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Der Pesthauch des Todes lag über der Weltstadt New York. Überall Verfall, Vernichtung und schließlich Verödung. Die Freiheitsstatue brach auseinander wie sprödes Glas. Und über das Meer glitt eine Barke, die den Sensenmann an Bord hatte.
Ein Albtraum? Eine düstere Zukunftsvision?
Noch spielten sich all diese Szenarien nur in den Köpfen träumender Menschen ab. Aber es gab ein Wesen, das diese Träume Realität werden lassen konnte. Der Dämon mit dem feisten Babygesicht - Jericho!
Nach seinem Willen sollte die Millionenstadt, die niemals schläft, zu einem einzigen, großen Friedhof werden ...
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Friedhof New York
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0568-4
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Friedhof New York
von Jason Dark
Der Pesthauch des Todes lag über der Weltstadt New York. Überall Verfall, Vernichtung und schließlich Verödung. Die Freiheitsstatue brach auseinander wie sprödes Glas. Und über das Meer glitt eine Barke, die den Sensenmann an Bord hatte.
Ein Albtraum? Eine düstere Zukunftsvision?
Noch spielten sich all diese Szenarien nur in den Köpfen träumender Menschen ab. Aber es gab ein Wesen, das diese Träume Realität werden lassen konnte. Der Dämon mit dem feisten Babygesicht – Jericho!
Nach seinem Willen sollte die Millionenstadt, die niemals schläft, zu einem einzigen, großen Friedhof werden ...
»Irgendwann wirst du mich hassen, Chato!«, sagte der Mann mit tränenerstickter Stimme.
»Warum sollte ich?«
»Weil es dir den Tod bringen kann!«
Chato, der Apache, lächelte. »Was bedeutet schon der Tod, wenn ich an den Mann mit den bösen Träumen herankommen kann, an Jericho ...«
✰
Der kühle Wind peitschte in Tom Sengaras Gesicht, brachte den Geruch von Regen mit und vertrieb den Gestank aus den Häuserschluchten.
Tom Sengara gehörte zu den Spezialisten, die in schwindelerregender Höhe Stahlträger montierten. Viele waren berufen, aber nur wenige auserwählt, und Tom zählte zu den Auserwählten. Er war Amerikaner, doch er fühlte sich als Indianer, als Apache, als ein Mensch, dem alles von den Weißen weggenommen worden war. Seinen Ahnen hatte einst dieses gewaltige Land gehört. Bis die Weißen kamen.
Er wollte nicht mehr über die grausame Geschichte nachdenken, aber sie stieß ihm immer wieder auf, besonders hier in New York. Eine Stadt, die er als menschenfeindlich einstufte, was sich allerdings verlor, wenn er aus großer Höhe in die Straßenschluchten hinabschaute und die Bewohner sah, die ihm vorkamen wie Zwerge, wenn sie sich durch die Schluchten bewegten. Er schaute auf sie herab, er hätte auf sie spucken können, und das gab ihm ein gutes Gefühl.
Dies und auch noch etwas anderes, denn er gehörte zu einer Elite. Es waren die Apachen und andere Indianer, die nach New York geholt worden waren, um noch höher zu bauen, denn sie gehörten zu den schwindelfreien Menschen, die sich dort sicher bewegen und als Gerüstbauer in großen Höhen arbeiteten konnten.
Der Job wurde gut bezahlt, doch Anerkennung fand Tom bei den Weißen nicht.
Leute wie ihn lud man zu keiner Party ein, man akzeptierte sie, weil sie gebraucht wurden, ansonsten ließ man sie links liegen. Aber das würde sich ändern, sehr bald sogar, denn die Zeit war reif, um die Minderheiten nach oben zu spülen.
In ihrer Arroganz hatten die Weißen die Indianer unterschätzt. Nicht schlecht, dachte Tom, sollten sie es auch weiter so handhaben. Irgendwann würde es ein böses Erwachen für sie geben.
