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Er war da, er tötete, und er war uns immer einen Schritt voraus.
Der Schlitzer spielte mit uns Katz und Maus. Er war nicht zu fassen, doch die Leichen, die er hinterließ, waren echt. Durch ihn verwandelte sich ein normaler Friedhof in einen Hort des Schreckens.
Wir versagten, doch Sheila Conolly hatte die Idee. Sie brachte uns auf die Spur des Schlitzers, und mir gelang es, hinter sein Geheimnis zu kommen. Für mich aber war das kein Grund zu triumphieren, denn den Fängen des Schlitzers war noch niemand entwischt ...
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Der Schlitzer
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0679-7
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Der Schlitzer
von Jason Dark
Er war da, er tötete, und er war uns immer einen Schritt voraus.
Der Schlitzer spielte mit uns Katz und Maus. Er war nicht zu fassen, doch die Leichen, die er hinterließ, waren echt. Durch ihn verwandelte sich ein normaler Friedhof in einen Hort des Schreckens.
Wir versagten, doch Sheila Conolly hatte die Idee. Sie brachte uns auf die Spur des Schlitzers, und mir gelang es, hinter sein Geheimnis zu kommen. Für mich aber war das kein Grund zu triumphieren, denn den Fängen des Schlitzers war noch niemand entwischt ...
Dunkler konnte es auch im All nicht sein!
Es gab keinen Lichtreflex, es war stockfinster, eine absolut kalte Schwärze, die jedes Fünkchen Helligkeit aufgesaugt hatte wie ein Schwamm die Flüssigkeit. Jeden Atemzug, jeden Schweißtropfen und auch jeden Gedanken.
James Freeman fühlte sich wohl. Es waren die Zeiten des absoluten Glücks, in dieser Schwärze zu liegen, einfach nur zu sein, so gut wie kaum zu atmen und die Metamorphose zu spüren.
Dabei wusste Freeman nicht mehr, ob er schwamm oder schwebte. Er lag in oder vielleicht auch auf der Flüssigkeit, und diese wirkte so leicht wie Abertausende von Federn, die ihn davontrugen.
Weg – weit weg ...
Darauf hatte er gewartet. Freeman merkte, wie er sich näher an sein Ziel herantastete. Für ihn war es das Absolute, das Wunderbare, hier wurde die Grenze zur Vollendung erreicht. Er hatte lange Jahre darauf hingearbeitet, um diesen Weg zu finden. Es hatte nur vage Hinweise gegeben. Vereinzelte Forschungsergebnisse, die aber unter Verschluss gehalten wurden, weil sie gefährlich waren.
Nein, nicht daran denken, es hatte keinen Sinn. Er selbst war wichtiger, sein Fühlen, sein Handeln, sein Zustand, das Wegschweben, das Sich-Lösen, um die neue Wunderwelt der Psyche zu ergründen.
Noch hingen Geist und Körper zusammen. Alles um ihn herum hatte in der Schwärze jegliche Wirkung und auch Daseinsberechtigung verloren. Es gab nur noch diese absolute Dunkelheit, das vollendete Nichts, die totale Leere, das Wasser, das ihn wegtrug.
Was bin ich? überlegte Freeman. Wer bin ich? Bin ich noch ein Mensch? Bin ich bereits ein Es, habe ich die große Grenze schon überschritten?
Die Leichtigkeit hatte ihn überfallen, die Gesetze waren aufgehoben worden, für ihn existierte keine Physik mehr. Wo befanden sich die letzten Grenzen?
Es gab sie nicht mehr. Auch die letzte Barriere war zerrissen. James Freeman stand dicht vor der Auflösung.
Er flog ...
✰
Herbst – November! Die Zeit der Toten, der grauen Nebel, der alten Friedhöfe. Zeit der Depression, in der sich die Menschen verzweifelt nach Sonne sehnten und nicht mehr daran dachten, wie brutal heiß der letzte Sommer gewesen war.
