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Ihr Zuhause war ein alter Friedhof, und ihren tatsächlichen Namen hatte sie abgelegt. Satanica nannte sie sich nun, scharte gleichgesinnte Frauen um sich und bereitete die Reinkarnation der alttestamentarischen Göttin Anat vor. Jeder Widerstand wurde gebrochen. Selbst der eigene Bruder musste auf grausame Weise sein Leben lassen.
Das aber war zugleich ihr größter Fehler, denn Perry Brixton hatte auch für die Polizei gearbeitet. So waren Suko und ich Satanica nun auf den Fersen. Aber sie schlug zurück. Mit Helfern, an die wir nie gedacht hatten - die Horror-Reiter ...
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Satanica
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Satanica
von Jason Dark
Ihr Zuhause war ein alter Friedhof, und ihren tatsächlichen Namen hatte sie abgelegt. Satanica nannte sie sich nun, scharte gleichgesinnte Frauen um sich und bereitete die Reinkarnation der alttestamentarischen Göttin Anat vor. Jeder Widerstand wurde gebrochen. Selbst der eigene Bruder musste auf grausame Weise sein Leben lassen.
Das aber war zugleich ihr größter Fehler, denn Perry Brixton hatte auch für die Polizei gearbeitet. So waren Suko und ich Satanica nun auf den Fersen. Aber sie schlug zurück. Mit Helfern, an die wir nie gedacht hatten – die Horror-Reiter ...
Der Dealer fiel wie ein Bündel Lumpen zwischen die alten Mülltonnen. Dabei riss er eine von ihnen so unglücklich um, dass der Mann von dem herausquellenden Abfall begraben wurde.
Perry Brixton rieb seinen rechten Handknöchel. Der Schlag hatte auch ihm weh getan, aber es hatte sein müssen, denn Koko – so hieß der Dealer –, hatte schon zu viele Opfer auf dem Gewissen. Er war einer der großen Stoffverkäufer und machte seine Geschäfte mit all den Unglücklichen, den Süchtigen. Doch gefasst oder bestraft hatte man ihn bisher nicht.
Bis zu dieser Nacht.
Da war ihm Brixton auf den Fersen gewesen, hatte ihn beim Verkauf beobachtet und fotografiert, ihn verfolgt und letztendlich in diesen Hinterhof getrieben, wo er ihn gestellt hatte. Es war Koko nicht mal gelungen, sich großartig zu wehren. Mit einem Tritt hatte er es versucht, mehr nicht. Dann war er von dem mörderischen Fausthieb erwischt und zwischen die Tonnen an der Wand geschleudert worden.
Dort lag er jetzt. Nur seine Beine waren zu sehen. An deren Stellung erkannte Perry, dass Koko auf dem Bauch lag, begraben von stinkenden Abfällen, alten Lumpen, feuchtem Papier und anderen undefinierbaren Dingen.
Es war dunkel in diesem Geviert, auch eng. Licht musste man sich denken. Eine dicke Wolkenschicht verhüllte den Himmel. Nur hin und wieder ließ sie den abnehmenden Mond sehen, der dann blass aus dem Dunkel hervorglotzte.
Sekundenlang hatte sich Koko nicht gerührt und auch nicht gemeldet. Er stand sicherlich unter Schock. Vielleicht war er auch k.o. gegangen, das war alles möglich, denn der Dealer gehörte nicht eben zu den Leuten mit Nehmerqualitäten.
Die Zeit des Schocks ging vorbei. Der Abfall bewegte sich, weil sich auch Koko bewegte, und er fing an zu jammern. Die Laute hörten sich dumpf an.
»Komm hoch!«, befahl Perry.
Koko blieb liegen.
Brixton ärgerte sich. »Hast du nicht gehört, verdammt? Du sollst hochkommen.«
Der Dealer bewegte sich. Jetzt heftiger. Er räumte auch den Abfall zur Seite. Dabei fluchte er, spuckte und würgte. Sein Kopf war zuerst zu sehen. Er trug noch immer die dunkle Strickmütze. In seinem Gesicht klebten feuchte Müllreste, die er mit dem Handrücken abwischte.
