Paddel zur Verfügung. Nicht gerade einfach, damit den Kahn zu bewegen, aber Wiebke hatte schon oft genug üben können. Sie legte ab und stach dabei das Paddel in den Grund. Schlamm, Schlick, auch Unrat bedeckten die Wasserfläche.
Wiebke bewegte sich vom Ufer weg. Einige Schilfrohre bogen sich zur Seite, als der Bug des alten Kahns in die schmalen Lücken zwischen sie glitt.
Sehr bald hatte Wiebke die Uferregion verlassen. Mit immer gleichen rhythmischen Bewegungen tauchte sie das Paddel ins Wasser, sie wechselte dabei auch die Seiten, sodass sie nicht in Gefahr lief, in eine Richtung abzudriften.
Je mehr sie sich der Mitte des Sees näherte, umso größer wurde ihre Spannung. Sie brachte Hitze mit, die durch alle Adern flutete und auch hochstieg, bis sie ihren Kopf erreichte.
Ich bin die Prinzessin, schoss es ihr durch den Kopf. Ich fahre über den verwunschenen See, in dem sich ein geheimnisvoller Prinz vor langer Zeit ertränkt hat und nun auf Erlösung wartet.
Auf einmal fühlte sie sich so frei. Selbst ihr Gesicht, tagsüber meist verschlossen und fast schon böse blickend, hellte sich auf, als wäre es von herrlichen Sonnenstrahlen gewärmt worden.
Wiebke spürte die andere Energie in sich. Sie war einfach nicht zu beschreiben, sie beflügelte sie, gab ihr die nötige Kraft, um das Paddel noch schneller in das dunkle Wasser zu stechen. Sie schaute auf die Wellen. Deren Kämme hatten glitzernde Kanten bekommen und wurden vom Mondlicht bestrahlt.
Diese Nacht war wie ein Wunder.
Und ein noch größeres Wunder lag vor ihr.
Es gab kein Zeichen und keine Markierung, wo sich die Mitte des Sees befand. Da musste man sich entweder auf sein Gefühl verlassen oder – wie Wiebke – sich genau auskennen.
Noch einmal drückte sie das Paddel ins Wasser, zog es durch – und hielt es danach mit einer schwungvollen Bewegung ein, bevor sie es fast behutsam neben sich legte.
Der alte Kahn lief schaukelnd aus, und Wiebke blieb auf der Holzplanke still sitzen.
Ihre Haltung erinnerte dabei an die eines sehr braven Mädchens. Sie hatte die Beine angezogen und die Hände um ihre Knie geschlungen, dabei den Kopf leicht gedreht und das Gesicht der vollen Scheibe des Mondes zugewandt.
Minutenlang blieb sie so sitzen. Sie genoss die Stille, den Geruch, das fahle Licht und das leise Plätschern der Wellen, die erst nach einer geraumen Weile zur Ruhe kamen.
Es wurde still.
Sehr ruhig sogar, beinahe schon beängstigend. Jede Bewegung verursachte Geräusche. Auch als Wiebke sich umdrehte und dabei Stoff über Stoff schabte.
Der kleine See wirkte wie ein dunkler Spiegel, auf dessen Fläche sich hin und wieder kleine Flecken verteilten. Es waren die Blätter der Seerosen, auch das alte Laub. Es war vom Wind auf das Wasser geblasen worden und lag dort noch aus dem letzten Jahr.
Sie schaute auf die Uhr.
Beinahe Mitternacht.
Ein schmales Lächeln stahl sich um ihre Mundwinkel. Es machte das Gesicht des Mädchens weicher. Wiebke brauchte nicht mehr lange zu warten, gerade rechtzeitig noch hatte sie es geschafft.
Sie ließ den Blick auf die Uhr gerichtet. Mit starren Blicken verfolgte sie den Sekundenzeiger der Uhr, der dünn wie ein Spinnenbein zuckend weiterwanderte.
Noch drei Sekunden, noch zwei, dann eine.
Mitternacht!
