John Sinclair Sonder-Edition 135 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair Sonder-Edition 135 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Als ich die Leiche sah, durchfuhr mich ein Schock. Walt Temple war auf grauenhafte Art und Weise ums Leben gekommen. Das konnte kein Mensch getan haben.
Der Ansicht war auch Inspektor Ray Ralston gewesen, deshalb hatte er mich nach Bristol geholt. Hinein in die Gassen der Angst, die ein unheimlich wirkender Vollmond mit seinem fahlen Glanz ausleuchtete.
In diesem Klima der Furcht und des Grauens nahm ich die Spur auf. Von einem alten Spiegel ausgehend führte sie mich zu rätselhaften Funden aus atlantischer Zeit und schließlich zu dem Killer, der ein alter Bekannter von mir war. Semerias, der erste Werwolf in Atlantis!


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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Gassen der Angst

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Ballestar / Norma

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9972-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.

Gassender Angst

von Jason Dark

Als ich die Leiche sah, durchfuhr mich ein Schock. Walt Temple war auf grauenhafte Art und Weise ums Leben gekommen. Das konnte kein Mensch getan haben.

Der Ansicht war auch Inspektor Ray Ralston gewesen, deshalb hatte er mich nach Bristol geholt. Hinein in die Gassen der Angst, die ein unheimlich wirkender Vollmond mit seinem fahlen Glanz ausleuchtete.

In diesem Klima der Furcht und des Grauens nahm ich die Spur auf. Von einem alten Spiegel ausgehend führte sie mich zu rätselhaften Funden aus atlantischer Zeit und schließlich zu dem Killer, der ein alter Bekannter von mir war. Semerias, der erste Werwolf in Atlantis!

Vollmond!

Wieder einmal, wie schon so oft. Aber diesmal war es anders, ganz anders. Diesmal würde es geschehen.

Das wusste Walt Temple genau. Er duckte sich noch tiefer in den schmalen Schatten der Einfahrt, von wo aus er sein eigenes Haus beobachten konnte.

Angst durchzog ihn wie ein Spinnennetz. Es lag an seinem Wissen und auch an der Nacht, die angefüllt war von einer sehr tiefen, grauen Dunkelheit und gleichzeitig einem seltsamen Zwielicht.

Es lag daran, dass ein heftiger Wind die Wolkendecke aufriss, als wäre er wütend, dass es sie gab, und so die Lücken schuf, durch die der volle Mond wie ein rundes Auge glotzen konnte.

Der Mond war sein Zeichen!

Nicht das des Walt Temple, sondern ein anderes. Es hatte nichts genutzt, überhaupt nichts, alles war vergebens gewesen. Seine große Vorsorge, das Sammeln der Banner, der Abwehrmittel. Er würde kommen, und zwar in dieser verdammten Nacht.

Noch war er nicht da, hielt sich bewusst zurück. Und das konnte eine Chance für Walt Temple bedeuten. Er fürchtete sich zwar davor, sah sich auch um, lauerte nach irgendwelchen Feinden, und doch gab es keine andere Möglichkeit.

Mit einem leisen, langen, huschenden Schritt löste er sich aus der Deckung der Einfahrt. Er brauchte nur die Straße zu überqueren, um die Haustür zu erreichen.

Wind erfasste ihn. Temple spürte ihn wie ein trockenes Knistern auf seiner Kleidung. Der Wind schüttelte ihn durch, er wühlte in seinen Haaren und schaufelte den Staub einer nahen Fabrik durch die Gegend, denn die Anlagen der Filter funktionierten nie so, wie es vorgeschrieben war. Irgendwas war immer kaputt. Doch wer kümmerte sich in diesem Viertel schon darum? Wo keine Lobby war, würde auch nichts geschehen. So war das nun einmal.

Der Wind war winterlich kalt. Bisher hatte es nur Regen gegeben, doch der Schnee ließ bestimmt nicht lange auf sich warten. Man hatte ihn bereits angekündigt.

