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Wir konnten es zunächst kaum glauben, was uns eine Kollegin aus der Telefonzentrale zu berichtete. Toby, ihr Sohn, hatte Lilian Cramer erzählt, ein Unbekannter hätte seinen Schutzengel getötet.
Suko und ich gingen der Sache nach, und tatsächlich fanden wir den Engel auf dem Friedhof der unschuldigen Kinder. Dort lag er auf einem Grab, brutal ermordet durch zwei goldene Pfeile. Warum aber hasste jemand Schutzengel so sehr, dass er einen von ihnen umbrachte? Bald schon sahen wir klarer. Der Killer war selbst ein Engel - Belial! Luzifer hatte unseren Todfeind geschickt, um alle Schutzengel zu vernichten ...
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Das Engelsgrab
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Das Engelsgrab
von Jason Dark
Wir konnten es zunächst kaum glauben, was uns eine Kollegin aus der Telefonzentrale berichtete. Toby, ihr Sohn, hatte Lilian Cramer erzählt, ein Unbekannter hätte seinen Schutzengel getötet.
Suko und ich gingen der Sache nach, und tatsächlich fanden wir den Engel auf dem Friedhof der unschuldigen Kinder. Dort lag er auf einem Grab, brutal ermordet durch zwei goldene Pfeile. Warum aber hasste jemand Schutzengel so sehr, dass er einen von ihnen umbrachte? Bald schon sahen wir klarer. Der Killer war selbst ein Engel – Belial! Luzifer hatte unseren Todfeind geschickt, um alle Schutzengel zu vernichten ...
Und so begleitete der Erzengel Raphael den Tobias auf seiner gefährlichen Reise. Er half Tobias bei der Wahl seiner Ehefrau und zeigte ihm, wie er seinen blinden Vater heilen konnte ...
Aus dem Buch Tobit.
Der elfjährige Toby Cramer schlief und war trotzdem wach. Nur merkte er es nicht.
Noch lag er in seinem Bett. Es stand in einem Zimmer im dritten Stock, direkt unter dem Dach. Überall war Spielzeug, das aber buchstäblich in Reih und Glied angeordnet war.
So standen die wildesten und furchterregendsten Monster als Plastik- und Gummigeschöpfe neben den heldenhaften Recken, die für das Gute kämpften. In einer Zimmerecke hatte Toby seine »Garage« aufgebaut. Fahrzeuge der unterschiedlichsten Größe und Typen.
Alles wurde bewacht von den unter der Decke schwebenden Hubschraubern, die Toby selbst zusammengebastelt hatte. Darauf war er sehr stolz. Er
gehörte noch zu den Kindern, die sich mit sich selbst und ihrem Spielzeug beschäftigen konnten und auf Computer oder Gameboys verzichteten. Auch las er viel, und die Bücher hatte er wohlgeordnet in ein helles Regal gestellt.
Überhaupt gab es innerhalb des Zimmers so gut wie keine Unordnung. Nichts lag wie weggeworfen auf dem Boden. Der Schulrucksack stand auf einem Stuhl, über dessen Lehne Toby sorgfältig die Kleidung gehängt hatte.
Das Zimmer war nicht sehr groß. Verkleinert wurde es noch durch die schräge Decke nahe der Tür.
Die Dachgaube bildete einen Vorbau, in dem sich das Fenster befand. Wegen der starken Wärme stand es offen, denn in dieser Nacht wehte kein Luftzug. Dieses schwüle Wetter wollte einfach nicht weichen, und es lag wie Watte über der Stadt.
Am Himmel stand der Vollmond.
Ein fahlgelbes Auge, sehr deutlich zu erkennen, scharf konturiert, als wäre ein Loch in den dunklen Himmel hineingestanzt worden. Sterne funkelten in der Umgebung des Mondes, aber sie waren nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, denn der Erdtrabant zog die Blicke an wie ein Magnet.
Er schien auch in Tobys Zimmer hinein.
