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Assunga, die Vampirhexe, hatte es geschafft, mich nach Rumänien zu locken. Sie und Dracula II brauchten angeblich meine Hilfe. Und obwohl ich überhaupt noch nicht genau wusste, worum es ging, ließ ich mich auf das mörderische Spiel ein.
Auch ein anderer war in diese Geschichte verwickelt. Es war mein Freund Marek, der Pfähler, dem jemand ein sehr altes, mysteriöses Erbe zukommen lassen wollte - das Vampirpendel. Wer es besaß, hatte die Macht über die Vampire. Und so begann die blutige Jagd nach dem Pendel ...
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Das Vampir-Pendel
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Das Vampir-Pendel
von Jason Dark
Assunga, die Vampirhexe, hatte es geschafft, mich nach Rumänien zu locken. Sie und Dracula II brauchten angeblich meine Hilfe. Und obwohl ich überhaupt noch nicht genau wusste, worum es ging, ließ ich mich auf das mörderische Spiel ein.
Auch ein anderer war in diese Geschichte verwickelt. Es war mein Freund Marek, der Pfähler, dem jemand ein sehr altes, mysteriöses Erbe zukommen lassen wollte – das Vampirpendel. Wer es besaß, hatte die Macht über die Vampire. Und so begann die blutige Jagd nach dem Pendel ...
Der blanke Gewehrlauf mit der Mündung schob sich durch das dichte Grün des Laubs und wies haargenau auf die Stirn des Mannes, der mit hochgehobenen Händen stehengeblieben war.
Eine sekundenlange Stille folgte. Wahrscheinlich werde ich durch eine Lücke beobachtet, dachte der Mann und blieb weiterhin steif stehen.
Dann hörte er die Stimme. »Du bist Marek?«
»Ja.«
»Der Pfähler?«
»Richtig!«
Der Gewehrlauf wirkte zwischen den Blättern wie ein festgeklebter Fremdkörper. »Beweise es!«
»Gern – vorausgesetzt, ich darf mich bewegen!«
»Wenn du keine Dummheiten machst ...«
»Keine Sorge, auch wenn ich nicht mehr der Jüngste bin, will ich doch am Leben bleiben.«
»Das ist gut so«, sagte die Stimme.
Den anderen hatte Marek noch immer nicht gesehen, und er dachte darüber nach, wie er wohl aussah. Sicherlich etwas unzivilisiert, aber was spielte das in dieser Gegend für eine Rolle?
Frantisek Marek, der grauhaarige, etwas kleine und immer leicht gebückt stehende Mann, bewegte seinen rechten Arm, um die Hand unter die Jacke zu schieben. Ja, er konnte beweisen, dass er der Pfähler war, und in diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig.
Das Holz des alten, vorn zugespitzten Eichenpflocks hatte die Temperatur der Haut angenommen. Es war warm geworden. Die Sonne stand wie ein Ball am Himmel und schickte ihre Strahlen der Erde entgegen, als wollte sie dort ein Dampfbad errichten.
Für Marek war es ein gutes Gefühl, das glatte Holz zwischen den Fingern zu spüren, und er zog den Pfahl mit einer behutsamen Bewegung hervor.
Marek hielt den Pfahl schräg. »Du siehst ihn?«
»Ja.«
»Bist du zufrieden?«
»Sicher.«
»Kann ich ihn wieder wegstecken?«
»Ich habe nichts dagegen, vorausgesetzt, du bleibst weiterhin dort stehen, wo du bist.«
»Mach' ich, keine Sorge.«
Marek schielte zur Seite. Die Blätter bewegten sich, als der Mann den Gewehrlauf wieder zurückzog. Er würde einen Bogen schlagen müssen, um den Weg zu erreichen, auf dem Marek weiterhin wartete. Der Pfähler hatte seine Waffe wieder weggesteckt, und die erste Anspannung hatte ihn verlassen.
Er atmete auf.
Das erste Hindernis war überwunden. Er hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, zu seinem Ziel zu gelangen, auch wenn ihn von dort eine Nachricht erreicht hatte. Was sie tatsächlich wert war, würde sich erst noch herausstellen müssen. Wenn jedoch alles stimmte, was er durch Nachforschungen herausbekommen hatte, dann würde er, Marek, jubeln können. Aber der Weg bis dorthin war noch weit.
