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Zwei Morde, verübt an einem Priester und an einem Rechtsanwalt, brachten Horace F. Sinclair, meinen Vater, auf die Spur einer gigantischen Verschwörung.
Was im Mittelalter seinen Anfang genommen hatte, wirkte bis heute nach. Verginius, einem Spross der mächtigen Borgia-Familie, war damals der Thron des Papstes verwehrt worden. Aber mit Hilfe des Bösen hatte Verginius die Zeiten überlebt, und skrupellose Finanzjongleure wollten ihn nun für ihre Zwecke einspannen. Nur einer stand diesen Plänen jetzt noch im Weg, das Oberhaupt der katholischen Kirche.
Deshalb lautete der Auftrag an Verginius: Töte den Papst, und nimm dir seinen Platz ...
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Der Knochen-Mönch
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Der Knochen-Mönch
von Jason Dark
Zwei Morde, verübt an einem Priester und an einem Rechtsanwalt, brachten Horace F. Sinclair, meinen Vater, auf die Spur einer gigantischen Verschwörung.
Was im Mittelalter seinen Anfang genommen hatte, wirkte bis heute nach. Verginius, einem Spross der mächtigen Borgia-Familie, war damals der Thron des Papstes verwehrt worden. Aber mit Hilfe des Bösen hatte Verginius die Zeiten überlebt, und skrupellose Finanzjongleure wollten ihn nun für ihre Zwecke einspannen. Nur einer stand diesen Plänen jetzt noch im Weg, das Oberhaupt der katholischen Kirche.
Deshalb lautete der Auftrag an Verginius: Töte den Papst, und nimm dir seinen Platz ...
Je tiefer die drei Vermummten stiegen, desto schlechter wurde die Luft. Ein gewaltiger Schwamm schien den Sauerstoff aufzusaugen, und stattdessen schob sich ein anderer Geruch in den Vordergrund. Alt, widerlich, wie verfaultes Fleisch. Als lägen in den Ecken zahlreiche Körper, die der Verwesung anheimgefallen waren.
Die Vermummten sprachen nicht. Einer von ihnen trug eine Fackel. Das Licht tanzte im Rhythmus der Bewegungen, es glitt über die rauen Wände, es berührte den Boden, es zuckte über jahrhundertealten Staub hinweg und wurde begleitet von einer übel riechenden Fahne aus Qualm. Sie wehte in die Augen der beiden anderen Männer, die ihre Kapuzen so tief wie möglich ins Gesicht gezogen hatten.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Es gab keinen Absatz, der die Reihe der Stufen unterbrach. Unter den Füßen der drei knirschte der Dreck und wurde zu Staub zerrieben.
Die Tiefe erschien ihnen unendlich, aber sie war es nicht. Als sie sich verengte, weil der linke Mauerrand vorsprang wie ein kantiger, hochstehender Knochen, da hatten es die drei Gestalten geschafft. Der Fackelträger blieb als Erster stehen. Er wartete auf seine beiden Freunde, die sich kurz darauf neben ihn stellten.
Der Mann hielt die Fackel hoch.
Das Licht bewegte sich unter der Decke. Es bildete dort einen großen Fleck. Der Widerschein traf auch die Gesichter der Wartenden, er ließ sie aussehen wie verzerrte Bilder, die von einem Maler mit schnellen Pinselstrichen auf die Leinwand geworfen worden waren.
Sie sahen sich an.
Um die Lippen des Fackelträgers huschte ein Lächeln. Als seine Freunde nickten, zerbrach es.
Der Mann wusste Bescheid.
Er drehte sich um und ging vor. Weit brauchte er nicht zu laufen, denn eine uralte Tür in der Wand versperrte ihm den Weg.
Der Mann wechselte die Fackel in die linke Hand. Den rechten Arm hob er an. Seine Finger waren bereits gekrümmt und auf das Ziel fixiert, das sich in der Mitte der Tür abzeichnete.
Es war eine Klappe. Oder mehr eine Tür in der Tür. Ein knorriger, uralter Holzriegel hielt die Klappe, sonst wäre sie herausgefallen.