Noch schlief der Junge, aber er bewegte sich bereits unter seiner dünnen Decke. Sehr langsam drückte er die Hände gegen den Stoff, der sich wellte, aber wieder zurücksank, weil Tobys Bewegungen erschlafften. Nur für einen Moment, dann rutschten die Hände und auch die Arme unter der Bettdecke hervor, blieben liegen, als wollten sie sich ausruhen, bevor Toby sie anhob und das obere Ende der Decke fasste, um sie von seinem Körper zu ziehen.
Auch dies geschah nicht heftig. Alles lief sehr langsam ab, und der Junge erwachte dabei nicht. Er schlief weiter, nur war es kein normaler Schlaf, denn irgendeine Kraft trieb ihn dazu, sich aufzusetzen.
Die Augen geschlossen, aber nicht fest zusammengekniffen, sah er aus wie jemand, der auf etwas Bestimmtes wartete. Er hatte seinen Kopf dem Fenster zugedreht, das links von ihm lag. Hätte er seine Augen geöffnet, wäre sein Blick haargenau auf den Kreis des Mondes gefallen, der sein Licht in das Zimmer hineinschickte, als wollte er nur für ihn scheinen.
Er brachte die Energie für den Motor mit, der in Toby Cramer steckte. Für ihn war das Mondlicht wichtig, ebenso wie für viele andere Menschen, aber Toby hatte ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Erdtrabanten und dessen Schein.
Der volle Kreis lockte ihn. Obwohl Toby schlief, bewegte er sich. Er schlug auch noch den letzten Rest der Decke zur Seite, sodass er durch nichts mehr behindert wurde. Er stützte seine Hände neben dem Körper auf, als wollte er über gewisse Dinge nachdenken, aber den Kopf hielt er so gedreht, dass der Mondschein sein Gesicht streichelte. Toby Cramer schien Energie sammeln zu wollen.
Er hatte Zeit, viel Zeit. Die Menschen in den unteren Etagen des Hauses schliefen ebenso wie seine Mutter, die einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich hatte.
Zwar wusste sie von der immer bei Vollmond auftretenden Unruhe ihres Sohnes, und oft genug hatte sie schon erlebt, dass in diesen Nächten seltsame und auch gefährliche Dinge passierten. Aber die alleinerziehende Lilian Cramer war an diesem Abend einfach zu erschöpft gewesen, um noch lange über den Vollmond nachzudenken. Sie hatte Toby nur geraten, das Fenster geschlossen zu lassen, doch daran hatte sich der Junge nicht gehalten und es wie unter Zwang geöffnet.
Toby hatte seine Beine angezogen und schwang sie in dieser Haltung jetzt nach rechts, um aus dem Bett steigen zu können. Es sah aus, als würde er von einer unsichtbaren Kraft geführt, denn zielsicher glitten die nackten Füße in die Turnschuhe hinein.
Der Oberkörper des Jungen war nackt. Als Schlafkleidung trug er nur eine kurze Turnhose, die über den Knien endete. Sein blondes Haar war struppig, doch darum kümmerte er sich nicht. Mit noch immer geschlossenen Augen drückte er sich in die Höhe und blieb wie nachdenklich vor seinem Bett stehen. Er sah trotz der geschlossenen Augen tatsächlich aus wie jemand, der seine Blicke über das Spielzeug und die übrigen Einrichtungsgegenstände gleiten ließ. Wie bei einem Abschied für immer.
Toby seufzte im Schlaf. Für einen Moment rann ein eisiger Schauer über seinen Körper und zeichnete sich auch deutlich ab. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen und nicht mehr loszulassen. Noch drehte er dem Fenster und damit dem Mond den Rücken zu, aber nicht mehr lange. Da drehte sich Toby gemächlich um und setzte sein rechtes Bein vor, um sein neues Ziel anzusteuern.
Es war die Dachgaube und damit das Fenster!
Er kannte den Weg. Er war ihn im Wachzustand gegangen und auch schon in seinem jetzigen. Im Rhythmus der Vollmondperioden wiederholte es sich, und Toby konnte nichts dagegen tun.
