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Der sechzehnjährige Gregor Smirnow war der einzige Zeuge gewesen, als ein Komet in einen See gestürzt war. Die anschließende Flutwelle hatte der Junge zwar wie durch ein Wunder überlebt, sein Heimatdorf aber war zur Geisterstadt geworden: Jeder Mensch, jedes Tier war spurlos aus Szwalzin verschwunden.
In seiner großen Not hatte Gregor Hilfe bei Wladimir Golenkow gesucht, unserem Freund, der sich nun wiederum an uns wandte. Umgehend machten Suko und ich uns auf den Weg nach Russland. Dort bekamen wir es mit einer Kraft zu tun, wie sie zerstörerischer und unheimlicher nicht hätte sein können. Der Höllensog war die Rache eines alten Bekannten. Doktor Horror wollte uns ein für alle Mal vernichten ...
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Höllensog
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Höllensog
von Jason Dark
Der sechzehnjährige Gregor Smirnow war der einzige Zeuge gewesen, als ein Komet in einen See gestürzt war. Die anschließende Flutwelle hatte der Junge zwar wie durch ein Wunder überlebt, sein Heimatdorf aber war zur Geisterstadt geworden: Jeder Mensch, jedes Tier war spurlos aus Szwalzin verschwunden.
In seiner großen Not hatte Gregor Hilfe bei Wladimir Golenkow gesucht, unserem Freund, der sich nun wiederum an uns wandte. Umgehend machten Suko und ich uns auf den Weg nach Russland. Dort bekamen wir es mit einer Kraft zu tun, wie sie zerstörerischer und unheimlicher nicht hätte sein können. Der Höllensog war die Rache eines alten Bekannten. Doktor Horror! Er wollte uns ein für alle Mal vernichten ...
In den letzten Wochen war es dermaßen heiß gewesen, dass Gregor sein Dorf verlassen hatte und an das Ufer des Sees gezogen war, um dort zu leben. Er konnte einfach nicht mehr zwischen den Hütten und Häusern leben, wo sich die Hitze staute und drohte, die Menschen zu Dörrfleisch zu machen.
Die Alten blieben, sie winkten nur müde ab, wenn von der Hitze gesprochen wurde. Aber die jungen Leute stöhnten und mussten sich von den Alten anhören lassen, dass sie nichts mehr gewohnt waren.
Aber diese Hitze war wirklich nicht normal, und für manche war sie der Vorbote eines schrecklichen Ereignisses. Ein Ereignis, das viele fürchteten, wobei keiner wusste, um was es sich letztendlich handelte.
»Das Grauen«, sagten die einen und wandten sich schaudernd ab.
»Die Bestrafung der Menschheit«, meinten die anderen in vollem Ernst.
Und wieder andere sprachen von bösen Wesen, die ein Auge auf die Welt geworfen hätten. So gingen die Meinungen auseinander, doch es gab einen Punkt, wo sie sich trafen, und das mussten letztendlich auch die Skeptiker zugeben. Es lag etwas in der Luft, und es verdichtete sich von Nacht zu Nacht und von Tag zu Tag. Es ballte sich über dem See und den Orten zusammen, manchmal wie eine mit Schwefel gefüllte Wolke, dann wieder unsichtbar und nur zu spüren, aber nicht zu sehen.
Gregor kümmerte das nicht.
Er war sechzehn, er hatte Ferien, und wie immer verbrachte er die freie Zeit zu Hause am See. Wenn er am Ufer saß und auf das Wasser schaute, trugen die Wellen seine Träume hinweg in ferne Länder und in die Weiten des Alls.
Er hatte sich eine Hütte nahe des Schilfs gebaut. Mit den Vögeln, Enten und Fischen war er gut Freund. Sie hatten sich an ihn gewöhnt, und er sich an sie.
Er gehörte zu denjenigen, die noch fähig waren, die Tage und auch die Nächte in der Einsamkeit zu genießen. Er brauchte niemand, er fischte, er schaute der Natur zu, und er hing dabei immer seinen großen Träumen nach. Barfuß und zumeist nur mit einer Hose bekleidet verbrachte er die Tage und auch die Nächte. Er hatte sich ein kleines Floß gebaut, und so konnte er sich in seinem Element, dem Wasser, bewegen.
Auch an diesem Abend trieb er in Ufernähe dahin. Der Junge hockte auf seinem Floß. Den Blick hatte er zum Himmel gerichtet, der ihm überhaupt nicht gefallen wollte.
