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Der Himmel über Stonehenge glühte in einem düsteren Rot, als wollte er ein blutiges Zeichen setzen. Eine Warnung, ein Omen, denn in dieser Nacht sollte das Monstrum erscheinen. Suko und ich hatten davon erfahren und uns auf den Weg zu der Kultstätte aus grauer Vorzeit gemacht. Aber wir wussten auch, dass es gegen dieses Monster, erschaffen noch vor der Entstehung unseres Planeten, keine irdische Waffe gab. Und obwohl wir eigentlich nur verlieren konnten, stellten wir uns doch pflichtbewusst dem Kampf ...
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Das Stonehenge-Monstrum
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Enea Kelo; breakermaximus / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0567-7
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Das Stonehenge-Monstrum
von Jason Dark
Der Himmel über Stonehenge glühte in einem düsteren Rot, als wollte er ein blutiges Zeichen setzen. Eine Warnung, ein Omen, denn in dieser Nacht sollte das Monstrum erscheinen. Suko und ich hatten davon erfahren und uns auf den Weg zu der Kultstätte aus grauer Vorzeit gemacht. Aber wir wussten auch, dass es gegen dieses Monster, erschaffen noch vor der Entstehung unseres Planeten, keine irdische Waffe gab. Und obwohl wir eigentlich nur verlieren konnten, stellten wir uns doch pflichtbewusst dem Kampf ...
Wir wussten, dass sie kommen würden, aber wir wussten nicht, wann.
Wir warteten in einem Hauseingang.
In dem Haus selbst sollten angeblich nur mehr Ratten leben, keine Menschen, doch den Aussagen war nicht unbedingt zu trauen.
Diese Nacht gehörte zu denen, die Suko und ich lieber woanders verbracht hätten als in diesem Loch. Uns hatte dieses Backofen-Gefühl überfallen. Es war eng, warm und schwül, und die Gerüche taten das Übrige. Sie drangen aus irgendwelchen Gullys zu uns hoch. Es stank nach altem Schmutzwasser aus den tiefsten Tiefen der Kanalisation, und wir hatten es längst aufgegeben, uns den Schweiß von den Gesichtern zu wischen.
Kamen sie? Kamen sie nicht?
Das war für uns in dieser Nacht die Frage aller Fragen. Man hatte uns von einer unheimlichen Prozession berichtet, die angeblich zu Ehren eines götzenhaften Dämons abgehalten wurde. Der Informant galt als vertrauenswürdig, das hatten uns Kollegen berichtet, die ihn besser kannten, doch bisher hatten wir davon nichts bemerkt.
Vor uns lag eine leere Straße. Für uns begann sie im Nichts, und sie schien auch im Nichts zu enden. Diese Straße war einfach da. Wir kannten nicht einmal ihren Namen, denn ein Hinweisschild hatten wir nicht gesehen.
Es war eine düstere Gegend. Der Hafen war nicht weit. Ich wusste nicht, welche Menschen hier lebten, das war wohl niemandem bekannt, denn hier wechselten die Bewohner häufig.
Alles war grau, verfallen, irgendwo in der Mitte zwischen Wollen und Nichtwollen stecken geblieben. Zu Thatcher-Zeiten hatte dieses Gebiet zu den Flecken gehört, die abgerissen werden sollten, um daraus ein völlig neues Wohngebiet zu schaffen. Eine Insel für die Reichen.
Das aber hatte aus verschiedenen Gründen nicht geklappt. Vor allen Dingen wegen Geldmangels. Investoren hatten sich zurückgezogen, denn die Vorverkäufe für die einzelnen Wohneinheiten waren nur höchst schleppend angelaufen. Und so hatte man das Gebiet schließlich aufgegeben und verrotten lassen. Das im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier kümmerte sich niemand um nichts. Was in den Häusern noch zu verwerten gewesen war, von der Steckdose bis zur Klobrille, hatten die Menschen abmontiert. Und was sie nicht brauchen oder nicht abtransportieren konnten, hatten sie meist beschädigt oder zertrümmert.
Es herrschte tiefer Luftdruck. Bei diesen Bedingungen stiegen mir die widerlichen Gerüche noch intensiver in die Nase. Ich kam mir vor, als würde ich mit beiden Beinen in einer großen Kloake stehen.