Sie atmete tief durch. Ihr linker Arm sank nach unten. Jetzt brauchte sie nicht mehr auf die Uhr zu schauen. Die Umgebung war wichtiger. Wenn alles stimmte, wenn sie die Botschaften richtig verstanden hatte, musste es jetzt passieren.
Und sie behielt recht!
Plötzlich bewegte sich der Kahn, ohne dass sie etwas dazu getan hätte. Er schaukelte so heftig, dass sich Wiebke an den Bordrändern festhalten musste. Ihr Gesicht war angespannt, die Lippen lagen dicht aufeinander, sie fielen kaum mehr auf.
Über die Haut rann ein Schauer, und einen Moment später vernahm sie das Brodeln.
☆
Ein unheimlich klingendes Geräusch. Wasser schäumte auf. Um das Boot herum bildete es eine schaumige Fläche, es kochte, gurgelte und brodelte, brachte den alten Kahn ins Schwanken, spielte mit ihm, und das Mädchen konnte nicht anders, als sich zu verkrampfen.
Ein Schüttelfrost durchrann ihren Körper. Das Boot wurde zum Spielball der Wasserströme unter dem Kiel, die in kreisförmige Bewegungen gerieten und den alten Kahn herumdrehten, sodass er in einen Kreisel geriet.
Wie erstarrt saß Wiebke in ihrem Boot. Sie glaubte, sich in den Klauen eines Monstrums, hatte den Eindruck, als wäre das Wasser zu einem Tier geworden, das mit seinen Schreien die Stille erstickte.
Plötzlich war es vorbei.
Das Boot drehte sich zwar noch, aber seine Bewegungen waren langsamer geworden. Es schwankte, es krängte, kam irgendwann zur Ruhe, und Wiebke holte tief Luft.
Auf einmal fühlte sie sich gut. Den ersten Ansturm hatte sie überstanden, die andere Kraft hatte nicht versucht, sie zu töten oder zu verletzen.
Sie war akzeptiert worden!
Wiebke lächelte. Noch war sie stumm, dann aber konnte sie das Lachen nicht mehr unterdrücken. Es war ihr auch egal, wie weit es über das Moor und in die Stille der Nacht hineinhallte, sie konnte es nicht mehr zurückhalten.
Sie musste lachen, einfach lachen …
Das musste einfach raus, es tat ihr so gut.
Das Wasser hatte sich wieder beruhigt. Spiegelglatt lag der See um sie herum.
Nichts schien sich verändert zu haben – oder doch?
Plötzlich weiteten sich ihre Augen, denn sie hatte den Eindruck, in ein großes Glasgefäß schauen zu können.
In der Tiefe war etwas. Da hielt sich etwas verborgen, versteckt. Es war nicht zu beschreiben, es besaß keine Gestalt, nicht einmal eine richtige Form, es war einfach nur da …
Wiebke schauderte.
War es das, was sie in ihren Träumen verfolgt hatte? Lauerte dort unten ein Stück Hölle, ein Teil der Verdammnis, das Böse, das Grauenvolle? War es der Tod?
Sie starrte nicht auf einen bestimmten Fleck, sie schaute einfach in die Runde.
Wer konnte das Wesen sein? War es nur ein Schatten? Hatte es einen Namen, oder war es einfach nur da?
Manchmal sah es hell aus, dann wieder dunkel. Es flossen an verschiedenen Stellen die unterschiedlichen Farben zusammen und bildeten ein manieriertes Monstrum.
Gedanken überfielen sie. Keine Erinnerungen, sondern Befehle. Hier wurde mit der Zukunft gespielt, man drückte sie ihr entgegen, man versuchte, ihr die Angst zu nehmen.
Wiebke lächelte. Jetzt hatte ihr Gesicht einen grausamen Ausdruck angenommen. Sie fühlte sich als Siegerin, sie hatte es geschafft, was ihr niemand zugetraut hätte.
Wer konnte ihr jetzt noch Furcht einflößen? Keiner, auch ein Mr. Redstone nicht.
Als sie an ihn dachte, lachte sie auf. Er war ein Schwein, ein Sadist, ein gefürchteter Lehrer, der aber auch widerlich freundlich sein konnte, wenn er an Menschen geriet, die ihm überlegen waren oder mit seinen Vorgesetzten sprach, wie Mrs. Paulsen, die Rektorin und Leiterin der Schule.
