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Nichts wies auf das Unheil hin - gar nichts! Die friedlichen Stille einer Herbstnacht lag über Weldon, dem verschlafenen Ort im Süden Englands. Dann aber geschah es.
Von einem Augenblick zum nächsten tobte ein apokalyptisches Inferno aus Blitzen über dem Städtchen. Minutenlang dauerte dieses ‚Unwetter‘ an. Und als es vorbei war, war die Welt der Einwohner von Weldon nicht mehr dieselbe wie zuvor.
Ihre Heimat war zur Ghosttown, zu einer Geisterstadt geworden. Verantwortlich für diesen Horror: ein unheimliches, ein gefährliches Medium.
Und ausgerechnet in dieser unheilschwangeren Nacht erreichte ein Fremder den Ort. Der Fremde war ich ...
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Das unheimliche Medium
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0678-0
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Das unheimliche Medium
von Jason Dark
Nichts wies auf das Unheil hin – gar nichts! Die friedlichen Stille einer Herbstnacht lag über Weldon, dem verschlafenen Ort im Süden Englands. Dann aber geschah es.
Von einem Augenblick zum nächsten tobte ein apokalyptisches Inferno aus Blitzen über dem Städtchen. Minutenlang dauerte dieses ›Unwetter‹ an. Und als es vorbei war, war die Welt der Einwohner von Weldon nicht mehr dieselbe wie zuvor.
Ihre Heimat war zur Ghosttown, zu einer Geisterstadt geworden. Verantwortlich für diesen Horror: ein unheimliches, ein gefährliches Medium.
Und ausgerechnet in dieser unheilschwangeren Nacht erreichte ein Fremder den Ort. Der Fremde war ich ...
An diesem herrlichen Herbstabend war Vincent Miller so zufrieden wie seit Langem nicht mehr. Er hätte singen und jubeln können, denn die drei mit Touristen gefüllten Busse aus Germany hatten seine Kasse so richtig klingeln lassen.
Himmel, was hatten die Leute eingekauft! Alle möglichen und unmöglichen Dinge, besonders englische Schokolade, als gäbe es keine andere auf der Welt.
Jedenfalls war der Verdienst des Lebensmittelhändlers erheblich gestiegen, und der Witwer dachte daran, den ausgehenden Tag zu feiern.
Ins Wirtshaus gehen, sich etwas gönnen, auch mal eine Runde schmeißen, das war es doch, was die Leute im Ort liebten. Schließlich gehörte er als Kaufmann zu den Besserverdienenden.
Zuvor aber musste er eine Bestandsaufnahme machen. Er hatte die große Kladde hervorgeholt, das Licht eingeschaltet und ging mit der Kladde in der linken und dem Kugelschreiber in der rechten Hand an den Regalen entlang. Es war ja nicht nur Schokolade gekauft worden, auch andere Ware war weggegangen wie warme Semmeln. Sogar Konserven, die er zwischendurch schnell noch abgestaubt hatte. Es war ihm auch dank seiner Geschicklichkeit gelungen, sie schnell noch aus dem Bereich der Sonderangebote herausgenommen zu haben.
Er kicherte. Eine diebische Freude breitete sich in ihm aus, und in seinen Augen lag der Glanz, der immer dann auftrat, wenn jemand ein dickes Geschäft gemacht und andere dabei ein wenig übers Ohr gehauen hatte.
Ein schlechtes Gewissen hatte Miller dabei nicht. Die Horde würde nicht wiederkommen. Sie hatten es alle eilig gehabt, weil sie noch am selben Tag die Fähre in Dover hatten erreichen wollten.
Ja, das waren tolle Stunden gewesen.
Plötzlich aber war seine Euphorie verschwunden. Er stand vor der Kühltheke, die nur zur Hälfte gefüllt war, weil es keine einzige Packung Eis mehr gab. Die Veränderung traf ihn wie ein Schlag. Miller wusste selbst nicht, was mit ihm geschehen war. Er stand vor der Theke, starrte hinein, wollte die Waren zählen und brachte plötzlich keine Addition zustande.