Totenwetter, eine sterbende Natur. Kein Wetter, um fröhlich zu sein, um sich befreit und lachend zu geben. Stattdessen gefangen in grauen Nebelschleiern.
Ein Wetter, um wegzulaufen, um sich zu verkriechen, aber bestimmt nicht, um sich die Tage auf einem Friedhof um die Ohren zu schlagen – obwohl gerade in dieser Zeit der Gedanke an den Tod allgegenwärtig war. Jetzt besuchten die Menschen die Friedhöfe vermehrt.
Das hatten auch Bill Conolly und ich getan.
Wir wollten jedoch keine Toten besuchen und uns auch keine Gräber anschauen. Wir waren auf den Friedhof gegangen, um nach Möglichkeit ein Gespenst zu entdecken.
Denn davon hatte mir Bill berichtet. Angeblich hatten zahlreiche Zeugen einen Geist gesehen, der sich zwischen den Gräbern herumtreiben sollte, aber das stimmte wohl nicht.
Aber Bill Conolly war mein Freund. Und er hatte versprochen, mich einzuladen. Wir würden Essen gehen, einen gemütlichen Freitagabend erleben, vor dem sich Suko aber gedrückt hatte. Ob er später zu uns stoßen würde, war fraglich. Eingeladen hatten wir ihn zumindest.
Wir standen in der Nähe einer großen Familiengruft. Von hier aus konnten wir einen Großteil des Geländes überblicken, und in dieser Umgebung war er gesehen worden – der Geist!
Es war kühl und nebelnass, typisches Novemberwetter. In bunten Farben leuchtete das Laub. Es war nass und klebrig, hing an den Zweigen wie an dünnen Fäden, wurde vom leichtesten Windstoß abgerissen oder löste sich von allein und segelte träge zu Boden.
An diesem Nachmittag hatte sich der graue Dunst schon früh gebildet. Er trieb über den Friedhof und machte ihn zu einem verwunschenen Ort. Lange wollte ich hier nicht bleiben. Das hatte ich Bill gesagt, er hatte es akzeptiert, und er war nach wie vor davon überzeugt, dass wir keiner Fata Morgana nachhingen und dass sich ein Geist oder ein Gespenst diesen Friedhof ausgesucht hatte. Bills Zeugen waren vertrauenswürdige Personen.
»Dass du an Geister glaubst, hätte ich nicht gedacht«, sagte ich nach einer Weile.
»Hör auf. Mach dich nicht lustig.«
»Ich reagiere eben auf diese traurige Umgebung.«
Bill schnaufte. »Verdammt, John, auch wenn es nicht oder noch nicht so aussieht. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Zeugen nicht geirrt haben. Sie sahen die Gestalt auf diesem Friedhof, und diese Gestalt war kein Mensch.«
»Ein Nebelstreif?«
Der Reporter verdrehte die Augen. »Nein, auch nicht. Und es war auch keine Halluzination. Die Gestalt schwebte über dem Boden, und die Zeugen sind mit ihr in Kontakt getreten. Sie konnten sie sogar berühren, doch als sie das taten, war da plötzlich nichts mehr. Die Gestalt war da, aber nicht greifbar. Die Zeugen konnten durch sie hindurchfassen. Sie war eben ein Geist. Auch nicht grau, sondern aus der Entfernung sah sie feinstofflich aus. Sie kam herbei, man konnte sie vermeintlich greifen, sie verdichtete sich, wie man mir sagte, und dann erinnerte er beinahe an einen Menschen. Doch wer sie nun anfassen wollte, dessen Hand glitt plötzlich hindurch. Das ist eben das große Rätsel.«
»Eine lange Rede!«, stellte ich fest.
Bill nickte. »Richtig, und auch eine gute.«
»Fragt sich nur, ob sie zutrifft.«
Mein Freund nickte und hüpfte auf der Stelle. Ihm war ebenso kalt wie mir. Das Wetter passte uns beiden nicht. Die nasse Kälte drang durch unsere Kleidung, und ich dachte daran, meine schwarze Lederjacke zuzuknöpfen, ließ es aber bleiben und vertraute auf meinen vor der Brust verknoteten Schal.
