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Es war schon außergewöhnlich, als wir den Toten sahen. Der Mann war innerlich verbrannt, und er war totgeküsst worden. Das inmitten eines Lokals und vor zahlreichen Zeugen, die den Killer gesehen hatten.
Auch wir kamen ihm auf die Spur und mussten erleben, dass alttestamentarische Zeiten ihre Brut entlassen und bis hinein in unsere Gegenwart geschickt hatten. Wir fanden den Täter. Es war Kamuel, der Vergessene. Er war erschienen, um für Lilith, der Braut des Höllenfürsten, eine Armee aus Engeln des Schreckens aufzubauen ...
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Der Vergessene
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Der Vergessene
von Jason Dark
Es war schon außergewöhnlich, als wir den Toten sahen. Der Mann war innerlich verbrannt, und er war totgeküsst worden. Das inmitten eines Lokals und vor zahlreichen Zeugen, die den Killer gesehen hatten.
Auch wir kamen ihm auf die Spur und mussten erleben, dass alttestamentarische Zeiten ihre Brut entlassen und bis hinein in unsere Gegenwart geschickt hatten. Wir fanden den Täter. Es war Kamuel, der Vergessene. Er war erschienen, um für Lilith, der Braut des Höllenfürsten, eine Armee aus Engeln des Schreckens aufzubauen ...
Prolog
Als Mose zum Himmel emporstieg, da kam ihm eine Wolke entgegen, und Mose wusste nicht, ob er sich auf sie schwingen oder sich nur mit den Händen an ihr festhalten sollte. Sie öffnete sich aber, und er betrat ihr Inneres. Und die Wolke trug den Mann Gottes mit sich fort, und er durchstreifte die Feste des Himmels.
Da begegnete ihm der Engel Kamuel, welcher das Haupt der zwölftausend Schreckensengel war, die die Tore des Himmels bewachten. Der schrie Mose an und sprach: »Was suchst du in den Regionen der Heiligkeit, du, der du von den Stätten der Unreinheit kommst? Du vom Weibe Geborener, wie wagst du, zu wandeln, da wo Feuer ist?«
Mose erwiderte: »Ich bin der Sohn Amrams und bin gekommen, die Gesetze für mein Volk zu empfangen.«
Da der Engel aber nicht nachgab, schlug Mose ihn wund und wollte auch sein Leben vernichten.
Bevor Kamuel starb, erschien eine rettende Hand, zog ihn in Sicherheit, und eine Frauenstimme sagte: »Von nun an und in alle Ewigkeiten wirst du auf meiner Seite sein ...«
Aus dem Buch ›Sagen der Juden‹
Es war keine Bar, es war keine einfache Kneipe, es war kein richtiger Pub, es war von jedem etwas.
Zum Pub gehörten die Dartscheibe, vielleicht auch die Sprossenfenster, das Bier, der Whisky und die lange Theke. Als Kneipier bezeichnete sich der Wirt, der mal einen vierwöchigen Urlaub in Germany verbracht hatte. Aus diesem Land hatte er auch das Schild mit der entsprechenden Aufschrift mitgebracht, das jetzt auf der Zapfanlage stand.
Etwas Bar war das Lokal wegen der Frauen, die hier verkehrten. Es waren keine Huren, sie zählten auch nicht mehr zu den Teenies, sondern gehörten zu der Gruppe einsamer Menschen, die ihre Abende nicht allein vor der Glotze verbringen wollten und die Gesellschaft anderer suchten, um sich ablenken zu können. Dass sie hin und wieder nicht allein nach Hause gingen, lag in der Natur der Dinge.
Fremde verirrten sich kaum in das Lokal, das einfach nur Corner hieß. Es lag eben an der Ecke und war von zwei Seiten aus gut zu erreichen. Der Wirt konnte sich auf sein Stammpublikum verlassen. Im Gegensatz zu vielen anderen Pubs in London war seine Bude noch voll, auch wenn der Betrieb zur Ferienzeit nachgelassen hatte und sich fremde Besucher nur selten dorthin verirrten.
An diesem Abend war es fast wie immer. Es gab nur eine Abweichung, die aber dauerte schon seit Wochen an. Das schlechte Wetter. Der Regen, der Wind und Temperaturen, die nicht eben sommerlich waren. Da zogen es die Gäste vor, in den Süden zu fliegen, und das merkte der Wirt an seinen Umsatzzahlen.
