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Der Popstar Rock Paretti hatte sich einen Traum erfüllt und einen alten Palazzo in Venedig gekauft. Damit aber waren die Mächte der Finsternis überhaupt nicht einverstanden, und schon bald erreichte Paretti eine erste Warnung per Post. Die Worte hatte der Absender mit Menschenblut geschrieben. Als das nicht fruchtete, folgte die zweite Warnung. Jetzt fand man Rocks Sekretär tot und ohne Gesicht im schmutzigen Wasser des Canal Grande treibend.
Das machte die Sache zu einem Fall für Suko und mich. Wir reisten in die Lagunenstadt, für deren Zauber wir aber keine Augen hatten. Stattdessen lernten wir nicht nur einen rätselhafte, auf den ersten Blick aber auch hinreißende Frau kennen, sondern sollten den Blutspuk von Venedig auch am eigenen Leib erleben müssen ...
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Blutspuk in Venedig
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Blutspuk in Venedig
von Jason Dark
Der Popstar Rock Paretti hatte sich einen Traum erfüllt und einen alten Palazzo in Venedig gekauft. Damit aber waren die Mächte der Finsternis überhaupt nicht einverstanden, und schon bald erreichte Paretti eine erste Warnung per Post. Die Worte hatte der Absender mit Menschenblut geschrieben. Als das nicht fruchtete, folgte die zweite Warnung. Jetzt fand man Rocks Sekretär tot und ohne Gesicht im schmutzigen Wasser des Canal Grande treibend.
Das machte die Sache zu einem Fall für Suko und mich. Wir reisten in die Lagunenstadt, für deren Zauber wir aber keine Augen hatten. Stattdessen lernten wir nicht nur einen rätselhafte, auf den ersten Blick aber auch hinreißende Frau kennen, sondern sollten den Blutspuk von Venedig auch am eigenen Leib erleben müssen ...
»Wie viel Fanpost ist heute eingetroffen?«
Sid Amos blickte auf. Wie immer hatte Rock Paretti sehr kalt, arrogant und unpersönlich gesprochen. Es war eben seine Art, Menschen auf diese Art und Weise zu behandeln. Er war der Star, und solange er gut zahlte, war es Sid Amos, dem Sekretär, egal, wie man ihn ansprach.
»Drei Briefe, Rock!«
»Was?« Paretti blieb stehen, als hätte ihn der Schlag getroffen. »Drei nur?«
»So ist es.«
»Scheiße!« Paretti hob die Arme und spreizte die Finger. Er bewegte sie, als wollte er in der Luft auf einem Klavier spielen. »Das muss sich ändern, Sid, verstehst du?«
»Sicher.«
Paretti blickte Amos starr an. »Sieh zu, dass du eine Kampagne anlaufen lässt. Lass dir was einfallen! Ich muss wieder in die Presse. Ich brauche Öffentlichkeit. Ich brauche alles. Printmedien, Radio, TV.« Er holte kurz Luft. »Ich brauche auch Skandale. Nicht zu große, nicht zu kleine. Dinge, die in der Mitte stehen, die man einem Mann wie mir verzeiht, weil ich eben ein Star bin. Lass dir was einfallen, Sid, und zwar schnell.«
»Das wird schwer sein.«
»Weiß ich, aber ich bezahle dich gut. Ich habe meine Ideen auf dem Klavier und im Studio. Und du bist doch derjenige, der den Kontakt zu den Medien hält – oder?«
Amos nickte. Er schaute dabei auf die Tür, die zu Parettis Büro führte. Sie hatten die beiden Räume nahe des Piccadilly gemietet, um Verhandlungen nicht in Hotels führen zu müssen.
