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Will Mallmann alias Dracula II hatte es geschafft. Luzifer selbst hatte ihm Pate gestanden bei der Gründung seines neuen Reichs, der Vampirwelt. Eine kalte, tödliche Welt und ein Hort des Bösen, in den Mallmann nun die Menschen lockte. Auch mich holte er, mein Blut sollte sein Trank werden. Und tatsächlich war ich ihm und seiner Helferin Assunga wehrlos ausgeliefert. Nie zuvor waren meine Chancen geringer gewesen ...
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Vampirwelt
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Vampirwelt
von Jason Dark
Will Mallmann alias Dracula II hatte es geschafft. Luzifer selbst hatte ihm Pate gestanden bei der Gründung seines neuen Reichs, der Vampirwelt. Eine kalte, tödliche Welt und ein Hort des Bösen, in den Mallmann nun die Menschen lockte. Auch mich holte er, mein Blut sollte sein Trank werden. Und tatsächlich war ich ihm und seiner Helferin Assunga wehrlos ausgeliefert. Nie zuvor waren meine Chancen geringer gewesen ...
»Tommy!«
Der angesprochene Moderator, Tom Hayer, schaute hoch, als er die Stimme hörte. »Was gibt's denn?«
»Zwanzig Sekunden! Hast du noch einen Wunsch?«
Durch die Scheibe sah Tom die drei grinsenden Gesichter. Es waren seine Kollegen. Der Regisseur der Sendung, der Tontechniker und dessen Assistent.
»Keinen.«
Sie wollten ihn aufziehen, das war klar. Tom Hayer starrte den roten Mikrofonkopf an, der wie ein eingefrorener Blutstropfen auf der Halterung saß. »Doch, ich habe noch einen Wunsch«, korrigierte er sich, während er auf die Studiouhr schaute.
»Raus damit!«
»Ihr könnt mich mal alle kreuzweise ...« Die nächsten Worte musste er verschlucken, da genau in diesem Moment das Rotlicht aufleuchtete. Er war gleich auf Sendung.
Hayer rückte den Kopfhörer in die richtige Position und wollte seine Hörer begrüßen. Wie jeden Tag. Ein lockerer Spruch wurde erwartet.
Diesmal aber blieb er Tom im Hals stecken, denn der Moderator erlebte ein nie gekanntes Grauen!
✰
Wie mehrere Blitzschläge zugleich trafen ihn die Schmerzen. Sie waren nicht zu kontrollieren, sie wuchteten sich von verschiedenen Seiten in seinen Kopf, und sie waren so schlimm, dass er sie nicht mal beschreiben konnte. Für einen Augenblick saß er da wie erstarrt. Als wäre er auf dem Sitz festgefroren. Er hatte den Mund weit aufgerissen, die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen. Er konnte auch keinen Atem mehr holen, die Starre und die unerträglichen Schmerzen verhinderten es.
Seine drei Kollegen beobachteten ihn genau. Sie hatten noch nicht richtig mitbekommen, was sich da abspielte. In den folgenden Sekunden sollten sie es merken.
Toms Schreie wären mit »furchtbar« nur unzureichend beschrieben gewesen. Es waren Urlaute, wilde, schreckliche Signale, übertourig und schrill, und sie liefen über den Sender. Zumindest so lange, bis der Regisseur eingriff und Musik einspielte. Seine Kollegen waren bleich wie gestrichene Kirchenwände, während Tom Hayer noch immer in dem Studio saß und gellend schrie.
Plötzlich schüttelte er den Kopf. Der Kopfhörer rutschte ihm bis auf die Schulter und blieb dort hängen. Sein Mund stand weit offen. Speichel lief über die Unterlippe und rann als glänzender Faden über Kinn und Hals.
Seine Schreie waren noch immer zu hören, nur klangen sie jetzt nicht mehr so abgehackt, sondern wie eine Sirene.
Das Schlimmste aber folgte noch.
Blut spritzte plötzlich aus seinen Ohren, verteilte sich im Studio und klatschte gegen die schallgeschützten Wände, auf denen dicke Flecken zurückblieben.
Blut schoss auch aus dem Mund des jungen Mannes und aus der Nase, während der Schrei zu einem Wimmern geworden war, das nur allmählich verklang.
Als der Regisseur die Studiotür aufriss, achtete er nicht auf das Blut, nur auf den Mann, der sehr langsam zur Seite kippte. Gerade langsam genug, um ihn auffangen zu können, bevor er hart auf den Boden aufgeschlagen wäre.