»Öffnet!«
Die beiden Männer ließen sich das nicht zweimal sagen. Während der Fackelträger zur Seite trat und ihnen Platz machte, fassten sie den Riegel an und zogen ihn zurück. Noch hielt die Klappe. Staub und Feuchtigkeit hatten im Laufe der Jahrhunderte einen Schmierfilm gebildet, der wie Leim klebte.
»Jetzt!«
Beide zogen zur selben Zeit. Die Klappe löste sich, sie kippte ihnen entgegen, und die Arme der Männer sanken unter dem Gewicht des massiven Holzes nach unten. Sie fiel aber nicht zu Boden, sondern wurde vorsichtig ab gestellt, denn niemand wollte etwas zerstören. Obwohl sie neugierig waren und es sie drängte, überließen die beiden dem Fackelträger den ersten Blick darauf, was hinter der Tür lag.
Mit sehr würdevollen Bewegungen trat er an die Tür heran. Er wusste genau, dass es für ihre Zukunft von größter Bedeutung sein würde, wenn sie wirklich das entdeckten, was sie sich erhofften.
Der Mann gab seine Fackel ab.
Er brauchte sich nicht zu recken, um durch die Öffnung sehen zu können. Er tat es – und stöhnte auf.
»Was ist?«, flüsterte eine Stimme.
Der Beobachter gab keine Antwort. Er sah noch einmal hin, stöhnte aber nicht, sondern lachte jetzt leise. Da wussten auch seine Freunde, dass sie richtig waren. Die folgenden Sekunden erschienen ihnen doppelt so lang, wie sie tatsächlich waren.
Endlich trat der Beobachter zurück und gab damit den Weg frei. Auch die beiden anderen blickten durch die Öffnung. Sie taten es gemeinsam, und sie hielten dabei die Luft an.
Nach einer Weile drehten sie sich um. Die Männer sahen sich an. Sie sagten nichts, nur ihr Atem war zu hören. Er vermischte sich mit dem leise fauchenden Geräusch des Feuers.
»Er ist es!«, sagte der Anführer.
Die anderen beiden nickten.
»Es ist der, der einmal die Macht über die Kirche übernehmen sollte. Und wir drei wissen, was zu tun ist.«
»Ja, er muss sterben!«
»Er wird sterben.«
»Damit er auf seinem Stuhl sitzen und regieren kann. Lasst uns die Vorbereitungen treffen, Freunde ...«
»Soll ich auf Sie warten, Sir? Ich meine, die Gegend ist hier ziemlich einsam. Sie werden so rasch keinen anderen Wagen finden. Und ich warte gern.«
Horace F. Sinclair überlegte, ob er das Angebot des Taxifahrers annehmen sollte. Er entschied sich dagegen. Er wusste nicht, wie lange sein Besuch dauern würde. Zudem war William Cartland sicherlich nicht zu Fuß hier. Er würde ihn dann wieder mitnehmen können, wenn sie eine Lösung gefunden hatten. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich komme schon zurecht.«
»Wie Sie möchten, Sir.«
Horace F. Sinclair holte einen Schein aus der Brieftasche und verzichtete auf das Wechselgeld.
»Oh, danke! Das ist sehr großzügig von Ihnen.«
»Sie waren auch ein guter Fahrer.«
Das Gesicht des dunkelhäutigen Mannes verzog sich zu einem Lächeln. »Es tut gut, wenn ein Fahrgast so etwas sagt.«
»Was wären wir Menschen ohne Lob?« Sinclair schnallte sich los und öffnete den Wagenschlag. Er stieg etwas steifbeinig aus. In seinem Alter spielten die Knochen nicht mehr so mit wie bei einem jüngeren Menschen. Dann stand er neben dem Wagen und schaute zu, wie der Driver sein Auto auf dem kleinen Kirchplatz wendete. Kies knirschte unter den Reifen und spritzte weg.