Zunächst nahm er das nicht so tragisch, er lachte sogar über sich selbst, doch das Lachen verging ihm bald. In seiner Kehle spürte er ein dumpfes Gefühl, als wäre vom Magen her eine Faust in die Höhe gedrungen und auf halbem Weg steckengeblieben.
Etwas war nicht in Ordnung!
Er schluckte, der Kloß blieb. Miller räusperte sich. Vergeblich. Dann fluchte er und lauschte seiner Stimme, die sich so fremd und rau anhörte. Auf seinem Kopf wuchsen nur wenige Haare. An den meisten Stellen schimmerte die blanke Haut durch, und die wiederum war jetzt mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, was er nicht begriff, denn so warm war es in seinem Geschäft nicht. Hier konnte eigentlich niemand ins Schwitzen kommen.
Es lag also nicht an der äußeren Temperatur, sondern an der inneren. An seiner eigenen Instabilität, für die er eine Erklärung suchte. Vielleicht waren die vergangenen Stunden doch etwas zu hektisch gewesen. So etwas war er einfach nicht mehr gewohnt. Er hatte sich abgehetzt, aber es hatte ihm Spaß gemacht, auch deshalb, weil er nicht mit den Dorfweibern quatschen musste, die zwar regelmäßig kamen, aber nur wenig kauften.
Die Kladde kam ihm schwer vor. Er legte sie weg. Es ging ihm nicht besser, im Gegenteil, er spürte den Schweiß auch auf seinem Gesicht und hörte, wie er schwer und seufzend Atem holte.
Die Dinge in der Truhe verschwammen vor seinen Augen. Er konnte das Paket mit dem Rotkohl nicht von dem mit dem Spinat unterscheiden. So etwas war noch nie vorgekommen. Da konnte doch einer mit dem Hammer reinschlagen, das war schlimm.
Miller hatte einen Punkt erreicht, wo er nicht mehr weitermachen konnte. Er musste sich ausruhen. Seine Wohnung lag über dem Geschäft. Vom Laden her führte eine Treppe nach oben. Mit der rechten Hand fuhr er über seinen Kopf und verteilte die wenigen Haare.
Lag es am Wetter? Möglich, denn für die Jahreszeit war es schon zu warm. Einige Experten rechneten sogar mit schweren Unwettern, die aber eigentlich erst für die kommenden Tage angekündigt worden waren.
»Mist!«, keuchte er. »Verdammter Mist!«
Immer wieder verfiel er in Grübeleien, starrte zu Boden und blieb schließlich vor den drei Stufen der kleinen Treppe stehen, die zur Wohnungstür führten. Danach musste er eine normal lange Treppe hochgehen, um in seine drei Zimmer zu gelangen. Da es in dem Haus keinen Keller gab, hatte er den Flur zu einem Lager ausgebaut.
Die kleine Treppe erschien ihm unüberwindlich.
Er atmete heftig, Schwindel überkam ihn, er musste sich festhalten, griff einmal daneben und warf einen Stapel mit Toilettenpapier-Rollen um. Die hatte natürlich keiner gekauft.
Er hob sie nicht auf. Er war zu schwach. Ihn lockte das Bett. Nur die Tatsache, sich bis dorthin schleppen zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Deshalb blieb er erst einmal stehen.
Dann hörte er das dumpfe Geräusch.
Dreimal hintereinander klang es auf. Es riss ihn aus seiner Erstarrung, er schrak zusammen und drehte mit einer unendlich müden Bewegung den Kopf nach links.
Jetzt konnte er die Tür sehen. Ihr Glaseinsatz wurde von einem Metallrahmen umschlossen. Auch die Außenleuchte brannte noch. Ihr Licht fiel auf die Gestalt einer Frau. Miller kannte sie. Es war Chrissy Norman, eine Nachbarin. Sie wohnte gegenüber, war nie verheiratet gewesen und hatte ein Auge auf ihn geworfen. Da sie schon auf die Sechzig zuging und Miller junge Frauen bevorzugte, war sie für ihn eigentlich uninteressant. Nicht aber in diesem Fall. Er freute sich jetzt, dass sie an der Tür erschienen war. Es war durchaus möglich, dass er in den folgenden Minuten Hilfe brauchte.