Sie sahen zwar verschieden aus, aber irgendwie glichen sie sich auch. Sie gehörten einfach zusammen, sie bildeten auch ein Team. Keiner kämpfte gegen den anderen.
Aber jetzt …
»Ich zeig es euch!«, flüsterte Wiebke. »Ich werde es euch allen zeigen, allen. Ich weiß, dass ihr ein Opfer braucht, aber ich werde es nicht mehr sein. Keine Bestrafung mehr, ab heute schlage ich zurück …«
Sie wollte nach dem Paddel greifen, als ihr etwas auffiel. Der Gegenstand war hell und schwamm dicht unter der Wasserfläche. Ein weißer Ball, der sich bewegte und allmählich seinen Weg änderte, sodass er auf ihren Kahn zutrieb.
Noch konnte sie ihn nicht genau erkennen. Wiebke wusste nur, dass dieser Gegenstand einzig und allein für sie bestimmt war. Ein Geschenk aus der Tiefe, das Böse mochte sie, und das zeigte es auch.
Der Gegenstand wanderte näher. Kleine Wellen schwemmten ihn an das Boot heran. Er hüpfte so nahe, dass sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn aus dem Wasser zu fischen.
Das tat sie dann auch.
Ein Griff reichte.
Sie umfasste den hellen Gegenstand, holte ihn hoch – und lachte erneut auf!
Ihre Augen nahmen einen harten Glanz an, und sie presste das nasse Fundstück hart gegen ihre Brust. Als kleines Kind und auch heute noch, wenn es ihr schlecht ging, hielt sie ihre Puppen so fest, aber das hier war etwas anderes, es war von unten gekommen, aus einer Tiefe, die ihrer Meinung nach keinen Grund mehr hatte, die einfach ein Stück Hölle sein musste.
Wiebke atmete heftig. Sie nahm auch die andere Hand zu Hilfe. Es war eine symbolische Geste, denn niemand sollte ihr diesen Gegenstand je wegnehmen können.
Niemand …
Erst nach einer Weile war sie soweit, dass sie die Arme senken konnte. Jetzt lag der Gegenstand frei auf ihren Händen. Er war nicht einmal schwer und sehr glatt und hatte mehrere Löcher.
Ihr Fundstück war ein bleicher Totenkopf!
☆
Wiebke Crotano dachte über den Schädel nach. Sie hatte ihn nicht gefunden, er war ihr geschenkt worden, und er war gleichzeitig das Geschenk ihres Lebens.
Nie zuvor hatte sie sich so gefreut wie in dieser Nacht. Der Totenkopf war nicht grundlos in ihren Besitz gelangt, man hatte ihn ihr geschenkt, und ihrer Überzeugung nach war es das Böse gewesen, das ihr dieses Geschenk überbracht hatte.
Nun stand es auf ihrer Seite.
Sie brauchte sich nicht zu fürchten. Es würde sie beschützen wie ein gewaltiger Mantel. Er würde seine Schwingen über sie ausbreiten. Die Menschen konnten ihr gestohlen bleiben. Die Träume, die Botschaften hatten recht behalten. Sie war dazu ausersehen worden, ein großes Erbe weiterzutragen.
Es tat ihr leid, dass sie den Schädel abstellen musste, wenn sie wieder zurückruderte. Aber sie stellte ihn so hin, dass sie ihn anschauen konnte. Dieser Schädel ersetzte ihr Mutter und Vater, und es war ja nicht nur er, denn da stand noch etwas hinter ihm.
Ein Symbol, eine Macht …
Sie paddelte dem Ufer zu. Sehr ruhig und beherrscht. Angst würde sie von jetzt an nicht mehr kennen. Ihre Gedanken drehten sich um ein anderes Thema. Sie beschäftigte sich mit ihrem Namen.
Miss Monster! Diesen Namen hatte sie sich selbst gegeben. Sollten die anderen sie weiterhin Wiebke rufe, sie hatte schon vor einiger Zeit entscheiden, dass ihr richtiger Name anders lautete.