Horace F. Sinclair schaute dem Taxi so lange nach, bis es nicht mehr zu sehen war. Erst dann drehte er sich langsam um und wandte sich seinem eigentlichen Ziel zu.
Es war die Kirche.
Sie stand einsam in der Gegend, und in dieser winterlichen Zeit wirkte sie noch verlassener. Das mochte an dem grauen Himmel liegen und an den blattlosen Bäumen, die in der Nähe standen. Dunkle Vögel hockten auf den Ästen, um sich auszuruhen.
Es war schon etwas seltsam, dass sich William Cartland gerade diesen Ort als Treffpunkt ausgesucht hatte, aber er hatte darauf bestanden und erklärt, dass sie dort wirklich ungestört sein würden, was unbedingt der Fall sein musste. Denn es ging um eine Information, die so unglaublich war, dass sie niemand glauben würde. Sie musste aber unbedingt weitergegeben werden. Da kannte William Cartland keinen besseren als Horace F. Sinclair, einen alten Freund aus Jugendtagen, dem er vertrauen konnte. Ob die Kirche dabei für ihn eine ganz besondere Bedeutung hatte, wusste Sinclair nicht.
Ihm flößten Kirchen normalerweise Vertrauen ein. Selbst von außen gaben sie ein Gefühl des Schutzes, was jedoch bei dieser Fassade nicht der Fall war.
Es lag nicht allein an dem alten, grauen Gestein oder an der winterlichen Umgebung, hier waren einfach die Strömungen nicht gut, wie der alte Herr fand.
Im Taxi hatte er den Mantel nicht zugeknöpft. Das holte er jetzt nach und stellte auch den Kragen hoch, denn der Wind war kalt. Er wehte aus nördlicher Richtung über das Land hinweg und schien mit unzähligen Totenfingern nach ihm zu greifen und an ihm zu zerren.
Bis auf Horace F. Sinclair war der Kirchplatz leer. Der Kies sah nicht mehr hell aus, er hatte im Laufe der Zeit einen graugrünen Schimmer angenommen. Die kleinen Steinchen stachen bei jedem Schritt in die Sohlen des Mannes.
Sinclair näherte sich der Tür, zu der keine Treppe hochführte. Es war keine große Kirche, wie auch geringen Maße der Fenster zeigten, deren einst bunte Scheiben nun mit einer Staubschicht bedeckt waren.
Er wusste nicht, was William Cartland ihm sagen würde, aber das ungute Gefühl blieb. Sinclair erinnerte sich daran, dass er während des Telefongesprächs gefragt hatte, ob er nicht seinen Sohn John einweihen sollte, das aber hatte Cartland abgelehnt und ihn, wenn überhaupt, auf später vertröstet.
Altes Laub, noch vom letzten Herbst übriggeblieben, wurde vom Wind erfasst, der es raschelnd über den Boden wirbelte. Hinter der Kirche befand sich eine Mauer, das hatte Sinclair während der Anfahrt bereits gesehen. Er musste dem Taxifahrer recht geben, dies hier war in der Tat eine sehr einsame Gegend.
Vor der Tür blieb er stehen. Eingehüllt in den weiten, grauen Mantel und mit dem hochgestellten Kragen glich Horace F. Sinclair einem Dieb, der sich heimlich in ein Haus schleichen wollte. Er verschmolz mit dem Grau der Nische, in die die Kirchentür eingelassen war.
Sinclair hatte seine Lederhandschuhe nicht ausgezogen. Er legte eine Hand auf den Türgriff, drückte mit der Schulter gegen das Holz und spürte den leichten Ruck, als sich die Tür öffnete.
In den Angeln knarzte sie. Das Geräusch hörte sich an, als würde ein Tier stöhnen.
Ein verblüffend weit wirkender Raum öffnete sich dem Eintretenden. Sinclair spürte sofort die besondere Atmosphäre, die ihn umgab, die andersartige Kühle, als läge sie dort so dick wie unsichtbarer Nebel. Er fühlte sich nicht beschützt wie sonst, wenn er eine Kirche betrat. Für Sinclair war dies eine fremde Welt, in der sogar die Zeit stehengeblieben zu sein schien.
