John Sinclair Sonder-Edition 19 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair Sonder-Edition 19 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Der Friedhof lag im finsteren Schottland und war verflucht.

"Die Toten schreien!", flüsterten die Bewohner der umliegenden Dörfer. "Sie finden keine Ruhe in dieser unheiligen Erde ..."

Die Menschen irrten sich nicht. Nachts, wenn der Wind eingeschlafen war, klangen die Schreie auf. Geknechtete Seelen jammerten und winselten. Tote wollten aus ihren Gräbern. Auf den Grabsteinen erschienen blasse, fratzenhafte Gesichter.

Ich erreichte den Friedhof zu spät. Da waren die Schreie der Toten bereits zum Grabgesang der Menschen geworden ...

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Seitenzahl: 189

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Inhalt

Cover

Impressum

Ewige Schreie

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Ollyy; Hollygraphic

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7235-2691-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

John Sinclair ist der Sohn des Lichts. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis ist seine Bestimmung. Als Oberinspektor bei Scotland Yard tritt er Woche für Woche gegen Zombies, Werwölfe, Vampire und andere Höllenwesen an und begeistert weltweit eine treue Fangemeinde.

Mit der John Sinclair Sonder-Edition werden die Taschenbücher, die der Bastei Verlag in Ergänzung zu der Heftromanserie ab 1981 veröffentlichte, endlich wieder zugänglich. Die Romane, in denen es John vor allem mit so bekannten Gegnern wie Asmodina, Dr. Tod oder der Mordliga zu tun bekommt, erscheinen in chronologischer Reihenfolge alle zwei Wochen.

Lesen Sie in diesem Band:

Ewige Schreie

von Jason Dark

Bis spät ins 19. Jahrhundert hinein wurden Selbstmörder in besonderen Teilen des Friedhofs, die man »Selbstmörder-Ecke« nannte, beigesetzt. Meist lag sie an der dunklen und schattigen Nordseite der Kirche. Der Brauch ging auf alte germanische Vorstellungen zurück. Diese Stelle war nur für rastlose Seelen geeignet, weil man Selbstmord für eine unverzeihliche Sünde und die Geister von Selbstmördern für äußerst gefährlich hielt. Auf manchen Friedhöfen wurden Selbstmörder überhaupt nicht begraben.

Der einzig mögliche Ort für ihr Grab war eine Wegkreuzung. Zusätzlich wurde den Toten noch ein Holzpflock durch das Herz gestoßen, um zu verhindern, dass sie als Geist an dieser Stelle wieder erschienen.

***

Manche nannten ihn ein Werkzeug des Teufels, andere wiederum hatten überhaupt keinen Namen für ihn, weil ihnen die Furcht davor den Mund verschloss. Auf jeden Fall wurde er von den Menschen mehr gehasst und gefürchtet als geliebt. Auf ihn verzichten konnte jedoch niemand. Sie brauchten ihn, denn die Zeiten waren unruhig und voller Gefahren.

Es kam nicht oft vor, dass er leer stand. Irgendjemand machte sich immer eines Vergehens oder Verbrechens schuldig, um an ihm sein Leben auszuhauchen.

Es war der Mörder-Galgen!

Er stand im Schatten der Kirche, als Abschreckung für die Bösen, ein Mahnmal für die Gerechten. Nachts, wenn der Wind über das Land fuhr und die Büsche des alten Friedhofs geisterhaft bewegte, dann konnte man ihn sogar hören.

Sein Holz ächzte und stöhnte. Abergläubische Menschen behaupteten, es wären die Geister der Gehängten, die keine Ruhe fanden und für alle Ewigkeiten ihren unsichtbaren, höllischen Reigen um den Galgen tanzten.

Nicht weit entfernt stand die Kirche. Kein großes Bauwerk, aber in ihrer strengen Form noch an die Romanik erinnernd. Niemand betete für die Seelen der Verdammten, aber jeder wusste, dass sie unsichtbar um die Mauern der Kirche streiften. Die Angst ging um.