Der Mond und seine Kraft waren eben stärker, aber nie gleich, denn es gab auch Vollmondnächte, in denen Toby durchschlief und sich um den Erdtrabanten nicht kümmerte.
In dieser Nacht war es anders. Da erwischte ihn die Kraft doppelt so stark. Jede These, die behauptete, der Mond hätte keine Kraft, wäre bei diesem Anblick der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Er war mächtig. Er sorgte nicht nur für den Wechsel der Gezeiten, er hielt auch Toby Cramer unter Kontrolle.
Der Junge setzte seinen Weg fort. Mit noch immer geschlossenen Augen bewegte er sich sicher an dem Stuhl vorbei, der ihn hätte hindern können. Er stieß auch nicht gegen die Tischkante und trat auch nicht auf irgendwelche Spielzeugautos. Nein, Toby schritt dahin wie ein Sehender.
Sein Gesicht zeigte dabei zwar einen starren Ausdruck, aber auf den Lippen lag ein feines Lächeln. Es dokumentierte so etwas wie Vorfreude, die der Junge empfand. Er wusste, dass er einen bestimmten Weg gehen würde, und dieser konnte von ihm nur allein zurückgelegt werden. Trotz seiner sicheren Haltung hatten die Bewegungen etwas Marionettenhaftes, möglicherweise auch etwas Vorsichtiges, als hätte ihm eine innere Stimme dazu geraten.
Toby erreichte das Fenster.
Dort blieb er stehen wie von einer Hand aufgehalten. Seine Hände legte er auf die leere Fensterbank und schaute einfach nur hinaus. Den Kopf hatte er dabei leicht nach hinten gelegt, denn er wollte sein Interesse einzig und allein auf den Mond richten. Der fahlgelbe Kreis war in seinem Leben sehr wichtig gewesen, und manchmal kam ihm der Mond vor wie ein großer Bruder.
Nicht einmal die Lider zuckten. Nichts, aber auch gar nichts bewegte sich an ihm. Toby war jetzt wie erstarrt und schien das Licht zu genießen.
Um den Mond herum stand die Dunkelheit. Es gab keine Bewegung. Kein Wind trieb irgendwelche Wolken vor sich her, um die Gestirne zu verdecken. Der Himmel blieb starr und bestand dabei aus einem Gemisch von dunklen Farben. Schwarz, Grau und sogar ein tiefes Blau mischten sich ineinander.
Die Luft war warm und angefüllt mit Gerüchen und Geräuschen. Autos waren zu hören, und hin und wieder drangen Musikfetzen aus dem nahen Park oder ineinander vermischte Stimmen herüber.
Eine Nacht wie jede andere. Still und trotzdem nicht so ruhig, wie mancher sie sich wünschte.
Das Haus, in dem die Cramers wohnten, stand nicht allein. Im Verbund mit anderen Häusern bildete es den Teil einer Straßenzeile. In der Regel waren die Dächer gleich hoch, obwohl es schon einige Abstufungen gab. Die Höhenunterschiede konnten mit Sprüngen oder auch durch Klettern überwunden werden.
Vor Toby lag das Dach. Noch harmlos, denn er hielt sich weiterhin in seinem Zimmer auf. Tagsüber diente das Dach den Tauben als Landeplatz. Überall auf den Ziegeln hatten sie ihren Kot gelassen, und die Flecken hoben sich unterschiedlich hell vom dunklen Untergrund ab.
Toby stemmte sich hoch. Es wirkte überhaupt nicht gequält. Mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit lösten sich die Füße vom Boden. Er winkelte das rechte Bein an, berührte mit dem Knie die Fensterbank und nahm sie als Stütze. Gleichzeitig duckte er sich und streckte seinen Kopf nach vorn.
Danach stieg er auf das Dach.
Das geschah mit geübten Bewegungen. Fast schon profihaft wie die eines Kaminfegers. Dieses Dach war Tobys Revier, hier fühlte er sich wohl und konnte schalten und walten wie er wollte. Er kippte auch nicht nach vorn, dafür drehte er sich beim Klettern und erreichte das Dach in schräger Haltung.
