1,99 €
Kara, die Schöne aus dem Totenreich, war gekommen, um mich vor der Albtraum-Frau zu warnen. "Vergiss alles, was du bisher erlebt hast! Dieses Wesen ist völlig anders und besteht nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Sternenstaub!"
Ich konnte nicht viel damit anfangen. Doch der Horror folgte sehr schnell, als Suko und ich unsere erste Begegnung mit der Albtraum-Frau erlebten. Jetzt begriffen wir, weshalb sie tatsächlich erschienen war. Sie schluckte Menschen, um sie in Sternenlicht zu verwandeln. Auch Suko und ich standen auf ihrer Liste ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Die Albtraum-Frau
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Die Albtraum-Frau
von Jason Dark
Kara, die Schöne aus dem Totenreich, war gekommen, um mich vor der Albtraum-Frau zu warnen: »Vergiss alles, was du bisher erlebt hast! Dieses Wesen ist völlig anders und besteht nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Sternenstaub!«
Ich konnte nicht viel damit anfangen. Doch der Horror folgte sehr schnell, als Suko und ich unsere erste Begegnung mit der Albtraum-Frau hatten. Jetzt begriffen wir, weshalb sie tatsächlich erschienen war. Sie schluckte Menschen, um sie in Sternenlicht zu verwandeln. Auch Suko und ich standen auf ihrer Liste ...
Ross Calderon starrte ins Licht der Schreibtischleuchte, das ihm wie eine grelle Sonne vorkam. Es war für ihn der Blick in die Welt, in das Leben, aber er persönlich beschäftigte sich mental mit anderen Dingen.
Bei ihm ging es um den Tod!
Er konnte ihn sehen und fühlen, denn er brauchte nur den Blick zu wenden und den Revolver anzuschauen. Ein kurzes Ausstrecken der Hand reichte aus, um die Waffe an sich zu nehmen. Danach war alles leicht. Da reichte der Druck des Zeigefingers.
Tun oder nicht tun?
Er hatte lange gezögert und sich immer wieder intensiv mit dem letzten Schritt beschäftigt. Es gab keinen Ausweg mehr. Sein Leben war ruiniert und abgehakt. Zu viele Pleiten, zu viel Pech. Zudem die Schwierigkeiten in der Familie.
Selbstmord war der einzige Ausweg!
Calderon atmete tief durch. Das Einsaugen der Luft schmerzte. Er fluchte nicht einmal mehr darüber. Er wusste, dass er kaputt war. Innerlich mehr als äußerlich. In seinem Kopf war kein Platz mehr für die Vergangenheit. Er dachte nur an die Zukunft, allerdings an eine Zukunft, die für ihn sehr kurz sein würde, zumindest als lebender Mensch.
Was kam danach?
Oft genug hatte er sich diese Frage gestellt. Allerdings war ihm keine Zeit geblieben, sich mit den anderen Religionen und deren Aussagen zu beschäftigen. Dabei hätte er möglicherweise Hoffnung schöpfen können. Egal, ob es sich nun um das Christentum, den Buddhismus oder den Islam handelte.
Dazu war ihm immer die Zeit zu schade gewesen. Er hatte sich mit anderen Dingen beschäftigt. Mit dem Geldverdienen. Häuser und Grundstücke verkaufen. Makler sein. Großen Profit erwirtschaften. Projekte ins Leben rufen. Geldgeber suchen. Alles musste finanziert werden. Zuerst war es gut gelaufen. Er hatte satt verdient. Dann waren die Nackenschläge gekommen. Einbruch der Wirtschaft. Risiko der Wechselkurse. Die Leute verdienten weniger, damit sank auch die Bereitschaft, Kapital einzusetzen. Die Geschäfte liefen nicht gut. Calderon hatte Niederlagen hinnehmen müssen, und das nicht zu knapp.
Schulden, die Tag für Tag wuchsen und schließlich nicht mehr von ihm überblickt werden konnten. Er hatte ein finanzielles Loch mit einem anderen gestopft. So etwas konnte nicht gutgehen. Er war zahlungsunfähig geworden, und die Gläubiger saßen ihm auf den Fersen.
Sie hatten ihm eine Frist gesetzt. In genau zwei Stunden war diese Frist vorbei. Dann schlug die Uhr Mitternacht. Am nächsten Tag würden gesetzliche Maßnahmen gegen ihn unternommen werden.