Wie ein Feldherr stand er hinter der Theke. Ein großer Mann mit einer Halbglatze, die zu dem breiten Gesicht passte. Es besaß ein besonderes Merkmal. Das war der Oberlippenbart. Ein dunkles, kunstvoll gezwirbeltes Gebilde, dessen beide Enden nach oben gedreht waren. Für die Pflege des Barts wandte der Wirt täglich viel Zeit auf, um ihn seinen Gästen stets stolz präsentieren zu können.
Ja, die Gäste ...
Viele waren an diesem Abend nicht gekommen. An der Theke standen nur vier Männer. Die Tische waren nicht einmal zur Hälfte besetzt. Einige Paare oder auch Menschen, die sich erst an diesem Abend kennengelernt hatten, saßen beisammen. Vertieft in Gespräche, mal lachend, mal etwas traurig, aber immer darauf bedacht, sich von der guten Seite zu zeigen.
Eine Frau hatte es an die Theke verschlagen. Sie hieß Milly, war kurz unter fünfzig, hatte ihr Haar schwarz gefärbt und schaute stets aus illusionslosen Augen in die Welt. Milly war Stammgast und zahlte stets ihre Zeche, doch der Wirt wusste nicht, woher sie das Geld hatte. Über einen Job hatte sie nicht gesprochen. Seit einigen Tagen litt sie unter einer sogenannten Sommerdepression, und die ertränkte sie in Whisky. Wenn sie genug hatte, ließ sie sich von einem Taxi zu ihrer Wohnung fahren.
Und noch jemand saß allein.
Es war ein Mann. Er hatte seinen Platz an einem der Tische gefunden. Am letzten gewissermaßen, denn der Tisch stand in einer Ecke dicht an der Wand. Dort war das Licht nicht besonders gut, so dass der Wirt seinen Gast nur schwerlich erkennen konnte. Der Gast hieß Sam Elam und arbeitete bei einer Versicherung. Mehr wusste der Wirt auch nicht. Ihm war auch nicht bekannt, ob und wie einsam Elam war. Depressionen jedenfalls hatten ihn nicht überfallen. Zumindest hatte er nicht darüber gesprochen. Elam gehörte zu den stillen Trinkern und Genießern und auch zu den guten Gästen, denn oft genug nahm er auch sein Dinner, wie er immer zu sagen pflegte, im Corner ein. Hin und wieder saß auch die eine oder andere Frau bei ihm. Dann lachten und scherzten sie, aber gemeinsam hatten sie das Lokal noch nie verlassen.
Elam war ein bulliger Mann mit wilden, krausen, graublonden Haaren, an die sich ohne Übergang ein Backenbart in der gleichen Farbe anschloss. Er hatte eine Art Kartoffelgesicht mit einer knolligen, leicht nach oben gebogenen Nase und lustigen Augen, die hin und wieder hinter den Gläsern der Brille funkelten. Elam kam ungefähr jeden zweiten Tag. Die Wochenenden verbrachte er bis auf den Sonntag stets hier, aber er war auch oft genug vor Mitternacht verschwunden.
Er betrank sich nie und wusste immer, wann er genug hatte. Solche Gäste waren dem Wirt am liebsten. Beide verstanden sich gut. Elam brauchte nur die Hand zu heben, dann wusste der Wirt Bescheid. Wie auch jetzt. Das kurze Anheben, das Schnicken mit den Fingern, und das frische Bier lief in den Glaskrug. Elam trank immer Guinness, aber er trank es ohne Whisky und nur pur.
Da die Kellnerin Urlaub hatte, bediente der Wirt persönlich. Auf dem Weg zu Elam nahm er noch zwei Bestellungen entgegen und servierte dann.