Der Himmel hatte sich verändert!
Das hatte der braunhaarige Krauskopf schon festgestellt, und er hatte darüber nachgedacht.
Die langen Tage und Nächte am See hatten ihm einen gewissen Erfahrungsschatz gebracht. So war es ihm möglich, festzustellen, was auf ihn und die anderen Menschen zukommen würde, wenn sich der Himmel in einer gewissen Art und Weise veränderte.
Dunkle Wolken kündigten zumeist ein Gewitter an. Wenn sie noch einen verschwommenen gelben Rand zeigten, wurde es besonders schlimm.
An diesem Abend waren die Wolken weder dunkel noch richtig hell. Sie waren einfach anders, und sie hatten bei Gregor für eine gewisse Beunruhigung gesorgt.
Einen derartigen Himmel hatte er noch nie gesehen.
Wenn er den gesamten Himmel als eine Insel ansah, dann war dieses Stück eine Insel in der Insel, die so gar nicht zu den übrigen Bildern, die er kannte, passen wollte.
Worauf deutete der Himmel hin?
Auf ein Unwetter. Das musste Gregor eingestehen. Nur auf welches Unwetter? Da gab es auch große Unterschiede. Manche brachten einfach nur sturzflutartigen Regen, andere wiederum waren von Blitzen und Donnern begleitet, und dann gab es auch die Unwetter, die alles mitrissen, was sich ihnen in den Weg stellte.
Auf ein derartiges Unwetter deutete der Himmel hin, und Gregor fand es besser, wenn er so rasch wie möglich zurück zum Ufer stakte. Er tauchte die Stange nicht nur in das Wasser ein, er ließ die Oberfläche auch nicht aus den Augen. Etwas stimmte nicht. Er konnte es am Verhalten der Fische erkennen. Sie zeigten längst nicht ihre abendliche Ruhe, sie waren in die Tiefen des Gewässers abgetaucht, als würden auch sie vor dem herannahenden Unwetter flüchten.
Gregor ruderte schneller. Plötzlich überkam ihn die Angst. Sie war wie eine Lanze, die sich in seine Brust bohrte. Er kam damit nicht mehr zurecht. Etwas hielt ihn gepackt, es waren unsichtbare Hände, die ihn auf seinem Floß festnagelten. Sie kamen aus der Luft, sie bestanden aus Gas und ...
Er schrie!
Nicht vor Schmerzen, sondern vor Überraschung. Gregor hatte den Kopf gedreht, um über den See zu schauen, und er sah dort ein glühendes Etwas aus den Wolken und aus dem Himmel fallen. Es war eine Kugel oder ein ähnlicher Gegenstand, der einen langen Schweif hinter sich herzog. Dieser Schweif brannte, er bestand aus Feuer, und dann landete das Ding im See.
Gregor hatte sich schon immer für viele Dinge interessiert. Er war sehr wissbegierig. So hatte ihm sein Lehrer hin und wieder Bücher aus seinem privaten Besitz überlassen, und diese Bücher hatte Gregor mit großem Interesse gelesen.
Was da aus dem Himmel gefallen war, konnte nur eines sein – ein Meteor! Der Junge wusste nicht, wie groß er war. Er hatte aber gelesen, dass Meteore fürchterliche Krater schlagen und die Erde zum Erbeben bringen konnten.
Gregor schaute hin und dachte auch nicht an die Flutwelle, die ihn möglicherweise bedrohte.
Er war von diesem Naturschauspiel zu sehr fasziniert.
Die Folgen des Einschlags erwischten ihn.
Der See spielte verrückt. Er war zu einem Tier geworden. Zu einem unberechenbaren Raubtier, das sich nach allen Seiten hin ausbreitete.
Gregor bekam große Augen, als er die Mauer sah, die auf ihn zuraste. Eine Mauer, die aus Wasser, Schaum, Lehm, Tieren und Pflanzen bestand – eine Flutwelle!
Sie wütete.
Und Gregor ruderte.
Er wusste, dass er ihr nicht entkommen konnte, aber er wollte es trotzdem versuchen.
Die Angst verlieh ihm gewaltige Kräfte. Mit seinem Stecken bewegte er sich so schnell wie möglich über die Wellen hinweg. Es war ein Rennen gegen die Zeit, ein Tanz auf dem Vulkan. Hinter ihm braute sich eine Hölle zusammen, die mit mörderischer Geschwindigkeit näherkam.