Das bedeutete dann sein endgültiges Aus. Dann war es ihm auch nicht mehr möglich, sein privates Vermögen in Sicherheit zu bringen, das gut verteilt auf einigen Konten in verschiedenen Ländern lag.
Er schwitzte. Der Schweiß war wie Säure und brannte auf seiner Haut. Calderon senkte den Blick. Bis auf den Revolver war der Schreibtisch leer. Er hatte alle seine Papiere und Akten zur Seite geräumt, weil er sie in seinem Leben nicht mehr brauchte.
Die Platte war dunkel, glatt. Sie glänzte beinahe wie ein rechteckiger Spiegel. Sogar die Waffe warf ein Spiegelbild.
Calderon bewegte seine Hand. Sie kroch über den Schreibtisch hinweg. Dabei geriet sie in das Licht der Lampe und sah aus wie eine Totenklaue. Der Mann verzog die Lippen. Er lächelte nicht. Es war eine Geste der Anstrengung. Er berührte den Griff des Revolvers mit den Fingerspitzen. Das Holz war kalt geworden, aber seine Hand zuckte nicht zurück. Sekunden verstrichen. Das Büro war leer. Keine Geräusche drangen durch die geschlossene Tür und auch nicht von draußen her durch das Doppelglas der Fenster.
Eine Ruhe, wie sie auf der Erde unüblich war. Er würde bald eine andere kennenlernen. Mit der hier nicht zu vergleichen. Die Ruhe der Ewigkeit. Möglicherweise das absolute Nichts. Hineingleiten in diese Welt ohne Grenzen.
Ross Calderon krümmte die Finger. Der Druck war groß genug, um die Waffe zu sich heranschieben zu können. Sie glitt über den glatten Tisch hinweg. Er lauschte den Schleifgeräuschen, und er sah den Revolver scheinbar immer größer werden.
Kein Stöhnen mehr. Calderon war voll konzentriert. Der Revolver war die letzte Chance. Er hatte überlegt, dass es auch andere Möglichkeiten gab, aus dem Leben zu scheiden. Er hätte sich von einem Hochhaus in die Tiefe stürzen können. Er hätte sich erhängen oder vor die U-Bahn werfen können, das alles hatte er abgehakt.
Die Kugel war noch immer der beste, ehrlichste und auch würdigste Ausweg, denn ein Suizid durch eine Kugel hatte Geschichte. Er war nicht der erste, der sich auf diese Art und Weise umbringen würde. Ganz andere Menschen hatten zu dieser Methode gegriffen und waren in die Geschichte eingegangen.
Calderon zog den Revolver zu sich heran. Nahe der Schreibtischkante blieb er liegen. Es war ein .38er Smith & Wesson. Die Trommel war mit sechs Kugeln gefüllt.
Er hob ihn an.
Die Waffe war nie leicht gewesen. In diesem Augenblick aber kam sie ihm noch schwerer vor. Seine Hand knickte weg, doch der Revolver rutschte ihm nicht aus den Fingern.
Er lag auf seinem rechten Oberschenkel. Mit dem Stuhl war Calderon ein Stück zurückgefahren, da er mehr Platz haben wollte. Der Schreibtisch sollte ihn nicht stören.
Er atmete scharf aus. Plötzlich dachte er daran, was wohl seine Familie dazu sagen würde, besser gesagt, die ehemalige Familie, denn ein Leben mit Frau und Kindern zusammen führte er nicht mehr. Calderon war geschieden. Die beiden Kinder waren bei Janine geblieben, und er hatte so gut wie keinen Kontakt zu den dreien. Hin und wieder war es zu Begegnungen gekommen, doch sie waren immer nur flüchtig gewesen, kaum der Rede wert.
Er schaute auf die Waffe. Klobig sah sie aus und trotzdem irgendwie geschmeidig. Sich selbst bedauerte er nicht mehr. Alles war so anders geworden und auch einfach.
»Tja, das ist es dann wohl gewesen«, flüsterte er sich zu. »Manchmal hat man Glück, manchmal hat man Pech.« Er hatte eben in den letzten Jahren Pech gehabt und musste die Konsequenzen daraus ziehen.
