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"Jetzt spielen, wo mich Wahnsinn umkrallet! Hüll Dich in Tand nur, und schminke Dein Antlitz ... lache, Bajazzo!" Berühmte Worte aus einer berühmten Oper. Aber es gab jemanden, der "Pagliacci" ("Der Bajazzo"), das Meisterwerk von Ruggero Leoncavallo, geschändet hatte.
Nicht "Lache, Bajazzo", sondern "Töte, Bajazzo!" lautete jetzt die Aufforderung. Und ein mordlüsterner Clown, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war, befolgte sie aufs Wort. Im Schutze seiner Maske mordete er nun seine Opfer - und ich, John Sinclair, jagte ihn. Anfangs. Dann aber war auch über mich das Urteil gesprochen, und es hieß: Töte, Bajazzo!
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Töte, Bajazzo!
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Töte, Bajazzo!
von Jason Dark
»Jetzt spielen, wo mich Wahnsinn umkrallet! Hüll Dich in Tand nur und schminke Dein Antlitz ... lache, Bajazzo!« Berühmte Worte aus einer berühmten Oper. Aber es gab jemanden, der »Pagliacci« (»Der Bajazzo«), das Meisterwerk von Ruggero Leoncavallo, geschändet hatte.
Nicht »Lache, Bajazzo«, sondern »Töte, Bajazzo!« lautete jetzt die Aufforderung. Und ein mordlüsterner Clown, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war, befolgte sie aufs Wort. Im Schutze seiner Maske mordete er nun seine Opfer – und ich, John Sinclair, jagte ihn. Anfangs. Dann aber war auch über mich das Urteil gesprochen und es hieß: »Töte, Bajazzo!«
Finsternis lag wie Pech über der Bühne. Hinzu kam die Stille, die so aufdringlich wirkte, als sollte sie nie wieder von der Bühne verschwinden. Sie lag zwischen dem Jetzt und dem Schluss der letzten Vorstellung, die mit einem Bühnenmord beendet worden war.
Alle Mitwirkenden waren gegangen. Die Solisten, die Mitglieder des Chors, die Mitarbeiter des technischen Personals und natürlich auch die Zuschauer.
Stille – tief und bedrückend.
Schwärze – lichtlos, dicht wie Samt.
Normal – oder?
Zumindest bis der Fleck erschien!
Er war nicht groß, nur ein Ausschnitt in der Dunkelheit, einem faserigen Lappen gleich, der nicht auf einer Stelle blieb. Er wanderte, er schwebte, er tanzte, ohne dabei einen Laut abzugeben.
Die fahle Lichtinsel irrte durch die Finsternis. Ein gespenstischer Tanz über dem Bühnenboden. Und die Insel wurde heller und nahm Gestalt an, auch wenn sie nur ein Fleck blieb.
Ungefähr dort, wo sich die Mitte der Bühne befand, war er zur Ruhe gekommen. Dann wanderte er langsam, sehr langsam nach vorn, der Rampe entgegen. Je näher er kam, umso mehr veränderte er sich. Plötzlich zeigte er Konturen auch in seinem Innern.
Aus dem flachen geisterhaften Gegenstand kristallisierte sich ein Gesicht heraus. Dieses Gesicht nahm nicht die Farbe der normalen Haut an, es blieb bleich.
Dicht vor der Rampe blieb der Schatten stehen. Noch schaute das Gesicht starr geradeaus, dann aber bewegte es sich nach vorn, und zwar in einer Haltung, als wäre ein Künstler dabei, sich vor einem Publikum zu verbeugen.
Licht, Beifall, Menschen, die sich von ihren Sitzen erhoben hatten und stehend Applaus spendeten. Ein herrliches Gefühl für einen Künstler, der dieses Geräusch aufsaugte, wie einen zweiten Atem, und sich darüber freute. Er schwebte auf den Wogen des Beifalls, und seine Erschöpfung verwandelte sich in Euphorie.
Das Gesicht verzog sich jetzt zu einem breiten Lächeln.
Die Augenbrauen, die im scharfen Kontrast zu der Bleiche des Gesichts standen, bildeten plötzlich ein Wellenmuster. Der untere Teil des Gesichts wirkte im selben Augenblick dunkel.