Und eines Tages passierte es. Man hatte zwei Wochen zuvor einen Mörder aufgehängt, der seine Frau und seine Tochter erschlagen hatte. Da kein neuer Fall vorlag, hing er sehr lange am Galgen, als Abschreckung für die Menschen.

Es waren nur wenige, die sich den Toten ansahen. Eines Abends im späten Oktober jedoch, als die Messe zelebriert wurde und der Küster seinen letzten Rundgang machte, wobei er auch den Friedhof nicht ausließ, geschah es.

Der Galgen war leer!

Der Küster sah dies, blieb minutenlang vor dem Gerüst stehen und holte röchelnd Luft. Aus weit geöffneten Augen sah er die Schlinge an, die sich im Nachtwind bewegte wie ein Pendel, und ihn erfasste das kalte Grauen.

Jemand hatte den Toten gestohlen! Eine andere Möglichkeit gab es für den Küster nicht. Er begann zu zittern, hart schlugen seine Zähne aufeinander. Der Schweiß drang ihm aus allen Poren. Mit weichen Knien lief er zurück und spürte plötzlich die Kälte, die seinen gesamten Körper erfasste.

Wie zu Eis geworden stand er da! Unbeweglich, flach atmend, mit der Angst im Nacken sitzend. Ohne sich umzudrehen, wusste er, wer hinter ihm stand. Ein Geist – der Geist des Toten.

Er schauderte. Über seinen Rücken liefen die kalten Schauer so schnell, als wolle einer den anderen einholen. Er wusste nicht, was er tun sollte, das Grauen war zu plötzlich über ihn gekommen, und er sank langsam in die Knie.

Der Boden war weich. Es hatte in den letzten beiden Tagen geregnet. Laub hatte einen dichten Teppich gebildet. Es knisterte zwischen seinen gespreizten Fingern, und von den nahen Wiesen her wurden große Nebelschleier wie gewaltige Leichentücher herbeigeweht.

Vorboten eines drohenden Todes, der auch ihn bald umfangen würde, dessen war sich der Küster bewusst.

Die Kälte hinter ihm nahm zu. Sie schnürte ihn zusammen, seine Atmung stockte, das Herz schlug überlaut, die Echos hallten in seinem Schädel wider, und dann hörte er die Stimme.

»Ich bin es, mein Lieber. Erkennst du mich nicht, Küster? Du warst doch auch dabei, als man mich hängen wollte, nicht wahr? Du hast mitgestarrt, mitgelacht, mitgegafft. Jetzt werde ich mich rächen. Ich werde euren schönen Friedhof zu einem Ort des Bösen machen, und du wirst damit beginnen. Hier!«

Kaum hatte der Unbekannte das letzte Wort ausgesprochen, als er vor sich das bläuliche Flimmern sah. Es hatte menschliche Konturen, und der Küster glaubte sogar, in dem Geist den Gehängten zu erkennen.

Mit einer Waffe. Es war ein kurzer Säbel. Mit Schrecken fiel dem Küster ein, dass der Mann damit seine Familie getötet hatte. Ja, das war die Klinge. Er sah sogar noch eingetrocknetes Blut auf dem Metall, und er ahnte, dass auch er an der Reihe war.

Aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Geist des Mörders hatte etwas anderes mit ihm vor. Er wollte den Friedhof zu einem Hort des Schreckens machen, vor dem sich alle Menschen fürchteten, und er drückte dem Küster den kurzen Säbel zwischen die Finger.

»Nimm ihn!«, kam der flüsternde Befehl. »Los, nimm ihn, und töte dich damit!«

»Was soll ich?«

»Dich töten!«, erklang es dumpf.

Der Küster spürte den hölzernen Griff zwischen seinen Händen. Er wusste nicht, ob er einen Traum erlebte oder sich in der Realität befand, doch als er genauer auf die Klinge blickte, da wurde ihm klar, dass er nicht träumte. Es war die Wahrheit!

