John Sinclair Sonder-Edition 136 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair Sonder-Edition 136 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Er erschien aus dem Nichts in einer Gefängniszelle und tötete einen Insassen. Wenig später tauchte er in einer Schule auf. Dort rettete er zahlreiche Kinder aus den Fängen eines irren Psychopathen.
Wer war er? Ein Mensch, ein Geist, ein Engel? Schon bald erfuhren wir, dass er sich einen anderen Namen gegeben hatte. Er war der Gerechte. Wir blieben ihm auf den Fersen und stellten ihn in einer alten Mühle. Dort entdeckten wir sein furchtbares Geheimnis ...


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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Der Gerechte

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Ballestar / Norma

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0029-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.

Der Gerechte

von Jason Dark

Er erschien aus dem Nichts in einer Gefängniszelle und tötete einen Insassen. Wenig später tauchte er in einer Schule auf. Dort rettete er zahlreiche Kinder aus den Fängen eines irren Psychopathen.

Wer war er? Ein Mensch, ein Geist, ein Engel? Schon bald erfuhren wir, dass er sich einen anderen Namen gegeben hatte. Er war der Gerechte. Wir blieben ihm auf den Fersen und stellten ihn in einer alten Mühle. Dort entdeckten wir sein furchtbares Geheimnis …

Es war eine normale Nacht, doch der Mann in der kleinen Wohnung wusste, dass die nächsten Stunden über sein weiteres Schicksal entscheiden würden. Er hatte lange darauf gewartet, ein Leben lang – siebenunddreißig Jahre.

Doch er wusste nicht, welche Karten das Schicksal sich ausgesucht hatte und wie sie gemischt worden waren. Er konnte so bleiben wie jetzt und seinen normalen Tätigkeiten nachgehen, doch es würde möglicherweise auch ein anderer Mensch aus ihm werden.

Alles stand offen, alles stand infrage.

Er seufzte. Es war mehr ein klagender Laut, der über seine Lippen kam. Nicht schmerzerfüllt, eher eine gewisse Einsamkeit hinauslassend, die den Mann in der Dunkelheit überfallen hatte.

Der Mann hieß Raniel!

Er hatte oft genug über seinen Namen nachgedacht und sich gefragt, weshalb ihn seine Eltern so genannt hatten, denn der Name war zumindest sehr ungewöhnlich. Er konnte sich vorstellen, dass mehr dahintersteckte, nur wusste er nicht, warum.

Raniel hörte sich geheimnisvoll an, vielleicht sogar unheimlich, und wenn er es genauer betrachtete, konnte sein Name durchaus mit seinem Schicksal zusammenhängen.

Raniel …

Wie außergewöhnlich und einmalig. Da zog er Vergleiche zu Michael, zu Raphael und zu weiteren Namen, die allesamt für bestimmte Personen standen.

Für Engel …

Er schluckte, wenn er daran dachte. Jedenfalls sah er nicht aus, wie man sich landläufig einen Engel vorstellt. Sein Haar war nicht blond und wallend, seine Haut auch nicht ätherisch blass, wie man es Himmelswesen nachsagte, er hatte auch keine Flügel und konnte nicht fliegen, weshalb also dann Raniel?

Erst in den letzten Monaten war ihm sein Name so ungemein stark zu Bewusstsein gekommen.

Er hätte gern seine Eltern danach gefragt, doch das war leider nicht möglich, denn sie lebten nicht mehr. Ein Unfall hatte sie dahingerafft. Sie waren in einem Wohnwagen gewesen und in die Hölle eingetreten, als ein unter Drogen stehender Lastwagenfahrer in das Camp hineingefahren war.

Fünf Tote, acht Schwerverletzte und zahlreiche weitere Verletzte hatten die Rettungsmannschaften nach diesem Schrecken gezählt. Der Fahrer hatte überlebt und saß jetzt hinter Gittern. Da es kein vorsätzlicher Mord war, würde er schon bald wieder freigelassen werden.

