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Als sich Gallio, der Uhrmacher, vor einigen hundert Jahren mit dem Teufel verbündete, bekam er von ihm das Versprechen, Herrscher über einen Teil der Zeit zu werden.
Aber Gallio war nicht stark genug. Die Macht ließ sich nicht kontrollieren. Er wollte sein Werk, die Leichenuhr, vernichten. Da er es aus eigener Kraft nicht schaffte, wandte er sich an einen Helfer. Der ließ Gallio im Stich. Der Uhrmacher brachte sich selbst um, und die Uhr überlebte.
Generationen später gab es sie immer noch. Und Gallios Geist fand keine Ruhe. Er war auf der Suche nach einem Partner. Diesmal fand er einen - mich. Und so stellte ich mich der mörderischen Leichenuhr ...
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Impressum
Die Leichenuhr
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0828-9
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Die Leichenuhr
von Jason Dark
Als sich Gallio, der Uhrmacher, vor einigen hundert Jahren mit dem Teufel verbündete, bekam er von ihm das Versprechen, Herrscher über einen Teil der Zeit zu werden.
Aber Gallio war nicht stark genug. Die Macht ließ sich nicht kontrollieren. Er wollte sein Werk, die Leichenuhr, vernichten. Da er es aus eigener Kraft nicht schaffte, wandte er sich an einen Helfer. Der ließ Gallio im Stich. Der Uhrmacher brachte sich selbst um, und die Uhr überlebte.
Generationen später gab es sie immer noch. Und Gallios Geist fand keine Ruhe. Er war auf der Suche nach einem Partner. Diesmal fand er einen – mich. Und so stellte ich mich der mörderischen Leichenuhr ...
Noch immer dachte Jules Vangard an das Mädchen, dessen Stimme ihn in den Träumen der vergangenen Nacht regelrecht verfolgt hatte. In Gedanken streichelte er ihre Schenkel, ihre Brüste und ihre Hüften.
»Tu es, nimm mich, ich will es doch!«
Lizzys Liebesgeflüster war ein Ohrenschmaus. Die Erinnerung glich einem Ballon, der immer mehr aufgeblasen wurde und sich zu einem großen Mond verformte. Er würde sicherlich bald platzen, nur wollte es Jules nicht so weit kommen lassen. Er musste Lizzy Lamotte einfach wiedersehen.
Er wusste nicht viel von ihr, nur ihren Namen und dass sie Artistin in einem kleinen Wanderzirkus war. Dabei ging er davon aus, dass nicht einmal ihr Name echt war. Der hörte sich vielmehr nach einem Pseudonym an. Doch ihr Körper, der war echt gewesen. Und Jules sehnte sich nach ihm.
Er parkte seinen kleinen Polo am Rand des Platzes, wo die drei Buchen standen, die dem Fahrzeug einigermaßen Schutz boten. Von dieser Stelle aus konnte er den Platz überblicken, der dem Zirkus von der Stadt als Winterquartier zugewiesen worden war. Das Vieh überwinterte in den Ställen, und so konnte die Kommune wenigstens einen kleinen Obolus an Miete kassieren.
Dabei war Zirkus eigentlich nicht der richtige Ausdruck für dieses Unternehmen. Zwar wurde ein Zelt aufgebaut, unter dessen Kuppel Artisten ihr Können zeigten und Dompteure Tieren ihren Willen aufzwangen. Und Clowns gab es ebenfalls, aber alles andere passte nicht zu einem Zirkus. Eher schon hätte man von einer Kirmes sprechen können.
Denn der Zirkus ›Baresi‹ reiste auch mit zwei Karussells. Eines war für Kinder, ein richtig altes Kinderkarussell mit hölzernen Pferden, Schafen und Kühen und kleinen, stilisierten Autos. Die zweite Attraktion, der Autoscooter, wurde dagegen von den Jugendlichen frequentiert. Beide Attraktionen waren zu Winterbeginn nicht eingemottet worden, und an Sonntagen, an denen das Wetter mitspielte, hatten sie geöffnet, dazu noch zum halben Fahrpreis. Das hatte Tonio Baresi höchstpersönlich versprochen, und er hatte sein Wort gehalten.
Lizzy Lamotte hatte Jules in den beiden Nächten, die sie miteinander verbracht hatten, viel erzählt. Er erinnerte sich auch an ihr Liebesgeflüster und an eine Warnung.