Eine sehr stumme Welt, in der die Bewegung eines Menschen störend wirkte. Sinclair wartete, bis sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte, erst dann wandte er sich seinem eigentlichen Ziel zu. Er schaute in den Mittelgang hinein, der die beiden dunklen Bankreihen trennte. In dieser Kirche war auf Pomp und Prunk verzichtet worden. Sie hatte eine nahezu puritanische Ausstrahlung. Weit entfernt stand der Altar. Dort gab eine einzelne Kerze ihr Licht ab, das aussah, als wäre es ein Punkt im All.
Horace F. Sinclair hatte erwartet, seinen Freund William Cartland hier zu treffen, nur konnte er keinen Menschen entdecken. Er befand sich allein in diesem Gotteshaus, förmlich niedergedrückt von der zwischen den Wänden lastenden Stille.
War William noch nicht da? Hatte er sich verspätet? Sinclair dachte darüber nach, und er wunderte sich, denn das war eigentlich nicht Cartlands Art. Auch wenn sie sich lange nicht mehr gesehen hatten, glaubte er daran, dass sich dieser Mann nicht geändert hatte. Gewisse Verhaltensmuster blieben eben bis ins Alter hinein.
Schon bei der Herfahrt hatte der pensionierte Anwalt kein allzu gutes Gefühl gehabt, was sich nun verstärkte und zu einer gewissen Besorgnis auswuchs.
Er hatte den Eindruck, beobachtet zu werden, als er sich Schritt für Schritt durch den Mittelgang bewegte. Er wollte sich überall umsehen. Den Gedanken, nach Cartland zu rufen, hatte er fallen gelassen. Außerdem war da noch etwas, das er sich nicht erklären konnte. Zwar sah er seinen alten Freund nicht, trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, als wäre er hier in seiner Nähe.
Es war ihm anzusehen, wie sehr er unter Spannung stand. Nach jedem Schritt drehte er den Kopf, um in die Bankreihen zu schauen. Der Steinboden hatte für ihn die Härte verloren. Sinclair ging wie auf einem weichen Wasserbett. Die Fenster ließen nicht viel Tageslicht durch, und dieses Zwielicht bildete zahlreiche Schatten innerhalb der Kirche.
Ein Geräusch!
Nicht von ihm verursacht. Es hatte anders geklungen als seine eigenen Schritte.
Der alte Herr blieb stehen und wartete darauf, dass sich das Geräusch wiederholte.
Es blieb still.
Hatte er sich geirrt?
Nein, daran glaubte er nicht. Schließlich stand er unter einem derartig großen Druck, dass er auf alles achtete, was sich in seiner Umgebung abspielte.
Sinclair ging weiter und lauschte dabei auf seinen Herzschlag. Er war lauter als sonst. Jeder Schlag schien eine Warnung zu sein, doch endlich umzukehren und sich nicht dem Schrecken zu stellen.
Je mehr er sich dem Zentrum der Kirche, dem Altar, näherte, umso unwohler fühlte er sich. Äußerlich war ihm nichts anzusehen, vielleicht waren seine Augen etwas geweitet, um besser das graue Dämmerlicht durchdringen zu können.
Die Bänke schwiegen. Die Fenster glotzten wie trübe Spiegel. Die Luft war noch kälter geworden.
Der Grund für seine Unruhe lag in ihm selbst, das stand fest. Er fand sich nur nicht mit seiner Umgebung zurecht. Hier fühlte er sich wie ein Fremdkörper, der in ein dreidimensionales Bild hineingedrückt worden war. Dass er sich durch eine Kirche bewegte, daran dachte er nicht mehr. Ihm fehlte schlichtweg die innere Überzeugung, dass er sich in einem Gotteshaus aufhielt. Er fühlte sich fremd hier.
Sinclair versuchte, dies alles zu fassen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Und schließlich war er sicher, dass diese Kirche entweiht worden war.
Entweiht ...