Es war vorbei!
Urplötzlich gab es keinen Beifall mehr, keinen rauschenden Applaus, der Vorhang fiel, die Zuschauer gingen, und das Gesicht veränderte seinen Ausdruck.
Kein Gefühl des Glücks mehr, tiefe Trauer und Betroffenheit zeichneten die Züge.
Das Zucken der Haut, die Qual in den dunklen Augen, das unkontrollierte Zwinkern, als versuchte das Gesicht, die Tränen zurückzuhalten.
Es war nicht mehr zu schaffen.
An den unteren Augenrändern entstanden die ersten Tränen. Schwarze Perlen, die langsam an den Wangen entlangrannen und dabei graue Striche hinterließen.
Rechts und links der Mundwinkel liefen sie weiter, als wären sie dabei, dem bleichen Gesicht eine bestimmte Schminke aufzusetzen. Weinen und Trauer, der Schatten durchlebte alles, und er hatte seinen Mund weit geöffnet.
Kein Schrei verließ die Kehle. Nur die Haut um den Mund herum zuckte.
Es war vorbei. Aus.
Und das Gesicht verzerrte sich. Die Tränen waren verschwunden. Ein anderer Ausdruck hatte die Kontrolle übernommen. Bösartigkeit, Hass!
Als wäre beides von der Hölle selbst entflammt worden. Der Beifall war nur mehr Erinnerung, all die lachenden Gesichter verschwunden.
Eines aber blieb. Der Hass!
✰
Zum ersten Mal hatte Mirella Dalera das weiße Gesicht in Rom gesehen. Damals, nach der Vorstellung, es war noch herrlich warm gewesen, und sie hatte mit Freunden nahe der Spanischen Treppe im Freien gesessen und den Erfolg des Gastspiels gefeiert, als das Gesicht plötzlich in ihrer Nähe erschienen war.
Einfach so, wie aus dem Nichts.
Es hatte sie angeschaut, ohne von den anderen wahrgenommen worden zu sein, auch wenn Mirella versucht hatte, ihre Freunde darauf aufmerksam zu machen. Aber die hatten sie nur erstaunt angeschaut und gelacht.
Das Gesicht war bald wieder verschwunden, wenn auch nicht in der Erinnerung der Sängerin. Immer wieder hatte sie daran denken müssen, besonders an diesem bewussten Abend, und sie hatte sich von den Freunden sehr früh verabschiedet, war in ihrem Hotelzimmer verschwunden, hatte sich dort auf das Bett gelegt und darüber nachgedacht, ob dieser Schatten nun Wirklichkeit gewesen oder nur ein Produkt ihrer Einbildung gewesen war.
Sie wusste es nicht. So sehr sie auch überlegt hatte, zu einem Ergebnis war sie nicht gekommen. Es gab einfach keine Erklärung, und sie hatte sich schließlich gefragt, ob sie vielleicht doch einfach nur überarbeitet war und ihr die Nerven einen Streich gespielt hatten.
Beides konnte Mirella Dalera nicht von der Hand weisen. Sie war eine gefeierte Sängerin, die es sich leisten konnte, keinem festen Ensemble anzugehören. Sie gastierte in der ganzen Welt. In Rom ebenso wie in München oder Paris. Auch an der Met war sie bereits aufgetreten, und das schon mit knapp dreißig.
Ihr Marktwert stieg.
Damit verbunden waren aber auch Stress und ein Leben, das praktisch ohne feste Beziehungen oder Bindungen ablief. Proben, Vorstellungen, Hotels, das war wie ein Rausch, der sie als breiter Strom umgab und wieder forttrug.
Schließlich hatte sie auch das Gesicht vergessen, denn neue Anforderungen nahmen sie voll und ganz in Anspruch.
Mailand hatte sie gerufen.
Die Scala!