Gebückt blieb er für einen Moment stehen. Sicherheitshalber hatte er sich mit den Händen abgestützt, löste sie dann aber, als er sich aufrichtete.
Er stellte sich normal hin. Es gab keinen Unterschied zu jemandem, der wach war, aber Toby schlief noch immer.
Schräg fiel das Dach zur Rinne hin ab. Sie aber war auf keinen Fall Tobys Ziel, denn er wollte woanders hin.
Er musste höher, er wollte dem Mond näher sein, der ihn mit seiner Kraft so stark beeinflusste und lockte. Der Mond war für Toby ein Wunder. Er war das Licht seines Lebens, er war eine Laterne, die am Ende des Weges stand und ihm heimleuchtete.
Toby liebte ihn wie einen Elternteil, auch weil er ihn mit seiner Kraft erfüllte.
Als könnte er sehen, so locker drehte sich Toby um. Er bückte sich dabei und umging mit zielsicheren Schritten die Dachgaube, um sich dann dem First zu nähern, seinem eigentlichen Ziel. Die Spitze des Daches war sein Ziel. Der Weg war wie vorgezeichnet, und über diesen schmalen Weg würde er seine Schritte setzen.
Der hochragende Kamin lag hinter ihm. Antennen gab es auf diesem Haus nicht, denn die Wohnungen hatten allesamt Kabelanschluss.
Trotz seines mühsamen Weges nach oben hielt der Junge den Kopf so gedreht, dass seine Augen zum Mondkreis hin ausgerichtet waren. Er liebte diesen Kraftspender, den er gar nicht sah, aber so intensiv spürte. Selbst wenn er von einem vertrauten Menschen angesprochen worden wäre, hätte er seinen Weg nicht abgebrochen.
Der Mond war nicht nur sein Freund, Toby empfand ihn sogar als seinen besten Freund. Er hatte sich Bücher schenken lassen und viel über den Mond gelesen.
Die Daten der ersten Mondlandung kannte er auswendig, er wusste, nach welchen Gesetzen sich die Planeten drehten, und ihm war bekannt, was Autoren und Schriftsteller über den Erdtrabanten geschrieben hatten. Sie hatten in Berichten und Büchern von seiner magischen Kraft berichtet, die sich auch auf die Psyche der Menschen niederschlug. Bei Toby war dieser Effekt besonders stark.
Glücklicherweise war das Dach trocken. Es hatte lange nicht mehr geregnet, und das trockene, heiße Sommerwetter würde noch ein paar Tage anhalten. So lief der Junge nicht Gefahr, auszurutschen. Er ging beinahe normal, auch wenn er seinen Körper wegen der nach oben führenden Schräge nach vorn gebeugt hatte.
Toby liebte diese Nächte über alles. Er durchwanderte sie an den verschiedensten Orten und wunderte sich manchmal darüber, wo er sich befand, wenn er erwachte.
Dabei waren Dinge passiert, die er nicht verstand.
Schon mehrmals hatte er bei seinem Erwachen eine seltsame Gestalt gesehen, ein Wesen, das einfach kein Mensch sein konnte. Das Wesen war so hell, mit Licht erfüllt, und hinter oder in der Helligkeit war der Körper einer wunderschönen, unbekleideten Frau zu sehen gewesen, die gar nicht so nackt auf ihn wirkte, weil sie dieses Gewand aus Licht trug.
Mit seiner Mutter hatte er nie über die Begegnungen gesprochen. Auch nicht, wie es weitergegangen war, denn diese geisterhafte und schöne, junge Frau hatte ihn sogar berührt. Es war ein Kontakt der besonderen Art gewesen. Keine feste Berührung, mehr ein Streicheln, von einer nie erlebten Kühle begleitet, obwohl ihn dabei ein warmes Gefühl überkommen hatte.
Toby hatte immer überlegt, wer diese geheimnisvolle Gestalt wohl gewesen war. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht eine Fee oder eine Geisterfrau, die zwischen dem Diesseits und dem Jenseits lebte.
Toby Cramer hatte genug Geschichten darüber gelesen und glaubte von diesem Zeitpunkt an daran, dass Märchen und Legenden nicht unbedingt erfunden waren.
