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Als Dinah Hutton das Mädchen fand, war es noch ein Baby, und die Frau hatte gerade eine Ehehölle hinter sich. In einer fremden Stadt zog sie das Findelkind groß, das sie Simone genannt hatte.
Aber Simone war anders. Zwar unterschied sie sich in nichts von den üblichen Kindern, doch der äußere Eindruck täuschte. Simone liebte die Nacht, den Vollmond - und das Töten. Jahrelang hatte sie den Drang unterdrücken können, bis sich ihr wahrer Vater zeigte. Er war Fenris, der mächtige Götterwolf. Er trieb Simone an. Unter seinem unheilvollen Einfluss verwandelte sich die Mondnacht in eine Mordnacht ...
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Mondnacht – Mordnacht
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Mondnacht – Mordnacht
von Jason Dark
Dinah Hutton hatte gerade erst eine wahre Hölle von Ehe hinter sich, als sie das Baby fand und sich seiner annahm. In einer fremden Stadt zog sie das Findelkind groß, das sie Simone taufte. Zwar unterschied sich das Mädchen auf den ersten Blick in nichts von anderen Kindern, doch dieser äußere Eindruck täuschte. Simone liebte die Nacht, den Vollmond – und das Töten. Jahrelang hatte sie diesen Drang unterdrücken können – bis sich ihr wahrer Vater zeigte: Fenris, der mächtige Götterwolf! Unter seinem unheilvollen Einfluss verwandelte sich jede Mondnacht in eine Mordnacht ...
Als Dinah Hutton die polternden Schritte ihres Mannes hörte, explodierte bei ihr die Angst.
Sie kannte das grausame Spiel, das fast jeden zweiten Abend wie ein Ritual ablief, wenn Amos aus der Kneipe zurückkehrte. Volltrunken und emotional aufgeladen, denn irgendwer hatte ihn immer geärgert.
Nach dem Betreten des Hauses führte ihn sein erster Weg dann stets ins Schlafzimmer, wo Dinah zitternd wartete. Die Tortur war jedes Mal furchtbar. Er musste seinen Frust abladen, und das geschah in der Regel durch brutale Schläge. Da nahm er auf nichts und niemanden Rücksicht. Da drehte er durch. Wenn Dinah Pech hatte, wurde sie schwer getroffen, und zu den ohnehin noch vorhandenen blauen Flecken kamen weitere hinzu.
In dieser ländlichen Gegend gab es keine Emanzipation. Da wurde noch nach den Regeln des Stärkeren gelebt: der Mann hatte das Sagen, die Frau musste gehorchen.
Dinah wollte nicht mehr. Sie war diesen Unhold leid. Keine Schläge, kein Ausflippen, nichts mehr von diesen grausamen Dingen, die sie in den vergangenen beiden Jahren ihrer verfluchten Ehe durchlitten hatte.
Sie war fünfunddreißig. Wenn sie in den Spiegel schaute und dabei ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie tatsächlich aussah wie fünfundvierzig oder älter. Dieses verdammte Leben hatte seine Spuren bei ihr hinterlassen.
Dinah wollte nicht mehr. Ihre Vorbereitungen hatte sie bereits getroffen. Eigentlich hatte sie noch mit Amos reden wollen, und sie hatte es auch angedeutet, er war trotzdem gegangen und hatte ihr nicht mal zugehört.
So lag sie in ihrer normalen Kleidung auf dem Bett: Hose, Rollkragenpullover, selbst die Turnschuhe hatte die Frau nicht abgestreift. Für eine schnelle Flucht war alles vorbereitet. So stand auch das Fenster offen. Hin und wieder fuhr der Wind wie ein kalter Atem in das Zimmer.
Amos war jetzt an der Tür. Wie immer, wenn er betrunken war, schaffte er die Strecke einigermaßen, blieb aber auch stets vor der Tür stehen, um sich zu erholen. Der Fußmarsch von der Kneipe nach Hause strengte ihn stets an, so musste er Kraft sammeln, um in sein Finale einzusteigen.