Tom lag in den Armen des anderen. »Einen Arzt, verdammt!«, schrie der Regisseur. Er zitterte, holte stoßweise Luft und wusste nicht einmal, ob er nicht längst einen Toten festhielt.
So etwas hatte er noch nie erlebt, das würde er auch nicht mehr erleben. Er konnte sich keinen Reim auf die Geschichte machen. Schließlich war Tom Hayer völlig in Ordnung gewesen.
Jetzt das.
Inzwischen hatten sich mehrere Personen versammelt. Der Chef vom Dienst drängte sich in das Studio. Er sah das Blut, er starrte blicklos auf die beiden jungen Männer und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Wie die anderen, begriff auch er nichts, gar nichts ...
✰
Manchmal gibt es Zufälle im Leben, die begreift man nicht. Ich bin ein Mensch, der im Prinzip nicht an den Zufall glaubt, ihn aber auch nicht völlig ausschließen mag. Natürlich war ich nicht der Typ, der den Zufall mathematisch berechnen konnte – so etwas gibt es ja auch –, aber in diesem Fall sah ich ihn ohnehin eher als Bestimmung an.
Aber der Reihe nach.
Es war Sommer, ein kühler Sommer mit viel Regen. Heiß war es dagegen im Frühjahr gewesen.
Die Menschen sehnten sich nach Sonne. Immer wieder schielten sie gen Himmel oder hörten den Wetterbericht, in der Hoffnung, dass man ihnen mehr Sonne in Aussicht stellen würde.
Und es gab solche Tage.
Zwischendurch heiterte es immer wieder auf, wenn auch nur für wenige Stunden. Diese Zeit musste genutzt werden. Besonders von den Gartenfreunden, dazu zählten auch die Conollys. Hin und wieder bekamen sie Lust, ein Gartenfest zu veranstalten. Das wurde dann immer groß geplant. Sheila gab sich viel Mühe bei den Vorbereitungen, in diesem verregneten Juli aber musste jeder improvisieren, auch sie. Und so konnten die Einladungen nur sehr kurzfristig erfolgen.
Da die kleinen Feste immer etwas länger dauerten, war das Wochenende ideal. Und an einem solchen Freitag, an dem eigentlich alles passte, wollten die Conollys nun zuschlagen.
Jane Collins und Sarah Goldwyn hatten keine Zeit. Sie waren für einige Tage weggefahren. Die Horror-Oma wollte Verwandte besuchen, die irgendwo in der Nähe von Bristol lebten, und hatte Jane gebeten, sie dorthin zu fahren.
Wer blieb?
Suko, Glenda Perkins und ich.
Ein freies Weekend. Auch das gab es bei uns. Eine dämonenlose Zeit zumindest für einige Tage, wo sich die Gedanken einmal nicht um den Schrecken drehten, den diese Geschöpfe verbreiteten.
Bill und Sheila wollten es bei der geringen Personenzahl aber nicht bewenden lassen. Sie hatten zusätzlich Nachbarn eingeladen, die allerdings erst gegen Abend eintreffen wollten, da sie am Nachmittag anderweitig beschäftigt gewesen waren.
Im Gegensatz zu Suko und mir.
Schon am Mittag waren wir aus dem Büro geschlichen, hatten uns umgezogen – der leichte »Bieranzug« war Vorschrift –, und uns anschließend auf den Weg zu den Conollys gemacht.
Suko, der nichts trinken wollte, fuhr. Ich wusste um die Qualität der Bowle, die Sheila immer perfekt zubereitete, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Und ein kühles Bier tat bei diesem Wetter ja ebenfalls sehr gut.
Beide waren wir bester Laune, als wir bei den Conollys eintrafen – Glenda Perkins war bereits dort. Ein herrliches Wetter war wie aus dem Nichts entstanden. Über uns ein strahlendblauer Himmel, der mit nichts erkennen ließ, dass er vor Kurzem noch von dicken Regenwolken gesäumt war. Das hier war ein Sommertag zum Sündigen.
Und danach sah Glenda auch aus. Sie trug ein luftiges rotes Kleidchen mit weißen Punkten, und der Rocksaum schwang wie eine Glocke über ihren Knien.
»Na?«, fragte sie zur Begrüßung und schwenkte ihr Glas, in dem sich die Bowle befand.
»Ohhh«, sagte ich nur.