Marek befand sich in einer Gegend, in der es eigentlich nur Wald gab. Es war eine dunkle, düstere Gegend, auch im Sommer, wenn die Sonne schien.
Der schmale Weg war nur zu ahnen, und Marek war bereits einige Stunden unterwegs. Er hatte seine alten Knochen ganz schön anstrengen müssen, und er war froh darüber, dass die Beschreibung gestimmt hatte, sonst wäre er nicht vor die Mündung des Wachtpostens gelaufen, den er noch immer nicht sah. Hören aber konnte er ihn, denn jetzt war hinter ihm ein leises Rascheln zu vernehmen. Ein Zeichen, dass der Mann seine Deckung verlassen hatte. Dieser Laut hatte auch das Summen der Insekten übertönt, die mit ihrem ewigen Chor den alten Marek umschwirrten.
»Darf ich mich umdrehen?«, fragte er.
»Ja, du darfst.«
Marek bewegte sich langsam. Es war einfach zu warm, und er schwitzte stark. In seinem Alter tat die Hitze wirklich nicht gut, das merkte er immer wieder.
Zum ersten Mal sah er den anderen, der breitbeinig vor ihm stand, ein russisches Gewehr im Anschlag. Der Mann war noch jung, nicht älter als fünfundzwanzig. Er trug eine grüne Mütze auf dem Kopf, deren Schirm er in die Höhe gebogen hatte, um besser sehen zu können. Unter den Rändern der Mütze quoll pechschwarzes Haar hervor. Auf der Oberlippe wuchs ein dichter Bart. Die Nase war gebogen und stand schief, als hätte sie irgendwann einmal mit einem harten Gegenstand Bekanntschaft gemacht.
Nicht allein die grüne Mütze deutete auf eine Uniform hin, auch die Hose und das graue Hemd mit den kurzen Ärmeln.
Die Jacke hatte der Mann um sein Koppel geschlungen und mit den Ärmeln zusammengeknotet. Seine Füße steckten in schmutzigen Stiefeln.
»Da du weißt, wer ich bin, darf ich dann fragen, mit wem ich die Ehre habe?«
»Nein, das darfst du nicht.«
»Schade.«
»Man wird es dir später sagen.«
Marek ließ nicht locker. »Jedenfalls bist du nicht der alte Juri, nehme ich an.«
»Sehe ich so aus?«
Der Pfähler lächelte schief. »Eigentlich nicht. Ich habe Juri erwartet und nicht dich.«
»Ich werde dich zu ihm bringen.«
Mareks Augen verengten sich. »Das ist gut und schön, aber kann ich dir trauen?«
»Das musst du!«, erwiderte der Soldat locker und hängte sein Gewehr um.
Frantisek nahm es nickend zur Kenntnis, kam aber auf die Kleidung des anderen zu sprechen. »Du siehst aus wie ein Soldat! Bist du auch einer, der vielleicht sogar desertiert ist?«
»So ungefähr.«
»Aber nicht aus der rumänischen Armee, denn diese Soldaten tragen andere Uniformen.«
»Stimmt, du hast einen guten Blick. Aber trotzdem komme ich vom Balkan.«
Marek begriff sehr schnell. »Serbe oder Kroate?«
»Kroate.«
»Und du lebst hier?«
»Der alte Juri lebt hier. Auch er stammt ursprünglich aus Kroatien. Mehr werde ich dir nicht sagen, komm jetzt mit. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«
»Ist es noch weit?«
»Du wirst es überleben, Marek.« Der Soldat fasste zu und umklammerte den Arm des Pfählers. Wie eine Zwinge hatten sich seine Finger um den rechten Ellbogen gespannt.
»He, was soll das?«, beschwerte sich Marek. »Wir sind hier nicht im Krieg, und du führst keinen Gefangenen ab.«
»Ich bin immer im Krieg.«
»Denk auch mal an andere.«
»Du bist auch im Krieg. Das hat der alte Juri gesagt.«
Marek seufzte und ergab sich damit in sein Schicksal. »Wenn er das gesagt hat, muss es wohl stimmen.«
»Klar.«
Sie gingen weiter, aber der Griff lockerte sich, und schließlich, als der Pfad für beide doch zu eng wurde, ließ der Soldat seinen Begleiter los, wohl auch in dem Wissen, dass eine Kugel aus seinem Gewehr immer schneller war als die Flucht des alten Mannes.
