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Collin de Baker, achtzehn Jahre, Selbstmord. Vom Dach eines Fitness-Centers gesprungen. Ein Schock für die Eltern, die seinen Tod nicht akzeptieren konnten.
Aber Collin war mehr als ein Mensch gewesen. Seine Freunde und die Macht der Hölle hatten ihn schon vor seinem Tod zu einem der Auserwählten gemacht. Collin de Baker kehrte zurück. Nicht mehr als Mensch, sondern als monströse Hyäne verließ er sein Grab. Er hatte dem Tier gedient, er war zum Tier geworden, und für uns begann das Grauen ...
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Die Hyäne
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Die Hyäne
von Jason Dark
Collin de Baker, achtzehn Jahre, Selbstmord. Vom Dach eines Fitness-Centers gesprungen. Ein Schock für die Eltern, die seinen Tod nicht akzeptieren konnten.
Aber Collin war mehr als ein Mensch gewesen. Seine Freunde und die Macht der Hölle hatten ihn schon vor seinem Tod zu einem der Auserwählten gemacht. Collin de Baker kehrte zurück. Nicht mehr als Mensch, sondern als monströse Hyäne verließ er sein Grab. Er hatte dem Tier gedient, er war zum Tier geworden, und für uns begann das Grauen ...
Die schweißfeuchte Hand war hart wie ein Stein, als sie sich auf den Hals der schlafenden Frau legte und diese aus dem tiefen Schlaf riss. Carrie bekam keine Luft mehr, verdrehte die Augen und hatte Todesangst.
Dann ließ die Hand von ihr ab, und ein Hustenanfall schüttelte Carrie. Dabei blieb sie auf dem Rücken liegen.
»Bist du wahnsinnig, Mel?«, waren ihre ersten Worte. »Willst du mich umbringen?«
»Nein, Carrie, nein«, hörte sie die gepresste Stimme ihres neben ihr liegenden Mannes. »Aber ich habe ...«
Carrie de Baker ihn nicht zu Ende reden. »War es wieder der Traum?«
»Ja.«
Carrie schwieg. Sie schaute zu, wie sich ihr Mann auf die Bettkante setzte. Er bewegte sich dabei wie in Zeitlupe. Man sah ihm an, dass er unter seelischem Druck stand.
Es war noch nicht mal Mitternacht. Vor knapp einer halben Stunde war das Ehepaar zu Bett gegangen. Beide waren rasch eingeschlafen, denn der vergangene Tag war anstrengend gewesen. Carrie hatte sich darüber gefreut, dass ihr Mann nicht noch lange wach gelegen und gegrübelt hatte. Wie früher, als er nächtelang vor sich hingestarrt hatte. Er litt unter den Erinnerungen wie unter einer grausamen Folter.
»Möchtest du mir erzählen, was du geträumt hast, Mel?«
Er schüttelte den Kopf, und der Schatten bewegte sich dabei hektisch.
Carrie seufzte. Sie hätte gern das Licht eingeschaltet. Sie wusste allerdings auch, dass Mel es nicht mochte. Er blieb nach diesen Träumen lieber im dunklen Schlafzimmer sitzen, das so dunkel nicht war, denn durch die spaltbreit offenstehende Tür floss das Licht aus dem Flur in das Zimmer. Es war praktisch. Wenn einer von ihnen aufstand, würde er nicht gegen irgendwelche Hindernisse laufen.
Mel quälte sich. Das war zu hören und auch an seinen Bewegungen abzulesen. Immer wieder hob er seinen Arm an und fuhr mit der Hand durch das struppige Haar. Er atmete dabei schwer. Manchmal keuchte er auch oder schüttelte den Kopf.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, mein Glas ist leer.«
»Okay, Mel, ich hole dir einen Schluck.«
Carrie stand auf. Auch jetzt machte sie kein Licht, als sie das Schlafzimmer verließ. Sie ging durch den Flur und gelangte in die Küche, wo sie den Kühlschrank öffnete. Aus der oberen Wohnung hörte sie Musik und Stimmen. Die Mieter hatten Besuch bekommen und feierten irgendeinen Geburtstag.