»Wieso ohhh?«
»Du siehst ja super aus.«
Glenda knurrte mich an. »Wer das so sagt wie du, John Sinclair, dem kann ich einfach kein Wort glauben. Ich kenne dich einfach zu lange. Du hast es mal wieder übertrieben.«
»Habe ich das?«, fragte ich Suko.
»Nein ...«
»Ihr beide steckt doch unter einer Decke. Und den da kannst du gleich dazu stecken«. Sie deutete auf Bill und fügte dann noch hinzu: »Als einzige Unterstützung habe ich Sheila ...«
»Wo ist sie denn?«, fragte ich.
»In der Küche«, antwortete Bill. Er reichte mir ein Glas. »Zuerst einmal ein kräftiges Cheers. Ich freue mich, dass es noch geklappt hat.«
Suko trank ebenfalls ein Bier. Es sollte an diesem Tag das erste und auch das letzte für ihn sein.
Glenda schaute uns lächelnd zu. Ihre Augen strahlten dabei, auch sie freute sich auf den Abend, der sicherlich lustig und unterhaltsam werden würde, zumal der Wettergott versprochen hatte, keinen Regen zu schicken.
Ich stellte das Glas zur Seite und nickte Bill zu. »Du hast dich ja mächtig in Unkosten gestürzt«, sagte ich.
»Aber immer.«
»Und deine Frau ist nicht hier.«
»Sie wartet auf dich in der Küche.«
»Dann werde ich sie besuchen.«
»Wo steckt denn Johnny?«, fragte Suko.
»Unser Sohn ist unterwegs.« Bill hob die Schultern. »Schließlich sind Ferien. Er und ein Freund haben sich eine preiswerte Bahnkarte gekauft, mit der sie kreuz und quer durch Europa reisen können. Vielleicht läuft er jetzt in Frankreich, Germany oder Italien herum. Ich habe keine Ahnung. Sein bisher letzter Anruf hat uns aus Brüssel erreicht.«
»Hat er denn Nadine inzwischen vergessen?«
»Nein, Suko, das nicht. Aber er hat sich daran gewöhnt, dass sie nicht mehr zur Familie gehört. Wie wir alle eben, aber das weißt du ja selbst.«
Ich hatte nur mehr die letzten Reste des Gesprächs mitbekommen, weil ich mich bereits auf dem Weg zur Küche befand. Ich erschreckte Sheila, die der Tür den Rücken zugewandt hatte. Als sie mein Bellen hörte, fuhr sie aus ihrer gebückten Haltung hoch.
Ich lächelte sie an.
»Du, John!«
»Wer sonst?«
Sie legte ihre Hand aufs Herz. »Das hätte ich mir auch denken können. Wer anders kann schon auf diese Art und Weise bei uns hereinschneien?«
Ich ging auf sie zu. Wir küssten uns auf die Wangen. »Toll, dass du gekommen bist.«
»Ein Sommerfest bei euch muss ich einfach mitmachen.«
»Das meine ich auch.«
Sheila war damit beschäftigt gewesen, noch einige Salate herzurichten. Als ich meine Blicke über all die Leckereien hinweggleiten ließ, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Es war einfach ein Genuss, denn ich wusste ja, welch gute Köchin Sheila war.
»Wann ist es denn so weit?«
»Du musst dich noch gedulden, John.«
Ich bettelte auf raffinierte Art und Weise. »Schließlich habe ich am Mittag nichts gegessen.«
Sheila schmunzelte und nickte mir zu. »Okay, ja, du bekommst, was du willst.« Aus dem Kühlschrank holte sie einen Teller, auf dem kleine Rollmöpse lagen. Gerade für einen Bissen gut genug. »Iss!«
»Toll, danke.« Da man bekanntlich auf einem Fuß nicht stehen kann, nahm ich zwei. Ich kehrte zu den anderen zurück, wo Glenda sofort anfing zu sticheln.
»Frag ihn doch mal, Bill, was er so lange in der Küche gemacht hat.«
»Soll ich?«
Suko gab die Antwort. »Gegessen. Er kaut ja noch immer.«
Das stimmte. Ich schluckte den letzten Bissen runter und hob die Schultern. »Sheila hat eben ein Herz für einsame Junggesellen. Sie kann sie nicht leiden sehen.«
»Zumindest nicht, wenn sie hungrig sind.«
»Fisch will schwimmen«, sagte Bill.
»Dann brauche ich noch ein Bier.«
»Ich hole es dir.«
»Lass mal, das mache ich selbst.« Das kleine Fass stand auf einem Tisch, und ich schaute zu, wie das herrliche Pils ins Glas strömte.