Die Waffe hielt er in der rechten Hand. Sehr langsam hob er seinen Arm an. Er schaute dabei auf den Revolver, der die Bewegung mitmachte. Er kam höher und höher. Calderon drehte ihn, damit er in die Mündung blicken konnte.
Das Gesicht des Mannes war und blieb starr. Bis auf das Lächeln, das sich um seinen Mund herum eingekerbt hatte. Ein verlorenes Lächeln. Es zeugte davon, dass ihm der Selbstmord nicht leichtfiel. Niemand schied so leicht aus dem Leben. Und gerade Calderon hatte zu leben gewusst. Er hatte es genossen, in vollen Zügen, und er hatte nichts ausgelassen.
Noch einmal schloss er die Augen. Er wusste nicht, ob er sie auch schließen konnte oder würde, wenn er sich den Waffenlauf in den Mund geschoben hatte. Es war für ihn so etwas wie ein Test, doch ein Zurück gab es für ihn nicht.
Die Hand mit der Waffe wanderte höher. Calderon schaute sie an. Noch hielt er die Lippen geschlossen. Es änderte sich, als die Waffe die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte.
Er öffnete seinen Mund. Erinnerte an ein Baby, das bereit war, die Nahrung zu schlucken. Die Zungenspitze fuhr dabei über die trockenen Lippen hinweg.
Dann war es so weit.
Der Rand der Mündung berührte seine Unterlippe. Der Stahl war nicht einmal so kalt. Auch nicht warm. Er fühlte sich für Calderon irgendwie angenehm an.
Noch einmal holte er Luft.
Diesmal durch die Nase. Dabei lauschte er seinem eigenen Schnaufen. Der Mund blieb offen. Speichel sammelte sich und floss in der Mundhöhle zusammen.
Es war okay. Das kannte er vom Zahnarzt her. Nur war hier niemand, der den Speichel absaugte.
Er hatte Selbstmorde dieser Art oft genug in Kinofilmen gesehen. Man musste die Mündung und damit auch den Lauf nur weit genug in den Mund hineinschieben und die Waffe dann etwas kanten. Damit die Kugel schräg in seinen Schädel rammen konnte.
Er tat es. Komisch kam er sich schon dabei vor. Es mochte auch daran liegen, dass er die Hand drehen musste. Leicht einknicken. Er spürte dabei das Ziehen im Gelenk und streckte den Zeigefinger aus, um den Abzug zu finden.
Es war für ihn mehr als ungewohnt, die Waffe im Mund zu spüren. Er ekelte sich plötzlich davor. Seine Zunge leckte am Metall entlang und nahm den Geschmack von Öl oder Fett wahr.
Es war ihm egal. Das gehörte dazu. Calderon war n den letzten Minuten seines Lebens nur übersensibilisiert worden. Damit zurechtzukommen, fiel ihm schwer.
Endlich hatte der Finger den Abzug gefunden. Der Mann wunderte sich, dass alles so einfach war. Allerdings wusste er auch, dass es noch ein Hindernis gab.
Das Abdrücken!
Der ultimative und auch tödliche Kick. Nur war er im Vergleich zu dem, was ihm noch bevorstand, wenn er sich nicht umbrachte, harmlos. Es musste sein. Kein Weg zurück.
Er schloss die Augen. Langsam diesmal. Wie jemand, der genussvoll von der Welt Abschied nimmt und sich die letzten Eindrücke so lange wie möglich erhalten will.
Die Zunge zuckte. Er schluckte noch einmal Speichel. Der ölige Geschmack blieb. Ihn würde er als letzte Erinnerung mit auf die lange Reise nehmen. Wieder atmete er scharf durch die Nase. Calderon atmete noch immer. Er ärgerte sich selbst darüber. Er hätte schon längst abdrücken können. Schließlich berührte sein Finger den Abzug.
Warum schieße ich denn nicht? dachte er. Ich habe mir alles überlegt. Es ist doch so einfach. In der Theorie. Ich habe es mir immer ausgemalt, und jetzt brauche ich nur abzudrücken.
Er wollte es tun.
Einfach so.
Er schloss die Augen.
Eine letzte Konzentration noch, die allerletzte in seinem verdammten Leben.
Den rechten Zeigefinger zurückbewegen. Der Knall würde folgen und was dann?