Suko schaute auf die Uhr. Zum ersten Mal, denn der Nervösere von uns beiden war ich. Aber auch bei ihm liefen die Zeiger nicht schneller, und bis Mitternacht waren es noch gut zwanzig Minuten.
Als er mein Grinsen sah, hob er die Schultern. »Ich weiß nicht, John, aber meine Erfahrung lehrt mich, dass um Mitternacht etwas geschehen könnte.«
»Meinst du?«
»Ich hoffe es zumindest.«
»Dann hoffe mal weiter.«
Wir standen schon relativ lange hier. Am liebsten hätte ich mich gesetzt, aber auf dem Boden lag einfach zu viel Dreck. Ebenso schmutzig war die Tür hinter uns, über deren Existenz ich mich sowieso wunderte, normalerweise wurden Türen hier gerne mal gestohlen.
Suko drehte sich um. Er streckte den Arm vor und legte die Hand auf die Tür. Dem leichten Druck hielt sie nicht stand.
Erst knirschte und schabte sie, dann fing sie an zu zittern, schließlich kippte sie zurück. Hätte Suko nicht schnell reagiert und sie abgefangen, wäre sie mit einem lauten Krachen auf den Boden gefallen, was uns beiden überhaupt nicht gefallen hätte.
Ich drehte mich um. »Was hast du vor, willst du das Haus abreißen?«
Suko stand noch immer geduckt. Er schüttelte den Kopf. »Nein, auf keinen Fall, obwohl es darum nicht schade wäre.« Er richtete sich wieder auf. »Kennst du das Gefühl, das man hat, wenn man glaubt, nicht mehr allein zu sein?«
»Klar, ich bin doch bei dir.«
»Wie schön. Aber andere auch. Ich glaube einfach, dass sich im Haus jemand versteckt hält.«
»Einer?«
»Es können auch mehrere sein.«
»Du willst dich umschauen?«
»Ja.« Suko hatte bereits seine Lampe hervorgeholt und leuchtete in den Flur. Was der Lichtschein enthüllte, war mehr als traurig. Zunächst einmal überwog der Dreck. Staub, Abfälle und Schmiere hatten sich zu einer Mischung vereinigt, über die ich nur den Kopf schütteln konnte. Es gab praktisch keinen sauberen Fleck mehr auf dem Boden und
an den Wänden.
Suko hatte den engen Flur betreten. Das Haus erinnerte mich plötzlich an eine schmutzige Totengruft, und ich schüttelte mich wieder, wenn ich daran dachte, dass ich hier hätte wohnen sollen.
Suko drang tiefer in den Flur vor. Es gab noch eine Treppe, wenn auch an einigen Stellen zerstört, denn mit dem Geländer war das so eine Sache. Das hatte offensichtlich auch jemand brauchen können. Und an dieser Treppe blieb mein Freund stehen, um die Stufen zu beleuchten.
»Siehst du was?«
»Dreck.«
»Und sonst?«
»Vergiss es.«
»Keine Spuren?«
»Nein, John, aber ich gehe trotzdem hoch und schaue mich mal ein wenig um.«
»Ist dein Risiko.«
»Wenn ich schreie, kommst du?«
»Mal sehen.«
Suko machte sich auf den Weg, und ich dachte nicht im Traum daran, die Tür wieder in die Höhe zu wuchten. Je mehr Zeit verging, umso ärgerlicher wurde ich. Ich hatte immer mehr den Eindruck, einer Finte aufgesessen zu sein. Der Informant schien sich einen Spaß mit uns erlaubt zu haben, und das ärgerte mich. Von einer Prozession samt Dämon hatten wir noch nichts mitbekommen, und dabei wäre es eigentlich unser Job gewesen, das zu wissen.
Die Straße war leer. Wenn ich nach links schaute, sah ich in der Ferne einen fahlen Glanz. Der allerdings hatte nichts mehr mit dieser Gegend zu tun, er stieg jenseits der Themse hoch, wo das andere, das erleuchtete London lag.
Hier aber stand ich auf einem anderen Stern.
Laternen gab es zwar auch, doch ihre Kuppeln waren längst zerstört worden. Jetzt stand nur mehr die nackten Gestänge, die mich an Galgen erinnerten.
Ich hatte Durst, aber leider nichts zu trinken. So blieb der widerliche Geschmack in meinem Mund kleben, als hätte man ihn mit Leim hineingepinselt.
Hinzu kam die Stille.