Dinah saß mehr auf dem Bett, als dass sie lag. Die Decke hatte sie nur lose über ihren Körper geworfen. Sie konnte sie sehr schnell zur Seite schleudern und aufstehen.
Sie hörte Amos husten. Danach fluchte er. Anschließend brabbelte er etwas vor sich hin, aber auch diese Worte waren von Verwünschungen begleitet.
Er war in dieser Nacht wieder besonders aufgeladen. Was das bedeutete, hatte Dinah schon mehr als einmal zu spüren bekommen. Sie zog die Beine genau in dem Augenblick an, als der Heimgekehrte die Tür mit einem heftigen Ruck öffnete.
Er blieb auf der Schwelle stehen. Sein mächtiger Schatten malte sich als Standbild in der Dunkelheit ab. Tagsüber arbeitete er auf dem Bau, eine Arbeit, die sehr viel Kraft erforderte und besser war als jedes Fitness-Training.
Im Zimmer war es finster, aber nicht zu dunkel. Dinah wollte auch kein Licht machen, aber Amos gefiel die Dunkelheit nicht. Sie hörte ihn schimpfen, dann bewegte er ungelenk seinen Arm und streifte mit der Handfläche über die Blümchentapete an der Wand entlang, wo sich auch der Lichtschalter befand. Immer dieselbe Bewegung. Schweiß und Schmutz hatten auf der Tapete schon einen dunklen Streifen hinterlassen. Unter der Decke wurden die vier Schalen der Lampe hell. Kein großartiges Licht, aber man konnte erkennen, welch ein schreckliches Monstrum dort vor ihr stand.
Amos war zehn Jahre älter. Ein Kerl wie ein Bär. Grobschlächtig und gewalttätig. Die Spuren dieser Eigenschaften zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Wüste Schlägereien hatten Narben hinterlassen, und die Haut sah aus wie Holz.
Amos Hutton roch nach Schweiß, Rauch und Bier. Einen Gestank, den er von seinen Kneipentouren immer mitbrachte und an den sich Dinah nie würde gewöhnen können.
Er verzog den Mund, als er seine Frau im Bett sah. Wahrscheinlich erkannte er sie nicht einmal klar, da der Alkohol sein Sehvermögen wohl beeinträchtigte.
Er lachte sie an. »Du hast auf mich gewartet, wie?«, fragte er mit schwerer Stimme.
»Nein, Amos, bitte ...«
»Wieso?«, röhrte er. »Was soll das heißen? Was erzählst du mir da für eine Scheiße? Die Frau hat auf ihren Mann zu warten, hörst du? Sie muss warten.«
»Amos, bitte, lass uns doch reden.«
»Worüber denn?«
»Ich kann so nicht mehr weiterleben, Amos. Du musst das doch verstehen.«
Mit der rechten Hand wischte er unsicher durch die Luft. »Was erzählst du da für einen Bockmist?«, lallte er vor sich hin. »Das darf doch nicht wahr sein, verflucht! Ich will so etwas nicht hören. Du tust, was ich sage!« Die letzten Worte hatte er geschrien und stieß sich von der Tür ab.
Nach dem ersten Schritt stand ihm ein Stuhl im Weg. Er bückte sich, packte das Möbel an der Lehne, hob es an und wuchtete es zurück auf den Fußboden. Er hatte so viel Kraft in diesen Schlag gelegt, dass der Stuhl zerbrach.
Genau das hatte der Betrunkene gewollt. Er brauchte etwas, mit dem er schlagen konnte. Ein Stuhlbein kam ihm gerade recht. Mit einer unsicheren Bewegung bückte er sich danach und murmelte Worte vor sich hin, die Dinah in noch stärkere Furcht versetzten.
»Dir werde ich es zeigen. Von wegen reden, labern. Du sollst gehorchen, und wenn ich dir den verdammten Gehorsam einprügeln muss, du blödes Weib, du!«
Er kam wieder hoch. Schwankend wie ein Halm im Wind. Um auf den Beinen bleiben zu können, musste er sich sogar festhalten, sonst hätte es ihn umgehauen.