Da klopfte es!
Wie erwähnt, Calderons Sinne waren geschärft in diesem letzten Moment seines Lebens. Er hatte sich dieses Klopfen auch nicht eingebildet. Es war dagewesen. Ein hartes Pochen gegen die Bürotür, kein imaginäres Geräusch in seinem Kopf.
Ross Calderon saß auf seinem Stuhl wie eine Steinfigur. Der Finger lag noch immer am Abzug. Ein leichtes Zucken nur würde ausreichen, um die Kugel in seinen Kopf fahren zu lassen. Das tat er nicht. Er saß auf seinem Platz und war wie eingefroren.
Calderon lebte noch. Überdeutlich spürte er dieses Dasein. In seinem Kopf klopfte es, als wäre jemand dabei, ihm eine Botschaft zu übermitteln. Das Blut war hineingestiegen. Es erzeugte einen starken, hämmernden Druck, schon mit leichten Schmerzen verbunden.
Erneut klopfte es ...
Wieder blieb Ross Calderon bewegungslos sitzen. Auch jetzt zuckte sein rechter Zeigefinger nicht und blieb in dieser erstarrten Haltung. Aber er kehrte wieder zurück ins Leben. Sein Gehirn begann zu arbeiten. Er fing an zu denken.
Das Haus war um diese Zeit leer. Der Nachtwächter hatte seine Runde hinter sich. Er würde erst wieder gegen ein Uhr morgens kommen. Es gab auch keine Reinmachefrauen, die sich um diese Zeit noch in den Büros herumtrieben. Auch keine Mitarbeiter, da hatte sich Calderon schon umgeschaut. Durch den Schuss sollte niemand aufgeschreckt werden. Er hatte die Tat völlig allein vollbringen wollen.
Wer also hatte geklopft?
Eine makabre Idee fuhr ihm durch den Kopf. Vielleicht war es der Tod gewesen, der mit seinen Knochenfingern gegen das Holz der Tür gehämmert hatte.
Ross Calderon merkte, dass dieses zweimalige Klopfen nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. Er tat etwas, was er nie vorgehabt hatte. Zumindest nicht in den letzten Minuten.
Er zog die Waffe wieder zurück.
Sehr langsam. In der gleichen Geschwindigkeit, mit der er sie in den Mund geschoben hatte. Der Lauf glitt dabei über seine Unterlippe hinweg. Es war alles okay, so natürlich. Klebriger Speichel zog noch einen Faden hinter sich her, dann hatte auch das Loch der Mündung den Mund endlich verlassen.
Ross Calderon hustete. In seiner Kehle spürte er ein Kratzen. Er starrte über den Schreibtisch hinweg. Sein Blick fiel genau auf die dunkle Bürotür, an der es geklopft hatte.
Wer war es?
Ein drittes Klopfen erklang nicht. Auch wenn Calderon keine Antwort gegeben hatte, so nahm sich der Ankömmling das Recht, die Tür einfach zu öffnen.
Sie schwang lautlos auf und schabte auch nicht über den beigefarbenen Teppich hinweg. Hinter der Tür lag das Vorzimmer, in dem tagsüber die beiden Sekretärinnen saßen. Dort brannte kein Licht mehr. Die einzige Beleuchtung bestand aus der Schreibtischlampe, die ihre Helligkeit verteilte.
Noch war die Person nicht zu sehen, weil sie sich im anderen Raum aufhielt. Ein Schattenriss malte sich ab. Er bewegte sich. Der Ankömmling kam näher. Er erreichte die Schwelle, ging darüber hinweg und betrat Ross Calderons Büro.
Schlagartig sank die Hand mit der Waffe nach unten und blieb auf dem Oberschenkel liegen. Calderons Mund blieb offen. Diesmal allerdings vor Staunen, denn der nächtliche Gast war eine Frau ...
Und was für eine!
Ross Calderon musste schlucken, als er sie sah. Sie trug ein helles Kleid, das bis über die Waden hinweg reichte. Am Rücken war eine Kapuze eingearbeitet, deren Stoff locker auf die Schulter fiel. Die Knöpfe waren nicht alle geschlossen, und so verschob sich der Stoff bei jeder Bewegung und gab einiges an Haut frei.