Welch eine lächerliche Abnormität einer Gerechtigkeit. So dachte Raniel, so dachten viele Menschen, die betroffen waren und sich stets so hilflos fühlten.

Raniel hatte den Tod seiner Eltern nur verdrängt, nicht vergessen.

Er saß am Fenster und sah wieder nach draußen. Es war ein großes Fenster, das von der Decke bis zum Boden reichte und einen wunderbaren Blick in die freie Landschaft hinein ermöglichte, die nun in der Dunkelheit geheimnisvoll wirkte.

Ein weiter Himmel, wo der Wind die Wolken des Tages weggefegt hatte. Sterne waren zu sehen wie ferne Punkte. Dazwischen, wie ein großer Wachtposten, stand der Mond. Ein nicht ganz voller, gelber Kreis, ein Auge, das blickte und bewachte, das auch ein fahles Licht schickte.

Raniel saß auf einem einfachen Schemel. Manches Mal, wenn er sich bewegte, gab die Scheibe sein schwaches Spiegelbild wider, und abermals dachte er daran, dass nichts Engelhaftes an ihm war, denn so ähnlich wie dieser Schatten sah er auch aus. Dunkles, sehr dichtes Haar umwallte seinen Kopf. Es war schwarz wie das Gefieder eines Raben. Raniel hatte es glatt zurückgekämmt.

Sein Gesicht hatte einen normalen Teint. Der Mund war eher feminin, so weich und geschwungen waren die Lippen. Die Nase, die man als kräftig bezeichnen konnte, war nicht so außergewöhnlich, als dass sie bei einem flüchtigen Blick in Erinnerung geblieben wäre.

Ebenso schwarz wie das Haar waren die balkenähnlichen Brauen. Einen ähnlich tiefen Farbton hatten die dunklen Augen.

So wirkte Raniel schon außergewöhnlich, wenn auch nicht wie ein Engel aus den Höhen des Himmels. Ein Dichter hätte ihn vielleicht als einen dunklen und in sich gekehrten Träumer beschrieben, in dessen ausdrucksstarken Augen sich alles Leid der Welt, aber auch alle Freude des Erdballs sammeln konnte.

Ein anderer hätte möglicherweise gesagt, dass er nicht in die heutige Zeit hineinpasste und mehr an einen Menschen aus dem letzten Jahrhundert erinnerte, wo die Biedermeierzeit ihre bleibenden Akzente gesetzt hatte. Was hätte ein derartiger Mensch bei einem solchen Aussehen werden können?

Pianist, Künstler, Bildhauer oder Maler. Er war jedenfalls ein Mensch, zu dem ein kreativer Beruf passte. Ihn hätte man sich nie in einer Fabrik oder am Fließband vorstellen können, eher in einer Dichterstube.

Aber er saß nicht in einer Dichterstube, sondern vor einem großen Fenster und blickte hinaus in die Nacht.

In die Nacht des Schicksals …

Es würde geschehen, diese Nacht konnte einfach nicht vergehen, ohne dass sich etwas ereignete.

Es war sein Schicksal.

Und wieder seufzte er. Wieder drang dieser klagende Laut über seine vollen Lippen, der sagen sollte: Dann muss es eben passieren, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.

Er sah auf die Uhr.

Noch nicht Mitternacht.

Raniel blickte auch weiterhin in die Dunkelheit und sah die Landschaft unterteilt in verschiedene Schatten, die mal dunkler, mal heller, mal kleiner oder größer waren. Es war ein wunderschöner Blick in die Weite, den Raniel nie leid wurde. Er genoss ihn am Tage ebenso wie in der Nacht.