Es ging noch tiefer in die Berge hinein, zumindest kam es dem guten Marek so vor. Die Hänge wurden steiler, der Weg gefährlicher. Unter den Bäumen war es schwül, und beinahe jeder Atemzug wurde zur Qual. Vor allen Dingen für Marek, der nicht mehr der Jüngste war. Aber er war zäh wie Leder. Das zumindest sagte er sich selbst, und er spornte sich damit an.
Er wollte leben, lange leben. Wenn es nach ihm ging, ewig, denn so konnte er den Kampf gegen die Brut fortsetzen bis in alle Ewigkeiten. Er hasste sie, die Vampire. Sie waren das Schrecklichste, was es seiner Meinung nach auf der Welt gab. Im Laufe der vergangenen Jahre war er zu einem gefürchteten Vampirjäger geworden, und den Namen Pfähler trug der gute Frantisek Marek nicht grundlos.
Sein alter Eichenpflock hatte schon so manchem Blutsauger den Garaus gemacht, und er würde es auch weiterhin tun, wenn es nach Marek ging, auch wenn der alte Juri, den er an diesem Tage treffen wollte, von einer anderen und auch ultimativen Waffe gegen die Blutsauger gesprochen hatte, auf seinen Pflock würde Marek nicht verzichten.
Der Kampf gegen die Blutsauger war zuletzt härter geworden. Er wusste das durch seine Londoner Freunde John Sinclair und Suko. Jemand hatte es tatsächlich geschafft, ein gewaltiges Vampirreich in einer anderen Dimension aufzubauen. Eine Vampirwelt, und dieser Jemand war der ehemalige BKA-Kommissar Will Mallmann, der sich nun als Vampir Dracula II nannte und sich auch als Nachfolger des ersten Dracula fühlte.
Noch immer bewegten sich die beiden unterschiedlichen Männer durch den Wald. Die Zeit war zwar wie immer vorhanden, aber in einer Gegend wie dieser war sie nicht mehr wichtig, sondern nur noch zweitrangig. Wer sich hier bewegte, schaute nicht auf die Uhr, sondern mehr auf die Sonne, ob diese auf- oder unterging.
Beide hörten das Rauschen. Es klang noch weit entfernt. Als würde der Wind durch das Laub eines Baumes huschen.
»Das ist der Bach«, sagte der Soldat.
»Was bedeutet es?«
»Dass es nicht mehr weit ist. Im Frühjahr, zur Schneeschmelze, schwillt er zu einem Fluss an, aber zu dieser Zeit kann man ihn durchqueren.«
»Gibt es denn keine Brücke?«
»Doch, aber an einer anderen Stelle. Außerdem ist es nicht mehr als ein baufälliger Steg, der beim nächsten Hochwasser weggespült wird.«
»Das ist schlecht.«
»Meine ich auch.«
Der Soldat ging vor. Er bedeutete Marek, erst einmal zurückzubleiben. Der Pfähler sah, dass sein Begleiter hinter einem Knick verschwand, musste einige Sekunden warten und hörte die raue Stimme.
»Du kannst kommen.«
»Wo steckst du denn?«
»Ich winke dir zu.«
»Jedenfalls bist du nicht auf gleicher Höhe«, murmelte Marek, denn die Stimme hatte anders geklungen, als wäre der Soldat in eine Mulde hineingerutscht.
Das traf zwar nicht genau zu, aber es war so ähnlich, denn der Uniformierte stand bereits am Ufer des Baches und war einen nicht mehr sehr steilen Hang hinabgelaufen. Von unten winkte er dem Pfähler zu, dem nichts anderes übrigblieb, als denselben Weg zu nehmen. Von Gehen konnte keine Rede sein, denn Marek rutschte über den mit feuchtem Laub bedeckten Boden hinweg und wäre fast noch in den schnell fließenden Bach hineingestolpert, hätte ihn sein Begleiter nicht im letzten Moment abgefangen.