Er drehte den Kopf nach rechts und stellte den Kragen der Jacke in die Höhe, weil der Wind doch sehr unangenehm wurde. Das Wetter hatte Kapriolen geschlagen. Mal war es stickig und heiß, dann wieder kalt. Vor allen Dingen in dieser Höhe.
Er konnte bis zur Hudson Bay schauen. Über dem Wasser türmten sich Wolkenberge. Sie wechselten sich mit weißer und grauer Farbe ab, aber sie beeinträchtigen ihn und seine Arbeit nicht.
Eisenträger, Farbe, Rostanstrich.
Das waren die Begriffe, die ihm durch den Kopf schossen. Damit verdiente er sein Geld. Manchmal hasste er den Geruch der Farbe, die ihm auch in der Nacht nicht aus der Nase wollte, als wären seine Nasenwände ebenfalls gestrichen worden.
Obwohl es nicht gestattet war, hatte er sich losgeschnallt. Zumindest in der Pause wollte er den Gurt nicht spüren. Wenn er ihn umschnallte, kam er sich vor wie ein Gefangener, und er wurde automatisch wieder an das Schicksal seiner gequälten Rasse erinnert.
Er blickte nach rechts.
Nicht weit entfernt, aber trotzdem durch die tiefe Schlucht unüberbrückbar, hockte auf einem ähnlichen Eisenträger ein Kollege. Er lehnte mit dem Rücken an einem Betonklotz, hielt den Kopf gesenkt und schien eingeschlafen zu sein.
Es gab Menschen, die sich in der Pause durch ein Nickerchen erholten, aber Tom wollte nicht einschlafen. Er konnte es auch nicht, durch seinen Kopf rasten zu viele Gedanken. Außerdem fürchtete er sich davor, in einen tiefen Schlaf zu versinken, denn das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Damit weckte er die Geister, die ihm die schrecklichen Träume schickten, und denen konnte er nichts entgegensetzen. Sie drückten sich in sein Gehirn, sie überschatteten alles, und er dachte daran, ob er vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Er hätte Chato nicht anrufen sollen, auf keinen Fall, aber ...
Er kannte Chato aus seiner Zeit in Arizona. Chato wusste Bescheid, er hatte das Grauen selbst erlebt. Jericho war gefährlich. Er war da und dennoch fern. Er war Realität und trotzdem ein Traumgebilde.
Er war der große, unheimliche Mann, er war für die Menschen oft genug tödlich.
Tom blickte wieder gegen die mächtigen Wolken über der Bay. Er hätte gern gegessen, aber er konnte nicht. Sein Magen war wie verschlossen. Hinter seiner Stirn tobten die Gedanken. Er wünschte sich an einen anderen Ort, denn hier merkte er, wie sich die Gefahr allmählich näherte, ohne dass er hätte sagen können, woraus sie bestand. Sie war einfach da, sie umkreiste ihn bereits, sie lauerte mit unsichtbaren Waffen, um ihn zu töten.
Wer konnte etwas von ihm wollen?
Wieder drehte er den Kopf. Es war nichts zu sehen.
Das Gefühl aber blieb. Es drängte sich noch stärker in sein Inneres. Die Gefahr wuchs. Längst fühlte sich Sengara nicht mehr sicher. Er musste weg von diesem Eisenträger. Anschnallen konnte er sich auch nicht mehr. Es war bestimmt besser, wenn er sich auf den Rückweg machte und die kleine Plattform erreichte, die zu einem Aufzug gehörte. Der transportierte nicht nur die Arbeiter in luftige Höhen, er brachte auch das entsprechende Material nach oben.
Es war für Tom zu spät, viel zu spät. Er konnte es nicht sehen, dafür spüren. Es war bereits in seiner Nähe, sehr dicht sogar, viel zu dicht.
Er kam nicht weg!