Im Kühlschrank stand das Mineralwasser. Carrie goss das Glas nur halb voll und mischte das Wasser mit Orangensaft. Beim Umrühren überlegte sie, ob sie eine Schlaftablette in der Flüssigkeit auflösen sollte. Dass ihr Mann immer wieder durch seine Träume gestört wurde und deshalb wenig schlief, war für beide Partner nervenaufreibend. Aber Chemie war auch keine Lösung, zumindest nicht auf Dauer. So ließ sie die Tablette in der Packung und ging mit dem Drink zurück zu ihrem Ehemann.
Der saß noch immer im Bett, die Hände um die Knie geschlungen. Er starrte zum Fenster, als schien von dort jemand zu kommen, der ihn bei der Lösung seiner Probleme unterstützte. Carrie reichte ihm das Glas, blieb neben dem Bett stehen und schaute zu, wie er trank. Bis auf einen geringen Rest leerte er das Glas und nickte. »Das hat gutgetan, wirklich.«
Carrie stellte das Glas wieder weg. »Möchtest du noch etwas haben, Mel?«
»Nein.«
»Sollen wir reden?« Sie fragte es, als sie bereits auf dem Weg zu ihrer Betthälfte war. Dort setzte sie sich zuerst, legte sich schließlich nieder und streckte ihren Arm nach rechts, um Mel zu berühren.
Er saß noch immer. Bewegt hatte er sich nicht. Sein Blick war starr zum Fenster gerichtet, und Carrie wusste, dass er überlegte. Ununterbrochen. Alles drehte sich nur um das eine Thema. Seit einem halben Jahr schon, als das Schreckliche passiert war, das ihrer beider Leben so verändert hatte.
Manchmal hörte es sich an, als würde er stöhnen, statt zu atmen. So reagierte nur jemand, der entsetzlich litt. Carrie empfand diese Laute als schlimm.
»Sollen wir aufstehen, Mel?«
»Nein.«
»Wie schlimm war es?«, fragte sie flüsternd.
Mel de Baker zögerte mit der Antwort. Aber Carrie konnte sehen, wie er zusammenschrak. »Schlimmer als sonst«, gab er zu. »Ich habe noch nie einen so schrecklichen Traum erlebt. Es war der absolute Alptraum. Und ich war mittendrin!«
»Willst du darüber sprechen?«
Er stöhnte auf. »Ich weiß es nicht, Carrie.« Beide Hände presste er gegen die Schläfen. »Es ist alles so schrecklich bizarr auf der einen und so grausam auf der anderen Seite. Ich habe in Bildern geträumt, in Sequenzen. Da lief ein Film ab, aber nicht kontinuierlich. Er wurde immer dann angehalten, wenn etwas Bestimmtes passierte.«
»Weiter, Mel!«, bat Carrie, als ihr die Pause zu lang wurde. Sie hatte sich wieder aufgesetzt, hielt seine Hand umklammert und spürte den Schweiß auf der Haut und auch das leichte Zittern.
»Immer dann war es schlimm«, murmelte er. »Sie stoppten die Bilder. Nein, der Traum stoppte. Ich war gezwungen, mir die Bilder anzusehen, Carrie, denn sie liefen nicht sofort weiter.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja ...«
»Und?«
Mel de Baker sprach noch nicht weiter. Er schüttelte den Kopf, dann fing er an zu weinen. Schließlich nickte er. »Collin war die Hauptperson.«
»Ich dachte es mir.« Carrie hatte so leise gesprochen, dass Mel sie kaum gehört haben konnte. Collin – ihr gemeinsamer Sohn. Er lebte nicht mehr. Er war tot und begraben. Gerade siebzehn war er gewesen, als ihn der Sensenmann zu sich geholt hatte.