Das alles hatte ihn Zeit gekostet, und darauf hatte Dinah gebaut. Als Amos gebückt stand und nach einem Stuhlbein griff, hatte sie die Gunst des Augenblicks genutzt und schwungvoll die Decke zur Seite geschleudert.
Dinah wusste genau, dass das, was sie jetzt tat, so gut wie endgültig war, aber es gab kein Zurück mehr. Das Nötigste hatte sie zuvor in einen Rucksack gestopft, der neben dem Bett stand. Danach griff sie, kaum dass ihre Füße den festen Halt des Bodens gefunden hatten. Dann drehte sie sich um und stieß das Fenster ganz auf. Es war nicht unbedingt groß, aber sie brauchte sich auch nicht hindurchzuzwängen. Den Sprung in den Garten hatte sie ebenfalls geübt, er würde ihr auch jetzt keine Schwierigkeiten bereiten.
Sie kletterte hinaus und schaute nicht zurück. Der blanke Überlebenswille war Triebfeder genug. Nur eines hatte sie nicht bedacht. Der dicke Rucksack auf dem Rücken störte. Am oberen Fensterrand klemmte sie mit ihm fest.
Und sie hörte den Schrei!
Nein, das war mehr als ein Schrei. Ein wildes, wütendes Röhren peinigte ihr Trommelfell. Sie wusste, dass es nicht von einem Tier stammte, sondern von Amos, der jetzt begriff, was gerade geschah. Und dieser Kick würde ihn sicherlich aus seinem Zustand herausreißen und ihn schnell machen.
»Bleib hier!«, brüllte er. »Verdammtes Weib! Bleib endlich hier!«
Dinah hörte nicht. Sie ruckte im offenen Fenster klemmend hin und her, und ihr Angst steigerte sich zur Panik. Der Rucksack wurde an der oberen Stelle eingedrückt, und die Frau versuchte es mit einem erneuten Schwung.
Sie fiel.
Ihr Mann schleuderte das Stuhlbein. Er war nur einen Schritt nach vorn gegangen, mehr schaffte er nicht, aber er hatte all seine Kraft hinter den Wurf gelegt, und das war verdammt nicht wenig.
Das Stück Holz traf die Frau genau in dem Augenblick, als sie sich abstieß.
Wieder hatte sie einen Schutzengel. Amos hatte sie zwar mit dem Stuhlbein nicht am Kopf erwischt, sondern am Rücken, aber dort schützte sie der Rucksack. Sie hörte den Aufprall, als hätte jemand gegen einen Sandsack geschlagen. Sie wurde auch nach vorn gestoßen, aber der Treffer verursachte keine Schmerzen. Dinah landete auf der weichen Gartenerde, in ihrem kleinen Paradies, wie sie den Garten stets nannte, und hier kannte sie sich auch am besten aus. Auch in der Dunkelheit wusste sie deshalb genau, wohin sie laufen musste, um ihrem gewalttätigen Mann zu entfliehen.
Bevor Amos das Fenster erreicht hatte, war sie schon nach rechts verschwunden und lief mit hastigen Schritten auf die wild wuchernde Brombeerhecke zu, in deren Mitte jedoch eine Lücke bestand, durch die sie huschen konnte.
Amos hatte das Fenster erreicht und sich nach draußen gebeugt. Es war nach Mitternacht und entsprechend still. Deshalb klang seine Stimme doppelt so laut.
»Komm zurück, du verfluchte Schlampe! Komm zurück, du dreckiges Biest! Los, komm her!«
Sie kam nicht.
Sie rannte weiter.
Nicht mal das Gewicht des Rucksackes spürte Dinah, als sie ihr Grundstück verlassen hatte, an dem sie nicht hing. Amos hatte es zusammen mit dem Haus von seinen Eltern geerbt.
Seine Schreie wurden leiser, je mehr sie sich vom Haus entfernte. Dinah hetzte hinein in das stille Dorf, aber sie wusste auch, dass die Gefahr noch nicht vorbei war.