Er kniete sich mühsam hin und starrte zu Perry hoch. Der Streetworker stand vor ihm, winkte mit der rechten Hand und forderte Koko so auf, endlich aufzustehen.
»Scheiße!«, keuchte Koko. »Verdammte Scheiße!« Er hatte Mühe mit dem Sprechen. »Du hast mir irgendwas gebrochen, du Schwein! Ich kann – ich kann kaum reden.«
»Ich werde es schon verstehen. Und du wirst mir viel zu sagen haben. Du wirst singen wie eine Nachtigall, das kann ich dir versprechen.«
»Leck mich!«
»Nein, keinen Gefallen.«
Koko fluchte wieder. Er stand tatsächlich auf. Er trug einen schwarzen Anzug und darunter ein schwarzes Hemd. Nun klebte jedoch ein Querschnitt des Inhalts aus der Abfalltonne auf seinen Kleidern, und das war nicht gerade eine erhebende Dekoration. Der Treffer hatte Koko tatsächlich weh getan. Er konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Wie Schilfrohr im Wind schwankte er, aber er dachte auch an den Schmutz an der Kleidung und wischte ihn mit beiden Händen weg so gut wie möglich.
Perry Brixton nutzte die Gunst des Augenblicks. Koko würde versuchen, die Flucht zu ergreifen, sobald er sich wieder in der Lage dazu sah. Er war hinterlistig, schlau, gerissen, einer, der nie aufgab und stets versuchte, seine Chancen zu nutzen. Er wiegte andere in Sicherheit und war durchaus mit einem gewissen Charme gesegnet. Das alles aber interessierte den Streetworker nicht, der sich mit den Armen des Mannes beschäftigte, sie nach hinten zerrte und ihm Handschellen anzulegen versuchte. Mit Erfolg. Der Dealer musste es geschehen lassen.
»Das wirst du bereuen, Brixton, ich schwöre es dir.«
»Ich weiß.«
»Nimm es nicht zu leicht!«
Perry stieß Koko in den Rücken. »Wir werden uns jetzt auf den Weg machen. Ich habe mir eine wunderbare Übernachtungsmöglichkeit für dich ausgesucht. Du wirst begeistert sein, denn dort hast du deine Ruhe. Und wenn du ganz brav bist, darfst du dich auch waschen. Alles andere kannst du vergessen. Vor allen Dingen deinen verdammten Stoff.«
Koko blieb stehen. Nach dem zweiten Stoß ging er zwar los, aber er stoppte auch bald wieder.
»Soll ich dich tragen, Koko?«
»Nein.«
»Dann geh, verdammt!«
»Ich will dir was sagen, Brixton!«
Perry hatte zunächst nicht auf die Worte hören wollen. Ihn hatte der Klang der Stimme allerdings misstrauisch gemacht. Durch seine jahrelangen Erfahrungen als Streetworker war er es gewohnt, mit Menschen umzugehen. Er kannte sich mit ihnen aus und glaubte zu wissen, wann sie logen oder wann sie eine echte Botschaft mitzuteilen hatten.
Koko schien ihm wirklich etwas sagen zu wollen. Perry richtete sich darauf ein. Deshalb ging er auch um den Dealer herum und blieb vor ihm stehen. Er wollte sein Gesicht sehen, obwohl das in der Dunkelheit nicht so einfach war.
Koko sah eigentlich aus wie ein netter Kerl. Er trug ein harmloses Gesicht zur Schau, und gerade dieser Ausdruck hatte schon so manchen eingewickelt, weil man ihm nichts Böses zutraute. Pustewangen, große Augen, ein rundes Kinn, eine Nase, deren knubbelige Spitze nach oben zeigte.
»Was hast du mir zu sagen?«
Koko spie aus. »Du wirst an deinem eigenen Blut ersticken, Brixton, und du wirst auch durch dein eigenes Blut getötet werden!«
Perry war sprachlos. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einer derartigen Drohung. Er konnte auch nicht vermeiden, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief und sich etwas in seinem Inneren verkrampfte.