Mit sehr langsamen Schritten bewegte er sich an dem Regal entlang und auf die Tür zu. Beim Näherkommen stellte er fest, dass sich Chrissy gegen das Glas gelehnt hatte.
Sie wirkte erschöpft.
Der Schlüssel steckte von innen. Miller brauchte ihn nur einmal herumzudrehen, dann war die Tür offen. Er zog sie auf.
Fast wäre Chrissy Norman in den Laden hineingestolpert. Soeben konnte sie sich noch fangen und stützte sich glücklicherweise nicht bei Vince Miller ab.
Keuchend blieb sie stehen. Sie stierte nach vorn. Ihr graues Haar sah ungekämmt aus. Das verwaschene Kleid machte sie auch nicht attraktiver. Die spitze Nase stach wie ein Dolch aus ihrem Gesicht, und die dünnen Lippen zitterten.
»Was ist denn los, Chrissy?« Miller wunderte sich, wie schwer es ihm fiel, den Satz zu sprechen.
»Weiß nicht, weiß nicht ...«
»Dir geht es schlecht.«
»Ja ...«
»Mir auch.«
Es dauerte eine Weile, bis die Frau den Sinn der Antwort begriffen hatte. Dann hob sie den Kopf und blickte den Kaufmann an.
»Dir auch, Vince? Dir auch?«
»Ja.«
»Seit wann?«
Sie lehnte sich gegen die schräge und völlig leere Gemüsetheke. Im bleichen Licht sah ihr Gesicht aus wie das einer Leiche, doch Miller gab zu, dass er bestimmt keinen besseren Anblick bot.
»Seit ... seit ungefähr fünf Minuten.« Er schluckte.
Chrissy quälte sich ein heftiges Nicken ab.
»Ja, Vince, da begann es bei mir auch.«
»Und so plötzlich?«
»Sicher. Wie angeflogen.«
Beide schwiegen. Sie überlegten, aber keiner kam zu einem Ergebnis. Nur Miller stellte die Frage.
»Sag mal, hast du denn schon darüber nachgedacht?«
»Dazu bin ich noch nicht gekommen.«
»Quatsch.«
»Wieso? Glaubst du mir nicht?«
»Richtig. Sonst wärst du hier nicht aufgetaucht. Man sieht dich doch sonst nicht in der Dämmerung.«
»Ja, du hast recht. Das ist auch das Problem, draußen.« Sie betonte das Wort besonders.
»Plötzlich, verstehst du, hat sich draußen alles verändert.«
Er runzelte die Stirn. »Da komme ich nicht mit. Was soll sich denn verändert haben?«
Sie sprach jetzt schnell, als hätte sie sich erholt. Dabei war es nur der Drang, etwas loszuwerden.
»Die Luft, Vince, die verdammte Luft hat sich völlig verändert. Sie ... sie ist so anders geworden.«
»Wie denn?«
Die Frau starrte ihn an. Ihre Augen sahen dabei aus wie graue Kugeln.
»Das kann ich dir so genau auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie sich verändert hat. Sie ist viel klarer geworden, reiner.«
Er wollte grinsen und widersprechen, aber beides misslang ihm. Stattdessen nickte er, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Chrissy Norman gab nicht auf.
»Komm mit, Vince. Komm raus aus deinem Laden.«
»Was soll ich draußen?«
»Atmen«, sagte sie betont. »Du sollst nur atmen, dann wirst du es spüren, und ich bin sicher, dass es dir kalt den Rücken runterläuft.«
»Meinst du?«
Sie fasste ihn an. Er spürte den Druck dicht unter dem Ellbogen. Als die Frau näherkam, roch er ihren Schweiß, aber er gab seinen Widerstand auf und ließ sich vor die Tür zerren. Besser ging es ihm nicht. Die beiden kamen sich vor wie Greise, und als sie endlich nach wenigen Schritten stehenblieben, mussten sie erst einmal tief durchatmen.