Das Wort gefiel ihm nicht, auch wenn er sich damit abfinden musste. Wenn ja, wer hatte dieses Gotteshaus entweiht? Bestimmt nicht William Cartland, denn so etwas traute er diesem Mann nicht zu, auch wenn er ihn eine Weile nicht gesehen hatte.
Er dachte an den Pfarrer. Wo lebte der Mann? Vielleicht an einem Ort hinter der Kirche?
Wieder hörte er das Geräusch. Ein seltsames Scharren, nicht sehr laut, als hätte jemand einen Gegenstand über eine glatte Fläche gezogen. Von der linken Seite her, dicht vor ihm. In Sinclairs Kopf drehten sich die Gedanken. Hier musste etwas lauern ...
Er blieb stehen.
Sein Gedankengang war unterbrochen worden. Er hatte seinen Blick nach vorn gerichtet, und der war auf einer bestimmten Stelle des Steinbodens haften geblieben.
Dort, direkt am Zugang einer Bankreihe, zeichnete sich etwas ab. Es war ein großer, dunkler Fleck, schon eine Pfütze, eine schwarze Flüssigkeit, die sich auf dem Boden verteilt hatte.
In unmittelbarer Nähe dieses Flecks war auch das Geräusch aufgeklungen.
Horace F. Sinclair befürchtete Schlimmes. Er wollte nicht über gewisse Dinge nachdenken, die eigentlich auf der Hand lagen. Er wich der Lache aus und schaute in die Bankreihe.
Auf der Sitzfläche lag eine Gestalt.
Sie sah aus, als hätte sie sich zum Schlafen dort hingelegt. Es war ein Mann.
Er trug einen Mantel, der nicht zugeknöpft war. Die eine Hälfte hing über den Rand der Sitzfläche hinweg und berührte den Boden.
Horace F. Sinclair atmete schneller. Schmerzen zuckten wie Stiche durch seinen Kopf. Blutgeruch dampfte ihm entgegen. Er wusste, wer da lag, aber er wollte es genau wissen.
Aus dem Mantel holte er eine dünne Taschenlampe. Als er sie anknipste, zitterte das Licht, und es zitterte weiter, als es über die liegende Gestalt hinwegglitt.
Das Gesicht war so bleich.
Ein Mund, der offenstand, der schmerzverzerrt war. Augen wie gläserne Objekte. Und dann die Wunden am Körper des Mannes! Als hätte jemand mit einem Messer immer wieder auf den Mann eingehackt.
William Cartland hätte tot sein müssen.
Aber er war es nicht, er lebte, denn Horace F. Sinclair hörte sein leises Stöhnen ...
Leben? Konnte jemand mit derartigen Verletzungen noch leben? Sinclair wollte es nicht glauben. Es war unwahrscheinlich, da brauchte er nur an den Blutverlust zu denken, den sein Freund Cartland erlitten hatte. Das Blut hatte sich überall verteilt und war nur zum Teil in die Kleidung gesickert. Er spürte es, als er sich in die Bank hineinschob und mit der rechten Hand das Holz anfasste. Es war glatt und glitschig.
Darauf achtete Sinclair nicht, denn er hatte gesehen, dass Cartland die Augen bewegte. Ein Zwinkern nur, aber gut erkennbar, weil die Pupillen das Restlicht reflektierten.
Tote bewegten sich nicht.
»Will«, keuchte Sinclair. »Mein Gott, Will, was haben sie mit dir gemacht?« Es war dem alten Herrn gelungen, neben der Sitzbank in die Knie zu gehen. Sein Kopf befand sich nahe am Gesicht des Schwerverletzten.