Sein Gesicht hatte sich verändert. Es lebte nicht mehr. Es war zu einem starren Etwas geworden. Gregor stierte nur geradeaus, das Ufer war nah, dort musste er hin, und er merkte, dass etwas in der Nähe seines Bootes geschah.
Das Wasser vibrierte!
Es zitterte. Die Wellen waren wie kleine, schnelle Tiere, die sich bisher noch auf dem Grund des Sees versteckt gehalten hatten, nun aber ihr Opfer wollten.
Gregor paddelte um sein Leben.
Der dichte Gürtel aus Schilf und Strauchwerk war so nah, so herrlich nah und doch so weit entfernt.
Gregor hörte seinen eigenen Schrei, der dann in einem Geräusch unterging, das für ihn völlig neu war. Er dachte noch daran, dass die Alten recht hatten, wenn sie von einer Katastrophe sprachen. Jetzt war sie da, und sie brandete gegen ihn.
Sein primitives Boot wurde in die Höhe gerissen. Gregor konnte sich nicht dagegen wehren.
Das Boot geriet in eine Schräglage, und er kam sich vor wie auf einem Schiff, das den Kräften des Meeres nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Höher und höher ging die Reise. Er hatte den Eindruck, in den düster und schwefelgelb gewordenen Himmel zu fliegen, und plötzlich hatte Gregor den Punkt erreicht, wo alles kippte.
Es ging nicht mehr hoch. Er fiel zurück. Nirgendwo bekam er eine Stange oder einen Balken zu fassen, der ihm hätte Halt geben können. Alles war so schrecklich anders.
Der sechzehnjährige Gregor wurde zu einem regelrechten Spielball der Wellen. Er kam gegen die Gewalten nicht mehr an, die selbst Baumstämme vor sich herschoben. Die Welt um ihn herum hatte sich verändert. Er konnte plötzlich fliegen, das Wasser war für ihn zu einem Sturm geworden, und mächtige Hände hatten ihn gepackt, um ihn weiter und immer weiter vom See wegzuschleudern, hinein in das Land zuerst und dann in die Unendlichkeit des Alls.
Diese Welt ging unter.
Zumindest für Gregor.
Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, wo er nichts, aber auch gar nichts mehr sah und nichts mehr mitbekam.
Der Strudel hatte ihn voll erwischt, mitgerissen wie ein Stück Papier.
So ist also das Sterben, dachte er noch. Dann erloschen auch diese Gedanken ...
Gregor kam wieder zu sich, weil er fror. Die kalte Schnauze eines Tieres schien über seinen Körper zu lecken. Gregor bekam eine Gänsehaut.
Er stöhnte leise.
Er konzentrierte sich auf die Kälte, wobei er sich darüber wunderte, dass es im Sommer so kalt sein konnte.
Es war doch Sommer – oder?
Er hob den Kopf an.
Etwas klebte an seinem Hals. Aber nicht nur dort, auch im Gesicht, an den Armen und Beinen, eigentlich überall, und diese Kälte verschwand nicht mehr.
Sie war wie Leim ...
Nein, kein Leim, es war etwas anderes. Etwas, das auch seine Augen bedeckte, die Hände ebenfalls, aber Gregor schaffte es nur mit Mühe, zu erkennen, was es war. Gleichzeitig hatte er seinen Oberkörper etwas aufgerichtet, und er lauschte dem leisen Klatschen in seiner unmittelbaren Nähe.
Wie Wasser, aber nur wie, denn es war kein Wasser, sondern – er wollte es kaum glauben – Schleim, Schlamm, Dreck, Erde, alles feucht und nass.
Eine andere Welt war entstanden. Eine Zone, die völlig anders aussah. Wasser und Schlamm, Bäume, die ebenfalls überspült worden waren. Es gab kein Schilf mehr, und Gregor spürte, dass unter ihm etwas wippte, als er sich leicht bewegte. Es fühlte sich an, als wäre er von einem Netz aufgefangen worden. Einem Netz, in dem sich der Schlamm ausgebreitet und für diese veränderte Welt gesorgt hatte. Er hatte für diese Mondlandschaft gesorgt, denn alles um Gregor herum war eben anders geworden.
Er konnte das Ufer nicht sehen. Wo war es? Es hatte sich zurückgezogen, es war verändert, und der Junge fing damit an, in seiner Erinnerung zu suchen. Eine erste Rückblende, und er fragte sich, was genau geschehen war.