Der Junge hatte den First erreicht. Dort blieb er stehen und sah aus wie jemand, der noch überlegte, was er in den folgenden Sekunden unternehmen wollte.
Er tat zunächst nichts. Blieb einfach stehen. Starr und ohne auch nur eine Augenwimper zu bewegen. Selbst hier oben auf dem Dach war es beinahe windstill. Es wehte ihm nur ein sehr laues Lüftchen entgegen, das Toby nicht störte.
Er hatte sich lange genug ausgeruht und ging. Zuvor aber hob er wie eine ferngelenkte Marionette seine Arme an und streckte sie nach vorn. So hatte er die Haltung eines Blinden eingenommen, der sich seinen Weg ertasten wollte.
Hindernisse gab es für Toby auf diesem Dach nicht. Der Kamin lag hinter ihm, und nach vorn hin war alles frei. Die einzige Schwierigkeit lag unter ihm, denn er musste über den schmalen Sims gehen und durfte auf keinen Fall ausrutschen, denn dann wäre er nicht nur über die Schräge, sondern auch über die Dachrinne hinweg gerollt und in die Tiefe gestürzt.
Bisher war bei seinen nächtlichen Ausflügen alles glatt verlaufen. Eine Brücke wollte Toby darauf nicht bauen, und so balancierte er dem seitlichen Dachrand entgegen und damit auch dem Nachbarhaus, dessen Dach tiefer lag, weil ein halbes Geschoss in der Höhe fehlte. Wenn Toby nicht zuvor stoppte, würde er fallen. Hatte er dabei Pech, konnte er sich schon etwas brechen, aber daran dachte der langsam gehende Junge mit den vorgestreckten Händen nicht.
Er glich in dieser Phase seines Schlafwandelns tatsächlich dem Bild, das man sich von einem Menschen macht, der, ohne es zu wissen, in der Nacht unterwegs ist. Toby ging einfach wie von unsichtbaren Händen geleitet. Er setzte einen Fuß vor den anderen, und sein Körper schwankte kaum.
Der Rand des Daches rückte näher. Toby blieb auf seinem Weg. Niemand warnte ihn, niemand stellte sich ihm in den Weg. Es gab keine innere Stimme, die ihn vor einem Weitergehen abriet.
Tobys Gesicht war zwar starr, trotzdem nicht ohne Ausdruck, denn auf seinen Zügen breitete sich ein feines Lächeln aus, und das Licht des Mondes begleitete ihn wie ein Schutz.
Er befand sich in einem Zustand, in dem er weder Bedrückung noch Angst empfand. Er verließ sich voll und ganz auf sich und auf die Kräfte des Erdtrabanten.
Er trat bei jedem Schritt leise auf. Die Turnschuhe dämpften die Laute beinahe bis zur Bedeutungslosigkeit. Selbst Tauben, die auf der linken Dachhälfte schliefen, wurden nicht durch den Jungen gestört.
Alles ging so glatt, wie geübt.
Aber die Gefahr rückte näher!
Toby Cramer sah sie nicht. Wie auch, denn er hielt ja die Augen geschlossen. Zwei Meter, mehr waren es nicht mehr.
Toby ging weiter.
Die Distanz verkürzte sich.
Nur noch ein Meter im Höchstfall.
Der Junge machte den nächsten Schritt. Dann noch einen, der kleiner war.
Jetzt gab es keine Rettung mehr für ihn. Es sei denn, er blieb genau in diesem Moment stehen.
Das aber tat er nicht. Das linke Bein hob er zuerst an, um weiterzugehen. Den Fuß drückte er nach vorn, und der Körper befand sich in der Kippbewegung. Niemand war da, um den Jungen noch zurückzuhalten. Er würde bäuchlings in die Tiefe fallen und mit dem Gesicht zuerst auf den First des unter ihm liegenden Daches aufschlagen, bevor er über die Schräge hinweg in die Tiefe rollte.
Keine Hilfe!
Tatsächlich nicht?