Koko kicherte. »Jetzt bist du von der Rolle, wie?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Doch, ich sehe es dir an!«
»Irrtum. Ich überlege nur, weshalb du mir diesen Mist einreden willst. Das ist es.«
»Wieso Mist? Es stimmt.« Koko hatte so heftig gesprochen, dass Speichel aus seinem Mund sprühte und einige Tropfen Perrys Gesicht benetzten. Der schüttelte sich. Er dachte noch immer über diese Drohung nach.
»Jetzt bist du fertig, wie?«
»Nein. Ich denke nur nach, wie du auf einen derartigen Mist kommst.«
»Das ist die Wahrheit.«
»Wer hat dir das gesagt? Woher weißt du, dass ich an meinem eigenen Blut ersticken werde?«
»Man wird dir die Kehle aufschneiden, Brixton, und ich weiß auch, wer dich killen wird.«
»Dann sag es.«
»Deine Schwester!«
Brixton schloss die Augen. Das war der zweite Schlag Kokos, der ihn erwischte. Es stimmte. Er hatte eine Schwester. Sie hieß Debora. Aber der Kontakt zwischen den Geschwistern war längst abgebrochen, denn Debora war ihre eigenen Wege gegangen. Mit ihrer Familie hatte sie nichts, aber auch gar nichts zu tun haben wollen, denn sie interessierte sich für Dinge, an die andere Menschen nicht mal dachten. Und Perry wollte darüber nicht nachdenken.
»Warum sagst du denn nichts, Mr. Streetworker? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Meine Schwester ist für mich gestorben.«
Die Antwort hatte Koko lustig gefunden, sonst hätte er nicht so gelacht. »Gestorben?«, fragte er dann. »Bist du denn irre? Sie ist nicht tot. Sie lebt.«
»Das weiß ich. Aber für mich ist sie gestorben.«
»Sie lebt sehr gut, sage ich dir. Sie ist die Königin der Friedhöfe.«
»Was ist sie?«
Koko wiederholte den Satz. Er grinste dabei wie jemand, der sich seiner Sache sicher war, denn er suchte die dunklen Orte auf, wo er nicht beobachtet werden konnte, wenn er seine Geschäfte tätigte. Dazu gehörten nicht nur die Hinterhöfe oder Toiletten in einschlägigen Lokalen, auch Friedhöfe zählten zu seinen bevorzugten Verkaufsplätzen. Deshalb war es nicht von der Hand zu weisen, dass er sich dort auskannte. Zudem gab es Dealer, die ihre heiße Waren dort lagerten.
Koko blies Perry seinen Atem ins Gesicht. Er stank nach Essig und Knoblauch. »Du kannst es dir ja überlegen, Streetworker.«
»Was denn?«
»Ob du deine Schwester sehen und begrüßen willst – oder nicht.«
Brixton versuchte, es lässig zu nehmen. »Und was solltest du dabei tun?«
»Eine Menge. Ich würde dich sogar zum Friedhof führen, wenn es dir genehm ist. Diese Nacht ist gut. Noch ist der Mond voll. Da wird sie unterwegs sein.«
»Wie heißt der Friedhof?«
Der Dealer lachte meckernd, als hätte er sich in eine Ziege verwandelt. »Ich werde doch nicht so dumm sein und dir das sagen. Wir können einen Deal machen ...«
Perry ahnte, was kam, trotzdem fragte er: »Welchen Deal meinst du?«
»Ganz einfach. Du lässt mich später wieder laufen, und die Sache ist erledigt.«
»Das dachte ich mir. Aber da irrst du dich. Ich werde dich nicht laufenlassen.«
»Und deine Schwester?«, erkundigte sich Koko lauernd.