»Immer langsam, Marek. In deinem Alter solltest du dich nicht übernehmen.«
»Werde erst mal so alt.«
»Da hast du auch wieder recht. Wahrscheinlich schaffe ich das nicht. Mich trifft vorher bestimmt die Kugel.«
»Ja, sieht so aus.«
Die Männer fingen damit an, den Bach zu überqueren, was gar nicht so einfach war, trotz der aus dem Wasser ragenden Steine, die sie als Trittflächen benutzen konnten. Aber die Steine waren feucht und entsprechend glatt. Hin und wieder schäumte Wasser über und spritzte auf die Schuhe der beiden.
Marek hielt sich tapfer. Er sprach nicht, er regte sich nicht auf, er war einfach nur konzentriert und ruhig. Der Soldat weniger. Fluchen gehörte wohl zu seinem Repertoire, denn jeden Tritt und jedes Suchen nach einem Halt begleitete er mit einer Verwünschung. Die aber auch nichts half, denn er rutschte einmal ab und tat einen sehr langen Schritt in das Wasser hinein, wobei er noch auf dem Boden mit der Hacke wegrutschte und schließlich wie in einer Badewanne lag.
Der alte Marek konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Er überwand die restlichen Stufen und sprang an den schlammigen Uferstreifen. Als er sich umdrehte, hatte sich sein Begleiter erhoben, nass wie eine in den Tümpel gefallene Katze, und wieder fluchend.
»Das musst du wohl noch üben, wie?«
»Nein.«
»Ist nicht mein Problem.« Marek hob die Schultern. Er schaute zu, wie der Soldat das Wasser aus seiner Kleidung wrang. Er bewegte hektisch seinen Körper und schüttelte sich ein paar Tropfen ab, die ihn wie Glasperlen umflogen. Dann fuhr er durch sein Haar. »Wir können endlich weitergehen, Marek.«
»Wie weit?«
»Keine Sorge, das wirst du noch schaffen.«
Der eine nass, der andere trocken. Irgendwo fühlte sich Frantisek Marek als Sieger. Was er vorhin erlebt hatte, gehörte zu den kleinen Freuden im Leben, auch wenn es eine Schadenfreude war.
Sie gingen über den weichen Boden mit der dicken Humusschicht. Dabei blieben sie in dem relativ schmalen Flusstal. Den Hang an dieser Seite brauchten sie nicht hochzugehen. Er war mit wildem Gesträuch und Gestrüpp bedeckt, knorrig und zäh. In den Lücken hatten Bäume ihren Platz gefunden. In den unteren Hälften schimmerten die Stämme kahl. An manchen Stellen war die Rinde abgefressen worden. Über ihnen funkelte noch immer das Licht der Sonne. Die Wärme blieb. Und die vermischte sich mit der Feuchtigkeit der Umgebung zu einer sehr schwülen Luft.
Auch Mareks Begleiter dampfte.
Da er seinen Namen noch nicht bekanntgegeben hatte, fragte ihn der Pfähler danach.
»Ich bin Milan.«
»Und?«
»Das muss reichen.«
»Wie du meinst. Eine Frage noch: Was hast du mit dem alten Juri zu tun?«
»Ich bin sein Enkel. Zumindest hat er mir das immer gesagt. Ob es genau stimmt, weiß ich auch nicht. Jedenfalls führe ich dich zu ihm, und ich bewache ihn.«
»Ist das nötig?«
Milan nickte im Rhythmus seiner Schritte. »Ja, das ist nötig. Deshalb hat man auch dich geholt. Er hat von dir gehört, und er hat mir gesagt, dass ich dich suchen muss. Ich habe dich zum Glück schnell gefunden, denn die Feinde schlafen nicht.«
»Welche Feinde?«
Milan hob die Schultern. »Davon hat Juri zwar gesprochen, aber er hat nichts Genaues gesagt. Aber es gibt Feinde.« Er knetete seine Nase, weil sie juckte. »Aber das ist alles noch etwas weit weg für mich. Er wird dir mehr sagen können.«
»Ich bin gespannt.«
Milan nieste, bevor er sagte: »Wir sind gleich da. Juri lebt in einer Hütte.«
Weit war die Hütte nicht mehr entfernt. Milan deutete auf eine Gruppe ziemlich kahler Bäume, die vor ihnen in den Himmel ragte. Sie glichen irgendwelchen Wächtern oder den Beinen gewaltiger Riesen, die sie einfach abgestellt hatten. Unterholz war wenig vorhanden. Die schlanken, dicht zusammenstehenden Laubbäume reichten als Deckung aus, und Marek staunte nicht schlecht, als sein Blick plötzlich auf eine primitive Hütte fiel, an der der Zahn der Zeit schon lange genagt hatte.