Die Frau war für ihn wie ein Abschiedsgeschenk oder ein neuer Anfang. Er wusste es selbst nicht und war zudem unfähig, sich darüber normale Gedanken zu machen.
Ein schmales, hübsches Gesicht. Ein runder Mund mit perfekt geformten Lippen. Große, beinahe staunende Augen, eine kleine Nase und eine Haarflut, die sich wild und lockig auf dem Kopf verteilte. Die Farbe sah manchmal aus wie grausilbriges Lametta, das an verschiedenen Stellen schimmerte, wenn Lichtstrahlen darauf fielen.
Ross Calderon kannte die Frau nicht, die jetzt mit weichen, federnden Schritten auf ihn zukam. Für ihn war sie etwas absolut Neues und zugleich eine Person, die seinen Willen, vom Leben in den Tod zu gehen, besiegt hatte.
Die Frau war schlank, ihre Hände mit den langen Fingern hingen locker herab. Sie hatte eine recht helle Haut, und ihre Pupillen waren ebenfalls außergewöhnlich. Sie blickten so klar wie Gletscherwasser, da war kaum ein Unterschied zwischen den Pupillen und der normalen Umgebung zu sehen.
Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen und neigte den Kopf etwas vor. Sie lächelte jetzt. Ihr Blick war dabei auf Ross Calderon gerichtet, der ihm nicht auswich, aber zugleich auch nicht in der Lage war, ein Wort zu sagen, geschweige denn, eine Frage zu stellen. Das war bei ihm nicht mehr möglich.
Die Waffe in seiner rechten Hand war ihm schwer geworden. Er schämte sich plötzlich, sie noch immer zu halten, und hätte sie am liebsten weggeworfen. Das wiederum brachte er auch nicht fertig. So blieb sie zusammen mit der Hand auf dem Oberschenkel liegen, wobei Calderon hoffte, dass sie von der Frau nicht gesehen worden war, weil die Schreibtischplatte die Sicht darauf verdeckte.
Fragen stürmten durch Calderons Kopf. Aber er war nicht in der Lage, auch nur eine zu stellen. Er wartete darauf, dass seine ihm unheimlich vorkommende Besucherin etwas sagte und wurde in dieser Hinsicht nicht enttäuscht.
»Du hast dich umbringen wollen?«
Ross Calderon lauschte dem Klang der Stimme. Sie gehörte einer Frau, das stand zweifelsfrei fest. Zugleich aber hatte sie etwas Besonderes an sich, das für Ross völlig neu war. Einen singenden Tonfall, ein leichtes Zittern und Vibrieren, als hätte kein Mensch gesprochen, sondern ein fernes Wesen.
Er kam damit nicht zurecht und schüttelte leicht den Kopf.
»Warum hast du es tun wollen?«
Calderon hatte genau zugehört. Er hätte ihr jetzt tausend Gründe nennen können, war jedoch nicht in der Lage dazu. Er glaubte, einen Kloß in der Kehle zu haben, der erst wegmusste, damit er überhaupt sprechen konnte. Deshalb schüttelte er nur den Kopf, aber auch das war nicht mehr als ein Ansatz.
»Man wirft sein Leben nicht so einfach weg. Dazu ist es zu kostbar. Du wolltest aus dem Diesseits ins Jenseits hinüberwechseln, und dabei hast du nicht daran gedacht, dass es noch andere Welten gibt als nur diese beiden. Du bist nicht schlau gewesen. Du hättest dich besser informieren sollen, Ross.«
Sie kennt meinen Namen! dachte Calderon. Sie weiß alles über mich. Klar, sie hat auch viel wissen müssen, sonst wäre sie ja nicht zu mir ins Büro gekommen. Und sie hat gewusst, dass ich mir das Leben nehmen wollte, obgleich ich mit keinem anderen Menschen darüber gesprochen habe.
Dieser Gedanke bereitete ihm Unbehagen, das sich allmählich zu einer tiefen Furcht verdichtete. Er fragte sich, wie diese namenlose Person überhaupt in der Lage war, so etwas zu wissen. Das war schon unnatürlich und übermenschlich.
Übermenschlich ...?