»Alles okay, Sam?«
Elam nickte. »Ja, schon. Und bei dir, Charlie?«
»Es läuft.«
Elam lachte leise. »Deine Kneipe ist mittlerweile so etwas wie eine Heimat geworden, denke ich. Zumindest für Leute wie mich.«
»Ist doch nicht schlecht – oder?«
»Sicher, Charlie, das ist nicht schlecht. Nicht für dich und auch nicht für uns Gäste.«
Der Wirt schlug seinem Gast auf die Schulter. »Himmel, wie du das sagst! Das hörte sich an, als hättest du dir die Worte richtig abquälen müssen. Geht es dir nicht gut?«
Sam räusperte sich und hielt dabei die Hand vor dem Mund. »Ich weiß nicht, welche Antwort ich dir geben soll, Charlie. Im Prinzip geht es mir gut, aber ich habe in den letzten Tagen immer ein so seltsames Gefühl gehabt, verstehst du?«
»Nein.«
Elam winkte ab. »Ist auch egal. Mir kam es vor, als würde etwas passieren.«
»Mit dir?«
»Schon.«
Charlie wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er meinte nur: »Das geht vorbei.«
»Denke ich auch.«
Der Wirt entfernte sich, und Sam blieb allein am Tisch zurück. Er trank einen Schluck vom dunklen Bier, wischte über seine Lippen und griff zu den Zigaretten. Er ließ sich mit dem Anstecken des Stäbchens Zeit, weil seine Blicke dabei durch das Lokal schweiften. Das tat er immer. Es gab eigentlich nie etwas Neues zu sehen, aber auf diese Routine wollte er nicht verzichten.
Die meisten Gäste waren ihm bekannt. Es verirrten sich auch nur wenige Neulinge in den Pub. Die meisten wurden zu Stammgästen oder schauten unregelmäßig vorbei.
Er lebte allein. Wie die meisten Gäste hier. Auch natürlich die Frauen. Es gab zwei oder drei, die Interesse an ihm gefunden hatten, und er hatte das Interesse auch erwidert. Er war dann mit ihnen losgezogen, sie hatten sich gut verstanden, sie waren ins Bett gegangen, aber er hatte von vornherein immer klargestellt, dass er keine längere Beziehung wünschte. Damit hatten sich die Frauen dann auch einverstanden erklärt, und so hatte es nie Probleme gegeben.
Trotzdem fühlte sich Sam Elam nicht wohl. In seinem Innern war einiges durcheinander. Es hing nicht mit dem Wetter zusammen, auch nicht mit seiner Umgebung. Es ging einzig und allein um ihn. Auf ihn kam etwas zu, das er nicht einschätzen konnte. Es hielt sich noch versteckt. Es war unsichtbar, aber es kam immer näher und würde ihn bald erwischen.
Der Gedanke daran putschte ihn auf. Kein Mensch konnte in die Zukunft schauen, zumindest ging er davon aus, aber man hatte schließlich Gefühle, spürte Strömungen, wenn man sensibel war, und eine dieser Strömungen hatte ihn erreicht.
Elam trank wieder. Zog an seiner Zigarette und blies den Rauch hinein in all die anderen Schwaden, die durch das Lokal trieben oder unter der Decke festhingen.
Eigentlich hatte er vorgehabt, etwas zu essen. Er hatte den Pub hungrig betreten und war dabei sogar ziemlich locker gewesen. Das war jetzt vorbei. Das heißt, schon nach dem ersten Bier hatte ihn dieses Wohlgefühl verlassen. Da war der innere Druck entstanden.
So musste er abwarten ...
Es würde noch etwas passieren an diesem Abend. Es würde eine Überraschung zumindest für ihn geben, und Elam wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Eher nicht, denn er gehörte zu den misstrauischen Menschen auf der Welt.
Immer wenn die Tür aufgestoßen wurde, schaute er hin. Nein, bis jetzt brauchte er sich nicht zu ängstigen. Die Gäste, die den Pub nach ihm betreten hatten, kannte er alle. Von ihnen drohte ihm keine Gefahr.
Gefahr! Er lachte vor sich hin, als er daran dachte. Doch sein Lachen klang nicht fröhlich. Eher verhalten und auch ängstlich. Es konnte durchaus eine Vorwarnung sein, sich darauf einzustellen, dass etwas Ungewöhnliches geschah.
Er saß recht gut. In dieser Ecke war es ziemlich dunkel. Man sah ihn auch so leicht nicht, aber er konnte die anderen Gäste sehen und hatte vor allen Dingen einen guten Blick auf die Eingangstür.
Wieder wurde sie aufgestoßen. Normal, nicht zu hart und auch nicht zu langsam. So kamen Stammgäste, die hier ihre Zeit verbrachten. Hinter der offenen Tür erschien der Ausschnitt von dem, was sich draußen abspielte. Ein grauer, von der Dämmerung gezeichneter Himmel, aus dem ein dünner Augustregen rieselte. Es roch nass, es war kein Wetter, um nach draußen zu gehen.
Im gleichen Augenblick sah er den Mann!