Es strömten zu viele Gedanken durch seinen Kopf, als dass er sie hätte ordnen können. Die Büsche sah er nicht mehr, das Schilf auch nicht, und die niedrigen Bäume waren ebenfalls verschwunden.
Was aber war da?
Der Schlamm, das Wasser und natürlich die Erinnerung des sechzehnjährigen Jungen.
Da war etwas vom Himmel gefallen. Mit rasender Geschwindigkeit hatte es die Erde getroffen. Ein Stein mit einem langen Schweif, ein Komet! Er war in den See eingeschlagen und hatte für die Wasser- und Schlammwelle gesorgt.
Aus Büchern hatte Gregor gewusst, was passieren konnte, wenn ein Komet einschlug, und jetzt war dies eingetroffen. Zum Glück war es nicht zu der ganz großen, endgültigen Katastrophe gekommen, denn nur ein kleiner Komet war herabgestürzt.
Sein Boot aber gab es nicht mehr. Hauptsache war, dass er überlebt hatte.
Der Himmel hatte sich bereits verändert. Er zeigte schon wieder ein fahles Blau, in dem auch die Sonne ihren Platz hatte und auf die Erde niederbrannte. Ihre Strahlen spiegelten sich in den zahlreichen Tümpeln, die sich auf der Oberfläche verteilten und als Erinnerung zurückgeblieben waren.
Und dann dachte Gregor an sein Dorf, seine Heimat, nicht weit vom Seeufer entfernt. Er erinnerte sich an die Wucht des Wassers und konnte sich gut vorstellen, dass die Flutwelle auch das Dorf erreicht hatte.
Das Dorf!
Plötzlich wurde ihm bewusst, was da geschehen war. Trotz der Hitze kroch es ihm kalt über den Rücken. Es ging um die Menschen, die Bewohner, die er alle kannte, vom Kind angefangen bis hin zum Greis. Diese Gedanken stürmten auf ihn ein, sie veränderten ihn innerlich, und sie machten ihm Angst. Es war für ihn wie ein Stoß in den Magen, er fühlte sich übel, und eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf.
Was war, wenn die Flutwelle den Ort erreicht hatte und alle Einwohner ertrunken waren?
Dieser Gedanke war die logische Folge seiner Überlegungen, und jetzt spürte der Junge so etwas wie einen Schock. Er fing an zu zittern. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Der Schweiß drang ihm aus den Poren, und für einen Moment presste er die Hände auf sein Gesicht. Er ließ sie wieder sinken, schüttelte den Kopf, holte tief Luft und stellte fest, dass auch er sehr schmutzig war. Sein nackter Oberkörper war von einer grauen Schicht bedeckt. Schlamm, der unter den Strahlen der heißen Sonne getrocknet war.
Ihm wurde schwindlig, und er schaute auf einen imaginären Punkt in der Ferne, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Das klappte auch, aber den Gedanken an die Bewohner seines Dorfes wurde er trotzdem nicht los. Die Vorstellung, sie als Leichen unter der gewaltigen Schlammschicht zu finden, trieb ihm einen Klumpen in den Magen und vergrößerte noch seine Furcht.
Etwas irritierte ihn so stark, dass er sein Vorhaben, den Platz zu verlassen und sich zum Dorf durchzuschlagen, aufgab. Stattdessen schaute er dorthin, wo einmal der See gewesen hatte, der jetzt zwar noch immer vorhanden war, jedoch anders und unerklärbar.
Da war etwas ...
Er konnte es nicht sehen, nur fühlen. Eine andere Kraft, ein mächtiges Etwas, das sich unsichtbar in dieser stickigen Luft aufhielt. Als hätten sich dort Seelen zusammengefunden, die aus dem Reich der Toten stammten, denn Gregor hörte ein Geräusch, das ihm die blanke Angst einjagte.
Es war ein ungewöhnliches Jaulen. Ein gewaltiges, schrilles Pfeifen, das über das Land wehte. Der Mund eines Riesen schien in eine Art Instrument hineinzublasen, das sich nach vorne hin verengte und zu einer hohlen Knochenpfeife wurde.
Huuiii ... huuuuiii ...
Geräusche, die der Junge noch nie gehört hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, waren sie besonders stark über dem See aufgeklungen, als hätte sich die Luft dort verdichtet.
Das Heulen zerrte an seinen Nerven. Er bekam es mit der Angst zu tun. Der Schweiß auf seiner Stirn wurde dichter. Die Angst ließ ihn zittern. Er sah vor sich einen Ast schräg aus dem Wasser ragen, und an ihm klammerte sich Gregor fest. Diesen Halt brauchte er einfach, es gab keine andere Lösung. Das Heulen blieb.