Wir waren nicht die einzigen auf dem Friedhof. Der November schien eine magische Anziehungskraft auf gewisse Menschen auszuüben, und in diesem Moment besuchten sie die Friedhöfe öfter als sonst. Da wurde der Toten gedacht, da wurden die Gräber gepflegt, da flossen Tränen, da dachten viele über die vergangenen Monate nach, und so mancher nahm sich vor, sein Leben zu ändern und sich etwas stärker um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu kümmern.
Der November machte nachdenklich und traurig zugleich, was nicht immer verkehrt sein musste.
»Wenn du diesen Geist selbst gesehen hättest, Bill, wäre mir wohler.«
»Das passiert noch.«
»Wann?«
»Heute.«
»Davon bist du überzeugt?«
»Ja.«
Ich lächelte, und Bill presste die Lippen zusammen. Meine Bemerkungen hatten ihn ein wenig geärgert. Er wusste selbst, dass seine Behauptungen auf schwachen Füßen standen, und als wir die Trittgeräusche hörten, schauten wir nach links. Vor uns verlief ein schmaler Weg. Er war mit altem Laub dekoriert, das als dünner Teppich über Kies und Steine lag.
Zwei Frauen schälten sich aus dem Dunst. Sie waren dunkel gekleidet und hatten sich somit der traurigen Umgebung angepasst. Sie schauten zu Boden, unterhielten sich flüstern und erschreckten sich, als sie uns erreicht hatten.
»Pardon«, entschuldigte sich Bill.
»Sie stehen hier wie zwei Grabsteine«, sagte die eine Frau.
»Wir wollten Sie nicht erschrecken.«
»Ja, ja.« Die Frau schaute sich um. »Warten Sie vielleicht auf jemand?«
Bill räusperte sich. »Worauf sollten wir denn warten?«, erkundigte er sich.
Die beiden Frauen blickten sich an. Ihre Gesichter waren blass, die Augen vom Weinen leicht gerötet. Sie wollten nicht so recht mit der Sprache heraus. Es schien ihnen unangenehm zu sein, doch ich ahnte schon, welchen Verdacht sie hatten und kam ihnen zuvor.
»Ja, wir warten auf den Geist.«
Sie schwiegen. Dann kamen sie näher, als hätten sie Angst davor, dass sie jemand hören könnte. »Dann haben Sie ihn auch gesehen, Gentlemen? Haben Sie das?«
»Nein, haben wir nicht«, sagte Bill.
»Aber Sie würden ihn gern sehen.«
»Das schon eher.«
»Er ist da!«, hauchte die Sprecherin. »Er ist bestimmt da.«
Sie blickte sich um, ohne allerdings das Objekt zu entdecken. »Ich bin davon überzeugt, dass er da ist.«
»Haben Sie ihn heute schon entdeckt?«
»Nein, aber gestern.«
»Wirklich?«
»Ja, Mister, ja.« Sie nickte. »Da schlich er dicht an uns vorbei. Er war ein dunkler Mann. Aber stellen Sie sich vor, es war kein Laut zu hören. Nichts vernahmen wir. Die Stille war absolut. Nicht einmal ein Windzug traf uns, wir hörten auch kein Rauschen oder Flüstern, kein Knistern des Laubs, einfach gar nichts. Er ging und schwebte doch vielmehr, und in der Hand hielt der Mann etwas Helles.«
»Haben Sie den Gegenstand erkennen können?«, fragte ich.
»Nein, nicht direkt. Es sah aber aus wie ein Messer, obwohl Messer ja nicht so hell sind.«
»Das stimmt.«
Die Frau fuhr fort. »Er ging dann weiter.« Sie holte tief Luft. »Und was das Schlimme war, er hat sogar getötet. Er ... er ... tötete einen unschuldigen Hasen.«
»Das haben Sie gesehen?«
»Nicht direkt.«
Sie stockte einen Moment.