Collin lag in der Erde. Er würde nie wieder zurückkehren, er war tot. Mel, sein Vater, konnte sich damit nicht abfinden. Er litt unter Collins Tod. Machte sich Vorwürfe, zu spät aufgewacht zu sein, denn da war Collin bereits in diese teuflische Räderwerk hineingeraten. Ohne Chancen, dort je wieder herauszukommen. Schließlich war er gestorben.
Selbstmord – so lautete jedenfalls der Polizeibericht, doch die Eltern glaubten nicht daran, dass ihr Sohn freiwillig vom Dach gesprungen war.
Sein Körper war beim Aufprall zerschmettert worden. Er hatte geblutet. Die Lache hatte auf dem Gehsteig wie eine Fahne gelegen. Ein schreckliches Bild, das beide Eltern nie vergessen würden.
»Es geht noch weiter, Carrie.«
Die Worte zerstörten die Überlegungen der Frau. »Wie meinst du das denn?«
»Es ist noch nicht beendet.«
»Noch mal. Wen meinst du?«
»Collin, unseren Sohn.«
»Und weiter?«
»Er wird uns noch Ärger bereiten, auch als Toter. Ich weiß es, aber ich kann es nicht verhindern.«
Seine Worte erschreckten Carrie, denn Mel hatte so gesprochen, als gäbe es keine Alternative. Trotz ihrer Furcht hakte sie nach. »Was macht dich denn so sicher?«
»Das weißt du.«
»Nein, Mel. Sag nicht schon wieder, dass dein Traum der Wahrheit entspricht.«
»Ich weiß es besser. Er war noch nie so schlimm.« Scharf saugte er die Luft ein. »Ich glaube, ich ... ich kann nicht mehr bei dir bleiben, Carrie.«
Sie erschrak. So etwas hatte sie noch nie aus dem Mund ihres Mannes gehört. »Wie meinst du das denn? Willst du mich allein lassen, Mel?«
»Nicht für immer. Jetzt aber muss ich weg. Ich kann nicht mehr länger hier in der Wohnung bleiben. Ich muss einfach an die frische Luft, Carrie. Versteh das bitte.«
»Und wohin willst du?«
»Einfach zwei Stunden fahren oder gehen. Ich weiß es nicht so genau, Carrie.«
Carrie ließ nicht locker. Sie wusste, dass sich ihr Mann in einer Situation befand, in der er Hilfe brauchte, auch wenn er das nicht zugeben wollte. »Willst du ihn mir nicht erzählen, Mel? Oft ist es besser, wenn man mit einem Menschen über die Probleme redet.«
»Das weiß ich, aber ...«
»Du kannst mir alles sagen, Mel. Alles. Ich höre zu. Danach überlegen wir gemeinsam, was ...«
Er unterbrach seine Frau mit einer Frage. »Glaubst du eigentlich, dass unser Sohn Collin tot ist?«
Carrie wusste nicht, was sie von dieser Frage halten sollte. Sie schwieg, dann lachte sie auf, hob die Schultern und fragte schließlich: »Was soll die Frage, Mel? Natürlich ist er tot. Wir haben ihn begraben. Auch wenn mir sein Selbstmord noch immer nicht in den Kopf will, aber wir haben uns damit abzufinden. Collin ist tot und begraben.«
»Begraben schon«, gab Mel zu.
»Und tot nicht?«
»Das weiß ich nicht, Carrie. Ich bin mir zumindest unsicher geworden.«
»Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«
»Klar, du hast auch nicht meinen Traum durchlitten.«
Carrie spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg. »Du redest zwar von deinem Traum, aber das ist mir zu wenig. Du musst mir doch endlich sagen, was du geträumt hast.«
»Dann werde ich es dir erzählen«, flüsterte Mel über die Bettdecke hinweg. Er bewegte dabei seine Hände sehr unruhig. Schloss sie zu Fäusten, streckte sie, ballte sie wieder zusammen und wiederholte dieses Spiel immer wieder.