Ein Traum vieler Sänger. Mirella Dalera hatte ihn schon einige Male erleben dürfen, und sie war jedes Mal von den Zuschauern gefeiert worden. Das war wichtig, denn die Oper in Mailand stellte die Weichen für die Zukunft. Fiel man dort durch, sank auch der Marktwert, man raste in die Tiefe. Sie kannte Kollegen, die sich anschließend nie mehr richtig gefangen hatten und nur mehr über Provinzbühnen tingelten. Das Gewerbe war eben gnadenlos, es verzieh schlechte Leistungen nicht. Mirella aber konnte durchatmen, sogar jubeln, denn man hatte sie zum zweiten Mal gerufen.
Wieder sollte sie eine große Rolle singen.
Es war die Nedda in der Oper ›Der Bajazzo‹. Eine tolle Partie, die nicht nur Anforderungen an sie als Sängerin stellte, sondern auch schauspielerisches Talent erforderte. Eine echte Herausforderung, auch wenn diese Oper zu den kürzeren Werken zählte, aber man musste alles geben.
Premiere im Herbst. Man hatte nur wenig Zeit für die Proben angesetzt. Gerade einmal zwei Wochen, doch wer hier auftrat, musste auch dieses Problem meistern.
Es waren die Besten der Besten. Bei diesen Sängern stimmte alles, zudem kannte man sich, wusste über Stärken und Schwächen der Partner genau Bescheid.
Drei Proben hatte Mirella Dalera bereits hinter sich, und am Abend war sie froh gewesen, als sie sich ins Hotel zurückziehen konnte. Das hatte in den ersten Tagen auch geklappt, später jedoch war die Presse erschienen. Die Reporter hatten sich Zeit gelassen und die ersten Proben abgewartet. Was dann kam, musste ebenfalls durchgestanden und durchlitten werden, denn PR gehörte nun mal zum Geschäft.
In der Hotelhalle hatte die Dalera ihre Interviews gegeben und natürlich nicht vergessen zu sagen, wie stolz und glücklich sie darüber sei, in Mailand zu sein.
Eine Lüge, die ihr leicht über die Lippen kam. Tatsächlich hasste sie diese Stadt in der Lombardei, denn Mailand bedeutete oft genug Nebel und feuchtes Regenwetter. Bedeutete Chaos und Verkehr, war beliebt bei Schaumachern, die sich für den Nabel zumindest Italiens hielten, auch wenn sie im Verkehr erstickten.
Mailand war nicht schön.
Sie hasste Mailand, aber das konnte sie nicht sagen, denn die Reporter hätten sie fertiggemacht, für die gab es keine wichtigere Stadt als Mailand.
Was südlich von Mailand begann, war Diaspora, nur der Norden zählte, die Mitte konnte man leicht vergessen – Rom eingeschlossen – und den Süden erst recht.
Dabei stammte Mirella Dalera aus dem Süden. Sie war ein Kind der Sonne und sogar südlich von Neapel geboren worden, in einem kleinen Dorf in Sichtweite des Meeres.
Eine wunderbare Kindheit hatte sie gehabt, behütet, geborgen. Ihr Vater war der Bürgermeister des Ortes gewesen. Not hatten die Daleras nie durchleiden müssen.
Und jetzt?
Es war vorbei mit der Familie, den Freunden, der Ruhe, der herrlichen Landschaft und dem Meer. Die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, die sie als Kind gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, weil diese für sie natürlich gewesen waren, vermisste sie jetzt schon. Mirella stellte sich immer öfter vor, dass sie am Strand sitzen und aufs Meer hinausschauen würde. Sie hatte sich fest vorgenommen, das alles im nächsten Jahr zu erleben. Da wollte sie in ihrer Heimat Urlaub machen und richtig ausspannen. Keine Hektik, keinen Stress, keine Auftritte, einfach nur leben.
Auch dieser Tag war wieder hart gewesen. Mirella kannte die Regeln, denn sie waren überall gleich. Relativ langsam begannen die Proben, aber sie steigerten sich, bis sie schließlich an einem Punkt angelangt waren, wo die Mitwirkenden die Nerven behalten mussten. Es reichte schließlich schon, wenn der Regisseur sie verlor.