»Komm nie nach Mitternacht!«, hatte sie ihn eindringlich gebeten.
Erst hatte Jules über die Warnung gelacht. Dann aber war ihm aufgefallen, dass Lizzy ihn beide Male tatsächlich beide Male vor Mitternacht weggeschickt hatte. Bevor ihm das nun ein drittes Mal passieren würde, wollte er der Sache auf den Grund gehen. Er würde Lizzy fragen.
Jules wusste, dass sie in einem der Wohnwagen ihr Zuhause hatte. Dass Tonio Baresi seine Kunden auch anlockte mit Geschichten von einer geheimnisvollen Uhr, die die Zeit zurückdrehen und so einen Blick in die Vergangenheit gewähren konnte, das hatte Jules nur am Rande wahrgenommen.
Sein einziger Gedanke war Lizzy. Er hatte sich seine Chancen genau ausgerechnet. In diesem Winter würde er sie öfter besuchen. Was aber, wenn das Frühjahr beginnen und sich der Zirkus auf die Reise machen würde? Würde das dann das Ende für ihre bedeuten? Darüber hatte er viel nachgedacht, so wie auch über die Warnung, Lizzy nie nach Mitternacht zu besuchen.
Was sollte dieser Mist? Jules wollte Lizzy vor und nach Mitternacht und überhaupt immer für sich allein haben.
Mit seinen siebenundzwanzig Lenzen stand er voll im Saft, wie er selbst immer sagte. Er war es auch leid, ständig über die Dörfer zu fahren, sich in zweitklassigen Discos herumzutreiben und darauf zu warten, irgendwelche Landschönheiten aufreißen zu können.
Lizzy war da ganz anders.
Verdammt, diese Frau konnte ihn um den Verstand bringen. Wie sie sich unter ihm bewegt hatte! Wie eine Schlange war sie, und sie hatte Dinge mit ihm angestellt, die er noch nie zuvor erlebt hatte.
Aufpasser gab es zwar nicht, wie er von Lizzy wusste, aber Jules war dennoch vorsichtig. Er hielt die Augen weit offen, als er sich dem Ziel seiner Sehnsucht näherte.
Die Dunkelheit war wie ein Schwamm, jedenfalls kam sie dem jungen Mann so vor. Es war feucht, leicht neblig. Der Rasen war weich und schien zu dampfen, als wäre unter ihm ein Riese versteckt, der in bestimmten Intervallen immer wieder seinen Atem ausstieß.
Das Gras war sehr kurz. Schafe und auch Rinder hatten es abgefressen. Im Winter wuchs es nun nur langsam nach. Zahlreiche braune Flecken unterbrachen die grüne Fläche, und auf einem dieser Flecken stand Lizzys Wohnwagen.
Er war nicht mehr als ein hell gestrichener Kasten in der Dunkelheit, hinter dessen Fenstern kein Licht schimmerte. Vier Fenster hatte das Gefährt insgesamt, auf jeder Seite eins, wobei ein Fenster direkt neben der Tür lag. Dorthin wollte der nächtliche Besucher.
Stille lag über dem Platz. Selbst die Hunde schlugen nicht an. Sie hatten sich vor der Kühle verkrochen, was Jules natürlich gefiel, und als er auf die Uhr schaute, hatte er den Wagen seiner Angebeteten erreicht.
Genau Mitternacht!
Er lächelte, obwohl ihm Lizzys Warnung einfiel. Die konnte sie sich in die Haare schmieren. Er musste zu ihr! Vielleicht konnte er sie von diesem Zirkus wegholen und mit ihr in eine andere Stadt verschwinden, in eine Großstadt, wo sie anonym würden leben können.
Ob Lizzy Lamotte abgeschlossen hatte, wusste er nicht. Am liebsten wäre er in den Wagen hineingestürzt, das aber verbot ihm seine Höflichkeit und auch die Vorsicht.
Jules klopfte. Dabei erschrak er, denn seiner Meinung nach war das Geräusch bis an den Rand des Platzes zu hören gewesen. Unwillkürlich duckte er sich und wartete lauernd ab, doch er hatte Glück. Nicht einmal ein Hund regte sich, geschweige denn ein Mensch.