Es war eine besondere Nacht. Sie hatte sich in die Gassen des Viertels hineingestohlen wie ein Dieb. Die Dunkelheit hatte sie regelrecht in Besitz genommen, sie würde sich so leicht nicht vertreiben lassen, und sie wehrte sich jedes Mal zäh gegen den Anbruch des Tages, um anschließend doch zu verlieren.

Und sie hatte noch etwas mitgebracht.

Die Angst!

Temple spürte sie deutlich. Die Angst vor dem Mond, den Schatten, die Angst vor sich selbst. Das Unheimliche lauerte in den Gassen und klebte zäh wie Leim an den Hauswänden, an denen die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte.

Fensterscheiben blinkten matt. Hinter wenigen nur leuchtete Licht. Auch die Fenster, die zu Temples Wohnung gehörten, waren dunkel. Er wohnte unten. Geschäfts- und Wohnräume gingen ineinander über. Er war bekannt, weil er allen möglichen Trödel verkaufte. Das fing bei alten Sofas an und hörte bei Tüchern, Schalen und Töpfen noch lange nicht auf. Es waren nicht nur miese oder schlechte Dinge darunter. Dank seiner Beziehungen hatte er es geschafft, auch an Sachen heranzukommen, die außergewöhnlich waren. Seeleute brachten ihm Dinge aus fernen Ländern mit. Da gab es Souvenirs aus Afrika, Asien und Südamerika zu kaufen. Er verscherbelte alte Masken ebenso wie Glücksbringer und Fetische. Dafür hatte er sogar eine spezielle Abteilung eingerichtet.

Vor der Haustür blieb er stehen.

Geduckt, als läge auf seiner Schulter ein schwerer Alb. Er blickte gegen den Wind. Staub wirbelte heran, raschelte in den Gassen, in die das Mondlicht hineinschien und sie mit einem fahlen, aber unheimlichen Glanz ausfüllte.

Diese kleine Welt war unwirklich geworden. Die Nacht hatte sie mit einem Mantel des Bösen bedeckt. Temple glaubte daran, dass irgendwo geheimnisvolle Kräfte lauerten, die nur auf einen Fehler von ihm warteten.

Der aber war ihm schon unterlaufen, auch wenn er es nicht direkt zugeben wollte. Er hatte versucht, ihn auszumerzen, es war ihm nicht gelungen.

Das andere hatte sich fest etabliert und wartete nur darauf, zuschlagen zu können.

Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel aus der Tasche holte und ihn in das Schloss schob. Das hatte er schon unzählige Male getan, in dieser Nacht jedoch war es etwas Besonderes.

Der Wind wuchtete in seinen Rücken. Temple duckte sich noch tiefer. Zusammen mit der Kraft des Windes schob er die Tür auf. Hastig stolperte er über die Schwelle. Er spürte die unsichtbaren Hände, die ihn vorpeitschten, er holte noch einmal tief Luft, dann drehte er sich und rammte die Tür hinter sich zu.

Draußen war es kalt gewesen. Ihm stand der Schweiß dennoch auf der Stirn. Die Stunden der Angst addierten sich. Sie waren schlimmer und schlimmer geworden. Wenn er sein Gesicht berührte, dann klebte Fett an seinen Fingern.

Rechts lag der Laden, links die Wohnung.

Temple überlegte, wohin er sich wenden sollte. In seine Wohnung oder in das Geschäft?

Es blieb eigentlich gleich. Die Bedrohung war da. Sie ließ sich weder aus der Wohnung noch aus den Geschäftsräumen vertreiben. Es gab noch eine dritte Möglichkeit. Er hätte rasch seine Sachen zusammenpacken und fliehen können.

Doch auch das hatte keinen Sinn, denn die andere Kraft war so ungeheuerlich, dass sie ihn einholen würde. Sie war überall, sie konnte in jeden Winkel kriechen, denn sie war einfach nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen und zu begreifen.

Er stand im Dunkeln. Die Finsternis umgab ihn wie ein Schwamm, sie saugte sich an seinem Körper fest, sie drang durch jede Pore, sie sorgte für einen weiteren Schweißausbruch.