»Warum sagst du nichts?«
»Ich denke nach, Rock.«
»Schön. Und wie sieht der Erfolg aus?«
»Es gibt ihn noch nicht.«
»Ach ja?«
»Mir ist da aber eine Idee gekommen, aus der man vielleicht etwas machen könnte!«
»Ich höre, Sid.«
»Du hast doch den Palazzo gekauft.«
»Ja.«
»Daraus könnte man was machen.«
»Was?«
Der Sekretär hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber mir wird schon etwas einfallen, wenn ich nach Venedig fliege.«
Paretti lachte kalt. »Dort willst du hin?«
»Sollte ich doch, oder nicht?«
»Ach ja, stimmt. Jemand muss die Renovierungsarbeiten überwachen.« Der Rockstar nickte. »Nicht schlecht. Wann wolltest du fliegen?«
»Morgen.«
»Auch gut. Und weiter?«
»Ich habe mir gedacht, dass wir den Kauf medienwirksam in Szene setzen. Großer Rockstar kauft kreative Stätte in Venedig. Fühlt sich der europäischen Kultur und Geschichte verbunden. Moderne Top-Musik inmitten alter Mauern. Könnte dir das gefallen? Es ist nur eine erste Idee, und du weißt selbst, wie oft man die umwirft. Aber eine Basis hätten wir damit schon. Außerdem solltest du, wenn du hinziehst, eine große Einweihungsfete geben und dabei nicht nur Typen aus der Szene einladen, sondern auch Vertreter der Medien. Mädchen werden auch genügend kommen, sodass eigentlich alles seinen normalen Weg gehen sollte. Ist ein Vorschlag, Rock.«
Paretti nickte.
Dieses Nicken kam bei Sid Amos gut an. Er war ja froh, dass sein Chef nicht tobte. Denn so etwas passierte leicht, wenn ihm etwas nicht passte. Für seine Wutausbrüche war Rock Paretti berühmt und berüchtigt. Diesmal krauste er nur die Stirn, strich über sein glattes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. »Könnte was werden.«
»Danke, Rock.«
»Wozu?«
»Dass du es nicht abgelehnt hast. Du wirst übrigens in der nächsten Woche schon einziehen können, die Arbeiten gehen zügig voran.«
»Woher weißt du das?«
»Ein Bekannter von mir hält sich in Venedig auf. Ich habe ihn gebeten, mal nachzuschauen. Er meinte, dass alles okay sei.«
»Ja. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Du wirst selbst hinfliegen und dich umschauen.« Paretti deutete mit dem Zeigefinger auf Sid Amos. »Und zwar morgen.«
»Das Ticket ist bereits reserviert.«
Der Rockstar lachte. »Weißt du was, Sid? Manchmal wirst du mir direkt unheimlich.«
Der Sekretär lächelte. »Was heißt unheimlich? Ich bin es eben gewohnt, mitzudenken.«
»So kann man es auch sehen.« Paretti wanderte auf seine Bürotür zu. »Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen müsste?«
»Jaaa ...« Amos dehnte die Antwort. »Da wäre noch was.«
»Und?«
»Ein vierter Brief.«
»Wie toll.« Parettis Lachen klang kalt. »Ein kleiner Hoffnungsschimmer der Fans?«
»Das denke ich nicht.« Sid Amos hob einen braunbeigen, neutral aussehenden Umschlag hoch, der bisher auf dem Schreibtisch gelegen hatte. »Das ist er.«
»Von wem?«
»Es gibt keinen Absender.«
Der Rockstar verengte die Augen. »Eine Briefbombe?!« Nun trat er sicherheitshalber einen Schritt zurück.
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Was macht dich so sicher?«
»Mein Gefühl.«
Paretti schaute seinen Mitarbeiter an und grinste. »Briefbomben sind sehr wirkungsvoll, doch in ihnen steckt nie so viel Sprengkraft, dass sie alles in einem Zimmer zerstören. Deshalb werde ich jetzt in mein Büro gehen und dich diesen Brief öffnen lassen, Sid. Du brauchst es nicht, wenn du es nicht willst. Du kannst ihn auch den Bullen übergeben, die haben Spezialisten dafür. Ich überlasse es dir. Nur bin ich neugierig und möchte wissen, wer mir da geschrieben hat.«
»Kannst du alles erfahren«, antwortete Sid.