So bedrückend, lastend und schwer. Keine normale Stille. Für mich war diese Straße ein großes Monster, in dessen Maul ich steckte, wobei es noch den Atem anhielt, aber Augenblicke später die Luft tief einsaugen würde, um mich zu verschlucken.
Stille ...
Nicht mehr lange. Ein Pfiff durchbrach sie!
Ich schrak zusammen, dieses schrille Geräusch hatte mich überrascht. Es kam mir vor wie das Startsignal für all diejenigen, die sich bisher versteckt gehalten hatten, um jetzt auf Befehl ihre Löcher zu verlassen wie die Ratten.
Sollte auf diese Art und Weise die unheimliche Prozession angekündigt werden? Noch sah ich nichts.
Ich drückte mich tief in den Hauseingang hinein. Wahrscheinlich aber war das überflüssig, weil die anderen mich sicherlich längst entdeckt hatten.
Ich wartete trotzdem.
Sekunden verstrichen. Auch das Echo des Pfiffs war verklungen. Sollte ich mich geirrt haben? War dieser Pfiff überhaupt kein Startzeichen gewesen?
Ich sah nach links und rechts, um möglichst viel mitzukriegen, und schaute doch nur gegen die leeren Fassaden der alten Häuser.
Plötzlich aber waren sie da.
Sie drangen aus den Löchern, in denen sie bisher gehaust hatten. Sie bewegten sich nicht einmal lautlos. Ich hörte ihre Schritte, die zu einem Gemisch aus Schaben, Kratzen und hartem Auftreten wurden.
Sie waren da, blieben aber gedeckt durch die düster-drohenden Hausfassaden.
Ich bewegte mich nicht.
Wer waren diese Leute? Bewohner dieser Gegend? Daran glaubte ich nicht. Ich nahm eher an, dass sie zu den Zuschauern der dämonischen Prozession gehörten, derentwegen ja auch ich gekommen war.
Ich sah sie gegenüber auf der anderen Straßenseite, aber auch in meiner Nähe.
Zum Beispiel war rechts von mir war jemand aufgetaucht, den ich kaum gehört hatte. Wie ein Geist war er gekommen, hatte sich materialisiert und blieb nun stehen.
Nichts geschah.
Und gerade diese Tatsache gefiel mir überhaupt nicht. Ich musste davon ausgehen, dass sich einiges zusammenbraute. In die tote Straße war Leben gekommen. Leben, das noch abwartete und lauerte, denn keiner der Zuschauer machte sich bemerkbar. Keiner sprach mich, den Fremden, an. Sie unterhielten sich nicht untereinander, sie blieben stumm.
Das alles spielte sich ab wie auf einer großen Freilichtbühne, die von den Statisten mittlerweile betreten worden war. Aber wo, zum Henker, blieben die Hauptdarsteller? Oder würden sich einige der Statisten plötzlich in Hauptdarsteller verwandeln?
Auch damit musste ich rechnen. In dieser einsamen Straße war alles möglich.
Als ich den Kopf drehte, grinste mich der ›Geist‹ an.
Ich holte erst einmal tief Luft, bevor ich eine Frage stellte.
»Was willst du?«
»Dich begrüßen.«
»Wie freundlich«, sagte ich nur.
Er kam näher. Ich konnte ihn jetzt besser sehen. Sein Anblick ließ mich nicht eben jubeln. Ich verzog die Nase, da ich das Gefühl hatte, er würde nach kalter Asche riechen. Seine Kleidung war dunkel. Ob er einen Pullover oder nur ein Hemd trug, konnte ich nicht erkennen. Bei den herrschenden Temperaturen tippte ich eher auf Letzteres. Auch die Hose war schwarz, und von seinen Haaren konnte ich deshalb nichts erkennen, weil er sie durch eine Strickmütze verdeckte.
Er nickte mir zu.
»Kennen wir uns?«
»Nur indirekt.«
Ich überlegte, was er damit gemeint haben könnte.
Wieder lachte er leise.
»Jetzt stehst du auf dem Schlauch – oder?«
Während er sprach, schaute er sich immer wieder um. Er bewegte dabei heftig den Kopf, als hätte er Angst davor, dass andere uns sehen und unser Gespräch belauschen konnten.
»Ja, ich bin überfragt.«
Er freute sich, was mir sein breites Grinsen anzeigte. »Seid ihr Bullen denn so blöd?«
Er wusste Bescheid. Ich schwieg, doch der Kerl ließ sich nicht davon abbringen, dass ich ein Bulle war.