Für einen Moment dachte er an Mrs. McArling, seine Zugehfrau und Hilfe. Er hatte sie in den Weihnachtsurlaub geschickt.

Ein Fehler, wie er jetzt einsah. Er hätte anders reagieren und sie hierbehalten sollen, auch wenn sie ihm mit ihrer schrillen Stimme auf die Nerven fiel. Er hätte jetzt wenigstens einen Menschen gehabt, mit dem er sich hätte unterhalten können. Er wäre nicht so allein gewesen.

Allein!

Dieses eine Wort schoss ihm durch den Kopf. Eigentlich war er nicht allein, denn da gab es etwas, das in seinen Räumen hauste, das aus einer anderen Welt zu ihm gekommen war. Ein Wesen aus der Finsternis, das nicht erklärbar war. Etwas Furchtbares, Grauenvolles, noch gefangen, aber trotzdem existent.

Er drehte sich zur Seite. Gleichzeitig streckte er seinen Arm aus, um den Lichtschalter zu erreichen. Er berührte den Kunststoff, seine Hand glitt etwas nach rechts, dann ertastete er den Schalter und betätigte ihn. Es wurde heller, aber nicht hell.

Ein dumpfes, gelblich rotes Licht waberte durch den Flur. Geheimnisvoll und tückisch. Temple traute nicht einmal mehr dem Licht. Überall sah er seine Feinde, selbst darin.

Er duckte sich.

Die alte Garderobe schien plötzlich erwacht zu sein. Aus den Haken waren Arme geworden, gekrümmt und dabei an erstarrte Schlangen erinnernd. Sie streckten sich in die Leere des Korridors hinein, und auch sie empfand er als bedrohlich.

Er schloss auf.

Diesmal schnell und hektisch, als könnte er es kaum erwarten, in sein Geschäft zu gelangen.

Dann blieb er stehen und presste seine Hand gegen die Brust, wie ein Herzkranker, der plötzlich einen Krampf spürt.

Er bückte sich, ging vor und stützte sich am Tresen ab, auf dem die altertümliche Klingelkasse ihren Platz gefunden hatte. Unter der Tischplatte befanden sich die wenigen Schalter. Sie bildeten so etwas wie eine Zentrale für das Licht, denn von dieser Stelle aus konnte er alle Lampen des Geschäftsraumes einschalten.

Er machte überall Licht.

Die Lampen waren gut verteilt.

Sie leuchteten genau das an, was die Kunden sehen sollten. Es waren die außergewöhnlichen Teile aus Übersee, die rätselhaften Masken, die Totems, die Fetische, die Krüge und Schalen mit ihren bunten Bemalungen und ungewöhnlichen Zeichen, die allesamt eine Bedeutung hatten.

Wenn Temple eine Schale verkaufen wollte, dann ließ er seine Fantasie spielen und erklärte dem Käufer, was dieser gern hören wollte. Dann redete er von wichtigen Zeichen, die Glück über das Haus bringen sollten, die dafür sorgten, dass gute Götter eintraten und Krankheiten verscheuchten.

In achtzig Prozent der Fälle wurde ihm geglaubt. Dann konnte er die Preise sogar noch höher setzen.

Er selbst fürchtete sich vor diesen Masken nicht. In den letzten Tagen allerdings war dies anders geworden. Jetzt waren die Masken von einer grauenvollen und unheimlichen Kraft erfüllt. Da sickerte das Licht in die Augenschlitze hinein, es füllte sie aus, es ließ sie glühen, als wollten sie den Atem des Bösen erwecken.

Er bekam eine Gänsehaut.

Geduckt stand er hinter der Kasse. Noch immer hatte er seine Hände auf die Tresenplatte gestemmt. Sein Mund fühlte sich trocken an. In seinem Kopf rauschte das Blut. An den Ohren spürte er einen leichten Druck, der sich zu starken Schmerzen vereinigte.