Wieder bewegte Cartland die Augen. Auch seine Lippen zuckten. Er wollte reden, und Sinclair hoffte, dass Will ihn erkannte. »Bitte, ich hole Hilfe, du wirst ...«
»Nein, Horace, nein ...«
»Aber du bist ...«
»Ich stehe vor dem letzten Schritt, Horace, vor dem allerletzten, glaub es mir.« Seine Worte waren schwer zu verstehen. Das Sprechen strengte ihn ungeheuer an. »Ich habe ... ich ... ich habe für meine Sünden gebüßt, aber der Allmächtige hat mir noch die Kraft gegeben, durchzuhalten. Er lässt mich leiden, er hat recht damit. Die Schmerzen sind gnadenlos. Sie sind wie ein Raubtier, das immer mehr von meinem Körper frisst. Aber jetzt bist du da, und das ist gut. Du musst achtgeben, denn ich ... ich muss dir etwas sagen.«
»Das kannst du doch später tun, wenn ich ...«
»Für mich gibt es kein ›später‹ mehr, Horace. Es ist vorbei mit mir. Ich bin dankbar, dass ich noch lebe.«
»Okay, William. Sag, was du sagen willst.«
Cartland legte eine Pause ein. Er musste seine letzten Kräfte sammeln. Dabei bewegte er sich, und Sinclair hörte erneut das Schaben. Es entstand, weil die Füße des Mannes über die Bank schleiften, als wollte sich der Sterbende gegen den Tod. »Ich habe gebüßt. Ich habe so schrecklich gebüßt. Wir waren zu dritt, wir wollten am Rad der Zeit drehen. Die Verschwörung galt ihm ...«
»Welche Verschwörung?«
»Wir wollten alles ändern.«
»Wer seid ihr?«
»Er soll sterben, ein anderer soll auf den Thron.«
»Wer?«
»Alberti und Wallraven.«
»Bitte?«
Auf dem Gesicht des Schwerverletzten lag jetzt ein dichter Schweißfilm. »Du musst sie stoppen.«
»Ich kenne sie nicht.«
»Finde sie.« Cartland ächzte. »Ich ... ich hätte dir gerne noch viel gesagt, aber es ist zu spät. Wir haben es versucht. Ich konnte nicht mitmachen. Ich habe versucht, auszusteigen, als ich ihn sah. Er lebt noch, es gibt ihn, Horace. Es gibt ihn tatsächlich. Er existiert, dabei hätte er tot sein müssen, längst zu Staub zerfallen, aber es ist nicht geschehen. Die Spur ist noch heiß. Wende dich an Driscoll. Pfarrer Driscoll. Er weiß mehr. Er hat auch Angst, aber er ist trotzdem ein mutiger Mann.«
»Worum geht es, William? Bitte!«
»Sie wollen ihn töten. Sie wollen den anderen haben, dem einmal der Thron genommen worden war, weil er ..., weil er der Teufel ... das Böse ... Luzifers Handlan ...«
Die Worte versickerten, und Horace F. Sinclair hockte eingeklemmt in der Bank und fieberte beinahe. Er hatte das Gefühl, Eis geschluckt zu haben. Ihm war innerlich kalt und äußerlich heiß. Was er hier in der Bank gehört hatte, war schwer zu begreifen. Die Worte musste er zunächst einmal in die richtige Reihenfolge bringen, doch so weit war er noch nicht. Sein sterbender Freund hatte gewisse Dinge nur andeuten können, zu mehr war ihm keine Zeit geblieben.
Horace merkte nicht, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Er sah, wie sich sein alter Jugendfreund William Cartland quälte, wie er versuchte, auch jetzt noch dem Knöchernen, der schon dicht über ihm schwebte, ein Schnippchen zu schlagen. Immer wieder setzte er an, um erneut zu reden. Er hatte seinen Mund geöffnet, er saugte noch einmal die Luft in seine Lungen, und vor seinen Augen mussten sich bereits die Nebel befinden, die ein normales Sehen verhinderten. »Warum bist du so weit weg, Horace?«
»Keine Sorge, Will, ich bin noch hier.«
»Aber ... es ist so kalt.«
Sinclair schluckte. Er hatte genug erlebt, um zu wissen, dass der Tod William Cartland schon im Nacken saß. Viel hatte er erfahren, und trotzdem war es zu wenig gewesen. Er musste herausfinden, um wen es letztendlich ging, was und wer das Ziel dieser Verschwörung war.