An diesem letzten Wort war er hängen geblieben. Er konnte sich das Erscheinen dieser Frau nicht rational erklären. Zwar war er nie jemand gewesen, der sich mit der Welt jenseits des Sicht- und Fassbaren beschäftigt hatte; er hatte auch nie an Geister oder ähnliche Wesen geglaubt, wobei er auch die Engel, die in letzter Zeit so Mode geworden waren, mit dazu zählte.
In dieser Nacht kam ihm die Besucherin vor wie kein normaler Mensch, obwohl sie so aussah.
»Ich ... ich ... sah keine Chance ...« Plötzlich konnte er sprechen. Calderon begleitete die Worte noch mit einer Bewegung, denn er hob den rechten Arm wieder an und legte die Waffe auf den Schreibtisch.
»Das gibt es nicht.«
»Doch!«, stieß Calderon hervor und nickte dabei. »Für mich schon. Bei mir ist alles kaputt gewesen. Durcheinander. Ich befand mich im senkrechten Fall. Es ist alles vorbei. Ich habe es nicht mehr gekonnt. Ich hatte Fehler gemacht, und mein Leben ist völlig aus der Bahn gerissen und zerstört worden.«
»Es gibt immer Auswege!«, flüsterte die Fremde ihm zu.
»Wie denn? Wen denn?«
Sie lächelte ihn an. »Mich, zum Beispiel.«
Calderon hatte sie sehr gut verstanden. Er konnte sich nicht verhört haben, doch er konnte und wollte ihr nicht glauben. Es war alles so anders bei ihm. Er hatte das Gefühl, durch diesen Besuch in ein neues Leben hineingedrängt worden zu sein, und genau diese Frau hatte ihm die Tür zu diesem Leben geöffnet.
»Das verstehe ich nicht«, gab er zu. »Nimm es mir nicht übel. Möglicherweise bin ich zu dumm, aber ...«
»Nein, du bist nicht zu dumm. Du hast es nur versäumt, den richtigen Weg einzuschlagen.«
»Aha«, sagte er leise. »Und diesen ... ähm ... diesen Weg, den kennst du?«
»So ist es.«
Ross Calderon musste erst nachdenken. Er kam mit der Frau nicht zurecht. Sie wusste viel über ihn, aber er wusste über sie gar nichts. Und sie hatte es geschafft, die Regie zu übernehmen. Er war plötzlich zu einem Opfer geworden.
»Den richtigen Weg einschlagen?«, wiederholte er mit leiser Stimme. »Was bedeutet das?«
»Ich werde es dir zeigen.«
Er hatte vorgehabt, zu lachen, doch das schaffte er nicht. Ross Calderon wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er befand sich inmitten eines Taumels von Gefühlen, den er aus eigener Kraft nicht verlassen konnte.
»Warum überlegst du?«
Ross hob die Schultern und flüsterte fragend: »Tja, warum überlege ich? Ich kann es dir sagen. Ich kenne dich nicht. Ich weiß nicht, wer du bist. Nicht einmal deinen Namen habe ich erfahren. Du weißt meinen, ich deinen ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Mein Name ist Urania ...«
Calderon schluckte. »Wie bitte? Urania?«
»Ja, du hast richtig gehört.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber das kann nicht sein. Was ist das für ein Name?«
»Ich mag ihn.«
»K ... kann ja sein. Das glaube ich dir auch. Nur habe ich ihn noch nie gehört. Er scheint auf dieser Welt wohl einmalig zu sein, denke ich mir.«
»Ich halte nichts von dieser Welt!«, erklärte sie. »Ich denke nicht in diesen Grenzen. Für mich existieren noch andere Dinge. Die Welt ist mir zu klein.«
Calderon schaute sie an. Er holte dabei ein Tuch aus der Innentasche seines Jacketts. Die Luft im Raum war so schwer geworden. Er schwitzte. Der Schweiß malte sich auf seinem Gesicht ab. Er tupfte seine Oberlippe trocken und dachte über die Worte nach, deren Sinn er nicht verstand.
Urania schien seine Gedanken zu ahnen, denn sie sagte: »Du musst mir vertrauen.«
»Kann ich das?«
»Eine Gegenfrage, Ross, Bleibt dir etwas anderes übrig? In deiner Situation?«
»Nein ... ja, ich weiß nicht.« Er sprach hektisch, weil er noch nicht in der Lage war, seine Gedanken zu ordnen. Die letzten Minuten hatten alles auf den Kopf gestellt. Er kam mit dem Besuch dieser Person einfach nicht zurecht. Er wusste auch jetzt nicht, da er ihren Namen kannte, wie er sie einzustufen hatte.