Er suchte nach einer Erklärung, fand sie auch, wollte sie allerdings nicht wahrhaben, weil dies einfach unmöglich war.

Sollte er daran die Schuld tragen, dass die Angst durch die Gasse schlich?

Er zog seine Jacke aus. Der Pullover reichte ihm bis zu den Knien. Das dünne, fettige Haar klebte an seinem Kopf. In den Falten auf seiner Stirn hatte sich der Schweiß gesammelt.

Die Gefahr ging von diesem Raum aus, Temple spürte es sehr deutlich. Es gab ein Zentrum, und er wusste auch, wo es lag.

Genau in dieser Sekunde nahm er sich vor, nicht mehr wegzulaufen. Er wollte sich dem Grauen stellen, aber das genau würde nicht ausreichen. Er musste mehr tun, er musste es an die Kandare nehmen und wegzerren. Rausschaffen, zerstören, dann würde die Angst nicht mehr durch die Gassen schleichen.

Für ihn war es eine große, aber auch sehr gefährliche Aufgabe. Man konnte sie schon als übermenschlich bezeichnen, er fürchtete sich davor. Er hätte gern Hilfe gehabt, doch es würde ihm hier niemand zur Seite stehen.

Allein, so schrecklich allein …

Walt Temple tappte durch den Laden. Der Trödelhändler fühlte sich wie ein Fremder in seinem eigenen Geschäft. Alles war nicht mehr normal, es war so unnatürlich, so fremd, als hätten alle Gegenstände die Seiten gewechselt und sich nun dem Bösen verschrieben.

Seine Unterlippe hatte er vorgeschoben. Sie zitterte und glänzte speichelnass.

Temple hatte seine Waren so aufgebaut, dass sie ein kleines Labyrinth bildeten. Es gab da Gänge, die sich mit Nischen abwechselten, Regale bildeten, quer stehende Hindernisse, aber jedes war bis zum Rand mit Waren gefüllt.

Eine Nische aber interessierte ihn besonders. Sie hatte er längst als das Zentrum des Bösen erkannt. Es war nicht einfach, dorthin zu gelangen. Kunden sollten sie auf keinen Fall entdecken, deshalb hatte er vor die Nische einen alten Weichholzschrank gestellt, der nur so schwer war, dass er von einer Person zur Seite geschoben werden konnte.

Temple bückte sich und drückte seinen Rücken gegen eines der Seitenteile. Der Schrank war lange nicht mehr bewegt worden.

Temple hatte das Gefühl, als hätten sich die klotzigen Holzfüße in dem Boden festgefressen, was aber nicht stimmte. Nach dem zweiten Versuch bewegte sich der Schrank zur Seite.

Walt Temple keuchte. Der Schweiß lief ihm jetzt noch stärker übers Gesicht.

Er lauschte dem Kratzen der Füße und hoffte, dass sie nicht abbrechen würden.

Es ging alles glatt. Er brauchte den Schrank auch nur so weit zur Seite zu schieben, dass er mit ausgestrecktem Arm den Gegenstand erreichen konnte, der für ihn so wichtig war.

Es war gut, dass Temple das Licht eingeschaltet hatte, so drang etwas von der Helligkeit auch in die Nische und zog den Gegenstand, auf den Temple es abgesehen hatte, aus der grauen Finsternis hervor.

Er war so hoch wie ein ausgewachsener Mensch. Er stand auf zwei krummen Füßen, die sich jeweils zu zwei Dreiecken verformten – wie Füße, bei denen die Zehen fehlten. Es war kein Schrank, es war keine Kommode – es war ein Spiegel!

Nicht mehr und nicht weniger.

Nur ein Spiegel …

Er sah hinein, er blickte gegen die Fläche, er duckte sich, und er spürte die Furcht.

Diesmal noch tiefer und intensiver. Sie war wie ein böser Hauch, dem er nicht entrinnen konnte. Die Spiegelfläche strahlte ihn aus, um ihn in seine Gewalt zu bekommen.