»Ich höre.«
»Der Traum drehte sich um Collin. Ich konnte jede Einzelheit sehen. Ich war eine einsame Gestalt, die über den Friedhof ging, auf dem Collin begraben liegt. Keiner außer mir war auf dem Gelände. Aber ich wusste, dass man mich beobachtete. Von irgendwoher wurde ich kontrolliert, doch es zeigte sich niemand. Ich ging weiter, immer weiter, aber nicht ziellos. Ich war auch kein normaler Mensch mehr, denn ich schwebte über dem Boden. Man hat mich zu dem Ziel getrieben, vor dem ich schließlich stehenblieb. Weißt du, was es war, Carrie?«
»Sicher«, gab sie leise zu. »Ich kann es mir schon denken. Es war Collins Grab.«
»Genau. Es war sein Grab.«
»Und weiter?«
Mel atmete heftig. Carrie kannte diese Reaktionen. So wusste sie, dass er jetzt zur Schlüsselszene seines Traums gelangen würde, zu dem Punkt, der ihn so geschafft hatte. »Ich stand davor«, nahm er seine Erzählung wieder auf, »und ich habe dir ja gesagt, dass ich den Boden kaum berührte. Auch jetzt war das so. Ich schwebte vor dem Grab und hatte den Kopf gesenkt. Da ist es dann passiert.«
»Was passiert?«, fragte sie.
Den nächsten Satz brachte er nur stotternd hervor. »Ich ... ich konnte ihn sehen.«
»Wen? Collin?«
»Ja. Ich schaute in das Grab hinein. Es hatte sich geöffnet. Nur dieses eine Viereck auf dem Friedhof. Ich blickte nach unten, und die Erde war verschwunden.«
»Was hast du gesehen? Ihn?«, hauchte Carrie.
»Ja, ihn. Das muss Collin gewesen sein. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Er sprach jetzt schnell und zischend. »Aber es war trotzdem nicht unser Sohn. Da lag jemand anderer in seinem Grab – oder etwas anderes. Es war schrecklich ...«
»Was denn?«
»Eine Hyäne!«, schrie Mel de Baker. »Im Grab unseres Sohnes lag eine Hyäne!«
Carrie sagte nichts. Auch ihr Mann schwieg. Beide saßen in ihren Betten und starrten vor sich hin. Bis Mel de Baker nach hinten fiel und dabei leise schluchzte.
Seine Frau hörte, wie sein Kopf das Kissen berührte und es zusammendrückte.
Übelkeit war in ihr hochgestiegen. Die letzten Worte hatten für diesen Schock gesorgt, und sie hatte den Eindruck, kein Mensch mehr zu sein, sondern eine Puppe, die man genommen und kurzerhand in das Bett gesetzt hatte.
Ein schrecklicher Traum. Ein furchtbarer Alp. Jetzt konnte sie die Reaktionen ihres Mannes begreifen. Ihr wäre es kaum anders ergangen. Kälte und Hitze wechselten sich auf ihrem Körper ab, die Gänsehaut wollte sowieso nicht weichen.
Carrie beugte sich nach rechts, wo ihr Mann flach auf dem Rücken lag. Sie streichelte ihn. Sie fuhr über seine Stirn hinweg, über seine Wangen und stellte fest, dass sein Gesicht schweißnass war.
»Hast du gehört, Carrie?«, fragte er leise.