»Die ist mir egal!«
»Auch als Killerin?«
»Hör auf damit!«
»Warum? Es ist doch so! Nimm es hin, Perry. Die Welt ist nicht so schön. Auch in deiner Familie nicht.«
Bisher hatte sich Brixton beherrscht. Damit war es nun vorbei. Er ging schnell vor, packte den Dealer am Revers und schüttelte ihn wütend durch. »Ich will wissen, was du mit dem Wort Mörderin gemeint hast, verflucht!«
Koko versuchte freizukommen. Es brachte ihm nichts, denn der Streetworker hielt ihn eisern fest. »So wie ich es dir gesagt habe. Sie ist eine Mörderin und die Königin der Friedhöfe. Geht das nicht in deinen Schädel hinein?«
Brixton ließ den Mann los. »Nein, das will nicht in meinen Kopf hinein.«
»Dann bist du verbohrt.« Koko schüttelte sich.
Verbohrt? fragte sich Brixton. Bin ich das tatsächlich? Kann sein. Wenn ja, dann liegt es daran, dass ich zu stark in eine Richtung gedacht habe. Immer auf einer Schiene geblieben, den Job zu sehr in den Vordergrund gestellt, mich um Fremde gekümmert, aber nicht um meine Familie, und das eigene Ich stark zurückgedrängt.
Debora gehörte auch zur Familie. Seine Schwester war schon immer ganz anders gewesen. Sie schwebte in eigenen Welten. Sie hatte sich auch das h, den letzten Buchstaben ihres Namens, streichen lassen, weil sie ihn so haben wollte wie zu alttestamentarischen Zeiten. Beide Geschwister hatten das Elternhaus bereits früh verlassen und waren ihre eigenen Wege gegangen.
»He, Perry, was ist? Wir können sofort fahren. Die Nacht ist noch jung. Denk nicht länger nach.«
»Wohin?«
Koko grinste wieder breit. »Zu den Toten, mein Freund. Ja, zu den Toten«, flüsterte er und fügte hinzu: »Aber denk daran, dass wir einen Deal miteinander haben.«
»Nein, das bildest du dir ein. Es gibt keinen Deal mit dir.«
»Dann wirst du die Spur nie finden, das schwöre ich dir. Aber du wirst immer darüber nachdenken und dich fragen, ob du nicht doch etwas falsch gemacht hast. Debora ist die Königin der Friedhöfe. Sie ist gefährlich, sie ist auch anders. Aber sie ist noch immer deine Schwester.«
Perry fluchte in sich hinein. Dieser Dealer hatte ihn tatsächlich in einen Gewissenskonflikt gestoßen. Er musste sich entscheiden. Brixton war immer stolz darauf gewesen, berufliche Dinge vor die persönlichen zu stellen. Nun waren ihm Zweifel gekommen. Und er glaubte auch nicht, dass Koko ihn mit einer Ausrede hatte abspeisen wollen. Da steckte schon mehr dahinter.
»Wie lange soll ich noch warten?«
»Wo liegt der Friedhof?«
Koko kicherte. »Das möchtest du wohl gern wissen.«
»Weit von hier?«
»Ja, außerhalb.«
»Und dort werde ich Debora finden?«, hakte Brixton noch einmal nach.
»Wenn ich es dir sage.«
»Wo denn? Wo kann ich sie finden?«
»Bei den Gräbern«, erwiderte Koko mit dumpfer Stimme. »Und natürlich bei den Toten.«
Perry Brixton konnte ein Schaudern nicht verhindern. Seine Kehle war ihm eng geworden. Er merkte es, wenn er Luft holte, und er wischte ein paar Mal über sein Gesicht.
»Willst du nicht?«, fragte der andere.
»Doch, Koko, wir fahren.«
»Ja, das ist ein Wort. Dann nimm mir mal das Eisen ab, mein Freund. Ich hasse Handschellen.«
Brixton schaute den Dealer an. Er wusste, dass er sich nicht richtig verhielt. Zugleich dachte er an Debora, und seine Sorgen wuchsen. Die aber ließ er sich nicht anmerken, als er flüsterte: »Eines schwöre ich dir, Koko: Wenn du mich reinlegst oder flüchtest, weiß ich immer, wo ich dich finden kann. Du wirst mir nicht entwischen, das schwöre ich dir.«
»Weiß ich doch, Brixton, weiß ich alles. Aber warum sollen wir nicht beide unseren Spaß haben ...«
Sie hatten den Friedhof erreicht, und Perry Brixton musste dem Dealer recht geben. Der Friedhof lag außerhalb, im Südwesten, und selbst in der Dunkelheit war zu erkennen, dass hier keine Menschen mehr beerdigt wurden, schon lange nicht mehr. Es gab hier keine neuen Gräber.