Milan streckte den Arm nach links aus, sodass Marek gegen ihn prallte. »Bleib hier stehen.«
»Was machst du?«
»Ich melde mich an. Zwar erwartet Juri dich, aber es ist besser, wenn ich zuerst hineingehe.«
»Wie du willst.«
Marek blieb zurück. Er hörte noch das Knarren alter Türangeln, dann wurde es wieder ruhig, und nur das Summen der Insekten umgab ihn. Es war eine Musik, die nie abriss. Er hörte sie permanent, er hatte es auch aufgegeben, nach den Quälgeistern zu schlagen. Sie gehörten einfach zum Sommer in Feuchtgebieten dazu.
Natürlich fragte er sich, was der alte Juri von ihm wollte. Er hatte eine Nachricht erhalten, nicht mehr. Es musste sich allerdings um etwas Großes handeln, um einen wertvollen Gegenstand. Kein Schmuckstück, aber für Marek sehr wertvoll und damit auch für seinen Kampf gegen die verfluchte, blutsaugende Brut.
Als er daran dachte, strich er mit einer Hand wieder über seine Waffe. Der Eichenpflock fühlte sich wunderbar glatt an. Er hatte noch immer die Körperwärme. Für Marek war es nicht nur ein einfacher Pflock.
Er war irgendwo mit Leben angefüllt, ein Stück von ihm, das ihn auch ins Grab begleiten würde, würde er irgendwann sterben.
Hoch über ihm stritten sich zwei Vögel und tobten durch das Geäst der Bäume. Er schaute nur kurz hin. Schwarze Vögel waren es. Sie flatterten in den Himmel hinein und waren verschwunden.
Dafür kehrte sehr bald ein ganz anderer »Vogel« zurück. Milan blieb in der offenen Tür stehen. »Du kannst kommen, Marek.«
»Ja, ich bin schon unterwegs.«
Auch in der unmittelbaren Umgebung der Hütte war nichts zu erkennen, was auf irgendwelche Feindseligkeiten hingedeutet hätte. Eine ungewöhnliche Stille umgab den primitiven Bau, der aus Holzstämmen und aus Latten errichtet worden war. Mit Moos und Erde waren die Ritzen verfugt worden. Aus dem Dach ragte ein Schornstein hervor. Das Dach selbst zeigte Lücken, als hätte es jemand mutwillig zerstört.
Milan hielt Marek die Tür auf. »Der alte Juri freut sich. Ich werde nicht bei euch bleiben, aber ich werde mich in der Nähe aufhalten.«
»Gut.« Marek blieb stehen. »Kannst du ungefähr sagen, wie lange es dauern wird?«
»Keine Ahnung, aber Juri hat Zeit. Du musst dich darauf einstellen, hier eine Nacht zu verbringen.«
»Wenn es mehr nicht ist ...«
»Geh jetzt!« Milan schob den Pfähler vor, der sich nach den nächsten beiden Schritten umschaute, aber noch nicht viel erkennen konnte, weil es zu dunkel war.
Es gab nur einen Raum, der als Wohn- und Schlafstätte diente. Eine Bank, ein Tisch, alles aus Holz zurechtgezimmert. Ebenso wie das Bett an der linken Seite und nicht weit von einem der wirklich kleinen Fenster entfernt, die wie blasse, viereckige Augen aussahen und nur wenig Licht ins Haus ließen.
Marek drehte sich um. Er wollte dem Soldaten noch eine Frage stellen, der aber hatte bereits die Hand zum Gruß erhoben und war verschwunden.