Sam Elam versteifte, denn sofort war ihm klar, dass dieser Mann etwas Besonderes war. Und er wusste noch mehr. Der Besuch des Fremden galt ihm, ihm ganz allein ...
Sam Elam blieb reglos auf seinem Platz sitzen, und auch der neue Gast bewegte sich nicht. Beide schienen sich über eine gewisse Distanz hinweg abgesprochen zu haben, dass sie sich gleich verhielten. Der neue Gast ging auch nicht vor, er blieb an der Tür stehen wie jemand, der sich zunächst umschauen wollte. Er war fremd. Keiner hatte ihn bisher im Corner gesehen, auch der Wirt nicht, denn er hatte den Kopf gedreht und musterte den Neuen.
Die Tür fiel hinter dem Mann zu. Es machte ihm nichts aus, dass er gut zu erkennen war und im Licht stand. Er wirkte wahnsinnig selbstsicher. Allein vom Aussehen her war er etwas Besonderes, aber er passte nicht zu den übrigen Gästen, die mehr auf der konservativen Schiene fuhren.
Der Neue war groß. Größer als gewöhnlich. Er trug einen Mantel aus dünnem Leder, das dunkelgrün gefärbt war. Da der Mantel offen stand, war die dunkle Kleidung zu sehen, die aus einer Hose und einem Pullover bestand. Die Hände hatte der Mann in die Taschen seines Mantels geschoben. Er schien seinen Auftritt zu genießen. Es machte ihm auch nichts aus, dass er von zahlreichen Augenpaaren angeschaut wurde, im Gegenteil, er gab die Blicke zurück und ließ sie wandern, wie jemand, der etwas Bestimmtes sucht. Sein Haar war dunkel und sehr lang. Aber er hatte es über seinen Ohren nach hinten gekämmt und es dort sicherlich zusammengebunden. Durch den Haarschnitt wurde sein Gesicht noch schmaler. Ein männliches, hartes Gesicht. Scharf geschnitten. Versehen mit einer sehr geraden Nase, die über dem breiten Mund mit den schmalen Lippen wuchs. Dunkle Augen, die zumindest auf eine gewisse Entfernung hin dunkel aussahen. Es konnte auch an den schwarzen Brauen liegen, die gerade gewachsen waren, sich aber zum Nasenrücken hin absenkten.
Kein Lächeln auf den Lippen, keine Bewegung im Gesicht, aber das leichte Nicken, das der Neuankömmling dem Wirt hinter der Theke schenkte. Charlie nickte zurück. Ein Zeichen, dass er den neuen Gast akzeptierte, der sich nun in Bewegung setzte.
Und wie er das tat.
Er ging, er trat normal auf, doch es war so gut wie nichts zu hören. Er bewegte sich leichtfüßig wie ein Tänzer über den Boden hinweg. So hätte er auch schweben können.
Nicht nur er schaute sich um. Auch einige weibliche Gäste waren aufmerksam geworden und hatten einen Schauder bekommen. Dieser Typ hatte etwas. Er strahlte etwas aus. Etwas, das Frauen anzog und sie sehr leicht schwach werden ließ. Einer wie er machte andere Männer eifersüchtig, und sogar die an der Theke sitzende Milly seufzte leise auf, als der Neue in ihre Nähe kam.
Er schaute ihr für einen Moment ins Gesicht. Ein scharfer Blick, der Milly stöhnen ließ. »Augen«, flüsterte sie. »Verdammt, die sind nicht von dieser Welt.«
Charlie hatte sie auch gehört. Er reagierte nicht. Ganz im Gegensatz zu sonst. Der Mann ging weiter. Es sprach ihn auch niemand an. Seine Handfläche ließ er über den Handlauf an der Theke gleiten, drehte sich dabei nach links und durchsuchte den Gastraum.
Auch Sam Elam spürte den Blick.
Sam zuckte zusammen. Es war ein Kontakt. Er war da. Von einem Augenblick zum anderen, und Elam wusste nun genau, dass der Besuch ihm galt.
Es war kein freudiger Anlass, das wusste er auch. Jetzt wäre für ihn die Chance gewesen, aufzustehen und das Lokal zu verlassen. Er tat es nicht und blieb sitzen.
Inzwischen hatte sich der Neue von der Theke abgewandt. Er suchte nach einem Platz. Und wieder war kaum ein Laut zu hören, als er die Füße aufsetzte. Er war gefährlich in seiner Ruhe, aber er war auch so etwas wie eine Zeitbombe auf zwei Beinen, die im nächsten Augenblick explodieren konnte.