Temple grinste bissig. »Nein«, flüsterte er, »nicht mehr, mein Freund, nie mehr. Heute werde ich es dir geben. Ich habe lange genug gelitten. Ich habe meine Angst erlebt, ich will nicht mehr. Aber ich weiß, dass es nur gelingt, wenn ich dich aus dem Haus schaffe.« Er nickte sich selbst zu und erwartete, dass sich diese Bewegung in der Spiegelfläche wiederholte.

Das geschah auch. Nur wieder anders, als er es sich vorgestellt hatte. Dort war zwar eine Gestalt zu erkennen, sie hatte auch Ähnlichkeit mit ihm, aber war er das tatsächlich?

Dieser dunkle Umriss, der schon etwas Geisterhaftes an sich hatte, obwohl er menschlich war?

Temple wunderte sich. Er unterdrückte seine Angst. Er wollte jetzt nicht an gewisse Dinge denken, die fernab des menschlichen Vorstellungsvermögens lagen, es gab für ihn nur noch eine Alternative.

Der Spiegel musste weg!

Walt Temple hatte ihn allein hergebracht, er würde ihn auch allein wieder wegschaffen. Der Gegenstand gehörte zu den schweren Standspiegeln, wie sie in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mode gewesen waren. Die rechteckige, aber an den Kanten abgerundete Spiegelfläche war mit einem Holzrahmen versehen. Ein gefälliges Schnitzwerk, das wie Dornenranken aussah, das noch weiter zu wachsen und sich ineinander zu verschlingen schien.

Am Kopfende des Spiegels wanden sich die Ranken, von zwei Seiten her kommend, nach unten und vereinigten sich dann am Grund einer flachen Mulde oder Schale wieder.

Bewusst war für einen bestimmten Gegenstand Platz gelassen worden. Denn aus dem Grund wuchs etwas hervor, das aus der Ferne betrachtet wie ein Klumpen aussah.

Erst beim näheren Hinsehen stellte der Betrachter fest, dass es ein Kopf war.

Allerdings kein menschlicher, sondern der eines … Tieres? Das wiederum stimmte auch nicht ganz, denn als eindeutig tierisch konnte der Kopf auch nicht bezeichnet werden.

Es war mehr ein Mittelding zwischen Mensch und Tier. Eine Kreuzung aus Bestie und Mann.

Etwas Wolfshaftes zeichnete den Kopf aus. Eine dicke, klumpige Nase, dünnes Fell auf der Stirn und im Gesicht. Nur angedeutet, aber ein Mensch mit viel Fantasie konnte das schon erkennen.

Das Maul stand halb offen. Als wollte dieser Kopf gerade etwas sagen, um beim ersten Wort in eine Starre zu verfallen. Die Zähne der oberen Reihe wuchsen unregelmäßig, und die Augen glotzten wie starre Holzkugeln.

Dennoch hatten sie etwas an sich, das Temple einen Schauer über den Rücken jagte.

Das Gesicht und die Augen waren für ihn das Zentrum des Grauens. Der böse Blick, das Böse an sich, von hier strahlte es ab, um sich in der Gegend auszubreiten.

Dann schlich es durch die Gassen und ließ sich weder von Mauern noch von Türen aufhalten.

»Nicht mehr lange!«, keuchte Walt Temple. »Nicht mehr lange wirst du dein Grauen ausatmen können. Ich werde dich hier herausschaffen und brutal zerschmettern. Du sollst in unzählige Einzelteile zerfallen, du sollst …« Fast hätte er gegen den Spiegel getreten, im letzten Augenblick zog er seinen Fuß wieder zurück.

Er musste seine Wut in Grenzen halten, er musste sich beherrschen und eiskalt vorgehen.

Walt Temple brauchte die Arme nicht einmal ganz auszubreiten, um beide Seiten des Spiegels umfassen zu können. Er hielt sie leicht angewinkelt, umklammerte die Ränder.

So blieb er stehen.

Seine Vorderseite berührte die Spiegelfläche.

Noch einmal Luft holen.

In Gedanken zählen.