Die Furcht schnappte zu wie eine Klaue. Sie überschattete sein Denken, sein Fühlen. Das Bewusstsein zu wissen, dass er nicht allein in dieser Umgebung war, machte ihm Angst. Der Feind war da, und er hatte ihn fast erreicht.
Zum ersten Mal bekam er Angst vor der Tiefe. Wenn er nach unten schaute, schwankte die Welt. Die Schluchten zwischen den Hauswänden drängten sich näher zusammen. Vor seinen Augen entstanden andere schlimme Bilder, die nicht real waren, für ihn aber schon, denn sein Unterbewusstsein sorgte für diese schrecklichen Bilder.
Dann verschwanden sie wieder.
Dafür hörte er jetzt das Zischen.
Genau hinter sich.
Er drehte sich um.
Dort stand er und sah aus wie der Tod persönlich!
Tom Sengara hatte das Gefühl, einzufrieren. Er wurde zu Eis und gleichzeitig zu Glas. Sein Körper war sehr hart, gleichzeitig aber hatte er den Eindruck, an verschiedenen Stellen zu zerbrechen, was im Prinzip Unsinn war. Doch dieser Anblick hatte ihn einfach zu sehr erschreckt, obwohl er mit einer Gefahr gerechnet hatte. Für einen Moment dachte er an Chato. Er wünschte sich, ihn hier zu haben, doch in der Nähe befand sich nur sein Kollege, und der nahm nichts wahr, da er auf dem anderen Eisenträger schlief.
Tom war allein.
Allein mit dem unheimlichen Besucher. Dieser dunklen Gestalt mit dem kreide- und wachsbleichen Gesicht, in dem nur die Augen auffielen, aber nicht die Lippen.
Sengara saß in einer Haltung auf dem Eisenträger, die seinem Körper bestimmt nicht guttat. Er hätte sich drehen müssen, um seine Muskeln nicht zu verspannen, aber das würde der unheimliche Besucher wohl nicht zulassen, und so blieb Tom hocken.
Er würde so auch sterben, wenn es hart auf hart ging, denn der andere würde ihm keine Chance lassen. Dabei wurde Tom nicht mit einer Waffe bedroht, allein die Anwesenheit des Bleichen in der schwarzen Kleidung reichte aus.
Er würde es nicht schaffen, auf keinen Fall. Er konnte nur hoffen, dass sein Tod gnädig war.
Tom schielte in die Tiefe. Es war ganz einfach. Ein kurzer Stoß, er würde sich nicht mehr halten können und fallen. Eine sehr große Entfernung, dennoch klein im Vergleich zu einem fünfundzwanzigjährigen Leben.
Der Fall würde endlose Sekunden dauern und doch so schnell vergehen. Aber in diesen Sekunden würde er sein Leben noch einmal im Zeitraffertempo erleben.
Eine furchtbare Vorstellung ...
Der Besucher sagte nichts. Sengara wusste nicht einmal, wo er hergekommen war und wie er es geschafft hatte, diese Höhe zu erreichen. Man hätte ihn doch sehen müssen, man hätte ihn ...
Aber dieses Wesen war einfach nicht mit den normalen Regeln zu betrachten. Dieser Todesbote konnte überall auftauchen, und Tom erinnerte sich, dass er ihn schon einmal gesehen hatte, und zwar tief verborgen in seinen Alpträumen.
Besonders in den vorangegangenen Nächten.
Hatte er ihn jetzt auch herbeigeträumt? Überhaupt nicht. Er hatte nicht geschlafen, aber sein Kollege auf dem anderen Träger schlief. Ob er ...
Der Bleichgesichtige bewegte seinen Mund. Dabei sah es aus, als würde die untere Hälfte aufklappen. So bewegte kein normaler Mensch seine Lippen, und so sprach auch keiner.
Die Stimme war nur mehr ein Raunen, als hätte sich der Wind in irgendeiner Ecke verfangen.