»Dann öffne den Umschlag. Aber erst, wenn ich in meinem Büro verschwunden bin.«
Sid Amos nickte. Er schaute kopfschüttelnd zu, wie sein Chef das Vorzimmer verließ. Für ihn war Paretti ein Idiot. Der glaubte natürlich an eine Briefbombe oder an einen vergifteten Brief. Das tat Amos nicht. Rock Paretti hatte zwar nicht nur Freunde – wer hatte die schon im Showgeschäft? –, aber dass ihn jemand gleich in die Luft jagen wollte, war sicherlich abwegig.
Der Umschlag hatte die doppelte Größe eines normalen Briefes. Amos nahm einen Öffner, schlitzte das Papier auf, und für einen Moment beschleunigte sich sein Herzschlag. Da war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, aber seine negativen Gedanken gingen vorbei, er griff in den Umschlag hinein und holte den Brief hervor. Dann faltete er den Briefbogen auseinander.
Plötzlich erstarrte er. Sid Amos wusste augenblicklich, dass die Nachricht nicht mit roter Tinte geschrieben worden war. Das war ... das musste ... verdammt, das konnte nur Blut sein!
Er kam zu keinen langen Überlegungen, denn Rock Paretti öffnete die Tür seines Zimmers und schaute herein. Da nichts passiert war, betrat er den Raum.
Amos saß noch immer auf dem Stuhl wie festgenagelt. Er nahm seinen Chef erst zur Kenntnis, als dieser direkt neben dem Schreibtisch stehenblieb.
»Na, was ist?«
»Der Brief.«
»Und?«
»Keine Bombe.«
»Wie schön für uns.«
Amos hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es so schön ist«, murmelte er. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dieser Brief nicht mit roter Tinte, sondern mit Blut geschrieben worden. Vielleicht sogar mit dem Blut eines Menschen, Rock.«
»Gib her!« Parettis Stimme zitterte. Er riss das Blatt förmlich an sich, las und wurde blass.
Amos beobachtete ihn dabei. Er sah den Schweiß auf Parettis Stirn und bekam auch mit, wie der Mann seine Lippen bewegte. Mit tonloser Stimme las er den Text halblaut vor. »Wenn Du den Palazzo beziehst, wirst Du ein Opfer des Blutspuks werden. Kein Fremder kann ihm entkommen. Also hüte Dich ...«
Der Text trug natürlich keine Unterschrift. Die Hand mit dem Papier sank langsam nach unten. Paretti schluckte. Er saugte die Luft scharf durch die Nase ein, suchte nach Worten, hatte sie endlich gefunden und fragte mit leiser Stimme: »Was sagst du dazu, Sid?«
»Keine Ahnung.«
»Ist das echt?«
»Wir sollten davon ausgehen.«
Paretti überlegte. Urplötzlich lachte er auf. »Verdammt«, sagte er und rannte durch den Raum. »Das ist ein Hammer. Das ist ja der Hammer überhaupt! Das nutzen wir als PR-Meldung, da brauchen wir uns nichts auszudenken. Das machen wir publik.
Jemand hat mir einen Brief geschickt. Jemand will nicht, dass ich in den Palazzo einziehe. Man schickt mir eine schriftliche Warnung, mit Blut geschrieben! Das ist es doch, was wir brauchen, Sid.« Er schlug Amos auf die rechte Schulter. »Na? Was sagst du dazu? Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Behalte deine Gedanken und deine Kreativität für dich. Du fliegst nach Venedig, während ich hier für die entsprechende Presse sorge.«
Sid Amos war nicht wohl. Sicherheitshalber fragte er nach. »Ich soll also nach Venedig fliegen und mich um den Palazzo kümmern?«
»Wie besprochen.«
Er deutete auf den Brief. »Trotz der Drohung?«
»Klar – klar doch. Das schlachten wir aus. Zudem wollen diese Schreiber oder dieser Schreiber ja nichts von dir, sondern von mir. Du bist außen vor, mein Freund.«
»Meinst du?«
»Immer.« Paretti war plötzlich in Form, sah Licht am Ende des Tunnels und würde für die Werbung nicht mal etwas zu zahlen brauchen. »Das wird eine Sache«, flüsterte er. »Das Ding ziehen wir durch und kommen ganz groß raus ...«
Ja, als Leichen, dachte Amos und schüttelte sich ...