Der vergangene Tag hatte etwas davon gezeigt. Da hatte dem Regisseur nicht gefallen, wie der Bajazzo spielte, und der gute Mann hatte einen Wutanfall bekommen. Als Sänger war Dario Coppa zwar gut, als Schauspieler jedoch weniger, das wusste Mirella, auch wenn sie ihre Meinung nie offen geäußert hatte.
Der Regisseur und der Sänger hatten sich schließlich geeinigt. Coppa musste in den folgenden Tagen bei einem renommierten Lehrer Schauspielunterricht nehmen. Ausgerechnet am frühen Morgen, was überhaupt nicht Coppas Zeit war.
Die Dalera war müde aus dem Taxi gestiegen und hatte mit schleppenden Schritten die Hotelhalle betreten. Den mit Pelz gefütterten weiten Mantel hatte sie lässig über die Schultern gehängt, ebenso die Tasche. Sie trug Jeans, einen beigen Kaschmir-Pullover, und ihr schwarzes Haar umrahmte den Kopf wie eine wolkige Flut.
Eine Diva betrat die Halle des Luxus-Hotels, und es gab nicht wenige Blicke, die sich auf sie richteten. Glücklicherweise keine Kamera-Objektive, denn an diesem Tag war die Presse ausgeschlossen. Die Sängerin ging durch die große Marmorhalle zur Rezeption und bat um ihren Zimmerschlüssel, den man ihr mit einem strahlenden Lächeln aushändigte. Etwas müde lächelte sie zurück, drehte sich um und überlegte, ob sie sofort hoch in ihr Zimmer fahren oder lieber an der Bar noch einen Drink nehmen sollte.
Sie entschied sich für den Drink.
In der Bar war es angenehm ruhig. Das Klavierspiel aus der Halle erreichte sie nur gedämpft. Hier konnte sie aufatmen, und im sanften Licht entspannen.
Zwei Tische waren belegt, aber die Theke war ziemlich frei. Im Hintergrund saß ein blonder Mann und nuckelte an seinem Drink. Er schaute sie interessiert an, lächelte knapp, und sie lächelte zurück.
Nicht weit von dem einsamen Gast entfernt blieb sie stehen, ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten und legte ihn auf den Nachbarhocker.
Dabei betrachtete sie sich im Spiegel.
Abgespannt sah sie aus. Leichte Ringe zeichneten die Haut unter den Augen. Die Lippen wirkten blass, aber sie wollte sich jetzt nicht schminken. Ihre Nase sah gut aus nach der letzten Korrektur, denn schon als Kind war sie der Meinung gewesen, eine zu große Nase zu haben. Jetzt war sie zufrieden.
Mirella hatte noch nicht richtig Platz genommen, da wieselte der Keeper herbei.
»Ich wünsche einen guten Abend. Wie immer, Signora?«
»Ja, einen Martini.«
»Sofort.«
Sie stieß die Luft aus, der Drink wurde schnell serviert, und die Sängerin leerte das Glas mit einem Zug. Danach zerkaute sie langsam die grüne Olive, bestellte dann ein Bier, denn sie hatte Durst bekommen.
Man servierte es in der Flasche. Der Keeper schenkte ein, er lächelte, aber er stellte keine Fragen, wofür ihm die Diva dankbar war, denn sie wollte nicht über ihren Job reden, der turnte sowieso durch ihren Kopf. Sie bedankte sich mit einem Nicken, hob das Glas an und trank den ersten Schluck. Dabei spürte sie den Schaum an der Oberlippe, schloss die Augen, trank weiter und ließ ihre Gedanken fließen. Sie wollte einfach nur entspannen, und das Bier rann wie ein kalter Strom die Kehle hinab, was eigentlich nicht gut für die Stimme war, doch das kümmerte sie an diesem Abend nicht.
Als Mirella das Glas absetzte, hatte auch der blonde Gast sein Bierglas geleert. Er bestellte eine neue Flasche, lächelte zu Mirella hinüber, und sie nickte.
»Erschöpft?«, fragte der Mann.
»Ein wenig.«
»Da tut ein Schluck immer gut.«
»Das können Sie sagen.«
Es war ein banaler Dialog gewesen, er hatte ihr trotzdem gutgetan nach der Hektik des Tages. Mirella ertappte sich dabei, dass sie über diesen Mann nachdachte. Er war Ausländer, und sie überlegte, aus welchem Land er wohl stammte.