Als er nun die Tür öffnen wollte, klemmte sie zunächst. Nur mit viel Kraft bekam er sie auf. Für einige Sekunden blieb er unbeweglich auf der Stelle stehen, säuselte den Namen seiner Angebeteten – und war enttäuscht, dass sie ihm keine Antwort gab. Wahrscheinlich schlief sie schon.
Wer schläft, der träumt oft, dachte Jules. Und er führte den Gedanken weiter. Vielleicht sogar von ihm, denn als Liebhaber war er nicht schlecht gewesen. Das hatten ihm andere weibliche Wesen schon mehr als einmal bestätigt.
Die aber waren längst vergessen, als er den Wohnwagen betrat und die Tür hinter sich schloss. Er blieb zunächst stehen, leicht geduckt, sonst wäre er mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen. Jules kannte sich aus. Er wusste, dass er nach links musste, um das Bett der Zweiundzwanzigjährigen zu erreichen. Obwohl der Wagen ziemlich klein war, hatte ihn Lizzy durch einen Vorhang unterteilt, welchen sie zuzog, wenn sie schlafen ging. In dieser Nacht aber war er offen.
Das wiederum irritierte den heimlichen Besucher. Es war nicht so stockfinster im Wagen, als dass er nichts hätte erkennen können. Durch die Fenster sickerte das Sternenlicht, sodass er gewisse Umrisse ausmachen konnte.
Auch das Bett sah er. Es war ein altes Metallbett, das stabil war, wie Jules wusste. Nur konnte er nicht sehen, ob auf dem Bett jemand lag.
Er kam näher, und mit jedem Schritt wuchs seine Enttäuschung. Als er vor dem Bett stehenblieb, bekam er die Wahrheit präsentiert.
Das Bett war leer!
Jules fluchte zwar nicht, aber die Enttäuschung setzte ihm doch schwer zu.
Wieso war das verdammte Bett leer?
Er fragte sich, wo sie um diese Zeit wohl stecken konnte, und die Eifersucht fing an, in seinem Innern zu nagen. Er spürte, dass er einen roten Kopf bekam. Seine Hände wurden feucht. Und er erinnerte sich an die Warnungen seiner Freundin, sie nie nach Mitternacht zu besuchen.
Er war gekommen, hatte das Bett leer vorgefunden, und Lizzy steckte wahrscheinlich bei einem anderen Liebhaber, womöglich bei einem Typ vom Zirkus. Hier gab es einige verflixt heiße Burschen, wie er mittlerweile wusste. Selbst Direktor Baresi hatte ein Auge auf die Kleine geworfen, das hatte ihm Lizzy gestanden.
Im Wagen war es stickig. Er schnupperte. Der Geruch erinnerte ihn an Lizzys Parfüm, aber war da nicht noch ein anderer Geruch, der den ersten beinahe überlagerte?
So muffig und alt, beinahe schon modrig, als würde im Wagen Aas liegen. Jules schüttelte sich, als er daran dachte. Der Gestank blieb in seiner Nase. Eine Sinnestäuschung war es nicht.
Neben dem Bett stand ein Hocker. Dort hatte die kleine Lampe mit dem gelben Schirm ihren Platz gefunden. Jules überlegte, ob er sie einschalten sollte, um mehr zu erkennen, aber das brauchte er nicht. Was er herausfinden wollte, das konnte er auch im Dunkeln ertasten. Er strich mit der Hand über die Bettmitte. Es kam ihm so vor, als hätte das Laken noch die Körperwärme der Schlafenden gespeichert, demnach konnte Lizzy noch nicht lange fort sein.
Er tastete weiter und erschrak.
Seine rechte Hand war nass geworden.
Er zog sie zurück, ließ sie an einer Stelle auf dem Laken liegen und fühlte erneut.
Das Laken war nicht nur nass, es war auch irgendwie glitschig, und da fühlte sich etwas an wie Pudding.
Die Kehle des jungen Mannes verengte sich. Sein Unterbewusstsein meldete sich und schickte ihm eine Warnung.
Es war am besten, wenn er nicht näher nachschaute und auch kein Licht machte. Sich umdrehen und den Wohnwagen so schnell wie möglich verlassen – so lautete jetzt die Parole. Angst peitschte durch seinen Körper.
Er richtete sich auf. Sein Herz schlug jetzt bedeutend schneller. Er brachte seine Hand dicht vor die Augen und sah, dass die Fläche dunkel war.
Eine dunkle Flüssigkeit also.