Plötzlich war die Gestalt da. Strahlend und ätherisch schön schwebte sie vor dem Jungen, der genau in diesem Moment beide Augen aufriss ...
Sie ist wieder da, dachte Toby Cramer, der übergangslos erwacht war, sich aber trotzdem noch in einem anderen Zustand befand. Er war nicht mit dem am Morgen zu vergleichen, wenn seine Mutter ihn weckte und ihn aus dem Bett holte.
Er schaute auf die Gestalt.
Ja, er kannte sie.
Wieder wurde sie von diesem wunderschönen und weichen Licht umspielt wie von einem dünnen Mantel. Sie war so herrlich, engelhaft, zugleich ein Geistwesen, ätherisch, weit entfernt und trotzdem so wunderbar nah. Eine Hand hatte sie ausgestreckt, als wollte sie den Jungen aufhalten, wobei es schon geschehen war, denn Toby verharrte auf der Stelle, das linke Bein noch über die Dachkante hinweggedrückt.
Sein Retter hielt ihn.
Oder war es eine Retterin?
Er wusste es nicht genau zu sagen, obwohl sich zwei frauliche Brüste an ihrem Körper abzeichneten. Der Junge sah sogar die Schatten am Rücken der Gestalt und konnte sich vorstellen, dass dies ein Engel mit Flügeln war, wie er ihn in seinen Büchern oft als Abbildung gesehen hatte.
Seine Retterin stand jetzt vor ihm. Aus der weichen Wolke hervor lächelte sie ihn an. Der Mund war dabei in die Breite gezogen, und in den Augen lag ein ungewöhnliches Strahlen.
Es musste kein Wort gesprochen werden, denn die Gestalt handelte auf ihre Art und Weise.
Toby Cramer spürte den leichten Druck auf seinem Körper und wurde nach hinten geschoben. Sein linkes Bein machte die Bewegung automatisch mit, so hatte er plötzlich wieder Halt unter beiden Füßen.
Er stand auf dem schmalen Sims und wusste selbst nicht, ob er die Augen geschlossen oder offen hielt. Vielleicht hatte er sie nur spaltbreit geöffnet, denn er sah die Gestalt tatsächlich dicht vor sich und spürte auch deren angenehm kühle Aura.
Sie umspülte seinen Oberkörper, auf dem ein leichter Schweißfilm lag. Eine gewisse Sicherheit hielt Toby umfangen, und das Gefühl der Angst hatte keine Chance, in ihm hochzusteigen.
Die Gestalt nahm Toby bei der Hand. Wieder übte sie einen leichten Druck aus, sodass sich der Junge herumdrehte. Er ging denselben Weg zurück, auf dem er gekommen war, jetzt ganz sicher, denn das Wesen ließ ihn nicht im Stich.
Es führte ihn über den Sims hinweg auf das offene Fenster der Dachgaube zu, damit Toby wieder in sein Zimmer klettern konnte. Er glaubte auch, eine Stimme zu hören. Allerdings waren das keine normalen Worte, die ihn erreichten. Seine Beschützerin sprach ihn mit einem ungewöhnlichen Singsang an, und den hatte Toby zuvor noch nie gehört. Es musste wohl die Sprache des Himmels sein.
Der Junge wunderte sich nicht einmal darüber, dass er denken konnte, obwohl er schlief. Beide hatten jetzt das Fenster erreicht, und auch hier blieb der Beschützer bei Toby. Er sorgte dafür, dass der Junge unbeschadet sein Zimmer betreten konnte und auch danach nicht zusammenbrach.
Vor dem Bett blieb Toby stehen. Den Kopf hielt er gesenkt wie jemand, der tief in seine Gedanken versunken war. Wie auf ein Kommando hin hob er den Kopf plötzlich an und schaute dorthin, wo sich der Beschützer dicht hinter dem Fenster in seiner Lichtaura abzeichnete.
Die Gestalt winkte ihm zu. Toby schaute genau hin. Er merkte, dass etwas ungemein Trauriges in dieser Bewegung lag, und auch ihn durchflutete ein trauriges Gefühl, sodass er den Drang verspürte, weinen zu müssen.