Und wer eine so außergewöhnliche Wohnstatt sein eigen nannte, der wunderte sich auch nicht über diesen Blick, denn er gehörte einfach dazu. Kein Verkehr, keine Straßen, kein Lärm, keine Hektik. Stattdessen gab es Ruhe, Weite und Stille. Hier hatte sich die Zeit irgendwann einmal festgefroren, weil es ihr besonders gut gefiel.

Auch passte alles zu ihm. Er liebte seine Wohnstatt, er liebte seine Umgebung, und er wurde jeden Tag froher darüber, dass ihm ein hoher Gewinn in der Lotterie ein unabhängiges Leben erlaubte. Ein Leben, das sich in der letzten Zeit genau nach seinen Vorstellungen hatte wandeln können, in das er eingetaucht war wie ein Schwimmer in die tiefe See und das er nun nur noch genoss.

Allerdings auf seine Weise, nach seinen Geboten, aber er wusste auch, dass er den bestehenden Geboten noch eines hinzufügen würde.

Das seinige.

Raniels Gebot.

In dieser Nacht sollte es Wirklichkeit werden.

Er stand auf und drehte sich vom Fenster weg. Neben seinem eher schlichten Bett stand die hohe Tasse mit dem Tee. Er war kalt geworden, und Raniel trank ihn in kleinen Schlucken. So handelte nur ein Mensch, der es gewohnt war, sein Leben zu genießen und auch den kleinsten Dingen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

Als die Tasse leer war, stellte er sie weg und ging zu einem anderen Fenster, das nicht so groß und so hoch war. Dabei sah er wieder auf die Uhr.

Noch immer nicht Mitternacht.

Er räusperte sich, drehte den Kopf und konnte einen Schatten erkennen, der rechts vom Fenster von oben nach unten fiel und von der Hauswand ein wenig entfernt war.

Der Schatten war in Höhe des Fensters schmaler als dort, wo er den Boden berührte. Da verbreiterte er sich und glich irgendwo dem Streifen eines Kometen, ohne gekrümmt zu sein.

Raniel wusste, wer diesen Schatten warf. Er stammte von einem Flügel, zu dem noch drei andere gehörten. Von diesem Fenster aus konnte er nicht so weit über das Land hinwegblicken, denn eine sanft aufsteigende Wand nahm ihm schon sehr bald einen Teil der Sicht.

Was wie eine Wand aussah, war tatsächlich nur ein Hügel, auf dessen Kuppe sich ein glänzender Gegenstand erhob. Lang, schmal und schimmernd, eine Antenne, die Wellen verstärken wollte.

Unsichtbare Wellen, und etwas Unsichtbares spürte Raniel ebenfalls auf sich zukommen.

Es schwang auf ihn zu, war unterwegs, aber noch nicht so nahe, als dass er es spüren und identifizieren konnte.

Er trug dunkle Kleidung, weil die am besten zu seinem Haar passte. Eine dunkle Hose, eine lange Jacke, aber ein weißes Hemd, dessen Stoff in der Dunkelheit bläulich schimmerte, als wollte es die Schatten der übrigen Kleidung in sich aufsaugen.

Raniel ging wieder zurück. Seine Schritte hinterließen auf dem alten Holzboden dumpfe Echos. Es roch etwas nach Staub und auch nach alten Steinen oder Mehl. Ein typischer Geruch, an den sich Raniel allerdings gewöhnt hatte. Wenn ihn ein Fremder besuchte, der würde ihn noch wahrnehmen, er aber nicht mehr.

Der Mann wollte sich setzen, doch mitten in der Bewegung hielt er an. Er stoppte, blieb in der verkrampften Haltung, drehte dann den Kopf, um durch das Fenster in die dunkle Weite blicken zu können, und er wusste plötzlich, dass es jetzt passierte.

Nein, nicht jetzt, sondern gleich, vielleicht in kurzen, wenigen Sekunden. Er ging einen Schritt vor. Dann hatte er die Scheibe fast berührt. So weit ließ er es nicht kommen. Dafür drückte er die Arme vom Körper ab und spreizte seine Hände, wobei er die Innenflächen links und rechts von seinen Schultern entfernt gegen das Glas drückte.