»Komm näher ...«
Die Stimme war dort aufgeklungen, wo das Bett stand, und der Pfähler drehte den Kopf. Er war schon ein wenig überrascht, dass er den alten Juri bei seinem Eintreten nicht entdeckt hatte. Das änderte sich nun. Auf dem Bett zeichnete sich, wenn auch nur schwach, die Gestalt ab.
Der alte Juri lag auf dem Rücken. Marek hatte immer wieder darüber nachgedacht, wie dieser Mann wohl aussehen würde, zu einem Ergebnis aber war er nicht gekommen. So hatte er sich vorgenommen, sich überraschen zu lassen.
Bin ich überrascht? fragte er sich. Habe ich mir etwas anderes vorgestellt? Er wusste es selbst nicht. Die Hütte war für Juris Zwecke passend eingerichtet, und es spielte auch keine Rolle, worauf er lag oder wie zusammengenagelt die Möbelstücke auch waren, im Mittelpunkt stand einzig und allein der Mensch.
Wie ein starrer Schatten hob sich der Körper vom Bett ab. Neben dem Bett standen zwei Flaschen. Marek sah sie gerade noch rechtzeitig, sonst wäre er dagegen gestoßen.
Der alte Juri hatte die Tritte des Ankömmlings gehört. Er bewegte sich allerdings nicht. Sein Blick war nach wie vor zur Decke gerichtet, und Marek hörte seinen lauten, keuchenden und leicht stöhnenden Atem über die Lippen fließen.
»Komm näher, Marek.«
»Danke.«
»Setz dich auf die Bettkante.«
Der Pfähler ließ sich dort nieder. Er wunderte sich weiterhin darüber, dass der alte Juri noch immer nicht den Kopf gedreht hatte und ihn anschaute. Plötzlich erinnerte sich Marek wieder an die Nachricht, die man ihm geschickt hatte. Auf dem Zettel hatten nur wenige Worte gestanden. Sie waren mit einer krakeligen Schrift niedergeschrieben worden, als wäre der Schreiber ein Anfänger.
Das Licht sickerte nur spärlich durch die schmutzige Scheibe. Aber es fiel günstig und berührte den Oberkörper des auf dem Rücken liegenden Mannes, der seine Augen geschlossen hielt. Die Hände lagen auf seinem Bauch, und Marek konnte die langen Finger sehen, die wie knotige Stöcke aussahen. Dabei dunkel, mit Schmutz unter den Nägeln.
Juri trug eine Hose mit Hosenträgern und einen sehr alten und fleckigen Pullover. Das Gesicht war klein und rund, es erinnerte an einen Apfel, der mit Puderzucker bestäubt worden war. Bei genauerem Hinsehen aber waren es helle Barthaare, die das Gesicht bedeckten. Ebenso weißgrau wie das Haar, das sehr lang und nach hinten gekämmt war.
Er hatte die Augen noch immer nicht geöffnet, was Marek wunderte. Dafür bewegte Juri seine Lippen und schaffte es auch, die rechte Hand ein wenig in die Höhe zu heben.
»Du bist gekommen, Marek.«
»Ja, ich bin bei dir.«
»Das ist gut. Damit ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen. Am Ende meines Lebens, Marek.«
»Vielleicht.«
»Nein, ich habe recht, und ich werde es dir auch bald sagen«, flüsterte der Liegende, wobei er die Augen noch immer geschlossen hielt. Aber auf den Lidern zuckte es, ein Zeichen, dass er bereit war, die Augen zu öffnen, was er auch tat.
Er starrte Marek an.
Der Pfähler blickte zurück.
Etwas durchschoss heiß seinen Unterleib. Er saugte die Luft ein, er hatte es eigentlich schon geahnt, doch nun bekam er die Gewissheit.
Der alte Juri war blind!
Frantisek Marek brauchte einige Zeit, um sein tiefes Erschrecken zu kompensieren. Er spürte, wie sich der Mund zusammenzog, als wäre er mit Säure gefüllt worden. Am liebsten hätte er zur Seite geschaut, das kam ihm irgendwie feige vor, und deshalb richtete er seinen Blick auch weiterhin auf die Augen des Mannes, die in dem Sinne keine Augen mehr waren.