»Wir sahen das tote Tier deshalb, weil er es über die einen Grabstein gelegt hatte, damit es ausbluten konnte. So ist das gewesen.«
»Das muss aber nicht der Geist gewesen sein, der das gemacht hat«, sagte ich.
»Doch, er war es. Es gibt keine andere Lösung! Er war es – wirklich! Und heute kommt er wieder.«
Die Frau blickte starr.
»Gestern hat er ein Tier aufgeschlitzt. Heute könnte es vielleicht ein Mensch werden.« Sie streckte ihren Zeigefinger aus. »Daran sollten Sie denken, meine Herren.«
Für die beiden Frauen war das Gespräch beendet. Sie nickten uns noch einmal zu und gingen weiter.
Bill wartete, bis sie außer Hörweite waren. Dann fragte er: »Und was sagst du jetzt?«
»Nicht viel mehr als zuvor.«
»Du glaubst ihnen nicht?«
»Es fällt mir zumindest schwer, Bill. Kannst du das nicht verstehen?«
»Klar, kann ich. Aber zumindest hast du gehört, dass es Zeugen für diesen Geist gibt, der ... der sogar zu einem Schlitzer geworden ist. Ich bin davon überzeugt, dass er das Kaninchen gekillt hat.«
»Ja, kann sein, muss aber nicht.« Ich wollte noch etwas hinzufügen, als mich ein klatschendes Geräusch auf meiner rechten Schulter davon abhielt.
Es war aber kein Taubenkot, wie ich mit einem Blick auf meine Schulter feststellte. Auf dem Leder breitete sich ein dunkler Tropfen aus, aber es war auch kein Wasser.
Bill schaute zu, wie ich den linken Arm anwinkelte und mit der Spitze des rechten Zeigefingers in die Mitte des Flecks tippte.
Als ich die Hand wieder zurückzog, klebte Blut an meiner Fingerkuppe!
✰
»Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Bill. Es war zu sehen, wie er eine Gänsehaut bekam.
Ich machte einen Schritt zur Seite, dann noch einen, um aus dem unmittelbaren Bereich des Baumes wegzukommen, von dem der Blutstropfen gefallen war.
Bill folgte mir und schaute ebenso nach oben wie ich. Das Geäst zeigte nur eine schwache Belaubung. Es gab viele Lücken, und eine wurde von einem dunklen Gegenstand ausgefüllt, der sich nun bewegte und nach vorn kippte.
Im nächsten Augenblick landete er vor unseren Füßen. Ein dicker Klumpen aus Federn und Blut – der Körper einer Eule, die aufgeschlitzt worden.
Wir wussten nicht, was wir sagen sollten, und standen vor dem Kadaver wie zwei Puppen. Erst nach einer Weile konzentrierten wir uns auf die Umgebung.
Es blieb still.
Wir hörten keine Schritte, wir sahen auch keine nebelhafte Gestalt, nur der tote Vogel lag vor unseren Füßen und schwamm in seinem Blut. Es war alles sehr schnell gegangen, und ich dachte wieder an das getötete Kaninchen. Jetzt glaubte ich, dass hier etwas geschehen war. Der Vogel war für mich der Beweis.
Wir hatten nichts, rein gar nichts gesehen. Und genau das war das Schlimme daran.
»Mein Gott«, flüsterte Bill und schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein. Und wir haben nichts gesehen, John, gar nichts. Es war dieser Schlitzer. Schau dir den Vogel an. Er ist regelrecht aufgeschlitzt worden. Gestern das Kaninchen, heute die Eule. Wann ist, so frage ich dich, der erste Mensch an der Reihe?«
Ich gab ihm keine Antwort, doch mein Gesichtsausdruck sagte ihm genug. Auch ich rechnete jetzt damit, dass wir es mit einem mordenden Gespenst zu tun hatten, das sich nicht nur über den Erdboden bewegte, sondern seinen Weg auch durch die Lüfte fand.