»Ich habe euch den Tipp zukommen lassen und hatte deshalb angenommen, dass sie einen anderen schicken, einen der Bescheid weiß, verstehst du?«
Jetzt verstand ich ihn. »Du bist der Informant.«
»Bravo.«
»Okay, wunderbar, freut mich wirklich. Was hast du mir zu bieten?«
»Die große Schau.«
»Auf die ich leider noch immer warte.«
»Sie wird gleich beginnen.«
»Du sprichst von der Prozession?«
Der Namenlose nickte und vergaß nicht, sich dabei immer wieder umzuschauen, ob wir nicht doch beobachtet wurden.
Wahrscheinlich nicht, denn alles blieb still. Keiner zeigte für uns Interesse.
»Diese Nacht ist eine besondere«, redete er weiter. »Sie ist außergewöhnlich.«
»Ja, sehr schwül.«
»Das meine ich nicht.«
»Was dann?«
Er kam nicht näher, hob dafür seine Stimme an, damit er sicher sein konnte, von mir auch verstanden zu werden. »Heute werden sie ihm zu Ehren einiges unternehmen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Bulle.«
»Ich heiße übrigens John.« Meinen Nachnamen wollte ich nicht sagen.
»Ich bin Whisper«, sagte er.
»Ach ja? Der Flüsterer?«
»Genau. Manchmal bin ich wie der Wind. Man hört mich nur, aber man sieht mich nicht. Ich komme in jede Ecke, nichts ist vor mir sicher, und Nächte wie diese hier, in der wir auf die Prozession warten, liegen mir besonders am Herzen.«
»Was unterscheidet sie denn von den anderen Nächten?«
»Sie werden kommen, und sie werden sich ein Opfer holen, John.« Er öffnete den Mund und fing an zu lachen. »Ist das nicht außergewöhnlich? Ist das nicht irre?«
»Was meinst du mit Opfer? Einen Menschen?«
Whisper nickte sehr langsam und bedächtig. »Genau das meine ich damit. Sie werden ihm einen Menschen opfern.«
»Und wer ist er?«
»Der Dämon.«
»Genauer, Whisper, das ist mir zu schwammig. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es unzählige Dämonen, die sich auf zahlreiche Kulturen und Mythologien verteilen.«
»Sie lieben ihn.«
Ich hasste es, dass er auswich, und hakte nach. »Verdammt noch mal, er muss doch einen Namen haben.«
»Hat er auch.«
»Dann sag ihn.«
Whisper schüttelte den Kopf. »Es ist einfach zu gefährlich, ihn auszusprechen.«
»Unsinn.«
»Gut, auf deine Verantwortung hin. Es ist das Monstrum, John. Genauer gesagt, das Stonehenge-Monstrum.«
Ich blieb erst einmal sehr still. Nicht ein Wort drang über meine Lippen. Trotz meines Jobs gibt es noch immer Momente, wo ich einfach erst einmal Luft holen muss. Ich hatte den Namen zwar gehört, nur konnte ich nichts damit anfangen. Wer war dieses Stonehenge-Monstrum? Wieso kam der Dämon nach London?
Whisper rieb seine Hände. Sie waren schweißnass. So entstanden Geräusche, als wäre er dabei, Speichel durch die Zähne zu ziehen.
»Hör auf damit!«
»Nervös?« Er kicherte.
»Nein, nur neugierig. Ich will wissen, was es mit dem Stonehenge-Monstrum auf sich hat!«
»Es ist ihr Gott.«
»Weiter.«
»Ein Gott braucht Opfer.«
»Dieser Dämon braucht also Opfer. Soweit habe ich dich verstanden. Und ich nehme an, dass er sein Opfer in dieser Nacht bekommen wird.«
»Sehr richtig.«
»Was geschieht mit dem Opfer?«
»Er wird es verschlingen. Er wird es in sich hineinsaugen, und er wird es fressen.«
»Einen Menschen?«
»Sicher«, flüsterte Whisper.