In dieser Haltung wartete er ab.

Raniel beobachtete den Himmel.

Er zeigte sich noch immer unverändert. Sehr weit, sehr grau, dabei bleich und leicht gläsern, mit einem fast vollen und bleichen Mond in der Mitte.

Er wollte sich schon abwenden, als er – so kam es ihm jedenfalls vor – in Höhe des Mondes einen Reflex wahrnahm. Ein Lichtpunkt, einer Sternschnuppe nicht unähnlich, aber diese ›Schnuppe‹ verblasste nicht. Sie blieb und vergrößerte sich, wobei sie sich nicht senkte. Sie zuckte wie ein helles Spinnenbein durch die Finsternis, um sich auf ein Ziel einpendeln zu können.

Raniel hielt den Atem an!

Geschichten aus seiner Kindheit wirbelten die Erinnerung auf. Er sah sich auf dem Schoß seiner Mutter sitzen und ihr zuhören, während sie erzählte. Die Märchen aus aller Welt kannte sie beinahe auswendig, und sie erzählte mit einer Intensität, dass der kleine Raniel stets das Gefühl bekam, inmitten des geheimnisvollen Geschehens zu stehen, bei dem sich alles um Elfen, Riesen, böse Hexen oder unschuldige Menschen drehte. Wunderschöne Märchen, die ihn durch die sanfte Stimme seiner Mutter entführten.

Und sie hatte auch von den Sternschnuppen berichtet, die, wenn sie erschienen, etwas Besonderes waren. Denn dann konnte sich der Zeuge etwas wünschen.

Über Raniels Gesicht huschte ein Lächeln. Er hielt den Blick nach vorn gerichtet, seine Augen waren weit geöffnet.

Die Pupillen glichen starren, schwarzen Ölpfützen. In seinem Innern drängte sich die Erwartung hoch wie ein Gewitter. Er spürte die Spannung, als wäre sein Körper zu einem Bogen geworden, der dicht vor der Überdehnung stand.

Das Licht galt nur einer Person – ihm!

Raniel wusste dies mit einer Klarheit, die ihn beinahe erschreckt hätte. Auf seinem Gesicht zuckte es. Vor ihm öffnete sich der Himmel zu einer nie gekannten Weite. Er sah noch tiefer hinein. Sein Blick drang hinter die Dinge, das Herz schlug schnell wie eine alte Maschine, deren Kolben heftig arbeiteten und pumpten.

Der weite Himmel blieb dunkel.

Nur dort, wo sich das Licht zeigte, entstand immer wieder und nur für kurze Zeit dieser wunderbare helle Streifen, der sich dann beugte und ein Ziel anvisierte.

Raniel stand vor dem Fenster. Noch immer berührten seine Handflächen die Scheibe, noch immer tobte in seinem Innern ein gewaltiger Sturm, und er zitterte vor Vorfreude.

Geschafft! Ja, er hatte es geschafft. Das war die Botschaft, auf die er so lange gewartet hatte.

»Komm!«, keuchte er. »Komm zu mir …«

Und das Licht gehorchte. Es hatte sich verwandelt, es war zu einem langen Streifen geworden, der langsam dem Fenster entgegensank, als wollte er in die Scheibe eintauchen.

Der Beobachter wusste nicht genau, was dieses Licht von ihm wollte, ob es eine verlorene Seele war, die mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, aber er war nicht mehr in der Lage, seinen Blick zur Seite zu wenden. Wie hypnotisiert sah er hin.

Und es veränderte sich.

Nein, das stimmte nicht. Es erfuhr keine Veränderung, es blieb so, aber Raniel sah den Schein zum ersten Mal so deutlich, weil er jetzt sehr nahe herangeschwebt war.