»Ja, das habe ich.«
»Was sagst du?«
Ihr seufzender Atemzug war zu hören. »Schrecklich, Mel, es muss schrecklich für dich gewesen sein. Ich kann jetzt verstehen, dass du so fertig bist. Ich wäre es an deiner Stelle auch.«
»So schlimm war der Traum noch nie«, sagte Mel de Baker. »Ich habe ihn hautnah erlebt. Ich war auf dem Friedhof und nahm die Gerüche wahr. Den Geruch der feuchten Erde, der faulenden Kränze, alles war überdeutlich und zugleich auch so schrecklich. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste, wenn ich ehrlich sein soll. Es war etwas ganz anderes.« Im Liegen schüttelte Mel den Kopf.
»Was ist es denn gewesen?«
»Er, Carrie.«
»Wie? Wen meinst du? Doch nicht etwa Collin.«
»Doch, Collin.«
»Und was war mit ihm?«
Mel de Baker verzog die Lippen. »Er hat sich nicht in eine richtige Hyäne verwandelt«, flüsterte Mel. »Sein Körper sah aus wie der eines Menschen. Sah so aus, wie wir ihn kannten. Aber sein Kopf war der einer Hyäne, bei der schon viel Haut abgefallen war und das blanke Gebein durchschimmerte. So ist es gewesen. Das hat mich so erschreckt. Es war entsetzlich.«
Carrie schwieg. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Sie senkte den Kopf. Dabei schaute sie auf ihre leicht zitternden Hände. Ihr toter Sohn hatte sich in eine Hyäne verwandelt. Oder in eine Mutation zwischen Mensch und Hyäne. So etwas war unmöglich. Das musste einfach zu schrecklich gewesen sein, ein derartiges Monster zu sehen, das früher der eigene Sohn war. Sie fing plötzlich damit an, das Unterbewusstsein des Menschen dafür zu hassen, weil es immer so schreckliche Bilder produzierte und sie dem Schlafenden als Film schickte. Da kam sie nicht mit zurecht. Sie hätte wer weiß was dafür gegeben, wenn es ihr gelungen wäre, das Unterbewusstsein ihres Mannes ausschalten zu können.
Sie hörte ihm wieder zu, als er mit leiser Stimme weitersprach. »Und weißt du, was am allerschlimmsten ist, Carrie?«
»Nein, wie sollte ich?«
Er drehte sich abrupt nach links, um sie anschauen zu können. Im Halbdunkel schimmerte sein Gesicht schwarz. Die Pupillen waren dunkle Kreise vor einer hellen Wand. »Ich glaube meinem Traum, Carrie. Ich glaube ihm fest. Es ist so, ich bin davon überzeugt, dass sich unser Sohn verwandelt hat. Aber mir fehlt noch der Beweis. Ich werde ihn mir holen, und zwar in dieser Nacht. Erst dann werde ich meine Ruhe finden können und wissen, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.«
»Moment mal, Mel. Soll das heißen, dass du zum Friedhof fahren willst?«
De Baker schaute seine Frau für einen Moment scharf an. Er nickte. »Ja, ich werde fahren ...«
Der Kombi stoppte nahe der Mauer, direkt bei den Büschen. Das war die beste Stelle gewesen, um den Wagen abstellen zu können, denn von hier aus hatten es die beiden de Bakers nicht mehr weit bis zum Grab ihres Sohnes. Carrie hatte ihren Mann nicht allein fahren lassen wollen. Nicht in diesem Zustand. Deshalb hatte sie das Steuer übernommen. Mel hatte noch das Werkzeug eingepackt und es auf die Ladefläche gelegt, zwischen die Kisten, in denen Mel sonst die Ware für sein kleines Geschäft transportierte.
Er hatte sich nicht davon abbringen lassen, eine Hacke, einen Spaten und eine Schaufel einzuladen. Jetzt holte er das Werkzeug hervor, während Carrie die Türen abschloss.
Sie hatte sich zu dünn angezogen. Zwar lagen die Temperaturen nicht unter dem Gefrierpunkt, aber der Wind wehte immer wieder in kalten Böen heran. Und die Luft war feucht, deshalb war die gefühlte Temperatur niedriger. Carrie fror.