»Stoß zu!«, zischte der andere. »Es gibt keinen anderen Weg!«

Der Küster verdrehte die Augen. Er sah hoch zum Himmel, wo die grauen Wolken in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren und wie gefährliche Schatten wirkten. Der Nebel wurde dichter. Er umfing die dicken Mauern der Kirche wie ein gewaltiges Tuch, und die Angst des Mannes steigerte sich ins Unermessliche.

»Mach es!« Der Geist des Gehängten zischte die Worte, er drängte den Küster, und dem blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten.

Er stieß mit dem Messer zu. Der heiße Schmerz drohte ihn zu zerreißen. Plötzlich hatte er das Gefühl, auseinanderzufallen. Er wollte schreien, hatte auch den Mund geöffnet, doch kein Wort drang über seine Lippen. Nicht einmal ein Krächzen oder Stöhnen.

Das Messer steckte noch in seiner Brust, als er langsam nach links kippte und schwer auf die Seite fiel, wobei er den Mund noch weiter aufriss und ein letzter verzweifelter Atemzug über seine Lippen drang.

Dann war er tot …

Der Geist aber schwebte über ihm. Er stieß ein Geräusch aus, das entfernt an ein Lachen erinnerte. Er hatte seinen Spaß gehabt. Der Friedhof war dem Bösen geweiht. Für alle Zeiten sollten die ewigen Schreie über den Totenacker wehen.

***

Das alles war vor mehr als zweihundert Jahren nahe der kleinen Stadt Walham geschehen. Die Menschen, die den Küster damals gefunden hatten und mit dem Aberglauben fest verwurzelt gewesen waren, hatten sofort die richtigen Schlüsse gezogen.

Für sie war der Friedhof entweiht. Jemand hatte dort Selbstmord verübt. Ein Gerechter konnte dort nicht mehr begraben werden, das war einfach unmöglich.

So verkam der Friedhof, und auch in die Kirche traute sich kaum jemand. Als der Pfarrer starb, fand er keinen Nachfolger. So blieb die Gemeinde jahrelang ohne Geistlichen, bis irgendjemand auf die Idee kam, eine neue Kirche zu bauen. Weit weg von dem Ort des Schreckens.

Nahe der Kirche wurde auch ein neuer Friedhof angelegt, und die Menschen vergaßen den alten sehr schnell.

Doch die ewigen Schreie waren nicht verstummt. Im Gegenteil, die klangen wieder auf.

Schrecklicher als je zuvor. Und der kleine schottische Ort wurde in einen wahren Strudel des Schreckens hineingerissen.

***

Als James McMullogh nach Hause kam, fiel ihm sofort die herrschende Stille auf. Er ging erst gar nicht ins Haus, sondern blieb in der offenen Tür stehen, denn die Stille war so ungewohnt, dass er direkt eine Gänsehaut bekam. Warum meldete sich Gladys denn nicht? Sie musste doch zu Hause sein.

Der vierzigjährige Vertreter schüttelte den Kopf. Vielleicht war sie sauer, dass er in den letzten beiden Tagen nicht angerufen hatte, aber es war zu viel zu tun gewesen. Bei dem warmen Wetter orderten die Geschäftsleute die doppelte Menge an Sommerkleidung, und gegen Abend war er immer todmüde in sein Bett gefallen. Hatte sie deshalb das Haus verlassen?

McMullogh betrat den Flur und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er fühlte dabei den Schweiß unter seinen Fingerkuppen, und das wiederum erinnerte ihn daran, dass er unbedingt eine Dusche nehmen musste.

»Gladys!« Sein Ruf hallte durch das Haus.

Er musste auch in den oberen Etagen zu hören sein, wovon die zweite schräg war und in ihrer Bauweise dem Dach folgte, aber seine Frau meldete sich auch jetzt nicht. Für James der endgültige Beweis, dass Gladys nicht zu Hause war.