Amos hatte zwar eine Menge getrunken, doch er würde es nicht hinnehmen, dass seine Frau geflohen war. Er wollte auf jeden Fall die Verfolgung aufnehmen. Deshalb musste sie sich beeilen und einen möglichst großen Vorsprung erreichen.
Die Schreierei hatte einige Hunde geweckt. Ihr scharfes Bellen zerstörte die Stille, aber das alles machte der flüchtenden Frau nichts aus. Sie hatte es endlich geschafft, ihren Mann zu verlassen. Das war der Tag überhaupt in ihrem Leben.
Dinah hätte auch die normale Dorfstraße nehmen können. Das war ihr jedoch zu riskant. Sie wollte sich an die versteckten Wege halten, eintauchen in die Gassen, durch die dunklen Stellen eilen, die von keinem Laternenschein getroffen wurden. Und sie würde auch nicht zur Durchgangsstraße hinlaufen, sondern in die entgegen gesetzte Richtung flüchten, hinein in die Einsamkeit der Natur, wo der kleine Bach floss und es einen Übergang gab, der mehr ein Steg als eine Brücke war.
Die Frau lief schnell. Das kostete Kondition. Sie spürte jetzt auch den Druck des Gepäcks auf dem Rücken immer mehr. Da schien sich ihre Kleidung in Blei verwandelt zu haben.
Dennoch legte sie keine Pause ein, auch wenn ihre Beine schwerer wurden. Von irgendwelchen Geräuschen oder Verfolgern war nichts mehr zu hören. Sie blieben zurück. Sie hatten eingesehen, dass sie es nicht schaffen konnten. Aber auch Dinah spürte immer mehr, wie ihre Kräfte nachließen. Weit konnte sie nicht mehr laufen, sie musste einfach eine Pause einlegen.
Die Dunkelheit deckte vieles zu, sodass ihr die Umgebung vorkam wie eine gleichmäßig finstere Landschaft, in der es nichts Helles gab.
Aber sie hörte das Plätschern des Wassers und wusste jetzt, dass der Bach sehr nah war. Der Boden hatte sich noch mit der Feuchtigkeit des letzten Regens vollgesaugt, dementsprechend weich war er. Die Schritte der Frau wurden immer schwerer, und manchmal schleifte sie auch nur über den Boden hinweg.
Sie blieb stehen. Keuchte. Beugte sich nach vorn. Schlug die Handflächen gegen die Oberschenkel und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihre Erschöpfung hinterlassen hatte. Zudem zitterte sie am gesamten Körper. Noch einige Schritte bewegte sich Dinah schwerfällig nach vorn, dann musste sie sich einfach zu Boden sinken lassen.
Sie hatte nicht bemerkt, wie nahe sie bereits der Böschung des Bachbetts gekommen war. Mit dem Absatz des rechten Turnschuhs berührte sie bereits die Kante, glitt darüber hinweg, schrie vor Schreck auf und fiel auf ihr Gesäß. Darauf rutschte sie über die feuchte Böschung hinweg, aber sie konnte sich trotz des Gewichts auf dem Rücken halten und glitt nicht in das kalte Wasser hinein.
In der Mitte der Böschung kam sie zur Ruhe, und der heftige Herzschlag beruhigte sich wieder.
Geschafft.
Eine Pause einlegen. Danach weiterlaufen, bis sie eine Bushaltestelle erreichte, um wegfahren zu können. Geld hatte sie mitgenommen. Es war nicht viel, aber sie würde damit für einige Zeit über die Runden kommen.
Sehr langsam ließ sich Dinah Hutton nach hinten sinken. Der prall gefüllte Rucksack wirkte wie ein großes Kissen. Ihre Hacken konnte sie in eine kleine Rille stemmen, so war ihre Lage sogar einigermaßen bequem.
Wie es weitergehen würde, wusste sie noch nicht. Irgendetwas würde sich finden lassen. In einer Zeitung hatte sie von Frauenhäusern gelesen, in denen man sich verstecken konnte, wenn der Horror zu Hause einfach zu stark geworden war. An ein derartiges Haus hatte Dinah auch gedacht. Sie würde dort bleiben und sich nützlich machen. Dann konnte ihr alles andere gestohlen bleiben.