War er aus den Staaten, England, vielleicht aus Deutschland?
Sie wusste es nicht, schaute in den Spiegel der Bar, der sich über den Hälsen der Flaschen erhob, entdeckte wieder ihr eigenes Spiegelbild, das ihr aber seltsam verschwommen vorkam.
Die Sängerin zwinkerte.
Hatte sie was mit den Augen?
Nein, sicherlich nicht. Bis zum heutigen Tag war alles normal gewesen. Warum, zum Henker sah sie sich selbst nur so verschwommen? Das musste einen Grund haben. Wieder sah sie hin.
Das Bild blieb – und es hatte sich gleichzeitig verändert, denn es war etwas hinzugekommen.
Hinter ihr, in der Spiegelfläche gefangen, entdeckte sie ein Gebilde, das es eigentlich nicht geben durfte.
Der Schreck saß tief, denn Mirella hatte erkannt, um was es sich handelte.
Es war das Gesicht!
✰
Die Sängerin blieb sitzen, ohne sich überhaupt nur zu rühren. Sie spürte ihre eingefrorenen Gesichtszüge, sie war nicht zu Eis geworden, aber durch ihren Körper lief der eisige Strom, den die Angst ausgelöst hatte.
Noch immer saß sie in der Bar, zugleich kam sie sich vor, als hätte man sie aus diesem Raum fortgetragen und in die Scheinwelt der Bühne gestellt, die nichts mit der Realität zu tun hatte.
Warum war das Gesicht erschienen?
Diese bleiche Maske, die auf die Bühne gepasst hätte, aber in der Wirklichkeit nichts verloren hatte.
Mirella konnte nicht erkennen, wie tief sich das Gesicht in den Spiegel hineingedrückt hatte. Der Begriff Tiefe zerfloss sowieso in ihrem Kopf, denn damit konnte sie nichts anfangen. Es war einfach da, und es wirkte so leblos wie eine Maske.
Umgeben von schwarzen Haaren, an den beiden Rändern und in der unteren Hälfte durch einen dunklen Bart gekennzeichnet, versehen mit sehr dunklen Augenbrauen, die wie erstarrte Wellen dort lagen, wo die Stirn begann, mit einem Mund, der offenstand, und einem Blick, der sich nur auf sie konzentrierte. Augen, die sich nicht bewegten, plötzlich aber anfingen zu zucken und aussahen, als würden sie aufquellen und sich mit schwarzer Tinte füllen, die schließlich von den Augenhöhlen nicht mehr aufgenommen werden konnte. Erste Tropfen rannen hervor.
Tropfen wie Blut ...
Aber es war kein Blut, denn Blut hätte rot ausgesehen und nicht so tiefschwarz.
Ein Gesicht, das weinte, das seine Starrheit verlor und in Trauer zuckte.
Der Dalera kam es vor, als würde ihr eine kalte Hand ständig über den Rücken fahren. Die Kaschmir-Wolle wärmte auch nicht mehr.
Sie hatte Angst. Es war bereits die zweite Begegnung mit dem Gesicht. Bei der ersten hatte sie noch an eine Täuschung geglaubt, an eine Explosion der überreizten Nerven, diesmal allerdings wollte sie nicht daran glauben. Heute war alles anders. Das konnte nicht normal sein, es musste einfach etwas zu bedeuten haben.
Das Gesicht blieb.
So genau und scharf, als wäre es aus dieser Spiegelfläche herausgeschnitten worden. Und noch immer rannen Tränen aus den Augen und liefen in grauschwarzen Streifen über die Wangen zum Mund. Sie versickerten in dem schwarzen Bart, und dabei zuckten die Lippen.
Der Sängerin kam es so vor, als wollte ihr der Mund eine Botschaft übermitteln, die jedoch lautlos blieb.
Angst krallte sich in ihrem Innern fest. Man tat ihr nichts Böses, doch sie spürte, dass dieses Gesicht etwas Böses ausstrahlte.