Unten lag die kleine Küche. Die betrat er zuerst. Aufgeräumt war sie wie immer. Nur die nachträglich eingebaute Schiebetür zum Wohnzimmer stand offen. Durch das Fenster an der Nordseite fiel ein langer Streifen des abendlichen Sonnenlichts und malte ein helles Muster auf die Möbelstücke. Eine Vase mit frischen Blumen stand auf dem Tisch. Es war aufgeräumt und eigentlich wie immer.

Nur eine fehlte – seine Frau!

Wo konnte sie stecken? Vielleicht bei der Nachbarin, oder war sie einkaufen gegangen? Nein, da hatte sie den Tag über Zeit, denn sie arbeitete nicht, und Kinder hatten sie auch keine. Gladys’ Fehlen war schon ungewöhnlich.

Ob etwas passiert war? Als der Mann daran dachte, wurde ihm kalt. Er schüttelte sich und merkte, dass seine Hände heftig anfingen zu zittern. Die Schweißausbrüche wurden stärker, und er warf mit Schwung seine Jacke über einen Sessel, wo sie liegen blieb.

Egal, was geschehen war, er musste Gladys suchen. Im Wohnraum steckte sie nicht. Auch nicht auf der kleinen Toilette links neben der Eingangstür, dann konnte sie, falls sie sich im Haus aufhielt, eigentlich nur oben sein.

Dort wollte er jetzt nachsehen. Die Treppe war aus Holz. Er hatte sie nicht abreißen lassen, als er das Haus nach dem Kauf umgebaut hatte. Gladys hatten die alten Stiegen so gut gefallen.

Etwas schwerfällig stieg James McMullogh die Stufen hoch. Seine linke Hand lag auf dem Geländer und hinterließ dort, wo sie das Holz berührt hatte, einen Schweißfilm.

Als er die erste Etage erreichte, sah er die offenen Türen. Aus den Zimmern strömte das Sonnenlicht bis in den winzigen Flur und traf auch die ausgefahrene Leiter, die nach oben zum Dach führte. Das war seltsam.

James McMullogh blieb neben der Leiter stehen und fuhr mit seiner rechten Hand über das Kinn, wo sich die bläulichen Bartstoppeln im Lauf des Tages kräftig vermehrt hatten. Die Leiter war eigentlich nie ausgefahren. Sollte sich seine Frau oben auf dem Speicher aufhalten? Wenn ja, warum hatte sie sich dann nicht gemeldet, schließlich hatte er laut genug gerufen.

Er rief noch einmal, aber er bekam keine Antwort.

James McMullogh beschloss, sich persönlich zu überzeugen. Wenn er seine Frau auf dem Speicher nicht fand und auch nicht im Keller, dann wusste er nicht, wo er noch suchen sollte. Entschlossen stieg er die Leiter hoch. Diese Stufen waren nicht so stabil wie die der Treppe, sie bogen sich unter seinem Gewicht durch, das Holz bewegte sich und knarrte.

Schon auf halber Höhe spürte McMullogh die Hitze. Als Schwall kam sie von oben und drang gegen ihn. Als er weiter ging, nahm sie ihm fast die Luft.

Auf dem Speicher war es noch heißer. Hier hatte sich die Wärme gestaut, sie stand wie eine Wand. Dem Mann fiel es schwer, Luft zu holen und die letzten beiden Sprossen hinter sich zu lassen. Er musste noch den Kopf einziehen, um nicht gegen die ersten schräg stehenden Balken zu stoßen.

Ein letztes Nachziehen seines rechten Beins, dann stand er auf dem Speicher und sah sich um. Seine Frau und er hatten das Haus zwar nach dem Kauf umgebaut, doch den Speicher so gelassen, wie er war. Das Geld reichte einfach nicht mehr, und von der Bank wollten sie nicht extra etwas aufnehmen. Deshalb fehlte die Isolierung, und es waren auch noch die alten Fenster vorhanden.