Etwa Blut?
Bei diesem Gedanken rebellierte sein Magen. Jules fing an zu schlucken, und der Drang, den Wagen zu verlassen, verstärkte sich immer mehr.
Das war kein guter Platz mehr. Es war am besten, wenn er verschwand und Lizzy am folgenden Tag zur Rede stellen würde. Aber lebte sie überhaupt noch?
Auf Zehenspitzen zog sich Jules Vangard zurück. Seine rechte Hand war noch immer feucht und glatt. Zwischen der Schmiere ertastete er auch einige Haare. Er traute sich allerdings nicht, seine Hand irgendwo abzuwischen, auch nicht an seiner Kleidung. Die Tür öffnete er mit der Linken und war wenig später froh über die frische Luft. Leise stieg er die Stufe hinab. Er tauchte in die Stille ein und empfand diese Ruhe schon als unnormal.
Das war keine nächtliche Stille, wie er sie kannte. Hier hatte sich etwas verändert. Von einer Stunde auf die andere, denn vor Mitternacht war ihm diese Stille noch nicht so bedrückend vorgekommen. Jules dachte abermals an die Warnungen seiner Freundin.
Er schüttelte sich, ohne das beklemmende Gefühl zu verlieren. Es blieb in ihm, es war wie eine innere Klammer. Er wusste, dass etwas passiert war, nur erkennen konnte er nichts. Über den abgestellten Wagen und Buden lastete etwas Bedrückendes. Und es kam ihm vor, als wären die tiefen Schatten mit einem bösen Leben erfüllt.
Als eine leichte Windböe über den Platz wehte, hörte er erst das leise Rascheln der Blätter.
Und dann hörte er die Schritte!
Jules blieb auf der Stelle stehen, die Angst saß tief wie ein Stachel in ihm. Vorsichtig schaute er nach links.
Die Gestalt war kaum zu erkennen, obwohl sie in seiner Nähe vorbeihuschte. Ihm kam es vor, als würde er auf der Stelle einfrieren. Er hatte sie erkannt, er wollte ihr etwas nachrufen, seine Stimme versagte jedoch schon im Ansatz.
Nur mit den Augen hatte er Lizzy verfolgen können. Sie hatte gerade die Rückseite des Kuriositätenkabinetts erreicht.
Wenig später hörte er ein leises Knarzen. Eine Tür!
Jules dachte wieder an Lizzys Warnung. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Er spürte den Druck im Magen und auch hinter den Augen. Jules überlegte, ob er ihr nachgehen sollte. Er dachte an die Nächte mit ihr und glaubte fest daran, dass es in dieser Nacht dazu sicher nicht mehr kommen würde. Aber er wollte wenigstens mit Lizzy reden.
Er bückte sich und holte ein Taschentuch und ein Feuerzeug hervor, dessen kleine, flackernde Flamme er dicht neben seine rechte Handfläche hielt. Er wollte diese Schmiere endlich identifizieren.
Es war Blut!
Plötzlich ekelte er sich. Das Blut war beinahe schon geronnen, und er konnte auch die dunklen Haare darin sehen. Dieses Blut hatte sich in Lizzys Bett befunden. Wie war es dorthin gelangt? War es Lizzys Blut? War sie schwer verletzt? Konnte er ihr helfen?
Vielleicht hatte sie nicht länger in ihrem Wagen bleiben können und ein Versteck gesucht? Und im Kuriositätenkabinett würde sie kaum jemand vermuten.
Hatte Jules bisher noch gezögert, so sollte sich dies sehr schnell ändern. Ein Zögern gab es nicht mehr, er nahm denselben Weg wie Lizzy und war froh, dass er sich hier auskannte.
Im Gegensatz zur Vorderseite des Baus war die Rückseite nicht mit bunten Bildern bemalt, sondern nicht mehr als eine dunkle Holzfläche, die zudem muffig und feucht roch.
Erneut stockte Jules einen Moment vor der Tür, hinter der im Gegensatz zu jener, die zu Lizzys Wohnwagen führte, etwas Fremdes, ja Unheimliches zu liegen schien.
Er hatte einen trockenen Mund bekommen. Seine innere Stimme sagte ihm, dass es Wahnsinn war, was er da tat, aber irgendwann kam man an einen Punkt, an dem man sich entscheiden musste.
Und Jules hatte sich entschieden.