Eins – zwei – drei …

Anheben und …

Er schrie auf. Er war mehr ein Ächzen, aber auch eine Reaktion der kalten Wut. Trotz der eingesetzten Kraft hatte er nicht geschafft, was er wollte. Der Spiegel hatte sich nicht um einen Millimeter bewegt!

Walt Temple hielt ihn noch immer fest. Er konnte es nicht glauben. Er war in den letzten Wochen auf keinen Fall schwächer geworden. Irgendetwas stimmte da nicht.

Noch einmal.

Wieder setzte er seine ganze Kraft ein. Er feuerte sich selbst mit einem Schrei an. Jetzt musste es klappen. Er versuchte, den Spiegel zu kanten.

Das gelang ebenfalls nicht.

Der Spiegel rührte sich nicht vom Fleck. Er war schwer wie Eisen oder noch schwerer.

Temple trat zurück. Er beugte sich nach vorn und keuchte heftig. Aus der Tasche holte er ein gemustertes Tuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er ließ es langsam über sein Gesicht nach unten gleiten. Erst allmählich lagen die Augen wieder frei, sodass er auf den Spiegel blicken konnte.

Er stand noch immer so, wie er ihn vorhin angefasst hatte. Um keinen Millimeter war er verrückt. Er war auch nicht leicht gekantet, er stand einfach da.

Walt Temple brauchte einen Schnaps. Er musste jetzt einen Schluck haben. Zwei Flaschen Brandy hatte er im Weichholzschrank versteckt. Sie waren durch das Schieben umgekippt und bis in eine Ecke gerollt. Die erste Flasche, nach der er griff, war mit Gin gefüllt. Er entkorkte sie und schüttete das Zeug wie Wasser in sich hinein.

Betrunken wurde er davon nicht, denn er gehörte zu den Leuten, die einen Stiefel vertragen konnten. Er stieß auf, wischte sich über die Lippen und stellte die Flasche ab.

»Du verfluchter Spiegel!«, keuchte er das Machwerk an. »Du bist ein Stück aus der Hölle. Man hat dich mir angedreht, aber ich werde dich hier wegschaffen.« Bei jedem Worte stieß er zuckend mit dem Zeigefinger gegen die Fläche. »Und wenn ich es nicht allein schaffe, werde ich eben Hilfe holen.« Er nickte sich selbst im Spiegel zu. Aber zuvor wollte er es noch einmal probieren.

Er schüttelte seine Arme aus, um die Verkrampfung loszuwerden. Sein Gesicht zeigte einen verzerrten und gleichzeitig verbissenen Ausdruck. Seine Augen hatten einen düsteren Glanz bekommen. Er stieß den Kopf vor wie ein Catcher, der seinen Gegner mit einem letzten Angriff auf die Matte werfen wollte.

Dann trat er vor.

Höchstens zwei Schritte waren es bis zum Spiegel.

Einen kam er nur weit.

Dann blieb er so ruckartig stehen, als hätte ihm jemand eine Messerklinge gegen den Hals gedrückt.

Aus dem Spiegel drang ein furchtbares Heulen!

Das war nicht das Heulen von einer Sirene oder einem grellen Kinderspielzeug. Es war vielmehr der schreckliche Schrei einer gequälten Kreatur oder eines Wesens, das in einem Anfall von rasender Wut dieses Geräusch ausgestoßen hatte.

Für Temple jedenfalls war es nicht nachzuvollziehen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer dieses Heulen ausgestoßen hatte. Es klang auch nicht menschlich, für ihn war es nichts anderes als eine fürchterliche Botschaft aus der Hölle.

Und – was die Sache für ihn noch schlimmer und unbegreiflicher machte, das Heulen war aus dem Spiegel gedrungen.

Er lauschte ihm nach.

Es hallte durch sein Geschäft, es warf Echos, als würde es gegen kahle Wände prallen, es schwoll an, es wurde schrill, dann klagend, als läge eine Kreatur im Sterben, es erholte sich wieder, erinnerte plötzlich an ein kaltes Kreischen irgendwelcher metallenen Wesen, die aus einer anderen Sphäre erschienen waren und angriffen.