Dann hörte er die Stimme seines Retters. Diesmal deutlicher, auch wenn sie noch aus dem Singsang bestand. Auch in der Stimme lag die tiefe Traurigkeit, von Tränen überschattet, von der leisen Verzweiflung getragen.
»Dies war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, Toby. Ich kann dir nicht mehr helfen. Ich bin nicht mehr dein Schutzengel, denn ich werde sterben ...«
Der Junge hatte die Worte sehr gut verstanden, doch er wollte sie nicht glauben. Dass er mittlerweile erwacht war, fiel ihm kaum auf, und er schüttelte wild den Kopf. »Nein, das nicht. Nur das nicht. Du ... du ... kannst nicht sterben, du darfst nicht sterben, du bist doch ein Engel. Und Engel waren einmal Menschen, glaube ich. Da sind die Menschen dann gestorben. Danach wurden sie Engel.«
Er hatte es mit seinen schlichten Worten gesagt, doch wieder schüttelte der Engel den Kopf. »Es ist anders, Toby. Bei mir und auch bei anderen ist es anders geworden. Wir sind Gejagte. Es ist jemand da, der uns töten will.«
»Wer denn? Wer will euch töten?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Leider ...«
Toby streckte jetzt wieder seine Arme aus.
Diesmal wollte er die Gestalt festhalten, was leider nicht möglich war, denn sie hielt sich zu weit von ihm entfernt auf.
»Gib auf dich Acht, mein Junge. Schlaf nie mehr bei offenem Fenster. Sprich mit deiner Mutter. Sie kennt dich, und sie wird auch für dich Verständnis haben. Tu dir und mir den Gefallen und schlafe in den Vollmondnächten nicht allein. Es gibt einen mächtigen Feind, der sich mit dem Vollmond verbündet hat. Dieser Feind weiß genau, dass Engel unterwegs sind, wenn er besonders stark scheint. Ich habe schon öfter seine Nähe gespürt, aber nie war er mir so nahe wie jetzt.«
Toby hörte zu. Er hatte nur nichts begriffen, denn er war wie vor den Kopf geschlagen. Trotzdem drängten sich Fragen auf, da reagierte in seinem Innern so etwas wie ein Automatismus. »Wie kann ich dir denn helfen?«, flüsterte er wieder. »Ich ... muss dich finden. Wo soll ich dich suchen, mein Freund?«
»Du wirst mich nicht mehr so finden, wie du mich jetzt kennst, mein lieber Toby.«
»Wie denn?«
»Tot.«
Toby zitterte noch stärker. Trotzdem musste er die Frage stellen, weil er nicht anders konnte. »Und wo soll ich suchen? Wo kann ich dich finden, mein Freund?«
»Auf dem alten Friedhof, wo die Gräber der Gerechten stehen. Die der Unschuldigen ...«
Toby Cramer schluckte. »Die ... die ... der Kinder? Ich habe einmal davon gelesen und auch gehört.«
»Ja, dort.«
»Ich werde kommen. Und ich werde dir helfen, mein Freund, und ...«
»Nein, das kannst du nicht. Noch in dieser Nacht muss ich hingehen und mich stellen. Einmal wollte ich noch zu dir kommen, aber jetzt ist es vorbei, Toby ...« Die Gestalt hob innerhalb der Lichtaura ihren rechten Arm zum Abschiedsgruß. »Lebe wohl, Toby ...«
Es waren die letzten Worte, die der Elfjährige von seinem Schutzengel hörte, denn die Gestalt drehte ab und schwebte davon.
Toby starrte ihr nach. Er sah, wie sie als weiche Lichtinsel über das Dach des Hauses hinwegglitt und nach unten tauchte, als wollte sie in der Straßenschlucht verschwinden.
Dann war der Spuk vorbei.
Toby fühlte sich so schrecklich allein. Auch Minuten später noch stand er vor seinem Bett, schaute darüber hinweg und blickte durch das Fenster in die Dunkelheit der Nacht, die seinen Retter für immer und ewig verschluckt hatte.