Er würde den Weg gehen. Wegen Lizzy. Für Lizzy. Er würde über seinen Schatten springen, und es kam ihm vor wie die erste Mutprobe seines Lebens. Er musste lächeln. Dabei verkrampfte er sich.
Wenn Lizzy von innen abgeschlossen hatte, würde er sich zurückziehen. Das hatte er sich vorgenommen, und irgendwie hoffte er beinahe, dass dies zutraf.
Sie hatte nicht abgeschlossen.
Jules öffnete die Tür. Er hörte das Knarren jetzt deutlicher und bekam eine Gänsehaut, als er den Schritt in das unbekannte, fremde und feindselige Dunkel machte.
Er sah überhaupt nichts. Schlagartig fühlte er sich gefangen. So musste es jemandem gehen, der lebendig begraben worden war.
Er dachte an Lizzy und erinnerte sich daran, dass er ihr einmal vorgeschlagen hatte, dieses Kabinett zu besuchen. Aber sie hatte das strikt abgelehnt. Jetzt wusste er, dass sie recht hatte.
Dieser Ort war gefährlich. Trotzdem ging Jules Vangard weiter. Liebe macht bekanntlich blind. Und manchmal kann sie auch tödlich sein ...
✰
Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein Mensch bin, der gern früh zu Bett geht, zumeist vor Mitternacht, und sich darüber freut, tief und fest zu schlafen und am nächsten Morgen mit einem guten Gefühl und erfrischt aufzuwachen.
Das klappte zwar nicht immer, schließlich ist der Mensch keine Maschine, aber in der Regel hatte ich keine Schlafprobleme.
Leider hatte sich das jetzt geändert!
In den vergangenen drei Nächten hatte ich sehr unruhig geschlafen, wohl bedingt durch einen Traum, den ich nicht einordnen konnte, über den ich aber mit meinem Freund Suko gesprochen hatte. Der aber hatte nur ratlos die Schultern gezuckt und mir so zu verstehen gegeben, dass ich mit diesem Problem allein fertig werden müsste.
Am vierten Abend glaubte ich nicht mehr an einen Zufall. Auch deshalb nicht, weil sich der Traum intensiviert hatte und ich mit immer mehr Details konfrontiert worden war. Ich hatte über eine Lösung nachgedacht und war auch zu einem Ergebnis gekommen. Dieser Traum musste als Botschaft verstanden werden!
Eine Botschaft an mich – doch von wem?
Das war die Frage, der ich nachgehen musste, nur kam ich mit Überlegungen nicht weit, denn die Hauptfigur des Traumes war mir unbekannt.
Doch schon beim dritten Mal hatten sich mehrere Details herauskristallisiert, und ich wartete voller Spannung auf den vierten Traum. Ich hatte das Gefühl, dass er der entscheidende werden würde, und ich war bereits tagsüber ziemlich aufgeregt.
Ich hatte mir einen Tag im Büro auserbeten, um gewisse Dinge zu ordnen. Ich wollte Rechnungen aufarbeiten und mal wieder mit Glenda Perkins reden, musste aber schnell feststellen, dass ich überhaupt nicht bei der Sache, sondern in Gedanken bereits bei dem kommenden Traum war.
Das spürte Glenda. Sie schlug mir vor, meine Zelte vorzeitig abzubrechen und nach Hause zu gehen. Alles andere wäre sinnlos gewesen, und ich stimmte ihr zu.
So verließ ich am späten Nachmittag das Büro, wobei mir Suko noch ›androhte‹, am Abend vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen.
Das tat er dann auch.
Und ich war froh, ihn zu sehen, denn die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Natürlich hätte ich mich bereits ins Bett legen können, bloß fühlte ich mich längst noch nicht müde genug.
Ich wurde nervös, was Suko sich nicht erklären konnte.
»Du hast eben eine andere Erziehung hinter dir«, bemerkte ich.
»Stimmt, John. Manchmal ist es gut, wenn jemand die alten asiatischen Weisheiten nicht vergisst. Sie geben dir die Kraft, um die Gefühle ordnen zu können.«
»Da muss ich wohl noch viel üben.«
Suko schaute mir lächelnd zu, wie ich im Zimmer umhertigerte. Zum wiederholten Male grübelte ich, welchen Sinn dieser Traum gehabt haben könnte. Er war wie ein weit von mir entferntes Gebilde gewesen, nicht zu greifen, auch nicht beim Näherkommen, denn immer, wenn ich das Gefühl hatte, ihn mit meinen Gedanken erfassen zu können, glitt ich doch wieder nur ins Leere.