»Es ist die allerletzte Chance, die ich dir gebe. Ansonsten bist du fertig.«
Genau das war es, was ihn störte. Ansonsten bin ich fertig! schoss es ihm durch den Kopf. Sie hatte recht. Sie hatte ja so verdammt recht. Sie wusste genau Bescheid, denn sie hatte sich über ihn sehr ausführlich informiert. Alles war durcheinander gelaufen bei ihm, und jetzt kam jemand und versuchte, auf seine Art und Weise Ordnung in sein Leben zu bringen.
»Du musst dich entscheiden!«, sagte sie.
»Wozu?«
»Tod oder Leben.«
»Was ist, wenn ich ablehne?«
»Dann gehe ich und lasse dich mit deinen Problemen allein. Dann wirst du wieder über dein Schicksal nachdenken und es ebenso wie dich selbst verfluchen. Ich kenne die Regeln in diesem Spiel. Ich nehme dir den Revolver nicht weg, aber dir wird wieder einfallen, was alles schiefgelaufen ist, und du wirst bestimmt die Konsequenzen daraus ziehen und dich selbst umbringen.«
»Das weißt du so genau?«
»Ja, das weiß ich.«
Er setzte sich aufrecht hin. »Wer hat dich geschickt? Wer hat dir gesagt, dass ich mich heute umbringen will?«
»Niemand!«
Das konnte Calderon nicht akzeptieren. »Doch, es muss jemand anderer gewesen sein. Wie sonst hättest du hier erscheinen können, um mich vor einem Selbstmord zu bewahren? Wer gab dir den Auftrag?« Er zählte einige Namen auf, die Urania mit einem Kopfschütteln kommentierte. Nie stimmte sie ihm zu.
»Verdammt noch mal...«
»Denk nicht mehr an das Vergangene. Schau nach vorn. Da bin ich. Und ich werde dir helfen. Ich werde dir Wege zeigen, an die du nicht einmal zu denken wagst. Sie sind außergewöhnlich und haben auch nichts mit der Normalität zu tun, an die du denkst.«
»Ja, ja!« Calderon stöhnte auf und beugte seinen Oberkörper vor. »Aber ich kann dir nicht glauben. Dein Erscheinen hier widerspricht jeglicher Logik.«
»Darum muss ich mich nicht kümmern.«
»Du stehst über den Dingen?«
»Genau!«
»Bist du ein Gott? Eine Göttin?«
»Nein, das nicht. Ich bin nur jemand, der andere Menschen retten und vor einer großen Dummheit bewahren will.«
Ross Calderon stöhnte auf. Er hatte auf jede seiner Fragen eine Antwort erhalten, aber er brachte sie für sich selbst nicht unter. Er kam damit nicht zurecht. Die Dinge liefen einfach nicht mehr geradeaus. Jetzt huschten sie kreuz und quer durcheinander, und er war nicht in der Lage, sie zu begreifen.
»Du musst dich jetzt entscheiden, Ross. Willst du bei mir bleiben oder nicht?«
»Was heißt denn bei dir bleiben?«
»Mit mir den Weg gehen.«
Er lachte sie scharf an. »Was glaubst du, was meine Gläubiger dazu sagen werden? Die finden mich überall, verstehst du? Ich weiß, dass ich verhaftet werden soll...«
»Ist das denn schlimm?«
»Für mich schon. Ich will nicht in einem Knast hocken und verschlossene Türen anstarren. Ich will leben! Jetzt will ich leben! Aber für eine Flucht ist es zu spät.«
»Bei mir nicht, komm zu mir.«
»Und dann?«
»Werden wir mit den Menschen spielen. Du wirst erleben, welche Macht du über sie haben wirst.«
Er winkte ab. »Das habe ich schon einmal gedacht. Es ist auch einige Jahre gutgegangen, danach nicht mehr.«
»Du denkst falsch.«
»Ach – und wieso?«
»Du darfst bei mir nicht mehr in Jahren denken, sondern in Äonen. Es gibt keine Jahre mehr, nur noch Zeiträume, in denen die normalen Grenzen keine Rolle mehr spielen.«