»Verräter ... Verräter ...«
Tom hörte dieses eine Wort sehr deutlich. Zudem wiederholte es der Bleiche ständig. Jedes Mal, wenn er sprach, zuckte es in seinen Augen, als würden dort Blitze hervorströmen, um sich in die Seele des Angesprochenen zu brennen.
Die Gestalt stand auf dem Träger, ohne sich zu rühren. Bisher hatte sich Tom den Tod immer als Sensenmann vorgestellt, der seine mörderische Waffe schwang, damit die Klinge in den Körper des Verfluchten rasen konnte.
Der hier trug keine Waffe und war trotzdem gefährlich. Tom ärgerte sich darüber, dass seine Beine eingeschlafen waren. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte sich längst nicht so bewegen können, wie er es hätte tun müssen, um noch eine Chance zu haben.
Wie angeklebt hockte er auf dem Eisenträger und umklammerte dessen Seiten wie ein Reiter das Pferd mit seinen Schenkeln.
Der Todesbote kam näher.
Kein Geräusch war zu hören.
Er schwebte über den Träger hinweg. Seine Kutte zeigte eine dunkelgraue Farbe. Die Kapuze umgab einen Teil seines Kopfes. Das Gesicht erinnerte noch immer an eine Kreidezeichnung, das aber blieb nicht so, denn plötzlich veränderte es sich. Es plusterte sich auf, es nahm die Form eines Ballons an, seine Farbe wechselte vom Kreideweiß zu einem blassen Rosa, wie es nur bei Babys, der Fall war.
Dick, rund, aufgeplustert und trotzdem böse, abstoßend und widerlich.
»Jericho ...«
Urplötzlich brach es aus Tom hervor. Der Name musste einfach heraus. Er konnte ihn nicht mehr länger für sich behalten. Ein Druck hatte auf seinem Körper gelegen, und der Todesbote verzog die dicken Lippen zu einem widerlichen Lächeln.
Er beugte sich vor.
»Verräter«, sagte er wieder. »Du bist ein widerlicher
Verräter. Aber Jericho weiß Bescheid. Er hat dir die Träume geschickt, Tom. Du hättest alles für dich behalten sollen.«
Das Babygesicht zuckte an den Wangen. Sie nahmen noch mehr an Dicke zu. Aus den runden Nasenlöchern schien giftiger Brodem zu strömen. Hinter der dünnen Haut bewegte sich etwas, und dann hob der Ankömmling auch seine Hände und brachte sie sichtbar vor Toms Gesicht.
Hände, die nicht lang und kräftig waren. Kurz, speckig, beinahe wie Stummel wirkten sie und erinnerten Tom an weiße Würmer. Die Nägel waren kaum zu erkennen, nur leicht glänzende Striche auf den Fettfingern.
Tom war ein Mensch, der sich eigentlich zu wehren wusste. In diesem Fall aber hatte ihn eine Lähmung überfallen, für die er kaum eine Erklärung hatte.
So klein die Finger auch waren, Tom glaubte fest daran, dass eine große Kraft in ihnen steckte. Wenn sie sich einmal um seinen Hals gelegt hatten, würden sie es auch schaffen, durch die Haut zu dringen und sie zu durchstoßen wie stumpfe Dolche.
»Jericho!«
Dort, wo der Träger und die Plattform des Aufzugs zusammenliefen, stand plötzlich ein Mann.
Sein Haar war lang, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und glänzte wie dunkles Öl. Irgendwie hatte sich auch die Gesichtshaut der Haarfarbe angepasst. Die Lippen lagen aufeinandergepresst, sodass der Mund kaum zu erkennen war.
Der Mann trug eine bequeme Jacke, die in Höhe der Taille von einem Stoffgürtel zusammengehalten wurde und dieselbe graue Farbe hatte wie die weit geschnittene Hose.