Das war kein Schein mehr, das war … das war …

Seine Kehle trocknete aus. Er konnte es nicht fassen, nicht glauben. Das war eine Gestalt.

Durchscheinend und feinstofflich …

Raniel durchzuckte es. Das Gefühl war heiß. Ein Schwert aus Flammen durchbohrte ihn, und er dachte daran, dass es noch nicht lange zurücklag, als er über seinen Namen nachgedacht hatte.

So auch jetzt.

Er hieß Raniel. Und was ihm da entgegenschwebte, war ein Geist – mehr noch, es war ein wunderbarer und herrlicher Engel …

Ein Engel!

Er konnte es nicht fassen. Es war zu wunderbar für ihn, zu einmalig. Sein Mund klappte auf, ohne dass ein Laut über die Lippen gedrungen wäre. Er blieb einfach stehen und staunte.

Die Gänsehaut strich über seinen Körper, als wäre sie von einem Pinsel geführt worden, und allmählich begriff er die gesamte Tragweite dessen, was da draußen passiert war.

Er hatte Besuch von einem Engel bekommen!

Ihm blieb der Speichel weg, der Mund trocknete aus. Hätte ihn jemand nach seiner Meinung gefragt, er wäre nicht in der Lage gewesen, ihm eine Antwort zu geben. So ausgetrocknet war seine Kehle. Raniel stand hinter dem Fenster und kam sich selbst vor wie jemand, der seinen Körper zur Seite gedrängt hatte und nur noch ein Schatten war.

Wie wundervoll.

Gleichzeitig drückte sich die Furcht in ihm hoch. Was er hier und jetzt erlebte, war so unwahrscheinlich und unglaublich, dass er es nicht fassen konnte, und er wusste auch, dass ihm niemand die Geschichte abnehmen würde.

Das aber wollte er nicht tun. Der Mann spürte, dass sich in dieser Nacht eine Macht und eine Kraft offenbarten, die nur ihn etwas angingen. Nur ihn allein.

Raniel musste genau, wie Engel aussahen. Jedenfalls nahm er es an, wenn er den Beschreibungen Glauben schenken durfte, die in den Geschichten und Legenden überliefert wurden.

Es gab viele Meinungen über Engel. Sie waren auch verschieden, und nicht immer wurden die Engel auf die Seite des Guten gestellt. Auch über das Geschlecht herrschte Unsicherheit. In der Regel waren sie männlich, doch es gab auch bei ihnen Unterschiede. Nicht alle Engel waren visionär, es gab auch körperliche, die sich unter die Menschen mischten. Dann existierten die Elfen, die man als rebellische Engel ansah. Wegen ihres Aufruhrs waren sie aus dem Himmel hinausgeworfen worden.

Das alles wusste er seit seiner Kindheit, denn es wiederholte sich oft in den Märchen und Legenden der Völker, die er aus dem Mund seiner Mutter kannte.

Drei, vier Wimpernschläge lang dachte er über das Phänomen der Engel nach, während er sein Augenmerk auf die Erscheinung vor dem Fenster gerichtet hielt.

Es war ein Wesen, das zu den feinstofflichen Personen gehörte. Es war durchscheinend, aber es hatte keine Flügel und bewegte sich wahrscheinlich durch reine Gedankenkraft. Mit Überschallgeschwindigkeit bewegte es sich von einem Ort zum anderen.

Ein Traum?

Er schüttelte den Kopf. Nein, das war kein Traum. Das hier war die Stunde des Schicksals. Das war die Minute, die er erwartet hatte. Von nun an würde sich einiges ändern. Dieses Wesen hatte die Schienen bereits gelegt, die ihn, den Menschen, auf eine bestimmte Bahn führen sollten. Hinein in etwas anderes, in ein völlig neues Erleben, in Welten, die einfach wunderbar sein würden.