»Er ist hier«, flüsterte mir Bill zu. »Der verdammte Geist hat sich auf dem Friedhof versteckt, John. Er kann sich lautlos bewegen, er sorgt für tödliche Überraschungen, ich glaube, dass wir uns auf etwas gefasst machen können.«
Bill hatte recht, das brauchte ich ihm nicht erst zu bestätigen, aber ich dachte schon weiter.
Wie war es möglich, dass sich jemand so lautlos bewegen konnte? Zwar nannte man mich den Geisterjäger, doch mein Glaube an Geister hielt sich in Grenzen.
Es gab Dämonen, finstere, schwarzmagische Gestalten, ich hatte Zombies, Vampire und Werwölfe erlebt, aber mit Geistern hatte ich so meine Schwierigkeiten. Hier auf dem Friedhof aber trieb sich ein derartiges Wesen herum, und ich dachte über den Grund nach.
War es der Geist eines Toten, der keine Ruhe im Grab oder im Jenseits gefunden hatte? Gab es so etwas überhaupt? Ja, für uns schon, denn auch auf diesem Gebiet hatten wir unsere Erfahrungen sammeln können. Wir wussten von einer Zwischenwelt, die den Weg zwischen dem Diesseits und dem Jenseits markierte.
Bill starrte den toten Vogel an. Mit einer müden Bewegung hob er seinen Arm und strich über die Stirn.
»Und wir haben nichts gesehen, John, gar nichts. Wer immer sich hier auf dem Friedhof herumtreibt, er hat es nicht nötig, sich an irdische Gesetze zu halten. Er ist etwas, das wir beide nicht begreifen können. Oder hast du bereits eine Erklärung?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Was willst du tun?«
Ich nahm ein Papiertaschentuch und wischte das Blut von der Schulter. Das Tuch warf ich in einen nicht weit entfernt stehenden Abfalleimer. Dort blieb ich und schaute über die Reihen der alten Gräber hinweg, die in dem Dunst aussahen, als würden sie auf den Wellen eines grauen Flusses dahintreiben, der in der Unterwelt mündete.
Bill Conolly suchte an einer anderen Stelle. Er entdeckte ebenso viel wie ich, nämlich nichts. Schulterzuckend kehrte er zu mir zurück. Er machte einen ziemlich deprimierten Eindruck.
»Nichts zu sehen, der Schlitzer muss mit dem Dunst eins geworden sein. Ich glaube fest daran, dass er noch unterwegs ist.« Bill schaute mich so auffordernd an, dass ich mich einer Antwort nicht enthalten konnte.
»Ja, das ist durchaus möglich. Der Friedhof ist ziemlich groß, und es gibt viele Verstecke.«
»Willst du ihn durchsuchen?«
»Noch haben wir Zeit.«
Bill warf einen Blick auf die Uhr. »Ja, bis es dämmert, dauert es noch etwas. Komm!«
Ich leistete Bill heimlich Abbitte. Dieser Fall bereitete mir schon jetzt Kopfzerbrechen. Ich fragte mich, wer dieser Schlitzer war.
Dabei schossen mir zahlreiche Möglichkeiten durch den Kopf. Ich wusste ja, dass es bestimmte Geistwesen gab – ich dachte dabei etwa an Engel – die in anderen Sphären existierten. Ich dachte auch an die Geister der Toten, die keine Ruhe finden konnten. Aber das alles ergab für mich keinen Sinn, und ich konnte mir einfach nicht erklären, warum dieses Wesen Tiere tötete.
Oder übte dieses Wesen nur, um sich später an Menschen abzuarbeiten? Dieser Gedanke ließ eine Gänsehaut auf meinem Rücken zurück.