Es tat gut, in dieser nächtlichen Stille zu bleiben und die Ruhe zu genießen. Das Plätschern des Bachs störte sie nicht, es gehörte einfach dazu. Hin und wieder hörte sie sogar ein leises Fiepen. Es ließ darauf schließen, dass Mäuse in ihrer Nähe unterwegs waren.
Eine halbe Stunde wollte sie sich gönnen, um den Weg dann fortzusetzen. Auch nicht mehr so panikhaft, sondern viel überlegter. Die große Angst war weg, auch die vor ihrem gewalttätigen Mann. Wahrscheinlich würde er trotz seines Zustands durch das Dorf irren und randalieren. Da würden ihm die Nachbarn schon die entsprechenden Widerstände entgegensetzen. Sie stellte sich vor, dass er es zu weit trieb und dann zusammengeschlagen wurde.
»Ich gönne es dir, du brutales Schwein!«, flüsterte sie. »Ich gönne es dir von ganzem Herzen.« Dann hörte sie das Weinen!
Zunächst tat die Frau nichts. Mit diesem Geräusch hatte sie nicht gerechnet, und Dinah konnte auch nicht so recht glauben, dass sie es überhaupt vernommen hatte. Eher glaubte sie an eine Täuschung. Die überreizten Nerven konnten ihr einen Streich gespielt haben, aber das Weinen klang erneut auf. Und ab jetzt waren ihre Sinne wieder gespannt. Die Welt hatte sie wieder, ihre Zukunftsträume waren verschwunden. Das Weinen bildete sie sich nicht ein.
Obwohl Dinah nie ein Kind geboren hatte, wusste sie sehr genau, dass diese Klänge nur von einem Kind stammen konnten, nicht von einem Tier.
Trotz der eigenen, nicht eben besonderen Situation erwuchsen in Dinah Hutton mütterliche Gefühle. Wie oft hatte sie gelesen, dass unschuldige Kinder einfach ausgesetzt worden waren, und sie hatte diese Rabeneltern immer gehasst. Dinah stellte ihre eigenen Pläne zurück und lauschte diesen traurigen Klängen. Es war nicht eben eine warme Nacht. Dinah dachte daran, dass das Kind frieren würde. Wenn es noch lange allein lag, konnte noch Schlimmeres passieren. Wieder konzentrierte sich die Frau und war sich ihrer Sache jetzt sicher.
Von links war das Weinen an ihre Ohren gedrungen. Der Wind hatte es ihr zugetragen, und sie ging davon aus, dass das unschuldige Kind nicht weit entfernt lag. Möglicherweise sogar auf der Böschung, versteckt im hohen Gras. Eine Geschichte aus dem Alten Testament fiel ihr ein. Auch Moses, der große Führer des Volkes Israel, war ausgesetzt worden und am Ufer des Nils gefunden worden.
Dinah Hutton stand auf. Es fiel ihr nicht leicht bei der Schräge und dem Gewicht auf dem Rücken, doch nach einigen Sekunden hatten sie sich daran gewöhnt.
Das Weinen war verstummt. Kein Grund für Dinah, die Suche abzubrechen, und so ging sie weiter. Sie ärgerte sich, dass sie keine Taschenlampe eingesteckt hatte, so musste sie das Ziel im Dunkeln finden. Ein heller Himmel breitete sich nicht über ihrem Kopf aus. Er sah eher aus wie ein gespenstisches Gebilde, dessen Wolkenberge vom Wind hin- und hergeschoben wurden. Und wieder hörte sie das Weinen.
Diesmal sogar so nah, als wäre es dicht vor ihren Füßen aufgeklungen. Das Geräusch zwang sie zu einem Stopp. Dinah schaute nach unten. Direkt vor sich sah sie nichts, aber etwas weiter nur, vielleicht eine Schrittlänge, bewegte sich etwas.