Vor ihnen lag die Dorfstraße. Eingehüllt in die schiefergrauen Schatten der Dämmerung, die eine sonst so normale Gegend so fremd erscheinen ließen. Es wehte kein Wind. Dennoch kam es den beiden vor, als würden sich fremde Gestalten bewegen und durch die Büsche der Vorgärten huschen.
Und dann der Himmel.
Ungewöhnlich sah er aus in der Dämmerung, wie ein unendlicher Flickenteppich.
Chrissy Norman stellte eine Frage.
»Na, was sagst du?«
»Nichts.«
Das verstand die Frau nicht.
»Das ist nicht unsere normale Luft, Vince. Nein, das ist sie nicht. Du musst mal tief durchatmen, dann wirst du es merken. Außerdem ist das Licht so seltsam.«
Miller hob die Augenbrauen. Er wusste nicht, was er zu Chrissys Ausführungen sagen sollte. Er empfand nicht so. Auch weil er zu stark auf sich selbst konzentriert war. Es ging ihm auf keinen Fall besser. Der Kreislauf war äußerst schwach, und in seinem Kopf spürte Miller das Brummen. Immer wieder hatte er das Gefühl, sein Kopf würde anschwellen. Hinter seinen Augen lag ein harter Druck. Er war blass geworden. Wäre Chrissy Norman nicht bei ihm gewesen, hätte er schon längst den Rückzug angetreten, so aber blieb er stehen, tat wie ihm geheißen und öffnete den Mund weit.
Er atmete ein, dann aus – und stöhnte!
Das alarmierte die Frau. »Was hast du?«
Miller senkte den Kopf. Er keuchte. Er spie aus.
Chrissy trat zurück.
»Ich habe geatmet«, flüsterte er. »Ja, verdammt, ich habe geatmet, und dann spürte ich das Brennen im Hals. Verstehst du? Ich habe ein Brennen gespürt. Es ist wie Säure gewesen, es glühte in der Kehle, als wäre meine Haut verätzt.«
Die Frau sagte zunächst nichts. Schließlich hob sie die Schultern.
»Das muss eben an diesem Wetter liegen. Die haben ja schon eine Änderung vorausgesagt.«
»Aber nicht so eine.«
»Was meinst du damit?«
»Das ist keine Luft mehr, keine normale.«
Miller strengte sich an, um zu sprechen.
»Das ist einfach furchtbar. Ich komme da nicht mit. Ich kann es nicht fassen.«
Chrissy schlug ein Kreuzzeichen. Normalerweise hätte der Kaufmann darüber gelacht, in diesem Fall aber ließ er es bleiben.
»Da kommt etwas auf uns zu, was grauenhaft ist. Ich spüre es, Vince, ich spüre es bis in die Tiefen meiner Knochen hinein. Das ist grauenhaft. So etwas hat unser Ort noch nicht erlebt. Das ist das Unheil!«
Sie deutete gegen den Himmel.
»Und er gibt uns eine Warnung. Schau dir nur die Wolken an, wie sie dahintreiben und sich ständig verändern. Sie werden an einigen Stellen von Licht durchflutet. Da schiebt sich die Helligkeit in das Dunkle hinein. Es ist wie ein Gleichnis. Das Gute gegen das Böse, Vince, aber das Böse wird verlieren.«
Miller gab keine Antwort. So apokalyptisch sich diese Voraussagen auch angehört hatten, er widersprach nicht. Er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen.
Noch immer war die Luft klar. Klar und irgendwie scharf. Sie biss in die Kehlen und Schleimhäute hinein, sie war so unnormal, sie schien auch aufgeladen zu sein.
In Weldon war es still.