»So etwas wie heute ist schlimm«, sagte Bill. »Ich stehe lieber einer Kreatur aus dem Dämonenreich Auge in Auge gegenüber, als hinterrücks in eine Falle zu laufen.«
»Stimmt.«
»Jetzt ist es dein Fall, John!«
»Stimmt auch!«
Er spottete wieder. »Jedenfalls kannst du deinem Spitznamen Geisterjäger gerecht werden. Wir werden die Geister jagen. Einen Nebelgeist, einen was weiß ich ...«
»Wir jagen einen Schlitzer, Bill!«
»Klar.«
Die nächsten Minuten schwiegen wir. Wir bewegten uns an den Gräbern entlang, die hier nicht sehr groß waren, weil dieser Friedhof noch zu den älteren gehörte. Hier hatte man den Toten eine würdige letzte Ruhestätte gegeben, während man auf neueren Friedhöfen oft uniforme Gräber vorfand.
Über das dunkle Geäst der Bäume hinweg ragte das Dach der Leichenhalle, die gleichzeitig als kleine Kapelle diente. Auch dieses Gebäude machte einen traurigen, verlassenen Eindruck. Nichts wies mehr auf den Sommer hin, der Herbst hielt jetzt alles umschlossen. Die Wolken hingen tief am Himmel, und manchmal hatte es den Anschein, als würden die Dunstschwaden an ihnen festkleben.
Ein breiterer, gepflegter Weg führte auf die Leichenhalle zu. Wir sahen zwei Arbeiter, die ihre mit Werkzeugen gefüllten Schubkarren in Richtung eines kleinen Schuppens schoben
Bill rieb seine Nasenspitze. »Hier ist er auch nicht«, sagte er und schaute sich um.
»Richtig.«
Mein Freund schüttelte den Kopf. »Du gefällst mir nicht, John. Du bist so einsilbig. Als wärst du mit deinen Gedanken ganz woanders.«
»Das kann sein.« Ich hob die Schultern. »Schon die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, neben mir zu stehen. Ich weiß nicht, was es ist. Ein Unwohlsein vielleicht? Kann sein, dass ich krank werde. Ich fühle mich unwohl ...«
»Es liegt an der Atmosphäre.«
»Nein, Bill, das glaube ich nicht. Wie oft bin ich auf Friedhöfen gewesen und ...«
Wir hörten den Schrei.
Und beide wussten wir, woher er kam.
Aus der Leichenhalle!
✰
Man hatte Rose Pandrish den letzten Wunsch erfüllt und sie in die Leichenhalle gelassen, damit sie von ihrem dort aufgebahrten Mann Abschied nehmen konnte. Sie wollte noch einmal in sein Gesicht schauen, bevor es verweste und eine Beute für die Würmer und Maden wurde, die in der Erde ihr Reich hatten.
Rose stand allein in der Halle.
Allein mit einem Toten – allein mit einem Mann, den sie seit über vierzig Jahren kannte und mit dem sie mehr als dreißig Jahre verheiratet gewesen war.
Sie konnte es noch immer nicht richtig fassen, dass der schnelle Herztod ihn dahingerafft hatte. Doch das Bild, das sich ihren Augen bot, war die brutale Realität.
Der Mann lag in dem offenen Sarg. Das Licht der Lampen fiel wie ein Schleier über das Gesicht des Toten. Man hatte ihm die Augen zugedrückt, so war wenigstens der starre Blick verschwunden, an den Rose Pandrish sich noch erinnern konnte. Sie hatte ihren Mann tot aufgefunden, als sie vom Einkaufen nach Hause gekommen war.
Wie eine lebensgroße Puppe hatte er in seinem Lieblingssessel gehockt. Die Zeitung war ihm aus den Händen gerutscht und lag neben dem Sessel.
Rose hatte nicht einmal geschrien, sie hatte immer nur in das wachsbleiche Gesicht mit dem schmerzverzerrten Zug und den starren Augen schauen können, und komischerweise hatte sie dabei schon an die Vergangenheit gedacht. Die Bilder waren wie ein Film abgelaufen, blitzschnell, aber sehr detailliert. Eine Erinnerung an glückliche Stunden. Sie und Earl hatten eine gute Ehe geführt, eine normale, mit allen Vor- und Nachteilen. Aber insgesamt hatten beide zufrieden sein können. Auch die beiden Kinder waren okay, leider hatten sie es vorgezogen, in die Staaten auszuwandern, um sich dort ein Geschäft aufzubauen. Zur Beerdigung würden sie kommen. Bis dahin würde Rose noch allein sein.