Sie waren mit Perrys altem Ford Capri bis dicht vor den Eingang gefahren, wo bereits dichtes Buschwerk wucherte und sich dornige Hecken ineinander verschlangen. Es war jetzt Mitternacht, die ideale Gruselzeit, wie Perry dachte, und er schüttelte sich, als er den Wagen verlassen hatte.
Auf der Beifahrerseite stand Koko. Er war unruhig und hüpfte dabei von einem Bein auf das andere. Das Gesicht hatte er verzogen. Es zeigte keinen freudigen Ausdruck.
Über ihnen fuhr der Wind durch die Kronen der Bäume. Er rieb die Blätter raschelnd gegeneinander, und hoch am Himmel waren die wenigen Wolken eingetaucht ins Mondlicht.
Die Luft roch nicht nach Friedhof. Hier hatte die Natur wachsen und wuchern können. Sie zeigte ein sommerliches Kleid und gab auch den entsprechenden Duft nach frischen Gräsern und Blumen ab.
Das alte Eingangstor war noch vorhanden, aber kaum zu sehen. Eine dichte Wand aus Efeu hatte es zum größten Teil überwuchert. Das gleiche galt für die Mauern. Auch hier wuchsen Efeu und wilder Wein in die Höhe, als wollten sie alles vor den Blicken der Menschen schützen, die sich ab und zu hierher verirrten.
»Woher kennst du den Friedhof?«, wollte Perry wissen.
Der Dealer lachte nur. »Ich kenne mich eben an vielen Stellen aus.«
»Ein ideales Versteck, nicht?«
»Wofür?«
»Für das, was ich dir aus den Taschen geholt habe. Die Drogen.«
»Vergiss sie.«
»Vorläufig.«
»He, wir hatten eine Abmachung!«, protestierte Koko.
»Ich weiß, und ich werde mich auch daran halten. Da brauchst du keine Angst zu haben.«
»Dann ist es ja gut.«
»Dann geh vor.«
Koko hob die Schultern. »Wie du willst, großer Meister. Eines muss ich dir aber noch sagen. Ich weiß nicht, ob sie sich auch in dieser Nacht auf dem Friedhof aufhält.«
»Dann haben wir beide Pech gehabt. Aber du mehr als ich, Koko.«
Der Dealer schaute ihn lauernd von der Seite an. »Bist du dir da sicher, Streetworker?«
»Immer. Ich weiß, was ich kann.«
Da hatte er nicht übertrieben. Perry Brixton war ein kräftiger junger Mann mit krausen, braunen Haaren, der genau wusste, was er wollte, und der sich im Dschungel der Stadt durchgesetzt hatte. Seine Erfolge konnten sich sehen lassen, auch wenn sie oft genug nur unter großen Mühen und mit Gewaltanwendung erreicht worden waren, aber sie zählten.
Beide hatten den Friedhof betreten. Brixton blieb an der linken Seite des Dealers, und er ging auch leicht versetzt, damit er den anderen nicht aus den Augen verlor.
Es war weder etwas zu hören noch zu sehen. Vor ihnen lagen die Gräber, Hecken und Büsche, alles überragt von mächtigen Bäumen.
Wie kleine Wohnstätten auf einem weiten Bauareal verteilten sich die Gräber. Kantige Grabsteine, wie anklagend und trotzdem stumm aus der Erde ragend. Die kleineren boten der sich ausbreitenden Natur weniger Widerstand. Viele von ihnen waren bereits überwuchert und nicht mehr zu sehen. Wege gab es nicht mehr. Alles war zugewachsen.
Perry hatte seine Blicke überall. Er dachte daran, dass Debora hier hocken sollte, um ihre Rituale abzuhalten. Dazu gehörte meist Licht, Kerzenlicht, nur entdeckte er keinen Schein.