Elams Tisch war auch sein Ziel. Er ging nicht schneller, sondern schon mit einer provozierenden Gelassenheit. Locker und trotzdem wachsam. Um andere Gäste kümmerte er sich nicht, er hatte nur Interesse für Sam Elam und schien ihn mit seinem Blick auf den Stuhl bannen zu wollen.
Plötzlich stand er vor Elams Tisch.
Ein Stuhl war frei. Der Fremde legte besitzergreifend die Hand auf die Lehne. Sam kam nicht dazu, ihm zu sagen, dass er seine Ruhe haben wollte. Der andere würde es nicht akzeptieren.
»Hallo ...«
Er hatte gesprochen. Das erste Wort. Seine Stimme vibrierte leicht, als hätten sich zwei Echos gefangen. Sie klang metallisch, nicht warm. Wenn einer wie er sprach, dann duldete er überhaupt keinen Widerspruch. Sam schaute zu, wie die nervige Hand den Stuhl locker nach hinten zog, damit sich der Neue Platz schaffen konnte. Er ließ sich nieder. Nicht schnell, nicht hastig, er setzte sich normal hin und schickte Elam ein Lächeln.
Sam Elam fühlte sich unwohl. Er kam sich innerhalb der Kneipe wie ein Gefangener vor. Es gab nur die beiden Stühle, den Tisch und sie zwei. Alles andere war in den Hintergrund geschoben worden, eingehüllt in schwaches Licht und graue Schatten.
Plötzlich stand der Wirt bei ihnen. Sam hatte ihn nicht gehört. Er war vom Anblick des anderen einfach zu stark gefangen gewesen.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
Der Fremde schaute kurz hoch. »Sie haben Wasser?« Der Satz glich mehr einer Feststellung als einer Frage.
»Ja.«
»Dann hätte ich gern eine Flasche.«
»Sofort.«
Als Charlie verschwunden war, deutete der Neue auf Sams Glas. »Bier ist nicht gut. Wer zu viel davon trinkt, kann nicht mehr klar denken, aber das weißt du ja.« Er lächelte Sam kurz an, der sich immer unwohler fühlte. Es gefiel ihm nicht, wie der andere ihn angesprochen hatte. Die Sätze hatten sehr vertraut geklungen, wie bei Menschen, die sich schon länger kannten.
Das wiederum machte Sam nervös. Der andere war fremd, das stand für ihn fest. Trotzdem sah er ihn nicht als zu fremd an. Da gab es etwas, das er sich nicht erklären konnte. Dieser Fremde hatte etwas an sich, das ein Band zwischen ihnen schloss. Es gab eine Gemeinsamkeit, die beide Männer festhielt, aber nur der andere schien zu wissen, was es genau war. Sam kam damit nicht zurecht. Er spürte nur, dass beide gleich waren, und zugleich hatte er den Eindruck, dass er nun gefunden worden war. Von einer Person, die ihn schon lange gesucht hatte.
Charlie brachte das Wasser. »Bitte sehr.« Er schenkte aus der Flasche in das Glas ein.
Das dabei entstehende Geräusch kam Sam Elam überlaut vor. Er hörte das Gluckern und das leise Zischen, sah die Bläschen und schaute zu, wie sich das Glas füllte. Erst als sich der Wirt zurückgezogen hatte, fasste der Fremde nach seinem Glas. Er hob es an und prostete Sam Elam zu.
Der tat nichts. Es hätte sich gehört, diesen Trinkspruch zu erwidern, doch er tat nichts. Nur dieses starre Sitzen, etwas anderes war ihm nicht möglich.
Der Neue trank langsam und genussvoll. Sein Gesicht entspannte sich dabei für einen Moment. Er setzte das Glas erst ab, als er es bis auf den letzten Tropfen leergetrunken hatte. Dann war er wieder in der Lage, sich um Elam zu kümmern.
Er sprach nicht und schaute Sam nur an. Zum ersten Mal sah Elam die Augen des anderen aus der Nähe. Nein, sie waren nicht so dunkel, wie er angenommen hatte. Dieser Mensch besaß besondere Augen. Hell und klar, aber anders als bei normalen Menschen. Dieser Blick wirkte durchdringend, obwohl er etwas Gläsernes an sich hatte. Elam konnte sich vorstellen, dass hinter dem Augenpaar etwas lauerte, vor dem man Furcht bekommen konnte.