Wie in dieser kalten Leichenhalle.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Realität. Das Gesicht des Toten sah einigermaßen normal aus. Zwar zeigte es noch immer die ungewöhnliche Starre, aber der Schrecken war aus den Zügen verschwunden. Earl sah jetzt aus, als würde er schlafen, und er hatte seine Hände auf der Brust zusammengelegt, als wollte er noch ein letztes Gebet sprechen.
Die Lippen der dreiundsechzigjährigen Frau zuckten, und sie wischte sich mit den gekrümmten Fingern die Tränen aus ihren Augen. Dabei hatte sie nicht weinen wollen, doch was besagte das schon?
Jetzt war sie allein.
Ganz allein.
In ihrem Alter zog man nicht mehr um. Schon gar nicht auf einen anderen Kontinent, wie es ihr die Söhne vorgeschlagen hatten. Rose hätte sich dort ein schönes Leben machen können, nur wollte sie das nicht. Sie war in London geboren, sie würde hier auch sterben und presste ihre Lippen hart zusammen, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss.
Sterben?
Hatte es überhaupt noch Sinn für sie, am Leben zu bleiben, jetzt, wo Earl nicht mehr da war? Sie hatten vieles gemeinsam unternommen, da war keiner einen anderen Weg gegangen. Doch nun war sie in ein tiefes, pechschwarzes Loch gefallen, aus dem sie nicht mehr herausfand. Nicht aus eigenem Antrieb.
Durch den Tränenschleier verschwamm das Gesicht ihres Mannes. Es schien sich aufzulösen, und dies wiederum kam ihr irgendwie bezeichnend vor.
Auflösen, wegschwimmen, eintauchen in andere Welten und nie mehr zurückkehren.
Sie schluckte, holte das Taschentuch hervor und trocknete sich die Tränen. Dann strich sie mit der Hand über die kalte Haut des Toten, und sie zuckte zusammen, als ihre Fingerkuppen die Wange berührten. Ganz so, als hätte sie weiches Eis unter ihnen gespürt.
Im Magen lag ein dicker Klumpen. Hinter der Stirn brannte es. Es tuckerte. Sie dachte an bestimmte Dinge aus ihrem gemeinsamen Leben. Und ohne, dass sie es richtig merkte, fing sie an, zu dem Toten zu sprechen. Sie erzählte ihrem Mann von ihren Sorgen und Problemen, von den Kindern, die ja gut versorgt waren, und auch von sich selbst und von ihrer grenzenlosen Einsamkeit. Der Tod des Mannes hatte die Hälfte ihres Ichs weggerissen, sie war nur mehr eine halbe Person. Ihr Leben würde in leeren Bahnen verlaufen, und daraus wiederum würde eine Sinnlosigkeit resultieren, die einer Depression den Weg ebnen konnte.
Die nächsten Tage würde sie noch einigermaßen überstehen, weil es viel zu tun gab. Die Organisation der Beerdigung zum Beispiel, das Aufsetzen der Anzeige, das Reden mit den Söhnen. Aber dies alles würde vorbeigehen, und dann würde sie vor einem tiefen Loch stehen.
Leere, Einsamkeit, das große Nichts, und kein Netz, das sie hätte auffangen können.
Der Gedanke an all diese Dinge ließ sie leicht schwindeln, und Rose musste sich am Sarg abstützen, um nicht zu fallen.
Sie bekam sich aber wieder in den Griff, atmete tief durch, schaute sich in der Leichenhalle um und verglich das Licht mit einer blassen Totensonne. Es strahlte keine Wärme aus, sodass der Raum selbst Rose vorkam wie ein Grab.