Kleine Fenster, mehr als Luken zu bezeichnen. Vier gab es insgesamt davon, allerdings ließen sie nicht die Menge an Licht durch, die nötig war, um den Speicher auszufüllen. Es gab noch eine ziemlich dunkle Ecke. An der Nordostseite, wo ein Giebel ausgebaut worden war.

Die Luft kam ihm vor wie flüssiges Blei. McMullogh riss den Mund auf, atmete schwer und bog seinen steifen Rücken durch. Der Schweiß strömte aus seinen Poren, er war nass bis auf den letzten Hemdfetzen, und er drehte sich langsam auf der Stelle, damit er in jeden Winkel des Speichers blicken konnte.

Leere Regalbretter, ein altes Sideboard, ein paar Übertöpfe für Blumen, die verschlissenen Koffer, das war alles. Oder?

Er sah genauer in die Ecke, die am wenigsten Licht bekam. Bewegte sich dort nicht etwas? Eine Gestalt vielleicht? Sein Herz klopfte plötzlich schneller. Er hörte die Echos im Hirn. James wollte den Namen seiner Frau rufen, die Laute erstarben aber auf seinen Lippen.

Langsam ging er näher. Jeden Schritt hörte er. Obwohl er die Füße vorsichtig aufsetzte, schienen ihm seine Schritte überlaut vorzukommen. Sie dröhnten regelrecht in den Ohren.

Zögernd ging er auf diese Ecke des Speichers zu. Sein Kopf streifte die alten Holzbalken, es kümmerte ihn nicht, er merkte auch nicht mehr die Hitze, sondern sah nur die Gestalt, die dort in der Ecke stand.

Es gab mehrere Lichtschalter. An einem musste der Vertreter vorbei. Er hob den Arm und legte den Schalter um. Automatische Bewegungen, die eigentlich gar nicht hatten sein sollen, aber er wollte Gewissheit haben.

Es wurde heller. Sogar über der hinausgezogenen Dachgaube, sodass James McMullogh alles deutlich erkennen konnte. Jede Kleinigkeit nahm er in sich auf. Endlich sah er seine Frau. Sie hatte sich erhängt!

***

Zuerst drang nur ein hohl klingendes Pfeifen über die Lippen des Mannes. Es war der angehaltene Atem, der sich freie Bahn verschaffte. Dann schüttelte McMullogh den Kopf, hob die Arme in einer hilflos anmutenden Bewegung, ließ sie auf halber Höhe stehen, ballte die Hände und begann zu schreien.

Die Laute waren kaum menschlich zu nennen, die aus seinem Mund drangen. Aus ihnen waren all das Entsetzen und die Angst zu hören, die der Mann empfand. Er sah ein Bild, das sich wie mit einem Meißel geschlagen in sein Bewusstsein grub.

Seine Frau hing in einer Schlinge. Er wusste nicht, wie lange sie schon tot war. Die Haut war aufgedunsen, die Augen verdreht, das braune Haar mit den rötlichen Streifen zeigte verfilzte Ansätze. Sie trug ein leichtes rotes Sommerkleid, und ihre nackten Füße baumelten etwa kniehoch über dem Boden. Wie Glasmurmeln wirkten die Augen. Ihr Blick war starr auf den sie betrachtenden Mann gerichtet, aber sie konnte ihn nicht mehr sehen, der Tod hatte sie längst ereilt. Selbstmord …

Sie hatte sich selbst aufgehängt. Aber weshalb, zum Teufel? Warum hatte Gladys zum Strick gegriffen? Es gab kein Motiv, ihr Leben war glücklich gewesen, sie hatten zwar keine Kinder gehabt, trotzdem hatte sich Gladys immer ausgefüllt gefühlt. Und jetzt dieser Schritt. Dieser verdammte, endgültige, nicht mehr rückgängig zu machende Schritt.

James McMullogh stand vor einem Rätsel. Er wusste auf seine Fragen keine Antworten. Er stand dem Problem völlig hilflos gegenüber, und er merkte, wie seine Zähne im Schüttelfrost und wie bei einem Fieberanfall aufeinanderschlugen.