Es war da.
Es hatte sich verzerrt. Der Hass wurde plötzlich zu seinem Partner. Er ließ sich nicht aufhalten, er strömte ihr aus dem Spiegel entgegen.
Hass, kalter Hass.
Tod!
Und plötzlich zerplatzte das Gesicht im Spiegel. Eine dunkelrote Wolke aus Blut überschwemmte alles.
Mirella Dalera schrie auf. Sie zuckte vom Barhocker in die Höhe und sank einen Moment später auf ihm zusammen. Mit einer unkontrollierten Handbewegung fegte sie ihr Bierglas von der Theke. Sie hörte noch das Klirren, als es zerbrach, dann sackte sie hinein in den dunklen Nebel ...
✰
Als Mirella Dalera wieder zu sich kam und die Augen aufschlug, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Sie hörte eine beruhigende Männerstimme, die vor ihr aufklang, aber hinter einer Wolke aus Dunst oder Nebel verschwunden war. Sie verstand auch nicht, was gesagt wurde, erst nach einer Weile lichtete sich der Nebel, sodass sie mehr erkennen konnte.
Jetzt wusste sie auch, wer da gesprochen hatte. Es war der blonde Mann gewesen, der ebenfalls an der Bar gesessen hatte. Und sie ärgerte sich im selben Moment, dass sie bewusstlos geworden war und sich so hatte gehen lassen.
»Prego, Signora, möchten Sie, dass wir einen Arzt holen?« Die Worte klangen besorgt, aber bei Mirella erreichten sie das glatte Gegenteil. Sie putschten sie auf.
»Nein, keinen Arzt!«
»Es wäre besser, wenn Sie ...«
»Bitte nicht.« Sie fasste sich. Dabei stellte sie fest, dass sie noch immer auf dem Hocker saß, und sie warf auch einen Blick in den Spiegel.
Es war alles normal. Es zeigte sich kein Gesicht dort, sie sah auch kein Blut, und dieser Gedanke erinnerte sie wieder an die letzten Augenblicke kurz vor dem Schwindel.
Da war der Spiegel voller Blut gewesen. Wenn es gestimmt hätte, dann hätte es jetzt auch dort sein müssen, aber es hatte doch gestimmt. Sie hatte es sich nicht eingebildet, zum Henker.
Nichts war davon zu sehen.
Sie sah sich selbst, und sie erkannte dabei, wie bleich sie geworden war. »O Gott, das ist ja schrecklich«, flüsterte sie. »Wie ich aussehe, schlimm!«
»Sie waren für kurze Zeit bewusstlos«, sagte der Mann und lächelte sie von der Seite her an.
»Ach ja ...? Wie lange denn?«
»Höchstens eine Minute.«
Mirella nickte und erkundigte sich dann, ob sie ein Glas Wasser haben könnte.
Der Keeper wieselte davon. Innerhalb kurzer Zeit brachte er das Gewünschte. Mit einer langsamen Bewegung strich die Sängerin ihr Haar zurück. Dabei verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, und auf der Stirn bildete sich ein faltiges Muster. Sie trank zwei Schlucke, stellte das Glas wieder weg und drehte sich auf dem Barhocker sitzend nach links, wo der blonde Mann stand, der sich um sie so besorgt gezeigt hatte.
»Da muss ich mich wohl bei Ihnen bedanken, Signore.«
»Warum?«
»Sie haben mich davor bewahrt, zu Boden zu stürzen.«
»Aber nicht doch. Ich habe Sie nicht einmal großartig zu halten brauchen. In diesem kurzen Moment der Schwäche sind Sie nach vorn gefallen, zur Bar hin, es hat nur ein zerstörtes Glas gegeben, das ist alles.«
»Si«, sagte sie sinnierend. »Das ist alles.« Sie betrachtete wieder den Spiegel und bekam eine Gänsehaut, was der blonde Mann an ihrer Seite sehr genau registrierte. Er war es dann auch, der die Initiative ergriff und sie ablenkte.