Unruhe entstand auf der Wasserfläche. Die Wellen hatten zittrige Köpfe, sie sahen so grau aus, wie der Himmel, der erst in der Nähe des weit hinten liegenden Uferstreifens einen anderen Farbton zeigte. Dort war er schwefelgelb, als würde sich an dieser Stelle schon wieder etwas zusammenbrauen.
Die Furcht nagte an Gregor. Etwas kam. Ob es eine neue Flutwelle war, wusste er nicht. Aber etwas war vorhanden, und es glich einem gewaltigen Unhold, der durch die Luft schwebte wie ein mörderischer Geist.
Es war unheimlich. Gregor zitterte. Der Schweiß rann über seinen Körper und zog Bahnen in den Schmutz. Das alles interessierte den Jungen aber nicht. Er schaute weiter zum See hin, wo sich Dinge abspielten, die noch im Entstehen waren.
War das ein Regenbogen?
Zum ersten Mal war er unsicher. Das sah so aus wie ein Regenbogen, aber es war keiner. Nur ein Strahl, der eine Verbindung zwischen dem See und dem Himmel darstellte, sehr breit, blau und grau schimmernd, dabei leicht zitternd, über dem See stehend. Aber der Junge glaubte fest daran, dass da Einiges nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. So etwas war nicht normal, das dicke Ende würde noch kommen.
Etwas passierte innerhalb des Strahls. Zuerst waren es nur Bewegungen, mehr nicht, aber sie verloren ihre Schwäche, und so konnte Gregor erkennen, was sich dort tatsächlich tat.
Da bewegten sich Menschen!
Frauen, Männer und Kinder. Es war unbegreiflich und nicht zu fassen, aber sie befanden sich tatsächlich in diesem gewaltigen Wirbel, der nicht zu stoppen war und eine Verbindung zwischen dem See und dem Himmel darstellte.
Sie gerieten in Bewegung, sie wurden durch den Sog in die Höhe gezerrt oder nach unten in den See geworfen. So genau konnte es der Zuschauer nicht erkennen, aber das Entsetzen kroch in ihn hinein wie der Schlamm, der auf ihm klebte.
Furchtbar ...
Sie waren es. Die Menschen aus dem Ort!
Und sie bildeten den Inhalt des Höllensogs, der mit ihnen machte, was er wollte.
Jemand schrie.
Es dauerte eine Weile, bis Gregor merkte, dass er es war, der geschrien hatte. Dieser Höllensog hatte alle erfasst. Er zerrte und schleuderte die Menschen mit in seine Welt, er trieb sie hinein in die Schrecken der anderen Welt. Das Grauen hatte einen Namen bekommen und zeigte sich dem jungen Zuschauer.
Sehr deutlich zeichnete sich der Strahl jetzt ab auf seinem Weg in die Höhe. Und ebenso deutlich war der Inhalt zu erkennen. Da hielten sich die Menschen an Händen und Beinen fest. Hände umklammerten Arme. Köpfe zuckten. Münder waren zu Schreien geöffnet. Die Menschen hielten sich gegenseitig fest, als würden sie sich den nötigen Halt geben können. Aber sie kamen gegen das Grauen nicht an, das sie überschwemmte. Der Schweif zerrte sie mit in eine Welt hinein, in die der Zeuge keinen Einblick hatte.
Wie der Schweif des Kometen, dachte er, und dann war der Höllensog verschwunden.
Nichts mehr.
Nur der See und die verschlammte Umgebung, in der auch Gregor seinen Platz gefunden hatte.
Scharf saugte er die Luft ein. Der Schweiß hatte die Schmutzkruste auf seinem Gesicht aufbrechen lassen. Er spürte ihn salzig und leicht brennend auf der Haut.
Wie lange Gregor an diesem Platz gehockt hatte, wusste er nicht zu sagen. Er starrte nur nach vorn. Die Gedanken hatten ihm sein eigenes Gefängnis geschaffen, dem er nicht entfliehen konnte. Alles war anders geworden. Es hatte sich auf schreckliche Art und Weise verändert. Nichts war mehr so, wie er es gekannt hatte.
Zwar zog sich das Wasser wieder zurück, aber das kümmerte ihn nicht. Er hatte etwas Unglaubliches gesehen, das ihm keiner abnehmen würde, wenn er es erzählte.