Tränen rannen aus seinen Augen. Als helle Bäche liefen sie an seinen Wangen entlang. Die Knie wurden weich, er konnte sich einfach nicht mehr auf den Beinen halten und brach zusammen. Sein Kopf pendelte nach vorn, während ein trockenes Schluchzen aus seiner Kehle drang. Es gab einfach nichts mehr, wofür es sich noch zu leben gelohnt hätte. Das Schicksal hatte ihn hart und unbarmherzig getroffen. Gladys war nicht mehr da.

Selbstmord! Dieser Begriff schnitt durch sein Bewusstsein. Es war wie ein stummer Schrei, und ein Schrei drang auch aus der Kehle des Mannes.

»Warum?«, brüllte er. »Warum hast du das getan?«

Durch die offen stehende Speichertür drang das Echo und hallte durch das Haus.

Er schrie noch zweimal, dann konnte er nicht mehr, seine Stimme versagte, der Kopf sank nach vorn, und er blieb in seiner Haltung sitzen. James McMullogh war ein gebrochener Mann.

Wie lange er auf der Stelle gesessen hatte, konnte er nicht sagen. Irgendwann hob er den Kopf, sah sich um und stellte fest, dass die Sonne weitergewandert war. Sie erreichte nicht einmal die kleinen Fenster an der Nordseite des Speichers.

Aus rot geweinten Augen schaute er auf seine Frau. Es herrschte Durchzug, der auch den Körper traf. Er pendelte hin und her, als würden unsichtbare Hände mit ihm spielen.

James McMullogh lief es kalt den Rücken hinab. Die Haut dort zog sich zusammen, er zitterte wie Espenlaub, seine Mundwinkel zuckten, der Blick seiner Augen hatte einen leeren Ausdruck.

»Gladys!«, hauchte er. »Gladys, mein Gott …«

Sie gab keine Antwort, und mit Erschrecken wurde James McMullogh klar, dass er seine Frau begraben musste. Er konnte sie nicht mehr zurückholen, sie würde in ein kaltes Grab kommen, und er sah jetzt schon die Gesichter der Menschen, die sich an der Beerdigung beteiligten. Das ganze Dorf würde auf den Beinen sein. Man war neugierig, es war eine Sensation. Jemand hatte Selbstmord begangen.

Oder war es vielleicht keiner? Hatte man Gladys etwa erhängt? Befand sich ein Mörder in der Nähe, der sich für diese grässliche Tat verantworten musste?

McMullogh fiel ein, dass er noch die Polizei benachrichtigen musste. Ja, sie sollten den Speicher hier untersuchen. Unter Umständen fanden sie Spuren, die auf einen Mord hindeuteten.

Das Entsetzen und den Schmerz hatte der Mann zurückgedrängt, er stützte sich ab und stand auf. Ziemlich wacklig in den Knien blieb er stehen. Er riss sich zusammen und schritt noch einmal auf seine tote Frau zu.

Das Seil der Schlinge hatte sie unter der Decke an einem Balken befestigt. Die Schlinge selbst war durch einen Doppelknoten gesichert, nicht so fachmännisch geknüpft wie die von einem Henker. Gladys musste gelitten haben, bevor sie endgültig gestorben war.

»Warum hast du das getan?«, hauchte James. »Warum …?«

Und er sah seine Frau an, ließ die Blicke vom entstellten Gesicht abwärts gleiten und sah plötzlich im unteren Teil des geknöpften Ausschnitts etwas Helles leuchten. James McMullogh wurde misstrauisch. Er berührte seine Frau, brachte sie dadurch ins Pendeln und fasste mit zwei Fingern nach dem Weißen, das dort leuchtete.

Es war ein Zettel! Eine Nachricht? McMulloghs Hände zitterten, als er das Papier auseinanderfaltete und die zittrige Handschrift sah, die von seiner Frau stammte. Ja, die Worte hatte Gladys geschrieben, das war deutlich zu sehen. Er kannte schließlich die Schrift seiner Frau.