»Soll ich dir helfen, Mel?«
»Nein, danke, ich habe es schon geschafft.«
»Und du willst noch immer ...?«
»Ja, ich will noch immer, Carrie!«, flüsterte er und kam aus seiner gebückten Haltung hoch. »Ich muss es einfach. Ich muss Sicherheit haben, nur dann werde ich wieder ruhig schlafen können. Hast du mich verstanden?«
»Schon gut, Mel.«
Er drückte die Heckklappe wieder zu. »Ich weiß, wie du denkst, Carrie. Das ist mir alles klar, aber ich muss dir sagen, dass dies mein Spiel ist. Wenn du willst, kannst du nach Hause fahren und mich in zwei Stunden hier wieder abholen.«
»Bitte, Mel, hör auf damit. Du weißt, dass ich dich nicht allein lasse. Ich will ebenfalls Gewissheit. Ich muss wissen, ob sich Träume erfüllen können.«
Er schaute sie an. »Hoffentlich geschieht das nicht in diesem Fall. Das wäre einfach zu schrecklich. Aber auch ich brauche die Gewissheit.«
»Gib mir den Spaten.«
Er reichte ihr das Gewünschte, war aber mit seinen Gedanken ganz woanders, denn er schaute ins Leere, als könnte er dort etwas Bestimmtes sehen.
Sie gingen los. Am Himmel zogen Schatten wie düstere Todesboten vorbei. Der Wind spielte mit den Wolken. Rechts von ihnen begleiteten sie Gespenster wie dürre Arme, die über die Mauer hinweg nach Beute griffen.
Es war der Westrand des großen Geländes. Diese Seite hier lag zwar einsam, aber trotzdem nicht in der Einsamkeit versteckt, denn sie grenzte an ein großes Feld, das für die Erweiterung des Friedhofs reserviert war.
Das Grab ihres Sohnes lag in einer Ecke. In der Arme-Sünder-Ecke, wie man gesagt hatte, aber es war kein anderer Platz frei gewesen. Die de Bakers hatten nehmen müssen, was man ihnen zugeteilt hatte.
Mel de Baker war einige Schritte vorgegangen und blieb stehen, als das Ende des Geländes erreicht war. Er wartete, bis seine Frau neben ihm stand. Dabei zeigte er auf die Mauer. »Das ist leicht, auch für dich. Da hat sich sogar das Buschwerk durchgeschoben.«
Carrie schaute ihren Mann noch einmal an und fragte: »Willst du es wirklich tun?«
»Ja!«, zischte er. »Jetzt erst recht.« Er trat mit dem Fuß auf und sagte etwas, mit dem Carrie nicht zurechtkam. »Er hatte gelbe Augen, Carrie.«
»Was meinst du?«
»Die Hyäne oder unser Sohn hatte gelbe Augen. Ich konnte sie sehen. Gelbe Augen. Wie bei einem Raubtier. Aber nicht so gelb wie die Knochen. Anders.«
»Ja, ich verstehe dich, Mel. Dann lass uns gehen.«
»Du zuerst, Carrie. Ich werde dir helfen und dich stützen. Komm.« Er nahm ihr den Spaten ab und legte ihn zu dem anderen Werkzeug auf dem Boden.
Die Mauer bot kein unüberwindbares Hindernis. Auch eine ungeübte Kletterin wie Carrie schaffte es beim ersten Versuch. Sie blieb kurz auf der Mauer sitzen und nahm die Werkzeuge entgegen, die Mel ihr reichte. Sie warf Spaten, Schaufel und Hacke auf der anderen Seite zu Boden und wollte warten, bis auch Mel die Mauer erklommen hatte. Sie hatten sich für diesen unbequemen Weg entschieden, weil er eben viel kürzer war und sie nur wenige Schritte bis zum Grab ihres Sohnes zu gehen hatten.