Die beiden hörten keine Stimmen. Alle Einwohner schienen zu wissen, dass sich etwas anbahnte, nur traute sich keiner nachzuforschen oder etwas zu unternehmen. Man blieb still, man verhielt sich abwartend, die Angst drückte.
»Geht es dir wieder besser?«
»Kaum«, flüsterte Miller. »Ich will auch nicht mehr länger hier herumstehen, sondern ins Bett, aber ich muss noch die verfluchte Treppe hoch. Wird nicht einfach sein.«
»Soll ich dir helfen?«
»Nein, lass das mal. Du bist auch nicht gut dran. Ich an deiner Stelle würde wieder nach Hause gehen. Wir schließen uns in den Häusern ein. Vielleicht können wir uns vor der Außenluft abschirmen.«
Chrissy Norman sagte nichts. Sie hatte den Kopf leicht zurückgelegt, um zum Himmel schauen zu können. Genau dort spielte sich das unheimliche Geschehen ab.
Die langen Schatten der Wolken waren in Bewegung geraten. Der Wind blies in sie hinein, er türmte sie hoch, zerrte sie auseinander, er brachte sie wieder zusammen. Unsichtbare Arme rissen an allen Ecken und Enden, doch es waren nur die Vorboten des Kommenden.
Denn urplötzlich stand der Himmel in Flammen!
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Chrissy Norman schrie auf. Sie hatte den Schrecken gesehen. Sie wollte ihn nicht mehr allein erleben, ging zwei Schritte zur Seite und umklammerte Millers Handgelenk. Für diese Frau war es der Schrecken gewesen, denn der Himmel hatte sich innerhalb kurzer Zeit völlig verändert.
Zwar war die Düsternis geblieben, sie aber wurde zerschnitten von unzähligen grellen und hellen Blitzen, die sich über dem Ort Weldon entluden. Sie waren einfach da, sie drangen aus den nahen Wolken und aus der Unendlichkeit des Alls, um sich an einem bestimmten Punkt zu vereinen, wo sie sich zu einem grellen Muster zusammenfanden.
Ein Spinnennetz aus Energie lag über dem Dorf. Fahles Dunkel und künstliche Helligkeit wechselten sich gegenseitig ab. Die Natur spielte verrückt, und es gab auch keinen Donner. Also gehörten die Blitze nicht zu einem Gewitter.
Sie waren einfach ein Phänomen!
Die langen Lichtspeere jagten sich gegenseitig. Sie tobten sich aus, sie brachten den Schrecken, sie waren kalt, als wären Eislanzen geschleudert worden. Sie veränderten ständig ihre Richtungen, und es gab einfach keinen zentralen Punkt, von dem sie gekommen wären.
Ihr Tanz wurde zu einem lautlosen, makabren Reigen, und sie machten den Ort zu einer regelrechten Gespensterstadt, durch die bleiche Schatten huschten, eben die Reflexionen der Energien.
Obwohl der Schrecken vorhanden war, spielte er sich mit einer absoluten Lautlosigkeit ab. Er rollte am Himmel ab wie ein Stummfilm, ein Geistertanz aus Energien. Bilder, Szenen, schaurige Gestalten, das alles in den dunklen Himmel gezeichnet und gleichzeitig auf die Erde niederrasend.
Mit unheimlicher Wucht jagten die Blitze auf den Ort nieder. Sie trafen, aber sie trafen doch nicht. Sie huschten vorbei, sie schienen die Schatten der Leichen aus den Gräbern als bleiche Gestalten in den Himmel zu schleudern.
Manchmal schufen sie auch Figuren, die dann aussahen, als wären sie mit einem spitzen Stift in den Himmel gezeichnet. Sie fuhren aufeinander zu, sie stießen zusammen, um einen Moment später ihre neugebildete Formation wieder zu zerreißen.
Die beiden einsamen Zuschauer standen vor dem Geschäft des Kaufmanns. Sie hielten sich an den Händen gefasst und waren sprachlos. Sie waren ängstlich und fasziniert zugleich. In ihren Gesichtern stand die Furcht wie eingemeißelt.