Der Höllensog war entstanden, und er hatte sich seine Beute gnadenlos geholt.
Die Bewohner eines großen Dorfes waren von ihm regelrecht verschlungen worden.
Wo waren sie jetzt?
Das war genau die Frage. Gregor wusste nicht, wohin all seine Bekannten, Verwandten und Freunde gebracht worden waren. In den See, in den Himmel, in den Tod?
Alles war möglich, seit dieser verdammte Sog entstanden war und ein Dorf leergeräumt hatte. Gregor weinte, und er wusste, dass er nicht mehr an diesem Ort bleiben konnte.
Er wollte nicht mehr auf den See schauen, der seinen Reiz für ihn verloren hatte. Für Gregor war er zu einem Ort des Todes geworden, wo Kräfte lauerten, gegen die er als Mensch nicht ankam.
Das Wasser zog sich zurück. Der Schlamm aber blieb, wenn auch nicht mehr so hoch. Gregor sah die Bäume, er sah den dichten Schilfgürtel wieder, er sah seine normale Welt, die er kannte. Trotzdem war sie so anders geworden.
Dann machte er sich auf den Heimweg.
Eine traurige Gestalt ...
Gregor watete durch den Schlamm!
Das Wasser hatte sich zum Großteil wieder zurückgezogen, aber sein Erbe hinterlassen.
Eine graue Schicht, die unter jedem Tritt zusammensackte. Gregor watete durch den Schlamm. Es stank faulig. Dieser Geruch der Verwesung hing in der heißen Luft, die von keinem Windstoß bewegt wurde. Die Gegend war öde, leer und tot geworden. Die Menschen, die von der Viehzucht und dem Anbau von Mais gelebt hatten, würden nichts mehr anbauen können, und der Junge fragte sich schon jetzt, ob das Vieh überhaupt überlebt hatte. Er konnte es sich vorstellen, dass auch die Schweine, Rinder und Schafe zu einer schrecklichen Beute des Höllensogs geworden waren.
Das Dorf auch?
Hatte die Flutwelle die Kraft besessen, auch die Häuser zu zerstören? Sie waren für normale Verhältnisse stabil gebaut worden, aber gegen derartige Naturgewalten kamen sie nicht an. Da wurden sie umgerissen, als hätte man sie aus Papier hergestellt.
Der Tod hatte zugeschlagen. Aber es war ein anderer Tod gewesen, und Gregor verglich ihn auch nicht mit einer normalen Naturkatastrophe. Jeder Schritt fiel ihm schwer, denn immer wieder sackte er in die dicke, graue und manchmal grüne Schicht bis zu den Knien ein.
Er schaute nach vorn, das Gesicht bleich, die Lippen zusammengepresst. Manchmal zuckte die Haut auf seinen Wangen, hin und wieder überlief auch ein Zittern seine schmutzige Gestalt.
Er wischte über seine Augen, als er die ersten Häuser des Dorfes sah. Sie waren niedrig gebaut und verteilten sich rechts und links einer nicht gepflasterten Straße.
Gregor blinzelte. Er blieb stehen, beschattete seine Augen und schaute auf den Ort.
Die Häuser standen vor ihm wie immer. Auch die Zäune und niedrigen Mauern waren nicht zerstört worden. Es hatte sich nichts, aber auch gar nichts verändert. Alles war noch wie immer, aber eines erschreckte ihn trotzdem tief.
Die Stille und die Leere.
Nichts rührte sich mehr im Ort. Da bellte kein Hund, da flatterte kein Huhn über den Weg, keine Katze strich beutesuchend um die Hausecken, und Menschen waren erst recht nicht zu sehen.
Eine bedrückende, nahezu perfekte Stille lag über dem kleinen Ort, und der junge Mann kam sich vor wie in der Fremde, wo die Welt von den Menschen verlassen worden war.
Ein eisiger Wind erwischte ihn.
Das aber bildete sich Gregor nur ein. Es war das Gefühl der unnatürlichen Kälte, das sich in seinem Innern ausgebreitet hatte und auch dafür sorgte, dass er noch mehr deprimiert war.
Er konnte sein Elternhaus sehen.
Es stand dort geduckt, aus Steinen, Holz und Stroh errichtet. Mit dem Stall, dem Platz davor und mit den beiden Wagen.
Das alles gab es. Trotzdem konnten bei Gregor keine heimatlichen Gefühle aufkommen, denn es fehlten in seinem Elternhaus und im gesamten Dorf die Menschen!