Auch ich lächelte nun, als ich Sukos Gesichtsausdruck sah. Mein Freund schien sich mehr Sorgen um meinen Zustand machen als ich selbst das tat.
»Was hast du?«
»Ich beobachte dich.«
»Ja, das sehe ich.«
»Und ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
»Rück raus damit!«
»Sollen wir irgendwo hingehen und eine Kleinigkeit essen? Zum Italiener oder zum Chinesen ...«
»Du hast Hunger.«
»Stimmt. Da ich nicht gern allein im Lokal sitze, wollte ich dich fragen, ob du mich begleitest.«
Ich nahm in einem Sessel Platz.
»Nein, Suko, ich bleibe hier. Nimm es nicht persönlich, aber ich wäre heute kein guter Unterhalter. Außerdem habe ich kaum Hunger. Ich müsste mich dazu zwingen, überhaupt einen Happen zu essen. Ist lieb gemeint, aber ich passe.«
»Dachte ich mir.«
»Ich komme später sicher darauf zurück, Suko. Gib mir einige Tage Zeit, bis diese Sache vorbei ist.«
»Eine Sache, in die du dich viel zu tief hineingekniet hast, John. Du musst alles lockerer nehmen.«
Ich schaute ihn zweifelnd an. »Würdest du das tun? Einfach locker nehmen?«
»Klar.«
Ich verzog die Lippen.
»Das, mein Lieber, glaube ich dir nun nicht. Du würdest ebenso wie ich über die bleiche Gestalt nachdenken, die immer wieder erscheint, um dich zu warnen. Sie ist ja da, sie ist plötzlich präsent, und ich kann ihr nicht entkommen.«
»Willst du es denn?«
»Nein. Ich möchte herausfinden, was sie von mir will. Das ist kein normaler Traum, Suko. Ich vergleiche ihn mit einem Puzzle. Jede Nacht kommt ein Teil hinzu. Wenn ich heute Nacht wieder träume, wird das Puzzle fertig sein. Und ich werde Bescheid wissen.«
»Dessen bist du dir sicher?«
»Auf jeden Fall.«
Suko wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, aber es ist dein Traum. Ich an deiner Stelle würde vielleicht anders denken und die Lösung von einer anderen Seite her suchen.«
»Von welcher, bitte?«
Suko winkte ab. »Das habe ich dir doch schon gesagt. Es wäre möglich, dass es etwas in deiner Vergangenheit gibt, was diesen Traum gewissermaßen gesponsert hat.«
»Toll gesprochen.«
»Dabei bleibe ich auch. Der Traum lässt sich bestimmt auf etwas zurückführen, an das du heute noch gar nicht denkst.«
»Der Meinung bin ich auch. Ich denke da an einen Fall.«
»Gut.« Er grinste. »An welchen?«
»Keine Ahnung.«
»Sag das nicht, John. Es müsste ein Fall sein, der nur dich allein etwas angeht. Eine ganz persönliche Sache, denke ich, mit der deine Freunde nichts zu tun haben.«
Er ließ mir Zeit zum Nachdenken, und ich nickte. »Ja, da kannst du schon recht haben.«
»Meine ich doch.«
»Trotzdem bleibe ich skeptisch. Ich bekomme ihn nicht in den Griff. Und persönliche Fälle – Himmel!« Ich hob die Schultern. »Soll ich jetzt alle durchgehen?«
»Wäre eine Möglichkeit, aber nicht effizient.«
»Eben.«
Suko sprach weiter, und er unterstrich seine Worte durch Handbewegungen.
»Es ist ja nicht gesagt, dass der Traum mit Dingen zusammenhängt, die du schon erlebt hast. Es kann etwas sehr Persönliches sein, das tief in deinem Innern vergraben ist. Du weißt selbst, dass die Seele des Menschen das Rätselhafteste ist, das man sich auf der Welt vorstellen kann. Neben dem Gehirn natürlich.«
»Seele«, murmelte ich.
»Wobei wir beim Thema wären.«
»Soll ich weit zurückgehen, nicht mehr in der Gegenwart bleiben und tief in die Vergangenheit tauchen?«