Der Garten der Conollys war nicht sehr groß, doch für die Gartenfeste war er gerade richtig. Sie waren immer etwas Besonderes. Wenn es dämmerte, schaltete Bill stets die Lichterketten ein, die dann den Garten illuminierten.
Ich merkte, wie die Spannung des Tages von mir abfiel. Das war wie eine zweite Haut, die man abstreifen konnte. Diese Umgebung tat einfach gut, sie war für die Seele wie eine besonders intensive Streicheleinheit. Ich dachte daran, dass ich meine freien Wochenenden oft in meiner Wohnung verbrachte, wo ich mich eigentlich nie so richtig entspannen konnte. Da war diese Umgebung schon etwas anderes, und als die Krönung sah ich das Pils an, das so wunderbar schaumig das Glas füllte und einen sehr festen »Feldwebel« bekam.
Mit dem gefüllten Glas näherte ich mich der Sitzgruppe, wo Glenda, Bill und Suko bereits ihre Plätze gefunden hatten. Auch Sheila kam, lachte und begrüßte Suko.
»Bleibst du jetzt bei uns?«, fragte Bill.
»Ja.« Sie setzte sich.
Ich saß für mein Leben gern an einem Sommertag unter Bäumen. Sonnenschirme lehnte ich ab. Das war nichts Natürliches, ebenso wenig wie die meist vor und den Lokalen aufgestellten Plastikstühle, auf denen man regelmäßig festklebte – im Gegensatz zu denen von Bill, die aus Holz bestanden.
Es war gemütlich, im Kreis der Freunde zu sitzen, und ich ließ die Seele baumeln.
Bill hatte im Garten auch ein Radio aufgestellt. Die Musik störte nicht, sie war nicht zu schrill, sondern melodiös und bildete den idealen Background.
Wir sprachen über dies und das, und im Nu waren dreißig Minuten vorbei. Mein Glas war jetzt leer. Traurig blickte ich auf die Schaumreste, die an der Innenwand nach unten liefen. »Ein leeres Glas ist wie eine Suppe ohne Salz«, bemerkte ich.
»Schon verstanden«, sagte Bill. »Ich hole was zu trinken.«
Sheila hob ebenfalls ihr Glas. »Und mich solltest du auch nicht vergessen.«
»Sehr zu Diensten, Madam.«
Wir mussten lachen und schauten Bill nach. Ich streckte die Beine aus, den Kopf hatte ich zurückgelegt, die Augen nur mehr halb geöffnet. Um mich herum schwamm die Welt in grünen und goldgelben Tönen. Es hatte sich ein Teppich gebildet, der wie ein Fleckenmuster wirkte.
Eine wunderbare Welt für sich, ein Kleinod, das ich ausgiebig genießen wollte.
Es blieb beim Vorsatz.
Die wunderbare Atmosphäre wurde urplötzlich zerstört – durch einen Schrei, der so furchtbar war, dass man ihn nicht einmal beschreiben konnte ...
✰
Das war wie der viel zitierte Schlag mit dem Hammer, und ich war der erste, der in die Höhe schnellte.
Vorbei war es mit der Ruhe und der Entspannung. Brutal hatte man mich in die Wirklichkeit zurückgeholt. Für einen Moment stand ich etwas benommen vor meinem Stuhl, dann erst schaute ich mich um, um erkennen zu können, wer diesen Schrei ausgestoßen hatte.
Keiner von uns.
Bill stand an der Zapfanlage in gebückter Haltung und wirkte wie eingefroren. Sheila hatte die Hand vor ihr Gesicht gepresst, und nur ihre großen Augen waren zu sehen.
Glenda blickte starr ins Leere, während Suko ebenfalls vor seinem Sitzmöbel stand.
»Das war keiner von uns«, flüsterte er.
»Wer dann?«
»Im Radio, John!«
Ich schaute auf den viereckigen Kasten, der in diesem Moment schwieg. Der Schrei war verklungen, sein Echo allerdings wetterte jetzt noch in meinen Ohren nach, und den anderen erging es sicherlich nicht anders. Dieser schreckliche Laut hatte unsere Stimmung buchstäblich massakriert, wir kamen nicht mehr zurecht und erschraken abermals, als wir plötzlich Musik hörten, die jetzt aus den beiden Lautsprechern drang.
Musik, die nicht beruhigte, sondern aufputschte: Michael Jackson intonierte »Thriller«.