Am Himmel tobten sich die Energien aus.
Immer mehr Blitze entstanden. Sie bildeten über dem Ort ein zuckendes, grelles Dach. Ein harter Wirbel, scharf gezeichnete Striche und Netze, ein irrer Reigen, der immer mehr Nachschub bekam und das Netz dichter zog.
So hatten sie Weldons Welt noch nicht erlebt. Ihnen kam es vor, als wären Hunderte von Fotografen dabei, gleichzeitig abzudrücken, um jedes Haus zu fotografieren. Ihr Dorf glich im Blitzgewitter einer Projektion des wahren Bildes.
Bäume schimmerten, als wären ihre Äste und Zweige mit einer silbrigen Eisschicht belegt. Ebenso wirkten die Dächer und Wände der Häuser. Über die Straße huschte das grellweiße Licht, verschwand wieder, tauchte erneut auf, glitt zurück in die tiefe Dämmerung, war dann wieder da, denn die Natur holte in kurzen Stößen Atem.
Sie konnten auch nicht sehen, ob sich das Lichtgewitter nur auf einen bestimmten Punkt konzentrierte. Sie waren einfach überall. Schräg, gerade, von oben oder von der Seite herkommend, rissen sie immer wieder Löcher in die fahle Dämmerung hinein.
Auch das Haus des Kaufmanns wurde getroffen. Die Blitze verwandelten es in ein Geisterhaus. Seltsamerweise schlugen sie nicht ein. Sie zerstörten nicht, sie legten nichts lahm.
Und dann waren sie weg, genauso schnell, wie sie erschienen waren. Plötzlich zeigte sich der Himmel wieder normal.
Fast gemeinsam atmeten Chrissy Norman und Vince Miller aus, ganz so, als hätten sie sich abgesprochen. Die Hand der Frau rutschte aus der des Mannes, er bemerkte es nicht einmal. Miller starrte noch immer zum Himmel, aus dem jedoch kein Blitz mehr hervorjagte.
»Sie sind weg!« Chrissy Norman sprach mit tonloser Stimme. »Sie sind nicht mehr da.«
Miller schwieg.
»Es ist so dunkel.«
Miller blieb noch immer stumm.
Chrissy wollte dies ändern und stieß den Mann in die Seite. »He, hast du nicht gehört? Die Blitze sind weg! Der Himmel ist dunkel. Schau hin.«
Er nickte.
»Warum sagst du denn nichts?«
Endlich öffnete er den Mund. Doch seine Bemerkung klang wenig optimistisch. »Es ist so dunkel, so furchtbar dunkel. Siehst du das nicht? Es brennt kein Licht mehr.«
Er hatte die Wahrheit gesagt. Erst durch seine Worte war die Frau darauf aufmerksam geworden.
Dunkel ...
Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Die Dunkelheit war ihr ja nicht fremd. Sie gehörte zur Nacht, die den Tag ablöste. Aber diese hier war anders, ganz anders, und das hatte auch seinen Grund.
Nirgendwo brannte Licht.
Keine Laterne, keine Lampe in den Häusern. Alle Fenster lagen im Dunkeln. Auch die Leuchte über der Tür des Geschäftes hatte ihren Geist aufgegeben. Nichts war mehr zu sehen. Die Häuser und die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite sahen aus wie Zeichnungen, die nachträglich noch einmal übertüncht worden waren. Ansonsten lag Dunkelheit über Weldon, und sie war nicht normal. Chrissy sah sie als eine scharfe Schwärze an, die so glatt wie eine Mauer war.
»Das ist ... das ist ...«, sie rang nach dem richtigen Wort, das ihr nicht einfiel.
»Unheimlich!«, flüsterte Vincent Miller. »Es ist unheimlich.«
»Ja, du hast recht, Vince.«
»Mir kommt es vor, als wären wir von einer anderen Macht überfallen worden.«
Er deutete in die Höhe.