Es kostete ihn Mühe, sich zu konzentrieren. Wenn sich ihm schon die Chance bot, einen Engel genau ansehen zu können, dann wollte er es jetzt tun. Sehr genau hinschauen, sich auf ihn einstellen, bevor er die Botschaft des Wesens übermittelt bekam.

Raniel rechnete damit, dass dieses Wesen Kontakt mit ihm aufnehmen würde. Allerdings nicht auf dem üblichen Wege, da hatten diese Geistwesen andere Möglichkeiten. Sie würden auf einer rein geistigen Ebene mit ihm kommunizieren, und so erwartete er die Botschaft des Wesens voller Spannung.

Nichts war zu hören.

Aber die fahle Lichtgestalt – sie hatte ungefähr die Farbe des Mondes – bewegte sich auf ihn zu.

Hindurch!

Er trat überrascht einen Schritt zurück, als ihm bewusst wurde, dass der Engel sich nicht mehr vor dem Fenster aufhielt, sondern durch das Glas in die Mühle hineingelangt war.

Kleine Eiskörner krochen über seinen Rücken. Er traute sich nicht, sich umzudrehen, aus Angst, einen Fehler zu begehen. Er war nicht mehr allein, er wusste, dass dieser Engel mit einer Botschaft zu ihm gekommen war, dass er unter Millionen von Menschen ausgesucht worden war, um dem Schicksal einen Dreh zu geben.

Dann drehte er sich doch um, weil er den inneren Zwang spürte. Etwas anderes hatte ihn übernommen und sich klammheimlich in seinen Körper gestohlen.

Er starrte den Geist an.

Nein, das war es nicht. Er konnte ihn gar nicht anstarren. Er schaute hindurch, und doch war es ihm, als würde jemand vor ihm stehen aus Fleisch und Blut, denn dieser Jemand nahm tatsächlich mit ihm Kontakt auf. Raniel selbst sah nur den bleichgelben Schatten und spürte die Aura des Fremden, des Unheimlichen und des Übernatürlichen, die ihm entgegenwehte und sich zu einem kompakten Gedankenstrom konzentrierte, der in sein Gehirn eindrang.

Jetzt habe ich dich gefunden.

Es war eine Feststellung, der Raniel nicht widersprechen konnte. Aber was bedeutete es? Hatte diese Erscheinung ihn nur gesucht?

War sie das Schicksal, das sich nun sichtbar zeigte? Ein Engel, der auf die Erde gekommen war und sich aus seinen himmlischen Gefilden gelöst hatte, um ihm eine Botschaft zu bringen?

Nein, keine Botschaft. Das war für ihn persönlich in diesem Fall viel mehr. Diese feinstoffliche Erscheinung ging die ganze Menschheit an.

Es war Raniel einfach nicht möglich, ein Zittern zu unterdrücken. Er schluckte einige Male, er holte durch die Nasenlöcher Luft, er bewegte seine Augenlider, er schloss die Augen, öffnete sie wieder und rechnete damit, dass die Erscheinung verschwunden war und er sich alles eingebildet hatte.

Doch, sie war geblieben.

Fahl wie das Mondlicht. Er konnte nicht sagen, ob sie den Boden berührte oder darüber schwebte. Alles war so anders geworden, so fremd, unheimlich, rätselhaft und erwartungsvoll.

Raniel merkte, dass das Gefühl der Angst allmählich aus seinem Innern wich. Beim ersten Augenkontakt mit der Erscheinung hatte er so etwas wie eine große Gefahr gespürt, die es nun nicht mehr gab. Sie hatte sich zurückgezogen.

Stattdessen spürte er die Erwartung, die in seinem Innern hochkochte. Er fühlte sich gut, möglicherweise schon unbesiegbar, jedenfalls stand er auf der untersten Stufe der Leiter der Euphorie, und er musste einige Male tief Luft holen, um sich wieder fangen zu können und den Druck abzuschütteln. Er wollte die Realität haben, er wollte sich mit ihr auseinandersetzen und sich nicht in irgendwelchen Träumen verlieren.