»Sie gestatten, dass ich mich vorstelle, Signora?«
»Bitte.«
»Ich heiße Sinclair, John Sinclair ...«
✰
Nach diesen Worten musste ich lächeln, weil ich ihr etwas erstauntes Gesicht sah. »Haben Sie was, Signora?«
»Nein, doch«, verbesserte sie sich. »Ich habe gewusst, dass Sie kein Italiener sind und habe jetzt die Bestätigung.«
»Ich bin Engländer.«
»London?«
»Richtig.«
Die Sängerin trank einen kleinen Schluck Wasser und geriet danach ins Schwärmen. »London ist eine wunderbare Stadt. Ein Ort mit Atmosphäre. Künstler können sich dort wohl fühlen. Ich habe in London gastiert und bin in den freien Tagen des Öfteren durch das Westend gegangen, wo das Leben pulsiert, wo Ideen und Trends entstehen, die einfach unbeschreiblich sind.«
»Danke für das Kompliment.«
»So sehen Sie Ihre Stadt sicherlich nicht?«
»Nein, nicht direkt, aber das tut wohl keiner, wenn er an seine eigene Stadt denkt.«
»Ich schon.« Sie nickte gelassen.
»Sie sind auch Künstlerin?«, erkundigte ich mich.
In einer etwas theatralischen Geste breitete sie die Arme aus. »Pardon, Signore Sinclair, wenn ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Sängerin, mein Name ist Mirella Dalera.«
»Oper?«
»Si.«
»Dann habe ich Ihren Namen schon gelesen und auch gehört. Die Scala ist schon gespannt auf die Aufführung des ›Bajazzo‹.«
»Nicht nur Sie, Signore Sinclair. Ganz Mailand vibriert. Das ist hier immer so. Es gibt drei Dinge, die für die Region wichtig sind. Die Mode, die Innovationen der Designer und die Oper. Davon lebt diese Stadt, und es sind auch genau diese drei Dinge, die immer wieder zahlreiche Touristen anziehen, obwohl Mailand für mich nicht italienisch ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht.«
»Was ist denn Italien für Sie?«, fragte ich.
Mirella antwortete mit schwärmerisch klingender Stimme. »Der Süden, Signore Sinclair. Einfach nur der Süden. Sie glauben gar nicht, wie herrlich es sich unter der Sonne leben lässt.«
»Das klingt, als wären Sie dort aufgewachsen?«
»Bin ich auch.« Sie lächelte mich an und legte eine Hand auf die meine. Ich sah, dass sie sehr schlanke Finger hatte. An einem funkelte ein Diamantring. »Sie haben nicht zufällig mit diesem Geschäft zu tun?«
»Sie sprechen von der Oper?«
»Ja, die meine ich.«
»Da muss ich Sie enttäuschen, mich haben andere Dinge in diese Stadt geführt.«
Mirella Dalera lachte auf. »Das tut gut, das tut mir wirklich gut. Ich bin froh darüber.«
»Wieso denn?«
Sie zog ihre Hand wieder zurück und schaute dabei auf den leichten Schauer, den sie auf meinen Fingern hinterlassen hatte. »Es kann nerven, wenn man ausschließlich damit konfrontiert wird. Am Morgen die Proben, die sich bis zum Mittag hinziehen. Am Nachmittag die Presse und immer die gleichen Fragen. Wie ist die Stimme, Signora? Wie fühlen Sie sich? Kommen Sie mit dem Klima zurecht? Wie finden Sie Ihre Partner? Was macht Ihnen am meisten Spaß? Wohin führt Sie das nächste Engagement? Immer das gleiche.«
»Das kann ich verstehen. Sie sind gut. Und wer gut ist, der wird der Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Sie sind eben von einem öffentlichen Interesse.«
»Sehr schön gesagt.« Sie strahlte mich an und nickte. »Ich merke schon, dass Ihnen meine Sprache etwas Probleme bereitet. Wenn Sie wollen, können wir uns auch in Englisch unterhalten.«
»Gern.«
»Gut, tun wir das.« Wieder strich die Sängerin ihr Haar zurück. »Da Sie sich so besorgt um mich gekümmert haben, möchte ich mich erkenntlich zeigen.«
»Da bin ich gespannt.«