Der alte Juri war auch nicht einfach so erblindet. Da hatte irgendwer nachgeholfen, und zwar auf brutalste Art und Weise, denn die Augen waren regelrecht zerstochen oder aus den Höhlen herausgeschält worden. Es musste schon vor einiger Zeit geschehen sein, denn in den leeren Höhlen hatten sich Narben gebildet, und es war auch wildes, rohes und feucht schimmerndes Fleisch nachgewachsen.
»Du hast es gesehen?«, fragte Juri flüsternd.
»Ja ...«
»Du hast dich nicht erschreckt?«
»Doch.«
»Und jetzt?«
Marek hatte sich seine Worte sehr genau überlegt. »Wissen ist Macht, eine größere Macht als das Sehen, so wunderbar es auch ist. Man kann die Augen zerstören, aber nicht das Wissen. Und ich bin der Ansicht, dass du sehr viel weißt. Ich spüre es einfach. Ich gehe sogar so weit, um von einer Seelenverwandtschaft zu reden. Oder ist das zu hoch gegriffen?«
»In diesem Fall nicht, Marek. Ich habe mich auf dich gefreut, und ich bin nicht enttäuscht worden. Du musst bei meiner Nachricht gespürt haben, dass ich jetzt eine Hilfe benötige.«
»Ja, das stimmt.«
»War die Reise schlimm?«
»Es geht.«
»Ich weiß, dass sie nicht einfach war«, flüsterte Juri, wobei sein Atem pfiff. »Es gibt Menschen, die die Nähe des Todes spüren, und ich gehöre dazu. Auch wenn ich nicht mehr sehen kann, weiß ich doch, dass der Sensenmann bereits über mir schwebt und mit seiner Sichel winkt. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und die wenigen Stunden sollten wir beide nutzen, denn die Nacht wird bald den Tag verdrängen, und du weißt genau, dass es dann ihre Zeit ist.«
»Die Zeit der Vampire?«
»Ja, Marek. Deshalb habe ich dich kommen lassen. Du bist der Pfähler, du bist derjenige, der sie hasst, der sie ein ganzes Leben gehasst hat, und ich habe dich nicht grundlos zu mir kommen lassen. Wir werden es gemeinsam versuchen, und ich bin derjenige, der dir das Erbe überreichen will. Du bist der einzige Mensch, der es verdient hat, und es ist gleichzeitig auch ein Stück von mir.«
»Was ist es?«
»Gleich, Marek, gleich. Nur nicht so voreilig, bitte. Was ist mit Milan?«
»Er wacht draußen.«
»Das ist gut.«
»Ist er tatsächlich dein Enkel?«
»Ich nenne ihn so, denn eigentlich habe ich mein ganzes Leben allein gelebt.«
»Aber du hast nicht nur gelebt, du hast auch erlebt, denke ich mir.«
»Das stimmt.«
»Dann willst du mit mir über dein Leben reden?«
Juri lächelte, bevor er sich mühsam aufrichtete. Es war nur mehr ein Versuch, und Marek war ihm dabei behilflich. Er stützte ihn ab und ließ ihn erst los, als der alte Mann eine Sitzstellung erreicht hatte. »Gib mir etwas zu trinken, bitte. Die Flaschen müssen neben dem Bett stehen. Ein Glas brauche ich nicht.«
Marek reichte ihm eine der beiden Flaschen, die der Blinde mit beiden Händen umfasste. Er brachte die Öffnung zielsicher an seine Lippen und trank.
Nach dem zweiten Schluck ließ er die Flasche sinken. Er wischte einige Tropfen aus seinem Bart, und Marek stellte die Flasche wieder neben die andere. Sie hatte einen klaren Saft enthalten, mehr eine Nährlösung. Jedenfalls keinen Alkohol.
»Jetzt fühle ich mich besser.«
»Das sieht man.« Juri lachte leise. Er strich mit seinen Handflächen über die Decke hinweg und runzelte die Stirn. »Ich hatte dir die Gefahr vorhin schon angedeutet, aber jetzt möchte ich doch etwas konkreter werden, wenn ich darf.«