Bill war zurückgekommen. Er stellte die gefüllten Gläser hin und schaute uns der Reihe nach an. Wir schwiegen. Da er Suko und mich kannte und auch unsere Blicke gut zu deuten wusste, wiegelte er sofort ab. »Der Schrei geht uns nichts an. Der ist aus dem Radio gedrungen. Er war nicht im Garten.«
»Stimmt.« Ich nickte.
»Deshalb sollten wir uns die Stimmung nicht verderben lassen.«
Sheila rieb mit den Handflächen über ihre nackten Arme, die eine Gänsehaut bekommen hatten. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt. Dieser Schrei war so schrecklich echt, und ich sehe auch kein Motiv für ihn. Er klang urplötzlich auf, da war zuvor keine Ansage, und ich sage euch, dass er echt gewesen ist und kein Spaß dahintersteckt.« Sie nickte heftig. »Kein Spaß.«
»Wer sollte denn geschrien haben?«, fragte ich.
Sie hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wirklich nicht. Vielleicht der Moderator?«
»Einfach so?«
»Ja, Bill.«
»Glaube ich nicht«, sagte Glenda. »Wenn jemand so schreit, dann, weil er von irrsinnigen Schmerzen gequält wird, denke ich.« Sie schaute mich an. »Was sagst du dazu, John? Lass hören!«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Nichts?«
»Im Prinzip gebe ich dir recht, Glenda. Allerdings will mir auch kein Motiv in den Sinn.«
»Dito«, fügte Bill hinzu.
Wir waren ratlos. Es gab für uns einfach kein Motiv, und ich konnte mir auch keine Radiosendung am Nachmittag vorstellen, in der ein derartiger Schrei zum Programm gehörte. Wenn, dann war so etwas mehr für den Abend, wo hin und wieder Grusel-Hörspiele gesendet wurden.
Sheila hob die Arme und ließ sie wieder fallen. Ihre Hände klatschten auf die Oberschenkel. »Wir sollten uns das nicht so zu Herzen nehmen«, sagte sie. »Das muss ein Versehen gewesen sein. Oder vielleicht hat sich doch jemand einen üblen Spaß erlaubt.«
»Wer macht denn so was?«, fragte Bill.
»Keine Ahnung.«
»Bist du auch der Meinung, dass es ein Spaß gewesen ist, John?«
Ich blickte den Reporter an.
»Los, deine ehrliche Meinung!«
»Er klang sehr echt.«
»Also kein Spaß?«
»Nein.«
Sheila regte sich etwas auf. »Jetzt sag nicht, dass du uns verlässt und zu diesem Sender fahren willst.«
Ich hob beide Hände. »Nein, um Himmels willen. Ich habe mich auf den Tag hier gefreut.«
»Das meine ich auch.«
Glenda Perkins klatschte in die Hände. »Wenn einer von euch jetzt noch ein Trauergesicht zieht und über dieses Geräusch nachdenkt, werfe ich ihn eigenhändig in den Pool.«
»O ja!«, rief Bill. »Springst du hinterher?«
»Was willst du denn mit Glenda im Pool?«, fragte Sheila.
»Da würde mir schon was einfallen.«
»Ha, ha, das glaube ich.«
Um es kurz zu machen. Es wurde noch ein schöner Nachmittag, dem ein noch schönerer Abend folgte. Wir amüsierten uns köstlich, und erst gegen drei Uhr morgens verließen wir die Conollys. Glenda und ich waren leicht angeheitert. Suko hatte sein Versprechen gehalten und war bei alkoholfreien Getränken geblieben. Als wir neben dem BMW standen, lehnte sich Glenda an mich und strich mit der flachen Hand über meine Brust.
»Mal ehrlich, John, ich will nicht, dass Suko extra noch bei mir vorbeifährt.«
»Klar«. Ich grinste. »Mein Bett ist breit genug.«
Sie küsste mich. »Genau das habe ich gemeint, John ...«
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Die Ärzte hatten getan, was sie konnten, um das Leben von Tommy Hayer zu retten. Sie hatten es geschafft, aber sie standen vor einem Rätsel.
Das Blut war ihm aus den Augen, der Nase und den Ohren geströmt, er hätte also verletzt sein müssen. Das war er auch, aber ganz anders, als die Ärzte es kannten.