In dem Gesicht rührte sich nichts. Eine Maske, in der nur die Augen lebten.
Doch sie gaben ein Versprechen.
Tom las es. Er war beruhigt. Er öffnete den Mund. Er saugte die Luft tief ein.
Vor diesem Mann hatte er keine Angst. Er war für ihn der große Hoffnungsschimmer. Er hätte nie gedacht, dass er sein Versprechen einhalten würde.
Doch man konnte sich auf ihn verlassen.
Endlich war er da! Und er hatte einen Namen.
Tom sprach ihn flüsternd aus.
»Chato ...«
Ob der Apache seinen Namen gehört hatte oder nicht, das zeigte er mit keiner Bewegung. Er blieb starr auf dem Fleck stehen, den Blick seiner regungslosen Augen allein auf die Gestalt mit dem bleichen Gesicht und dem dunklen Mantel gerichtet.
✰
Er hätte gar nichts zu sagen brauchen, denn auch so war zu sehen, dass es zwischen den beiden Männern keine Verbindung gab. Nicht das dünnste Band, sie waren Gegner, Feinde bis in den Tod.
Auch Chato trug sichtbar keine Waffe. Er hob den rechten Arm ein wenig und streckte seine Hand vor. »Komm her ...«
Der Todesengel rührte sich nicht.
»Komm schon ...«
Tom hätte sich umdrehen und in die andere Richtung schauen müssen, doch das brachte er nicht fertig. Nur den Kopf hatte er so weit wie möglich gedreht, um wenigstens etwas von dieser Auseinandersetzung mitzubekommen.
Der Todesengel machte einen Schritt.
Chato erwartete ihn.
Der Apache wirkte wie ein Fremdkörper auf der Plattform. Er stand so unwahrscheinlich ruhig, doch Tom wusste, dass er sich blitzartig in eine Kampfmaschine verwandeln konnte. Zudem gehörte er zu den Menschen, die Jericho hassten und es sich nie verziehen hatten, dass es nicht gelungen war, ihn zu vernichten.
Aber das lag lange zurück und war längst zu einem Staubkorn im Mahlstrom der Zeiten geworden.
Chato aber vergaß nichts. Was er anpackte, das führte er durch.
Keiner der beiden zeigte Furcht. Auch der Todesengel nicht. Er verließ sich auf den, der ihm seine Existenz gegeben hatte. Er war ja aus ihm hervorgekommen, er war ein Produkt seiner grausamen Träume. Und je grausamer die Menschen träumten, umso stärker wurde er und umso größer das Chaos, das er bringen konnte.
Der Todesbote hatte das Ende des Eisenträgers erreicht. Für einen Moment blieb er stehen.
Tom Sengara wusste, dass der große Augenblick bevorstand. Nur einer konnte überleben. Er wollte Chato eine Warnung zurufen, doch seine Stimme versagte.
Der Mann musste sich eingestehen, dass er in diesem Spiel nur die Statistenrolle innehatte. Wenn er ehrlich war, wollte er auch nicht mehr. Zu tief saß der Schock, der ihn nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gelähmt hatte.
Chato wartete noch. Er ließ den Todesengel kommen. Ein Schritt noch, dann führte Chato beide Arme vor seinem Körper aufeinander zu und legte die Handflächen zusammen.
Für einen Moment blieben sie in dieser Lage.
Sengara verstand die Geste nicht. Sie passte nicht zu Chato. Bitten – das hatte dieser Mann aus Arizona nicht nötig.
Tom irrte sich.
Chato dachte nicht im Traum daran, sich seinem Gegner auszuliefern. Er hatte sich auf seine ›Arbeit‹ sehr gut vorbereitet und bewies dies wenige Augenblicke später.