Dinah Hutton war plötzlich so aufgeregt. Ihr Herz klopfte schneller, und sie hatte Mühe, einen Schrei der Überraschung zu unterdrücken, als sie in die Knie ging und sich direkt vor dem Bündel niederließ.
Moses war in einen Korb gelegt worden. Das Kind aber lag auf dem Boden, eingebettet in eine Mulde und in mehrere Laken gehüllt, die vor der schlimmsten Kälte schützte.
Dinah beugte sich über das Kind. »Meine Güte, du bist ja noch ein Baby! Wer hat das nur getan?« Sie strich über das kleine Gesicht, die Wangen, und sie sah auch die hohe Stirn des Kindes, wobei ihr das Gesicht im Verhältnis dazu klein vorkam. Da stimmten die Proportionen nicht so recht, aber sie konnte sich auch bei den schlechten Lichtverhältnissen getäuscht haben.
Eines stand für die Frau fest: sie konnte und würde das Baby hier nicht liegenlassen. Sie würde auch nicht durch einen Anruf bei der Polizei diesen Platz verraten, sie wollte es mitnehmen. Es sollte sie auf ihrer Flucht zunächst einmal begleiten. Wie es dann weiterging, musste man noch sehen.
Außerdem brauchte das Kind Nahrung. Da kamen so viele Dinge zusammen, um ein Überleben zu garantieren. Ob es ein Mädchen oder ein Junge war, war nicht zu erkennen, doch auswickeln wollte sie es jetzt nicht.
Dafür streckte Dinah die Arme aus und schob beide Hände unter den kleinen Körper, um ihn hochzuheben. Das Kleine war leicht wie eine Feder, und es weinte nicht mehr. Dinah wiegte es im linken Arm. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir werden es schon gemeinsam schaffen, darauf kannst du dich verlassen, mein Schatz.«
Das Kind lächelte, als hätte es die Worte verstanden, und Dinah wurde es warm ums Herz. Sie hatte sich eigentlich immer ein Kind gewünscht. Zu Beginn ihrer Ehe. Aber so wie sich ihr Mann entwickelt hatte, war sie jetzt froh, keine Mutter geworden zu sein. Das hätte nur noch mehr Ärger und Stress bedeutet. Wie sie Amos kannte, hätte dieser auch seine Kinder geschlagen.
»Du musst schlafen, mein kleiner Schatz«, flüsterte sie dem Findelkind zu. »Einfach nur schlafen, und ich werde dir dazu ein Lied summen. Ist das gut so?«
Wieder lächelte das Baby. Meine Stimme scheint ihm zu gefallen, dachte Dinah, während sie das Kinderlied summte, das sie noch aus ihren ersten Lebensjahren kannte.
Dinah Hutton war so mit ihrer Aufgabe beschäftigt, dass sie die Umgebung vergaß. Und auch die nahe Vergangenheit rückte immer weiter in den Hintergrund. Erst als ihr selbst kalt wurde und die Körperwärme wohl nicht mehr ausreichte, um das Kind zu wärmen, holte sie aus dem Rucksack einen Pullover. In ihn wickelte sie das Findelkind zusätzlich ein. »So, jetzt kann dir nicht mehr viel passieren«, flüsterte Dinah. »Ich werde auf dich achtgeben, mein Schatz.« Sie stand auf. Es war mehr ein zufälliger Blick, den sie dem Himmel entgegenwarf. Die Wolken hatten sich verzogen, und die Frau sah den vollen Mond wie ein kaltes Auge in die Tiefe schauen.
Sie wusste selbst nicht, weshalb sie beim Anblick des Erdtrabanten erschauderte. Er hatte ihr nichts getan, und sie hatte sich eigentlich nie vor ihm gefürchtet.
Das aber war jetzt anders geworden. Kälte kroch über ihren Rücken, und sie drückte das Findelkind enger an sich. Weshalb das Kleine plötzlich anfing zu weinen, wusste sie nicht. Allerdings erschrak sie, denn dieses Weinen war ein anderes als noch beim ersten Mal.