Venedig!
Eine Stadt wie ein Traum, eine Stadt wie ein Alptraum und manchmal wie ein Mahnmal für den Untergang Italiens, das von einer Krise in die nächste stürzte.
Und doch – Venedig lebte. Es ging immer weiter, nicht nur mit Italien, sondern auch mit Venedig, wo die Menschen im und mit dem Wasser lebten. Sie gaben nie auf. Trotzig restaurierten sie ihre Paläste oder feierten rauschende Feste, besonders dann, wenn Karneval war.
Noch immer gehörte Venedig zu den bevorzugten Reisezielen, überflutet von Touristen, die hier im Frühjahr und im Sommer einfielen, wie die Heuschrecken, und die Stadt unter Stress setzten.
Das änderte sich in den Wintermonaten. Da atmete das holde Venezia auf und verfiel gleichzeitig in eine Agonie, die die Stadt und die Bewohner als Wohltat empfanden.
Die wenigen Touristen verliefen sich dann. Und diejenigen, die kamen, begrüßte man gern, denn sie passten sich dem Lebensrhythmus der Einheimischen an. Sie genossen die Kühle, den Nebel, das Wasser, den Dunst. Die besondere Melancholie, die nicht nur auf der Friedhofsinsel San Michele zu Hause war.
An all die Schönheiten der Stadt dachte ein Mann wie Sid Amos nicht, als er in Mestre aus dem Jet stieg und feststellen musste, dass sich die Sonne aus dieser Region schon verabschiedet hatte. Es war ebenso kühl wie in London, und Sid stellte den Kragen seines Mantels hoch.
Noch befand sich er nicht in der Stadt. Er wollte vom Flughafen mit dem Zug hineinfahren und sich anschließend ein Wassertaxi nehmen, um zu seinem Ziel zu gelangen.
Zuvor brauchte er aber Koffein. Er fand einen Platz an einer offenen Bar, bestellte einen Espresso, der sehr heiß war, pustete und schaute dabei sinnierend ins Leere.
In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Er verfluchte seinen Job, er verfluchte Paretti, der selbst zu feige gewesen war, in die Stadt zu fliegen, wo er sich einen Palazzo gekauft hatte. Sid Amos wusste, dass er nicht mal sehr viel Geld dafür hatte bezahlen müssen. Er war relativ preiswert gewesen, und die Renovierung stand vor dem Abschluss.
Rock Paretti hätte praktisch einziehen können.
Da aber war die Warnung gekommen: Sollte er einziehen, würde er ein Opfer des Blutspuks werden. Obwohl diese Zeilen an Paretti gerichtet gewesen waren, wollten sie Sid Amos nicht aus dem Kopf. Schließlich arbeitete er für Paretti. Er war gewissermaßen sein Vertrauter, und er konnte sich vorstellen, dass dieser Blutspuk nicht nur dem Besitzer galt, sondern auch ihm.
Genau dieses Denken drängte die Furcht in ihm hoch. Er bestellte einen zweiten Espresso, um die Kälte in seinem Innern zu vertreiben. Mochte das Gebräu aber noch so heiß sein, es konnte das Gefühl der Angst nicht unterdrücken, das sich auch in den dunklen Augen des Mannes festgesetzt hatte. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, konnte er sich in einem Wandspiegel betrachten, und er glaubte, die Angst zu sehen, die wie ein Schatten auf seinem Gesicht lag.
Er schluckte, wischte über seine Stirn und stellte fest, dass seine Hände zitterten. Er war ein hochgewachsener Mann mit dunkelblonden Haaren. Sie waren zurückgekämmt, die Stirn lag also frei, und seit seiner Geburt schon – so hatten es ihm die Eltern berichtet –, hatte seine Haut dünne Fältchen, sodass er immer sehr nachdenklich und auch älter wirkte, als er tatsächlich war.