Sehr langsam und kreisend rieb er die beiden Handflächen gegeneinander. Er bewegte sie im Uhrzeigersinn. Den Mund öffnete er, und über seine Lippen strömten flüsternde Worte von unterschiedlicher Lautstärke. Er redete in einer Sprache, die Sengara bekannt vorkam, wobei er allerdings nicht wusste, wann und wo er Bruchstücke davon schon gehört hatte.
Jedenfalls war es nicht die Sprache der Weißen, nicht einmal die Sprache der Menschen, die er meinte. So redeten eigentlich nur Wesen, die über den Menschen standen und stärker waren als diese.
Die alten Weisen und Medizinmänner hatten sich dieser Sprache bedient, das war Sengara plötzlich klar, und er ging davon aus, dass Chato etwas beschwor.
Auch der unheimliche Besucher hörte die Beschwörung. Die Worte trafen ihn wie ein Windstoß, unter dem er sich duckte, sich verkrampfte, aber es nicht schaffte, seinen Platz zu verlassen. Er musste stehenbleiben, bis Chato seine Hände mit einer wild anmutenden Bewegung voneinander löste.
Dann passierte es.
Feuer blitzte auf. Und wie ein Blitz sprang es von der linke auf die rechte Handfläche über!
Der unheimliche Besucher duckte sich. Gleichzeitig riss er einen Arm hoch und kantete ihn so, dass er sein Gesicht abdecken konnte, weil er auf keinen Fall geblendet werden wollte. Die Angst schüttelte ihn, er würgte, und als er sich vorbeugte, drangen furchtbare Geräusche aus seinem Mund.
Im nächsten Augenblick erwischte ihn das Feuer. Es fauchte auf ihn zu, es war einfach nicht zu halten, niemand konnte es abwehren, und es legte sich wie ein Mantel aus Flammen über die Gestalt, die der anderen Kraft nichts entgegensetzen konnte.
Tom Sengara war nur Zeuge. Er hätte nicht einmal sagen können, ob sich der Todesbote vor ihm auflöste oder zu Staub zerfiel. Alles war so anders, weil es eben blitzschnell über die Bühne lief.
Der Todesbote hatte nicht die Spur einer Chance.
Plötzlich gab es ihn nicht mehr.
Er war weg!
Eine leere Plattform, bis auf Chato natürlich, der das Feuer unter Kontrolle hatte. Er war sein Herr, denn es tat ihm nichts. Der Apache hatte die Hände wieder ausgebreitet. Auf seinen Handflächen tanzten die Flammen. Sie zuckten noch, sie verbeugten sich, sie zeichneten Muster in die Luft, dann war auch dies vorbei.
Chato drehte die Hände einmal, und das Feuer zog sich zurück. Er lächelte und zeigte dem staunenden Tom Sengara seine Handflächen. Sie sahen völlig normal aus. Kein einziger Brandfleck zeichnete sich dort ab. Die Flammen schien es nie gegeben zu haben.Sengara sagte nichts. Er musste zunächst einmal damit fertig werden, dass er noch lebte. Diese Tatsache kam ihm wie ein Traum vor, hatte er mit seinem Leben doch bereits abgeschlossen. Er schaute nach unten.
Da bewegten sich die Fahrzeuge, die Menschen gingen über die Gehsteige, und alles war normal. Und trotzdem anders.
Er befand sich so weit entfernt. Der ›Film‹ unter ihm lief wie in Zeitlupentempo ab, und er kam sich vor, als würde er überhaupt nicht dazugehören.
Er schien der Welt entrückt, und daran war nicht allein die Entfernung schuld. Er kam sich vor wie jemand, der nun über den Dingen schwebte.
Sengara spürte seinen Herzschlag.
Laut kam er ihm vor. Die Echos erreichten seine Rippen, klopften dagegen, als wollten sie ihn aufmuntern und ihm sagen, dass er sich nicht zu fürchten brauchte.
Alles okay – alles normal ...
»Tom ...«
Er hob den Kopf, als er hörte, dass ihn Chato ansprach.