Er war verletzt und trotzdem in Ordnung. Er hatte geblutet, er war in eine furchtbare Lage hineingeraten, sein Schmerz musste höllisch gewesen sein, doch mit seinem Kopf war nichts passiert. Kein Gerät zeigte bei den folgenden Messungen Anomalien. Bei ihm lief alles völlig normal. Die Hirnströme hatten die gleiche Stärke wie immer. Es war einfach nicht zu fassen, und unter den Ärzten herrschte Ratlosigkeit.
Sie hatten den Patienten in ein Einzelzimmer gelegt und hielten ihn über die Monitore unter Kontrolle. Dem jungen Mann ging es gut. Er hatte den Blutverlust überstanden, er konnte normal denken und reden, was das Rätsel noch vergrößerte. Nichts war in seinem Kopf geplatzt, keine Ader, es hatte kein Blutgerinnsel gegeben, und je mehr die Fachleute darüber sprachen, desto mehr wunderten sie sich auch.
Zweimal erschienen die Ärzte tagsüber zur Visite. Zwischendurch kamen die Krankenschwestern und schauten nach Tom. Ihm ging es gut, er aß, er trank, er wollte weg von den Apparaten, aber die Fachleute waren anderer Meinung. Nach der abendlichen Visite ließen sie ihn wieder allein, und Tom Hayer starrte zum Fenster, das noch im hellen Licht der Sommersonne lag.
Natürlich dachte er über sein Schicksal nach. Immer wieder überlegte er, wie so etwas hatte möglich sein können. Urplötzlich war dieser irrsinnige Schmerz über ihn gekommen, hatte ihn gelähmt, dann bewusstlos gemacht, und er war schließlich erst im Krankenhaus wieder aufgewacht.
Dazwischen hatte es eine Zeit der Leere gegeben – dachte er zumindest zunächst. Aber ganz so leer war die Zeit dann doch nicht gewesen. Da hatte es etwas gegeben, über das er einfach intensiver nachdenken musste.
Ein Erlebnis?
Tom war froh, allein zu sein. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend einen Rückblick zu halten, und er wollte über gewisse Dinge nachdenken.
Da war etwas gewesen ... eine andere Welt ... Erinnerungsfetzen durchfluteten ihn ... Düsternis ... nur Düsternis ... oder ...?
Nein, er sah etwas.
Tief aus seinem Bewusstsein stieg etwas an die Oberfläche und formte sich zu einem Bild. Tommy Hayer erlebte jetzt die Welt, die bisher in ihm vergraben gewesen war. Eine Welt, die sich zwischen dem Eintreten der Bewusstlosigkeit und seinem Erwachen wie ein Film in ihm festgefressen hatte und nun allmählich klarer wurde.
Die ersten Bilder erschienen.
Sie waren erschreckend ...
✰
Losgelöst von seinem Körper und trotzdem noch in ihm, schwebte er durch eine fremde Welt. Eine Welt des Grauens, der unheimlichen Gestalten und der bedrückenden Düsternis.
Sie war so kalt! Nicht sein Körper empfand das, sondern seine Seele. Er wanderte durch diese tiefe Schwärze, die weit über ihm einen grauen Schimmer annahm. Dort sah er einen hellen Streifen, der zum Horizont hin abfiel, und in diesem Streifen bewegten sich dunkle, große Vögel.
Es konnten Geier sein, vielleicht auch Adler, aber sie gaben ihm trotzdem Mut, denn ihre Existenz deutete auf Leben hin. Demnach war diese Welt wohl doch nicht ganz tot.
Wohin er seine Schritte aber auch lenkte, es blieb einzig und allein die Dunkelheit übrig. Nach rechts, nach links, nach vorn oder hinten, nur diese tiefe Schwärze.
Also bewegte er sich auf den grauen Schimmer zu. Er schaute dabei nicht auf den Weg, denn es gab keinen. Nur schwarze Erde in einer Welt, in der kein Lichtschein Hoffnung gab.
Genau diese Hoffnungslosigkeit war es, die ihn so müde machte. Das tiefe Gefühl des Verlassenseins und des Stürzens in einen unendlich tiefen Schacht.
Seltsamerweise funktionierte sein Gehirn bestens. Er konnte nachdenken, er konnte sich etwas vorstellen, und er konnte sich auch an sein normales Leben erinnern.
Dort war einiges nicht mehr in Ordnung. Der Job hatte ihm immer Spaß gemacht, jetzt aber widerte er ihn plötzlich an, und Tommy fühlte eine seltsame Sehnsucht, die ihn ausgerechnet in diese dunkle Welt hineinzog. Er wollte mehr über sie wissen. Sie war ihm plötzlich vertrauter als die, aus der er stammte.