»Steht der fest?«
Er ließ sich Zeit mit der Antwort und pfiff sogar vor sich hin. Dann kicherte er und nickte. »Klar, das Opfer steht schon vorher fest. Und ich gehe davon aus, dass das Opfer nicht informiert worden ist.«
»Weiter.«
»Es ist ein Fremder, John. Denk daran, dass du zu den Fremden gehörst. Bist du jetzt schlauer?«
Ich runzelte die Stirn. »Fast, möchte ich sagen. Also könnte ich das Opfer sein.«
»Nein, du nicht, sondern ein anderer. Hattest du nicht noch einen Kollegen? Alle haben ihn gesehen und ...«
Ich fuhr herum. Für Whisper musste es so aussehen, als wollte ich ihm an den Kragen, er zuckte deshalb zurück, aber meine Hände sanken nach unten.
»Du meinst Suko?«
Er presste sich mit dem Rücken gegen die Hauswand, wischte über seine Lippen und nickte.
Mir aber rann ein kalter Schauer über den Rücken ...
✰
Das alte Gebäude kam Suko vor wie ein gewaltiges, in mehrere Etagen unterteiltes Totenhaus, aus dem die Leichen entfernt worden waren, in dem der Geruch jedoch weiterhin wahrzunehmen war. So hatte der Inspektor ständig das Gefühl, den Gestank von altem, fauligem Fleisch in Mund und Nase zu spüren, als er die modrige Treppe emporstieg.
Er mochte dieses Haus nicht, und er wusste, dass dieses Haus ihn auch nicht mochte.
Es war ihm gegenüber feindlich eingestellt und wirkte wie eine gewaltige Falle, die nur darauf wartete, endlich zuschnappen zu können, um Suko zu zermalmen. Er fürchtete sich nicht, aber er blieb auf der Hut und nahm jede Stufe sehr sorgfältig in Angriff. Bevor er sein Gewicht darauf verlagerte, prüfte er genau, ob sie auch hielt, und erst dann tat er den nächsten Schritt.
Altes Fleisch, Moder, vermischt mit Uringeruch. Dieses verfluchte Haus ließ wahrlich nichts aus.
In der ersten Etage blieb Suko stehen. Gestank umwehte ihn auch hier. Ein Flur breitete sich vor ihm aus wie eine schmale Schlucht, an deren Anfang er stand. Hier hatten früher einmal Menschen gewohnt, versteckt hinter vier Türen, die zu den Wohnungen geführt hatten.
Diese Wohnungen gab es noch, die Türen aber waren verschwunden. Stattdessen gähnten Suko dunkle Löcher an. Von der schmutzigen Decke über ihm hingen kaum sichtbare Spinn- und Staubfäden nach unten, deren Enden wie Fingerspitzen an Sukos Gesicht entlangstrichen. Er horchte in den Flur hinein, all seine Sinne angespannt. Es war still, und er vernahm nur sein eigenes flaches Atmen.
Und doch traute er dieser Stille nicht. Sie kam ihm unnatürlich vor, sie warnte ihn förmlich. Da musste es einfach noch etwas anderes geben als nur diese gefährliche Stille.
Er musste sich entscheiden. Weitergehen oder den Weg über die Treppe zurück nach unten nehmen.
Er wollte nicht kneifen, sondern ging weiter. Sehr vorsichtig gesetzte Schritte, keine Echos, nur ein geheimnisvolles Schleifen hinterließen seine Sohlen auf dem Boden.
Kurz vor dem Erreichen der ersten Tür blieb er stehen, denn er hatte etwas gehört.
Dieses Geräusch war für ihn Warnung genug. Aus einem der Zimmer an der rechten Flurseite war es gedrungen. Er lauschte noch intensiver und hatte Glück, dass sich das Geräusch wiederholte. Es war diesmal sogar lauter.
Da war jemand, dort lauerte jemand auf ihn. Suko konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Geräusch von einem Tier abgegeben worden war. Irgendetwas geschah dort.
Seine Hand näherte sich der Waffe, stockte jedoch mitten in der Bewegung, weil er etwas gesehen hatte.
Einen Schatten – oder ...?
Es war einfach zu dunkel, um etwas zu erkennen. Nur durch ein ehemaliges Flurfenster sickerte ein wenig bleiches Mondlicht. Das war die einzige Lichtquelle.
Wer war es? Was war es?
Suko konzentrierte sich. Er blieb in der Flurmitte stehen – und konnte den Schatten schließlich identifizieren.
Es war eine Hand, er konnte sogar die langen Finger erkennen.
Der Hand folgte ein Gesicht. Nicht schnell, sondern sehr gemächlich, als ließ sich der andere bewusst viel Zeit, um Suko noch weiter in Anspannung zu versetzen.