Es wurde so schlimm, dass der Mann es nicht mehr ertragen konnte und sich die Ohren zuhielt.

Dann war es still.

Er merkte es zunächst nicht. Walt ließ seine Hände sinken und hörte allein sein Keuchen, das ihm ebenfalls so furchtbar und fremd erschien, als würde nicht er es ausstoßen, sondern jemand, der in seinem Körper lebte.

Beide Hände presste er gegen die Brust.

Sein Herz schlug schneller, schon unregelmäßig. Ein Zeichen, dass sein Innerstes auf Sturm stand.

Er senkte den Kopf.

Der Boden vor ihm hatte sich in ein braunes Meer verwandelt, in dem sich die Bohlen auf und ab bewegten. Er hatte den Eindruck zu schwimmen, deshalb breitete er die Arme aus, fand auch Halt, aber das Schwingen hörte nicht auf.

In diesem Moment gelang es ihm tatsächlich, sich zur Ruhe zu zwingen. Was nicht einfach war. Er dachte kurzerhand an andere Dinge, an seinen Bruder, seine verstorbenen Eltern, aber auch an einen Urlaub, den er in Kanada verbracht hatte. Da gehörte nichts zusammen, aber das sollte es auch nicht. Es reichte ihm, wenn er sich durch nichts ablenken ließ.

Dabei bewegte er kauend den Mund, ohne etwas zu essen, und er hämmerte sich immer wieder ein, dass dieser Schrei gar nicht gewesen war, dass er ihn sich nur eingebildet hatte oder er ihn selbst ausgestoßen hatte – oder das Fremde, das er in sich gespürt hatte.

Das war leicht zu erklären, wenn er sich sein Spiegelbild betrachtete. Das Licht reichte nicht ganz bis an die Fläche heran, es verschwamm kurz davor, aber es erhellte den Spiegel noch so weit, dass er sich darin erkennen konnte.

Sich selbst? Oder sah er darin einen anderen? Gab der Spiegel überhaupt sein Konterfei zurück?

Walt war unsicher geworden. Wieder kroch Kälte über seinen Rücken und setzte sich in Höhe des Nackens wie kleine Eiskörner fest. Temple starrte nach vorn.

Langsam hob er seinen linken Arm. Die Gestalt im Spiegel reagierte ebenfalls und hob den Arm an.

Also weiter.

Die Hand zur Faust ballen.

Auch das tat sein Spiegelbild.

Dann noch mehr. Die Faust vorstrecken, sie wieder öffnen und die Hand gegen die Spiegelfläche legen.

Alles war normal. Die andere Hand kam ihm entgegen, sie öffnete sich auch.

Verdammt noch mal, weshalb glaubte er dann, dass sich im Spiegel ein anderer befand? Das war doch Irrsinn, eine Halluzination.

Das konnte er nicht begreifen.

Jetzt bewegte er seinen Kopf.

Den Arm ließ er dabei ausgestreckt, auch den Kontakt mit der Spiegelfläche löste er nicht.

Nahe, noch näher …

Das Gesicht, sein Gesicht, dazu das andere. Es war alles so rätselhaft, so anders.

Das Erschrecken traf ihn wie ein Glutstoß!

Auf einmal wusste er, woran es lag. Und es war so schlimm, dass er einen Schrei nicht unterdrücken konnte.

Es war der Kopf, das Gesicht, also beides zusammen. Es gehörte nicht ihm, verdammt, das konnte doch nicht sein, wo doch die Körper identisch waren.

Aber nicht der Kopf.

Er gehörte einem anderen!

Sein Spiegelbild mit einem fremden Kopf!

Wieder spürte er den scharfen Stich, als hätte ihm jemand eine glühende Lanze in den Leib gestoßen. Walt Temple hielt den Mund offen. Im linken Winkel rann Speichel über seine Unterlippe und hinterließ einen glänzenden Streifen.