»Spring nicht auf die Schaufel!«, flüsterte Mel seiner Frau noch zu. Dann stieß er sich ab. Er landete weich, räumte die Gegenstände sicherheitshalber zur Seite und fing Carrie ab, bevor sie im weichen Boden versank.
Für länger als gewöhnlich klammerte sie sich an ihrem Mann fest, als suchte sie dort Halt. Sie schaute ihm in die Augen. »Wir machen doch alles richtig, nicht?«
»Klar. Was sollte schiefgehen?«
Carrie küsste Mel auf die kalten Lippen. »Schon gut«, sagte sie. »Es war nur so eine Idee.«
Sie sammelten die Geräte auf. Drehten sich, schauten zur Mauer, die sich wie ein Schatten abhob. Kleingehölz stand davor. Zweige und Blätter raschelten im Wind.
»Sollen wir jetzt?«
Carrie nickte. Sie wollte nicht mehr sprechen. Ihr war nicht wohl. Noch nie hatte sie sich in der Nacht auf einem Friedhof bewegt. Jetzt konnte sie nachvollziehen, was ihr Mann mit diesen unsichtbaren Augen gemeint hatte, von denen er sich beobachtet gefühlt hatte. Auch sie fühlte sich von geheimnisvollen Wesen unter Kontrolle gehalten, als wären die Seelen der Toten zurückgekehrt, um über die in den Gräbern liegenden Gebeine zu wachen.
Die neuen Gräber lagen direkt an der Quermauer. Der Weg dorthin war noch nicht befestigt. So gingen sie über einen schmalen, matschigen Pfad, auf dem man leicht ausrutschen konnte.
Collins Grab war das letzte in der Reihe, und sie bleiben davor stehen. Eigentlich hatte Mel de Baker vorgehabt, sich auf die Hacke und die Schaufel zu stützen, um sich das Grab genau anzuschauen. Dazu kam es aber nicht mehr. Ihm rutschten die Geräte aus der Hand und landeten am Boden.
Auch seiner Frau erging es nicht anders. Nur drang aus ihrem Mund ein leiser Schrei. »Das ist nicht wahr, Mel. Das ist nicht wahr ...«
Er sagte nichts, senkte nur den Kopf, um besser sehen zu können. Jemand hatte sich an dem Grab zu schaffen gemacht! Mit Hilfsmitteln, wie sie auch die Eltern des Toten mitgebracht hatten.
Die Blumen lagen daneben. Das provisorische Holzkreuz war nicht nur herausgerissen, sondern auch zerhackt worden. Die einzelnen Stücke lagen im Umkreis von wenigen Schritten.
Am meisten irritierte sie der Hügel an der linken Grabseite. Dort türmte sich die Erde auf, die die Grabschänder aus dem Grab geschaufelt hatten. Sie war noch nicht fest, sodass die Tat noch nicht sehr lange her sein konnte.
Carrie und Mel waren so entsetzt, dass sie zunächst nicht daran dachten, Licht zu machen. Carrie weinte sogar leise.
Mel tröstete seine Frau nicht. Er spürte zwei Gefühle in seinem Innern. Wut und Angst wechselten sich ab.
Aus der Tasche seiner Windjacke holte er die Lampe hervor, schaltete sie ein und leuchtete in das Grab.
Der Lichtkreis wanderte weiter. Er erreichte den Sargdeckel – und stieß hinein.
Mel stöhnte auf. Ein zerstörter Sarg. Zerstört von einer Kraft, die ihn regelrecht zerrissen zu haben schien. Damit kam Mel nicht zurecht. Aber eines stand felsenfest und würde sich auch nicht ändern: Der Sarg war leer!
Collin de Baker lag nicht mehr in dieser Totenkiste. Jemand hatte ihn herausgeholt. Schon jetzt stellte sich Mel die Frage, wie sein Sohn dabei ausgesehen haben musste. War er eine normale Leiche gewesen oder eine Mutation zwischen Mensch und Hyäne ...?