Der Apache stand noch immer auf der Plattform. Er streckte ihm beide Hände entgegen. In dieser Haltung glich er einem Vater, der seinen Sohn aus dem Zentrum der Gefahr herausholen wollte, sodass dieser ihm voll vertrauen konnte.
»Es ist nur ein kleines Stück, Tom. Du schaffst es. Schnall dich wieder an.«
Sengara nickte. Er schaute zum anderen Stahlträger hinüber, wo sein Kollege noch immer in derselben Haltung saß und die Pause verschlief. Dies wiederum machte ihm klar, dass seit der Begegnung nicht viel Zeit vergangen sein konnte. Eine Zeit, in der er hätte sterben können, aber nun am Leben war, und das freute ihn gewaltig.
Er musste dies nur noch überreißen und sich klarmachen, wie gut es ihm eigentlich ging.
Sengara nickte. Er schnallte sich nicht an. Noch auf dem Pfeiler hockend und mit beiden Beinen an den Seiten herabbaumelnd, rutschte er vor, wobei er sich mit den Händen abstützte und sich auch den richtigen Schwung für diese Aktion gab.
Chato wartete auf ihn mit ausgestreckten Händen. Sengara ergriff sie nicht. Er wollte keine Hilfe haben. Er musste Chato einfach beweisen, dass er noch da war und den Schrecken überwunden hatte.
Der Apache verstand ihn. Er trat sogar zurück und gab damit noch mehr von der Plattform frei.
Sengara rutschte auf sie zu. Mit den flachen Händen berührte er sie. Er nahm den Wind, der aus den Schluchten in die Höhe wehte, nicht mehr wahr. Für einen Moment schwankte die sichere Stelle unter seinem Gewicht, ließ plötzliche Angst in ihm hochschießen, die sehr schnell verging, als die helfende Hand des Apachen ihn berührte und dabei half, ihn auf die Füße zu heben. Beide Männer standen sich gegenüber.
Sengara schaute Chato an. Im Gesicht seines Lebensretters rührte sich nichts. Gefühle zeigte Chato nur sehr selten, und auch in dieser Situation nicht.
»Danke«, flüsterte Tom.
Chatos Stirn legte sich in Falten. »Wofür willst du dich bedanken? Für etwas, das selbstverständlich ist?«
»War es das?«
»Ja.«
Sengara drückte sich an Chato vorbei. Das Zittern in seinen Knien konnte er nicht unterdrücken. »Ich weiß jetzt, an was du denkst, Chato. Ja, ich weiß es genau.«
»Dann bist du besser als ich, denn ich schaffe es nicht, die Gedanken der Menschen zu lesen, obwohl ich es mir oft genug gewünscht habe.«
»Irgendwann wirst du mich hassen, Chato ...«
»Ja, das habe ich von dir gehört. Du hast es mir sehr deutlich gesagt, Tom.«
Sengara drehte sich. Er wollte in das Gesicht seines Freundes schauen und Chato eine Frage stellen, der aber kam ihm zuvor.
»Hat es mir denn den Tod gebracht? Hätte ich dich in den letzten Sekunden meines Lebens hassen sollen?«
»Nein«, flüsterte Tom, »du bist noch am Leben.«
»Das sollte auch so sein.«
»Und wir haben einen Sieg errungen.«
»Leider haben wir aber nicht den Krieg gewonnen.«
Tom Sengara nickte. Er schaute auf seine Schuhe, überlegte sich jedes Wort, bevor er es aussprach.
»Es stimmt alles, mein Freund. Wir leben beide, aber wie ich, so wirst auch du wissen, dass es erst der Anfang ist. Alles andere liegt nicht in unserem Ermessen. Wir wissen Bescheid. Er hat seinen Boten geschickt. Jericho will nicht mehr in der Wüste bleiben, und er hat Helfer, mit denen er spielen kann. Oder wie siehst du es, Chato?«