Nein, das war kein richtiges Weinen, und sie hatte sich auch nicht verhört. Was jetzt aus dem Mund des Kindes drang, hörte sich an wie ein Heulen. Zudem hatte es den Kopf so gedreht, als wollte es zum Himmel schauen.
Dinah folgte dem Blick. Sie sah den Mond. Diesen kalten Erdtrabanten, um den sich so viele Geschichten rankten. Aber sie sah noch mehr. Aus Wolkenfeld schob sich ein Schatten hervor. Ein dunkler Gegenstand, der auch in die Nähe des Mondes geriet und seinen Weg fortsetzte, sodass er einen Teil der Scheibe einnahm. Das kalte Licht war die perfekte Hintergrundbeleuchtung für den Schatten. Deshalb erkannte ihn Dinah auch so deutlich.
Es war der dunkle Umriss eine Wolfes ...
Am anderen Tag!
Dinah hatte es tatsächlich geschafft, den ersten Bus zu bekommen. Sie war todmüde. Die Natur forderte ihr Recht. Bis sie ihr Ziel nahe London erreichte, würde noch viel Zeit verstreichen. Mindestens drei Stunden.
Bevor sie allerdings die Augen schloss, schaute sie nach, was an ihrer Seite lag. Junge oder Mädchen? Die spannende Frage löste sich bald, denn sie erkannte, dass es ein Mädchen war.
Dinah lächelte, denn irgendwie beruhigte sie dies auch. Bei einem Jungen hätte sie sofort an ihren Mann gedacht, und den brutalen Kerl wollte sie vergessen.
Ein Mädchen, dachte sie. Es braucht einen Namen. Sie wollte sich einen schönen Namen aussuchen, doch sie war zu müde und schlief ein. Es gelang ihr gerade noch, das Kind wieder einzuwickeln.
Es war ein langer, ein gesunder und auch ein erholsamer Schlaf, aus dem sie allerdings durch den Wirrwarr der Stimmen herausgerissen wurde.
Dinah Hutton schreckte hoch. Sie stieß sogar einen leisen Schrei aus, spürte das Schaukeln des Fahrzeugs und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie sich befand.
Wegen dieser Situation schoss Panik in ihr hoch, sie verkrampfte sich auch, weil sie wieder an Amos dachte und sein verzerrtes Gesicht vor sich sah. Rasch aber löste es sich wieder auf und schuf einem anderen Platz. Dem Gesicht einer älteren Frau, die mit freundlicher Stimme fragte, ob der Platz neben Dinah noch frei sei.
»Natürlich«, antwortete sie automatisch und rieb dabei ihre Augen, die doch brannten.
Die Frau nahm Platz, stellte eine große Tasche vor ihre Füße und knöpfte den Mantel auf. Ein Stöhnen drang aus ihrem Mund, als sie Dinah das Gesicht zudrehte. »Endlich sitzen. Sie glauben gar nicht, wie gut das tut.«
»Doch, das weiß ich. Mir ist es ähnlich ergangen.«
»Und das Kind gehört zu Ihnen?«
Dinah durchzuckte ein Blitzstrahl. Die Frau hatte sie wieder an das Baby erinnert. Sie selbst hatte kaum daran gedacht, und plötzlich wurde es ihr kalt.
»Ist ja niedlich. Was ist es denn? Mädchen oder Junge?«
»Mädchen«, gab Dinah tonlos zurück.
»Und wie heißt die Kleine?«
Dinah Hutton überlegte blitzschnell. Jetzt musste ihr ein Name einfallen. Zum Glück hatte sie einige Lieblingsnamen parat, und so sprach sie den aus, der bei ihr an erster Stelle stand.
»Simone«.
»Oh, der ist aber toll.«
»Finden Sie?«
»Ja.« Die Frau mit dem runden Gesicht und den dünnen Barthaaren auf der Oberlippe, nickte. »Ein richtig schöner Name ist das, wirklich. Und das Kind ist auch so lieb. Es schreit nicht, es macht kein Theater. Wirklich außergewöhnlich.«
»Da haben Sie schon recht.«
»Und es macht schon eine Reise mit.«
»Warum nicht?«