Halblaut begann er das zu lesen, was ihm Gladys aufgeschrieben hatte.

Mein geliebter James! Wenn du mich hier auf dem Speicher findest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Dann habe ich mich umgebracht. Ich weiß selbst, dass du für diesen Selbstmord keine Erklärung finden wirst, ich kann sie dir auch nicht direkt geben, aber lass dir gesagt sein, es musste sein. Es gab einfach keinen anderen Ausweg mehr für mich. Ich musste mich umbringen, und ich bin nicht die Einzige, es werden mehr folgen, denn der alte Fluch ist nicht erloschen.

James konnte nicht mehr weiterlesen, weil die Tränen seinen Blick verwischten. Er holte ein Taschentuch hervor, wischte seine Augen klar und schnäuzte die Nase. Ein paar Mal holte er tief Luft, dann endlich hatte er sich gefangen und las murmelnd weiter.

Was immer auch ich getan habe, es hat mit dir und deiner Person nichts zu tun. Ich habe dich sehr geliebt, doch es gibt eine Kraft, die wesentlich stärker ist, stärker als unsere Liebe. Wir hätten nicht hierher ziehen dürfen, denn damit hat alles begonnen. Ich hoffe, du verzeihst mir, auch wenn du mich nicht verstehen kannst. Zieh du weg aus diesem Ort, geh wieder zurück in die Stadt, denn dort bist du sicher. Hier ist alles verloren. Die Menschen von Walham werden nicht mehr lange zu leben haben, denn ich bin erst der Anfang einer Kette von grausamen Ereignissen. Um einen Gefallen allerdings möchte ich dich bitten, mein Geliebter, und du musst mir versprechen, ihn zu erfüllen. Bring mich bei Anbruch der Dunkelheit zum alten Friedhof. Das Grab für mich ist schon ausgehoben. Es liegt in der äußersten Ecke, wo die beiden alten Ulmen stehen und wo vor langer Zeit der Platz für den Galgen gewesen war. Dort kreuzen sich zwei Wege, und da findest du auch mein Grab. Aber du darfst mich nicht einfach hineinlegen, du musst noch etwas tun, auch wenn es dir schwerfällt …

McMullogh stöhnte auf. Er ließ seinen rechten Arm sinken, weil er nicht mehr weiterlesen konnte. Zu schrecklich war das alles, was ihm seine Frau noch offenbarte. Und der Text ging weiter. Es waren noch einige Zeilen zu lesen. Sie kosteten Überwindung, aber James sprach auch die restlichen Worte.

Der letzte Gefallen wird dir am schwersten werden, das weiß ich. Geh hin, nimm einen angespitzten Pflock und stoß ihn mir durch das Herz. Ich bitte dich darum, ich bitte dich herzlich darum. Frag dich nicht nach den Gründen, tu es einfach, nur so kann ich meine ewige Ruhe finden, sonst werden meine Schreie des Nachts über den Friedhof gellen und dich dein Leben über martern … In Liebe – deine Gladys!

James McMullogh wiederholte die letzten Worte. Das geschah wie bei einem Automaten, nur flüsternd, jedoch monoton. Dann schrie er, fiel auf die Knie und presste beide Hände gegen seinen Kopf. Was er da gelesen hatte und wie seine Frau ihren Letzten Wunsch formulierte, ging über seinen Verstand, das konnte er nicht begreifen. Er sollte sie nicht nur in das schon für sie vorbereitete Grab legen, sondern ihr auch noch einen angespitzten Pflock ins Herz stoßen.

Nein, nein! Niemand konnte das von ihm verlangen. Es war unmöglich, sie war tot. Sollte er sie noch einmal töten? Einfach umbringen? Eine Tote umbringen?

Er hob den Kopf. »Ich … ich kann es nicht!«, flüsterte er. »Nein, das bringe ich nicht fertig. Tut mir leid, Gladys, das geht über meine Kraft …«