Eine gerade Nase und Augenbrauen wie dünne Striche vervollständigten den Gesichtsausdruck. Er trug legere, aber teure Kleidung. Einen braunen Mantel, ein braun und beige gemustertes Kaschmirjackett, dazu eine ebenfalls dunkle Hose und ein Hemd mit feinen Streifen, zu dem die bunte Krawatte einen nicht zu starken Kontrast bildete.
Amos schaute sich um.
Es war kein Verfolger zu sehen. Trotzdem glaubte er, verfolgt zu werden. Das jedoch spielte sich ausschließlich in seinem Kopf ab. Die Realität sah dagegen anders aus. Er bildete sich den Verfolger ein, und er hatte für ihn auch einen Namen gefunden.
Es war der Blutspuk!
Verrückt, dumm, irreal. Ein Blutspuk konnte nicht verfolgen. Er war nicht konkret, trotzdem wollte ihn dieser Name nicht loslassen. Er war ein Begriff des Grauens, des kalten Horrors, und ließ das Blut in seinen Adern zu Eis gefrieren.
Der Keeper nickte ihm zu. Außer Amos saß noch eine ältere Frau an der Bar. Sie las in einem Magazin.
»Ich möchte bezahlen.«
»Gern.«
»Ist immer so wenig los?« Amos reichte dem Mann das Geld.
»Nein, aber im Winter stehe ich mir manchmal schon die Beine in den Bauch.«
»Bis auf den Karneval – oder?«
»Si, das stimmt.«
Amos verzichtete auf das Wechselgeld. »Dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen.«
»Genießen Sie die Stadt, Signore. Sie haben die Chance.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
Knapp eine halbe Stunde später saß Sid Amos im Zug, der ihn in die Stadt brachte. Die Fahrt führte über den Brückendamm, der Ponte della Ferrovia hieß. Zu beiden Seiten schimmerte trüb und grau das Wasser der Lagune. Ein leichter Wind strich darüber hinweg und zeigte auf der Oberfläche die kräuselnde Unruhe der Wellen.
Der Zug rollte in den Sackbahnhof, an dessen Ostseite der Kanal die Grenze bildete. Viel Gepäck hatte Amos nicht mitgenommen. Er stieg aus, und die Luft war noch feuchter und klammer geworden. Über der Stadt lag ein Dunst wie der Atem gewaltiger Kessel, die ihren Dampf abgelassen hatten.
Amos verließ den Bahnhof, ging die paar Schritte zum Kai und kam sich für einen Moment verloren vor, als er über den breiten Kanal hinwegschaute, direkt auf die geballte Wucht der Gebäudeansammlung, durch die die vielen Wasseradern liefen, als wäre die Stadt ein pochendes, pulsierendes Herz, das mit Blut versorgt werden musste.
Möwen segelten durch die Luft. Selbst sie wirkten müde und traurig, als hätten sie ebenfalls das Kleid des Monats November übergestreift. Die Stimmen der Menschen klangen gedämpft, und das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern hörte sich an wie verhaltener Beifall.
Amos machte sich auf die Suche nach einem Boot. Weit brauchte er nicht zu laufen. An der Anlegestelle warteten die Wassertaxis. Ihre Fahrer hatten nicht viel zu tun. Wer nicht gerade unterwegs war, unterhielt sich mit seinem Kollegen, rauchte, las auch hin und wieder in irgendwelchen Zeitungen oder hatte die Hände tief in den Taschen der wärmenden Jacke vergraben.
In der Nähe schaukelten einige Gondeln auf den trüben Wellen. Sie sahen aus, als wären sie verlassen worden, um irgendwann unterzugehen. Kein Hauch einer romantischen Gondelfahrt durchzog die Gewässer. Venedig trauerte, was sich auch auf die Geräuschkulisse bezog, denn sie klang dumpf und irgendwie fern, als wäre sie hinter einem dünnen Vorhang verborgen. Andere Reisende waren schon mit ihren Wassertaxis losgefahren. Als letzter trat Amos an den Stand heran.