Miss Monster!
Wie sich das anhörte. Der Name verbreitete Angst und Schrecken, und sie würde dafür sorgen, dass er sich durchsetzte. Sie alle in der Schule sollten bald Bescheid wissen.
Miss Monster …
Ja, die Welt würde noch von ihr hören, nicht von Wiebke Crotano, sondern von Miss Monster.
Und keiner würde sie aufhalten können. Sie würde eiskalt sein, sie würde alle Hindernisse aus dem Weg räumen, sie würde …
Ihrer Gedanken stockten, ein Geräusch störte sie. Vor ihr knackte und schabte es.
Sie schaute hoch und sah, wie der Bug des Kahns in den Schilfgürtel schnitt.
Sie hatte es geschafft.
Den Totenschädel hob sie vorsichtig an. Sie wusste nicht, wo sie ihn hinstecken sollte, weil sie beim Aussteigen beide Hände brauchte. Sie wühlte in ihren Taschen nach und fand das dünne Netz mit den beiden verstärkten Ringen, das sie einer Eingebung folgend eingesteckt hatte. Ein idealer Platz für den Totenkopf.
Wiebke ließ sich Zeit. Sie überstürzte nichts, sie war die Ruhe selbst. Bevor sie den alten Kahn verließ und ihn wieder in Deckung zerrte, befestigte sie das Netz an ihrem Gürtel. Sie brauchte das schmale Band nur durch die Griffe zu ziehen.
Alles war okay.
Wieder versank sie bis zu den Knöcheln im Dreck, als sie durch den nahen Uferschlick ging. Die starren Rohre störten sie nicht mehr. Es war ihr auch egal, ob die schmutzigen Schuhe jemandem auffielen, ab jetzt stellte sie ihre Bedingungen. Nun würden andere nach ihrer Pfeife tanzen müssen.
Die Umgebung des nächtlichen Moores hatte für das Mädchen längst seinen schaurigen Touch verloren. Der Besitz des Totenschädels hatte ihr eine nie zuvor gekannte Sicherheit gegeben. Ob Nacht oder Tag, das war nicht mehr wichtig.
Sie ging weiter und sah bereits den Zaun. Als im Mondlicht glänzendes Muster hob er sich vom Boden ab. Die Leiterin der Schule hatte ihn bauen lassen. Er sollte die Schüler abschrecken, doch Wiebke ließ sich von nichts in der Welt mehr abschrecken.
Auch nicht von einem Mr. Redstone.
Der stand auf der anderen Seite des Zauns und wartete auf sie!
☆
Wiebke blieb stehen!
Auf einmal klopfte ihr Herz schneller. Sie konnte die Erinnerung an ihr ›erstes‹ Leben einfach nicht so schnell unterdrücken, aber das Gefühl der Angst kam erst gar nicht richtig auf. Sie war nicht mehr die Schülerin, die man prügeln und bestrafen konnte, sie war jetzt Miss Monster, und das sollte Redstone merken.
Er hatte sich dicht vor das Gitter gestellt.
Wie immer trug er seine Reithosen und schwarze Stiefel. Über den Oberkörper hatte er eine enge Jacke gestreift, die über die Taille reichte.
Redstones Haar war schwarz. Er trug es stets korrekt geschnitten und gescheitelt, und seinen Nacken ließ er regelmäßig ausrasieren. Sein Gesicht sah kantig aus, die Nase war klein, schmal und leicht gekrümmt. Darunter zeigte der Mund einen scharfen Zug. Aus ihm sprach der reine Zynismus.
Wie immer hielt er seine Reitgerte in der Hand. Jeder Schüler im Internat kannte das klackende Geräusch, wenn er mit der Gerte gegen seinen Stiefel schlug.
Das tat er auch jetzt, während er Miss Monster aus kalten Augen anschaute.
Ihr entging nicht das Glitzern in diesen Augen. Das war ihr ebenfalls bekannt. Es trat immer dann auf, wenn er sich auf etwas freute, wenn er andere bestrafen konnte.
So wie jetzt…