Der Inspektor konzentrierte sich auf die Züge. Viel war nicht zu erkennen. Sie wirkten wie ein graues Gespinst, als bestünde es aus zahlreichen Spinnweben, denen eine bestimmte Form gegeben worden war. Es verschmolz zum Teil mit dem Türrahmen, und Suko sah einen Mund, der sich grinsend in die Breite zog.
»He, wer bist du?«
Das Gesicht blieb und grinste. Eine Antwort bekam Suko nicht. Er dachte darüber nach, wer dieser Mann sein konnte. Möglicherweise ein Penner, der sich diesen Raum als nächtliche Unterkunft ausgesucht hatte. Doch daran wollte er nicht glauben. Alles, was in diesem Haus geschah, musste mit bestimmten Dingen zusammenhängen, die sich irgendwann in dieser Nacht noch ereignen würden.
Das Gesicht verschwand.
Suko kam sich verarscht vor. Er war wieder allein, man hatte ihm einen Lockvogel präsentiert, der kurz aufgetaucht und dann wieder verschwunden war.
Was sollte er tun?
Es gab nur die eine Möglichkeit, wenn er den Lockvogel erwischen wollte. Rein in das Zimmer.
Mit einer blitzschnellen Drehung erreichte er die Türschwelle und blieb dort stehen.
Seine Mundwinkel zuckten, als er den Gestank wahrnahm, der ihm entgegenwehte. Ein widerlicher, alter, muffiger und abgestorbener Geruch, als wären hier jahrelang Lumpen gelagert worden. Wenigstens war es nicht der Gestank verwesender Leichen, was Suko positiv vermerkte.
Er sah den Dreck und den Unrat. Und er hörte heftiges Trippeln, wie von kleinen Füßen. Wahrscheinlich hatte er Mäuse oder auch Ratten gestört.
Wo aber verbarg sich der Typ?
Suko konnte ihn nicht sehen. Sicherlich lauerte er irgendwo in einer Ecke. Bisher hatte er seine kleine Leuchte nicht eingeschaltet. Jetzt aber holte er sie hervor, obwohl es ein Risiko war, den Lichtstrahl wandern zu lassen. Er knipste sie an und folgte dem dünnen, erstaunlich hellen Strahl mit seinen Blicken. Er wollte sehen, wohin er leuchtete, und entdeckte ... nur Unrat. Als er den Strahl aber nach links schwenkte, gerieten zwei Füße in sein Sichtfeld, die in halb zerstörten Schuhen steckten. Bei dem linken fehlte die Sohle.
War das der Penner, der ihm zugewinkt hatte? Der Strahl glitt über die Gestalt hinweg in Richtung Kopf.
Der Mann blieb liegen.
Nur sein Gesicht schaute wie ein blasser Teigfleck aus dem Gestrüpp hervor, das Bart und Haare bildeten. Der Mund war kaum zu sehen, die Nase ebenfalls nicht, nur die Augen wirkten wie glitzernde Punkte.
Dann lachte der Knabe, bevor er einen Arm hob und die Hand in den Strahl hielt, um sich vor der Blendung zu schützen.
»Mach doch die Laterne aus!«
Das aber tat Suko nicht. Er veränderte nur die Richtung des Strahls und leuchtete die Brust seines Gegenübers an.
Der Gestank im Zimmer war kaum zu ertragen. Ein Teil von ihm strömte auch aus der alten, schimmligen und feuchten Matratze, auf der dieser fremde Penner lag.
»Zufrieden?«, fragte Suko.
»Ja.«
»Dann kann ich dich ja etwas fragen.«
Der Penner breitete im Liegen die Arme aus. »Versuche es, mein Freund. Versuche es nur. Ich bin ganz Ohr.« Er kicherte. »Gefällt dir unsere Welt?«
»Kaum.«
»Warum bist du gekommen?«
»Um dich zu treffen.«
Von der Matratze her schallte Suko ein Glucksen entgegen, was wohl ein Lachen sein sollte. Der Mann zog die Beine an, umschlang beide Knie und richtete sich auf. »Glaube ich nicht«, flüsterte er. »Ich glaube nicht, dass du deswegen gekommen bist.«
»Warum hätte ich sonst hier auftauchen sollen?«
»Du wolltest ihn sehen. Kann ich auch verstehen. Er ist nämlich außergewöhnlich.«