»Bon giorno, Signore, wohin?«
»Palazzo Ferrini.«
»Ah, das ist am Canal Grande.«
»Si.«
»Steigen Sie ein.«
Amos stieg in das Boot. Er spürte die leicht schwankenden Planken unter seinen Füßen. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Für einen Moment stand er im Dunkeln. Er fror und ergab sich seinen Gedanken. Er wusste, dass der Schlüssel zum Portal des Palazzo in seiner Tasche steckte, und er merkte, wie die Angst wuchs.
Sie nahm immer dann zu, wenn er an den Palazzo dachte.
Was erwartete ihn dort?
Der Tod? Der Blutspuk?
Beides konnte er sich nicht vorstellen, und doch hätte er sich nicht gewundert, wenn der Tod als monströses Skelett über dem Häusermeer geschwebt wäre.
Venedig liegt im Sterben, dachte er, und auf mich wartet der Blutspuk ... der Palazzo Ferrini!
Ein altes Gebäude, das bereits große Zeiten erlebt hatte, als die Dogen von Venedig noch zu den Herrschern des Mittelmeeres gehörten und die Familie Ferrini in ihrem Palazzo große Feste gefeiert hatte.
Doch diese Zeiten waren vorbei.
Das herrschaftliche Haus am Canal Grande stand leer. Niemand wollte es mehr haben. Die Venezianer wehrten ab, wenn darauf die Sprache kam. Andere zuckten zusammen und bekreuzigten sich, wenn sie den Namen nur hörten, denn es gab Dinge, mit denen man lieber nichts zu tun haben wollte.
So blieb es nicht aus, dass der Palazzo allmählich verfiel. Die herrlichen Räume, die jetzt leer standen. Die Decken mit ihren Fresken, die kunstvollen Malereien an den Wänden, die jetzt den Grauschleier der Spinnweben zeigten – all das zeugte vom Untergang dieses einst so prächtigen Bauwerks, das nicht weit entfernt von der weltberühmten Rialto-Brücke lag.
Der Landesteg war noch vorhanden, sah allerdings ziemlich marode aus.
»Wir sind da, Signore.«
Sid Amos nickte und betrachtete die Fassade. Nach einigen Sekunden hörte er das Lachen und die Frage des Fahrers. »Sieht nicht gerade gut aus, wie?«
»Stimmt.«
»Ich möchte hier nicht wohnen.«
Amos hob die Schultern. Er lauschte für einen Moment dem Plätschern der Wellen. »Manchmal kann das Äußere auch täuschen, wenn Sie verstehen.«
»Si.« Der Mann stand da mit offenem Mund. Er zupfte an seiner dunkelblauen Pudelmütze und sagte: »Si, Sie haben recht. In meinem Job erfährt man so einiges. Wie ich hörte, ist der Palazzo renoviert worden. Ich habe auch Handwerker gesehen.«
»Stimmt.«
Der Mann pfiff durch die Zähne. »Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie damit zu tun haben? Weshalb hätten Sie sich sonst herfahren lassen?«
»Nicht direkt. Ich will ihn mir nur einmal anschauen.« Amos suchte nach Geld. »Nehmen Sie auch englische Pfund?«
»Klar. Wo es mit unserer Währung so bergab geht.«
»Ein Bekannter hat den Palazzo gekauft.«
Der Fahrer staunte. »Ein Engländer?«
»So ist es.«
Das Lachen des Italieners hallte in Sids Ohren nach. »Das ... das ... habe ich mir gedacht«, sagte der Mann dann und zog die Nase hoch. »Wenn schon jemand das Ding kauft, kann es nur ein Ausländer sein.«
»Warum?«
Die dunklen Knopfaugen des Mannes starrten Sid Amos an. »Schon gut, es war nur so dahingesagt.«
Das glaubte Sid nicht. Er lächelte und holte eine weitere Banknote aus seiner Hosentasche. Das Geld würde dem Italiener schon die Zunge lockern, davon ging er aus. »Erzählen Sie mir, was Sie über den Bau hier wissen.« Er grinste müde. »Es bleibt ja unter uns.
»Das ist nicht viel zu erzählen«, antwortete der Mann.