»Da, ganz oben. Sehr hoch. Unerreichbar hoch, da müssen sie gelauert haben.«
»Wer denn?«
»Die Raumschiffe der anderen Macht, Chrissy.« Er nickte heftig. »Ja, wir sind überfallen worden. Das ist einfach schrecklich. Sie lauern schon. Sie haben ihre Raumschiffe angehalten und die Energien auf Weldon gestreut. So und nicht anders ist es gewesen.«
»Meinst du?«
»Davon bin ich überzeugt.« Er nickte erneut. »Es gibt keine andere Erklärung.«
Sie hob die Schultern.
»Ich würde dir ja gern glauben, aber ich kann es nicht. Das ist mir zu suspekt. Damit kann ich nichts anfangen. Nur im Fernsehen habe ich so etwas gesehen, wenn sie mal einen dieser komischen Filme gezeigt haben.«
»Das hier war kein Film, das war Realität, Chrissy, und wir haben sie erlebt.«
Miller wischte sich die Lippen ab.
»Wir sind die Zeugen einer Invasion aus dem All geworden. Ich sage dir das, und ich habe auch recht, meine Liebe.«
»Meinst du?«
»Ja, absolut.«
»Aber ich sehe niemand«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, wo sind denn deine komischen Ungeheuer?«
Er lachte auf.
»Sie werden kommen, keine Sorge. Sie werden bald hier erscheinen.«
Die Frau schaute zum Himmel. Sie hatte sich stark beeinflussen lassen und suchte nach den Raumschiffen, die aber nicht zu sehen waren. Der Himmel blieb unbeweglich und beinahe tintenschwarz. Waren vor dieser Erscheinung Sterne und auch der Mond zu sehen gewesen? Sie überlegte, doch sie kam zu keinem Resultat. Komisch, Chrissy konnte sich nicht mehr daran erinnern.
»Er hat den Strom unterbrochen«, sagte Miller. »Das ist eben so, wenn sie kommen.«
»Deine Wesen?« Chrissy Norman verzog den Mund zu einem säuerlichen Grinsen.
»Ja. Ich habe es so gesehen.«
Sie schaute ihren Nachbar an. Er stand stocksteif, kein Lächeln um die Lippen, kein Blinzeln in den Augen, und sie musste feststellen, dass Miller wohl an all das glaubte, was er gerade gesagt hatte. Nicht, dass sie sich vor ihm gefürchtet hätte. Ein wenig komisch aber war ihr schon, denn so hatte sie den Kaufmann von gegenüber noch nie erlebt.
Chrissy Norman suchte nach einem anderen Thema. »Sag mal, Vince, wie fühlst du dich eigentlich?«
»Warum?«
»Ich meine, du hast dich doch schlecht gefühlt. Warst matt und schwach – oder?«
»Ja, das stimmt. Aber jetzt geht es mir besser. Viel besser sogar.«
Um seine Worte zu unterstreichen, wandte er sich ihr mit einer scharfen Bewegung zu und fühlte dabei keinen Schwindel. Es ging ihm wieder gut, wenn nicht sogar ausgezeichnet. Die Bedrückung lag hinter ihm. Wenn nur nicht die Dunkelheit gewesen wäre. Er strich über seine Stirn, als wollte er einen Schleier vertreiben, der seine Gedanken festhielt.
»Weißt du, was schlimm ist?«
»Nein.«
»Ich habe vergessen, was wir Menschen tun und wie wir handeln müssen, wenn die Außerirdischen uns besuchen. Es gibt da bestimmte Regeln. Ich kenne sie, ich habe darüber gelesen, aber sie wollen mir nicht mehr in den Sinn. Es ist zu lange her, ich habe sie einfach vergessen. Komisch, nicht wahr?«
»Kann ich nicht behaupten.«
Chrissy ging einen Schritt zurück.
»Wenn du meinst, dann denke nach. Die Nacht ist noch lang. Du kannst ja im Kerzenschein nach dem Buch suchen.«