»Bitte, Will, du wolltest mir etwas sagen. Ich weiß, dass ich dich jetzt quäle, aber versuche es. Was ist Ziel eurer Verschwörung?«
»Mord.«
»An wem?«
»Der höchste soll sterben. Er soll nicht mehr leben. Der andere wartet. Der Vertreter ... Jahrhunderte ... all die Zeit ... im Verlies ... er moderte vor sich hin, aber er ist noch ...
Horace F. Sinclair hörte zu. Er hatte den Kopf gedreht und ihn dem Gesicht des Sterbenden zugewandt. Er wollte keines der letzten Worte des Sterbenden überhören.
William Cartland bewegte die Lippen. Es war mehr ein Zittern, in der Kehle krächzte es, und er schaffte es tatsächlich, noch einen Satz zu sagen.
»Herr, verzeih mir ... Herrgott ... Allmächtiger, ich werde jetzt ... ich bitte dich ...«
Aus, vorbei!
Cartland hatte sich noch einmal aufgebäumt und sogar seinen Kopf in die Höhe gebracht. Sein Blick hatte in der letzten Sekunde seines Lebens ein Strahlen angenommen, wie man es bei einem normalen Menschen nicht sah. Es war schon überirdisch zu nennen, als wäre William Cartland ein Blick in den Himmel vergönnt gewesen.
Und dieses Strahlen blieb auch, als sein Herz nicht mehr schlug. Der Ausdruck zeigte dem trauernden Horace F. Sinclair, dass der Allmächtige seinem Freund verziehen hatte.
Sinclair blieb hocken. Wie lange er in das wachsbleiche Gesicht des Toten starrte, konnte er nicht sagen. Die Zeit war für ihn zweitrangig geworden. Er saß da, schaute in das Gesicht des Toten und sah es trotzdem nicht.
Seine Gedanken waren weit, weit fort. Sie verloren sich in einer Ferne, die er nicht erkennen konnte. Aber sie drehten sich um William Cartland. Er sah sich und ihn, wie sie auf der Uni waren und in einem Hörsaal hockten. Wie sie auf ihren Professor schauten, der ihnen die Juristerei beibrachte und ihnen einmal gesagt hatte, dass aus ihnen beiden nichts werden würde.
Vergangene Jahre, aber in der Erinnerung verwurzelt. Um Sinclairs Lippen hatte sich ein verloren wirkendes Lächeln gelegt. Es war Vergangenheit, es zählte nicht mehr, denn William Cartland war gestorben. Nicht normal, jemand hatte ihn auf eine brutale Art und Weise ermordet.
Ein Killer war geschickt worden!
Dieser Satz riss den alten Herrn aus seinen Erinnerungen. Plötzlich dachte er wieder analytisch. Er sah sich in die Kirche gehen, und er erinnerte sich gut daran, die Blutlache auf dem Boden entdeckt zu haben. Sie hatte geschimmert.
Und wenn eine Blutlache derart schimmerte, konnte es dafür nur einen Grund geben. Sie war ziemlich frisch.
So frisch, dass die Tat noch nicht lange zurückliegen konnte. Das wiederum trieb Sinclair das Blut ins Gesicht. Er fühlte sich mehr als unwohl, denn er führte seinen Gedanken noch weiter. Befand sich der Killer noch in der Nähe?
Horace F. Sinclair hatte das Gefühl, als würde ihm gestoßenes Eis über den Rücken rutschen. Angst war plötzlich da. Wie eine Lohe schoss sie ihm in den Kopf, für einen Moment verlor er die Übersicht, und die Haut auf seinem Rücken zog sich zusammen.
Der Anfall ging vorbei.
Tief durchatmen.
Sich nicht verrückt machen lassen. Er musste die Nerven behalten, denn was der sterbende Freund ihm gesagt hatte, ließ Schlimmes vermuten. Möglicherweise eine Ungeheuerlichkeit, über deren Tragweite er sich noch nicht im Klaren sein konnte. Es deutete auf eine gewaltige Verschwörung hin, die die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern konnte.