»Ich bin auch für das Wenige dankbar.« Amos drückte ihm das Geld in die rechte Hand. Der Fahrer schaute für einen Moment darauf, hob die Schultern. Dann ließ er die Scheine verschwinden. »Nun ja, man erzählt sich so allerhand.«
»Und die Leute reden viel.«
»Das können Sie sagen.«
»Was spricht man denn so?«
»Nun ja, schauen Sie sich um, Signore. Hier hat jedes Bauwerk seine Geschichten. Auch dieser Palazzo macht da keine Ausnahme.« Er krempelte den Saum seiner Mütze höher. »Er heißt Palazzo Ferrini, und den Ferrinis sagt man gewisse Dinge nach.«
»Welche denn?«
»Weiß ich auch nicht genau. Es ist ein sehr altes Geschlecht. Man spricht von magischen Praktiken, von Alchimie und Zauberei. Dinge, die ins Mittelalter gehören.«
»Aber trotzdem wird heutzutage darüber geredet, denke ich.«
»Stimmt schon.«
»Was ist dabei herausgekommen?«
Der Mann stöhnte, als hätte er schon zu viel gesagt. »Nun ja, ich weiß nicht, wie viel Ihr Freund für das Haus bezahlt hat, aber sehr teuer kann es nicht gewesen sein.«
»So etwas ist relativ. In der Tat ließ es sich leicht bezahlen.«
»Und das bei den sonstigen Preisen hier!«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Dass die Einheimischen den Palazzo nicht kaufen wollten, obgleich er ihnen angeboten wurde.«
»So meinen Sie das.«
»Und so was lässt tief blicken.« Der Fahrer trat näher an seinen Gast heran. »Das Gebäude ist den Einheimischen unheimlich. Da ist etwas in ihm, mit dem sie nicht zurechtkommen, müssen Sie wissen. Aber fragen Sie mich nicht, was es genau ist. Ich kann Ihnen das nicht sagen. Es gibt Gerüchte, mehr nicht.«
»Haben die auch einen Namen?«
Der Angesprochene senkte den Kopf.
»Kommen Sie, Mann! Jetzt haben Sie mir schon so viel gesagt, jetzt können Sie mir den Rest auch noch erzählen«, drängte Amos.
Der Fahrer nickte. »Die Gerüchte haben einen Namen. Man spricht von einem Blutspuk.«
»Aha.«
»Mehr sagen Sie nicht dazu?«, fragte der Wassertaxi-Fahrer.
»Nein, warum?«
»Aber es ist nicht einfach für Sie, darüber hinwegzugehen. Das bringt schon Probleme mit sich.«
Sid Amos grinste. »Falls man abergläubisch ist.«
»Weiß ich nicht, ob man dazu abergläubisch sein muss. Doch das ist nicht mein Problem.«
»Klar. Jedenfalls bedanke ich mich für die Auskünfte.« Amos hatte genug gehört. Er wollte das Haus endlich von innen sehen.
Träge schwappte das Wasser im Kanal, und das Boot schaukelte im selben Rhythmus, trotzdem war es für den Fahrgast leicht, trockenen Fußes auszusteigen. Amos winkte seinem gesprächigen Fahrer zu, bevor er sich dem Haus zuwandte. Er konnte nicht behaupten, sich sehr wohlzufühlen. Die Worte hatten ihn schon aufgewühlt. Er dachte immer wieder über sie nach, während er dem Boot hinterherblickte.
Amos kam sich einsam vor in diesem vorwinterlichen Venedig. Der Himmel war eine Masse aus grauem Blei und ließ den Mann an die berüchtigten Bleikammern von Venedig denken, in die vor Jahrhunderten die Gefangenen hineingepfercht worden waren.
Die Geschichte dieser Stadt konnte man als äußerst wechselvoll bezeichnen. Es hatte gute und auch schlechte Zeiten gegeben, aber das interessierte ihn im Moment nicht, denn die Erzählungen des Mannes wollten ihm nicht aus dem Kopf. Man hätte darüber lächeln können.