»Wie weit willst du mich denn noch schleppen?«, fragte er.
»Wir müssen vom Hauptweg weg.«
»Was?«
»Klar, wir befinden uns auf dem ehemaligen Hauptweg.«
»Wenn du das sagst.«
»Klar, ich kenne mich aus.«
Sie gingen weiter, und Perry wunderte sich über die Grabmale. Er kannte sie nicht. Auf den Friedhöfen, die er besuchte, gab es diese übergroßen Grabsteine nicht.
Stille umgab sie. Nur selten hörten sie ein Rascheln oder Huschen auf dem Boden oder im Gestrüpp.
Alles lief normal.
Bis sie den Schrei hörten!
Beide Männer blieben stehen, als hätten sie sich abgesprochen. Sie lauschten dem Schrei, der so klagend und zugleich schrill war und bei ihnen für Gänsehaut und Herzklopfen gesorgt hatte. Er wehte über den Friedhof als böses, akustisches Omen, klagend und jammernd, schien sogar lauter zu werden und sank dann in sich zusammen, bevor er ganz verstummte.
Perry und Koko schauten sich an. Jedem lag die Frage auf der Zunge, aber keiner traute sich, sie zu stellen, bis es der Streetworker nicht mehr aushielt. »Was war das?«
»Ein ... ähm ... Schrei.«
»Weiß ich selbst. Nur ...«
Der Dealer fasste Perry an. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Der Schrei stammte nicht von einem Menschen, dafür habe ich ein Ohr.«
»Von wem dann?«
»Ist doch egal. Von einer Katze oder einem streunenden Köter. Was weiß ich?«
Brixton nickte. »Ja, das denke ich jetzt auch. Eine Katze. Wurde sie getötet?«
Koko kicherte wieder, was Brixton auf die Nerven ging. Am liebsten hätte er ihm das Maul gestopft, aber er riss sich zusammen.
»Klar, sie wurde getötet. Also ist deine Schwester hier«, sagte Koko triumphierend.
»Debora tötet keine Katzen!«, behauptete Perry.
»Doch, tut sie – muss sie.«
»Warum?«
»Opfer. Sie will Opfer bringen. Das hier ist ihr Revier. Hier opfert sie.«
»Tiere?«
»Bestimmt.«
Die nächste Frage lag Perry auf der Zunge, doch er unterdrückte sie, weil sie ihm einfach so schlimm vorkam. Er wollte sie nicht stellen. Er konnte sich auch nicht mit dem Gedanken beschäftigen, dass seine Schwester irgendwo saß, umgeben vom Tierblut, das sie möglicherweise sogar trank.
Möglich war alles, und er hatte in seinem Job auch schon in zu viele menschliche Abgründe hineingeschaut. Und ihm war von Koko etwas Schreckliches prophezeit worden. Er sollte an seinem eigenen Blut ersticken und vom eigenen Blut getötet werden.
Da kam er nicht mit. Das traute er seiner Schwester einfach nicht zu, mochte sie sich auch in den vergangenen Jahren noch so weit von ihm entfernt haben.
Sie waren weitergegangen. Vorsichtiger diesmal. Auch damit rechnend, dass sich der Schrei wiederholen konnte. Ganz in ihrer Nähe. Sie achteten auf jedes Geräusch. Durch die Anspannung kam Perry Brixton der Friedhof noch unheimlicher vor. Seine Fantasie malte sich die schlimmsten Dinge aus. Da wurden aus Bäumen plötzlich unheimliche Gestalten aus dem Totenreich mit langen, dürren Armen und breiten, entstellten Händen. Greifklauen, die nach seinem Gesicht zielten, nach den Augen, und ihm die Haut abreißen wollten.
Hohes Unkraut wischte an ihren Beinen entlang. Wie seichte Totenfinger.
Eine unheimliche Gegend, nichts für schwache Nerven. Ein düsterer Ort, an dem Alpträume geboren wurden.