Der Mann nickte.

Er hatte der Erscheinung ein Signal gegeben, die diese auch sehr schnell begriff.

Du bist der Bote!

Wieder hatte der Engel in Rätseln gesprochen. Seine Botschaft klang nur in Raniels Gehirn nach. Sie war mit dem Gehör überhaupt nicht zu vernehmen.

Doch er hatte es geschafft, sich besser zurechtzufinden und den ersten großen Schock überwunden. Ihm war auch klargeworden, dass ihm von dem namenlosen Engel keine Gefahr drohte und dass er ein besonderer Mensch sein musste, der unter Millionen anderer ausgesucht sein musste, um eine Aufgabe zu erfüllen.

Das machte ihn stolz. Es gab nur den Engel und ihn. Die Luft war eine andere geworden. Sie hatte sich aufgeladen, sie knisterte leicht, aber Funken waren nicht zu sehen. Statisch aufgeladen, und Raniel spürte das Kribbeln, das über seine Haut rann und dabei nichts ausließ. Weder die Arme oder die Beine noch das Gesicht oder den Rücken.

Sie war da.

Er holte tief Luft, stand seinem Schicksal gegenüber. Er bewegte sich in seine Richtung.

Der Engel schimmerte.

Erst jetzt stellte Raniel fest, dass es nicht nur seine Konturen waren, die wie mit einem dünnen Pinsel gezeichnet wirkten, auch innerhalb dieses Umrisses tat sich etwas. Da sah er sehr genau das Zucken und Flimmern, das Zurückweichen, das Vorschnellen, die Bewegung, die elektrische Aufladung.

Der Engel stand ruhig, befand sich jedoch in einer immerwährenden Bewegung in seinem Zentrum.

Auch hatte sich die Luft von der Temperatur her verändert. Sie kam ihm schärfer und kälter vor, wie nach einer Entladung. Er konnte das Ozon sehr gut riechen.

Der Engel hatte die Botschaft zu überbringen gehabt, er würde auch nicht davon weichen.

Ein Gesicht gab es bei ihm nicht. Auf Bildern waren Engel mit einem überfrommen Gesichtsausdruck ausgestattet worden, wenn sie erwachsen waren. Als Kindgeschöpfe sah man sie meist niedlich, pausbäckig, fast nackt und mit kleinen, kitschigen Flügeln versehen. Auch wirkten Engel stets geschlechtslos. Dieser hier war völlig anders, da er aus feinstofflicher Materie bestand.

»Was willst du von mir?« Raniel wunderte sich, wie glatt die Worte über seine Lippen drangen.

Dich!

Er schluckte. Angst und Sorge trieben in ihm hoch. Sein Blick flackerte. Die Antwort hatte ihm nicht gefallen. Sie hatte so endgültig geklungen, als stünde alles schon fest, als sollte er von der Erscheinung übernommen werden.

Er schwitzte plötzlich, traute sich aber nicht, das Tuch hervorzuholen und damit über seine Stirn zu wischen. So liefen dann die Schweißperlen vom Beginn des Haaransatzes nach unten und rannen in dünnen Bahnen über seine Wangen.

»Aber ich …«

Der Engel ließ ihn nicht aussprechen. Du wirst ich, und ich werde du, Raniel.

Wieder hatte er in Rätseln gesprochen, und der Mann war nicht in der Lage, einen Kommentar zu geben. Seine Kehle saß zu, er räusperte sich, er schluckte, und er merkte die drückende Angst, die in ihm steckte. Die Sache war noch nicht ausgestanden. Raniel wusste nur, dass er sein bisheriges Leben würde abhaken können.

Er nickte. Es war nicht bewusst gewollt, mehr eine automatische Aufforderung, die der Engel jedoch gern annahm, denn er „sprach“ weiter.