Der Schrei hatte sich nicht wiederholt, was die beiden aber nicht hatte beruhigen können. Sie blieben vorsichtig, nutzten selbst in der Dunkelheit noch den Schutz höherer Grabsteine aus und duckten sich hinter Büschen. Eine Leichenhalle hatte Perry nicht gesehen. Möglicherweise war sie verfallen oder überwuchert.
»Wo hast du meine Schwester denn immer gesehen?«, flüsterte er.
»Weiter vorn.«
»Was tat sie?«
»Das wirst du gleich sehen.«
»Auf diese Antwort hätte ich auch verzichten können. Normal hat sie sich bestimmt nicht benommen.«
»Nein, sie hat ihr Leben ritualisiert. Sie fühlt sich hier wie zu Hause. Das passiert auch nicht jedem.«
»Da hast du recht.«
Koko ging jetzt schneller, blieb aber schon nach drei Schritten stehen und winkte den Streetworker zu sich heran. Erst jetzt sah Perry, dass Koko vor einem Grabstein stand, über dessen Kante hinwegschaute, aber trotzdem nicht viel sehen konnte, weil Zweige die Sicht nahmen.
Brixton wollte soeben etwas fragen, da geschah es. Ob weit von ihnen entfernt oder relativ nah, das war so einfach nicht festzustellen, aber es war zu erkennen, was sich dort abspielte. Die Dunkelheit blieb nicht mehr so. Ein flackernder Lichtschein riss eine Insel in die Schwärze, bewegte sich über den Boden hinweg, tanzte, gierte, lockte, schuf Helligkeit, aber auch Schatten.
Brixtons Herz schlug schneller. Er spürte den Schweiß auf der Stirn. Er wusste auch, dass ihn Koko nicht angelogen hatte. Seine Schwester Debora hatte sich diese Nacht ausgesucht. Sie befand sich nicht weit von ihnen entfernt, sie hatte die Dochte der Kerzen angezündet, um sich in deren Licht zu baden.
Noch war es Spekulation, denn Details waren nicht zu sehen. Zu dicht wuchs das Buschwerk vor ihnen hoch und gab immer nur bestimmte Lücken frei.
Sie hörten keinen Laut. Kein Wehklagen, keine menschliche Stimme, es war nur der Schein vorhanden, der sich bestimmt aus mehreren Kerzen zusammensetzte.
Gierig stießen die Flammen in die Höhe. Sie erinnerten an blinkende Messerspitzen, zuckten nach oben und sackten wieder zusammen, legten sich auch mal zur Seite, als wollten sie über den Boden huschen und nach etwas greifen. Sie waren nicht zu halten, sie hörten nicht auf und verteilten ihr farblich unterschiedliches Licht. Mal düster und rot, dann wieder gelblicher und hell.
»Ich sehe meine Schwester nicht!«
»Klar. Du musst näher ran.«
»Das werde ich auch.«
»Aber sei vorsichtig!«
Perry Brixton lachte bitter. »Das sagst ausgerechnet du zu mir.«
»Irgendwo mag ich dich ja.«
»Danke.« Der Streetworker hatte seinen eigentlichen Job vergessen. Er dachte nur noch an diese unheimliche Szenerie und natürlich auch an seine Schwester.
Jahrelang hatte er nichts mehr mit ihr zu tun gehabt. Jetzt wollte er sie sehen. Er musste mit ihr reden. Möglicherweise gab es eine gemeinsame Basis.
Sein Kopf war voll mit diesen Gedanken. Auf Koko achtete er nicht, deshalb entging ihm auch der zufriedene Gesichtsausdruck des Dealers. Er hätte ihn auch nicht deuten können, aber Koko ging es gut. Er stieß Brixton an.
»Was ist denn?«, fragte der.
»Wollen wir wieder gehen?«
»Du bist verrückt.« Perry konnte seinen Blick nicht von den Flammen abwenden.
»Wieso?«
»Ich will zu meiner Schwester, verdammt. Oder hast du das vergessen? Wir sind nicht wegen der Kerzen hergekommen, sondern wegen ihr. Nur ihretwegen.«
»Aber sei vorsichtig.«
»Schenk dir deine Warnungen.«
»Ich meine es nur gut mit dir.«