»Du bist Sam Elam, nicht?«
Er nickte.
»Ja, ich weiß. Ich habe lange gesucht, aber nun habe ich dich gefunden, denn du weißt genau, dass du dich nicht verstecken kannst, mein Lieber.«
Sam schüttelte den Kopf. »Verstecken? Wieso nicht? Wieso kann ich mich nicht verstecken?«
»Nicht für immer.«
»Das verstehe ich nicht. Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen, verdammt?«
Der andere lachte. Leicht keuchend. »Du sollst doch nicht fluchen. Wir dürfen es nicht oder mögen es nicht. Wir sind schließlich etwas Besonderes, nicht wahr?«
Der Mann hatte Sam bei seiner Erklärung nicht aus den Augen gelassen, und Elam spürte, wie der Blick des anderen praktisch auf ihm brannte. Er war so forschend, als wollte er tief in seine Seele eindringen. Immer deutlicher klärte sich für Elam jetzt ab, dass es eine große Gemeinsamkeit zwischen ihnen beiden gab. Er wusste nur nicht, wo sie begann und wo sie endete.
»Hast du es vergessen, Sam?«
»Was denn?«
»Woher wir stammen? Wer wir sind?«
Elam hob die Schultern. Zu einer weiteren Regung war er nicht fähig. Die gesamte Szene missfiel ihm. Sie war ihm zu unwirklich, obwohl er mittlerweile schon wusste, dass sie auch mit ihm zusammenhing, denn er war tatsächlich etwas Besonderes wie dieser ›Fremde‹ schon so treffend behauptet hatte.
Noch immer wusste er nicht, was der Mann von ihm wollte. Es machte ihn nervös, dass es zwischen ihnen Gemeinsamkeiten gab, die er auch nicht wegdiskutieren wollte. Er war auch neugierig geworden. Fragen hatten sich bei ihm aufgebaut, nur traute er sich nicht, sie dem anderen zu stellen.
Dieser Mensch zog ihn auf der einen Seite an, auf der anderen aber fürchtete er sich vor ihm, und nicht nur einmal rann ein Schauer an seinem Rücken herab.
»Du denkst nach, Bruder?«
Bruder? Warum hatte er Bruder gesagt? Elam wollte ihn fragen, traute sich jedoch nicht. Das Gesicht des anderen hielt ihn davon ab. Es hatte einen wissenden, spöttischen und auch überheblichen Ausdruck. So etwas konnte Elam nicht gefallen.
Sam zuckte mit den Schultern.
Der andere lachte und füllte sein Glas. »Wie gesagt, ich habe lange gesucht, um dich zu finden. Dich und andere, denn wir gehören zusammen. Ich will –«, er stellte das Glas wieder weg, »– eine alte Schuld begleichen, verstehst du?«
»Nein, nein, das verstehe ich nicht.«
»Nun komm und sei vernünftig. Es ist eine uralte Schuld. Ich habe meine Dankbarkeit nicht vergessen, und ich werde sie zeigen. Menschen können sich uns nicht in den Weg stellen, denn wir sind besser als sie.«
»Besser?«, flüsterte Elam.
»Ja, natürlich. Wir sind besser, und wir sind ihnen über. Hast du das vergessen?«
»Ja, nein ... ich ...«
»Du hast es verdrängt. Stimmt's?«
Sam wusste nicht, was er sagen sollte. Was wollte der andere hören? Die Wahrheit? Ja, die gab es, aber sie sah bestimmt anders aus als die des Fremden. Er wusste nicht einmal dessen Namen, und der andere schien seine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte mit leiser und überaus deutlicher Stimme:
»Ich bin Kamuel ...«
Sam Elam saß starr. Der letzte Satz wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er hämmerte in seinem Gehirn. Er hatte darin jetzt endgültig eine Saite zum Klingen gebracht, die Sam schon vergessen gewähnt hatte. Oder die letztendlich gesprungen war.
»Du überlegst?« Elam nickte.
»Kamuel heiße ich. Du bist Sam, aber eigentlich heißt du Samuel. Du weißt es. Du weißt, dass du schon sehr lange hier auf der Erde wandelst, um eine Aufgabe zu erfüllen. Du bist ein Schläfer, der nur geweckt werden muss. Deshalb bin ich gekommen, Sam. Ich habe dich geweckt. Ich habe dich aus dem verdammten Schlaf hervorgeholt, und jetzt sind wir zusammen. Du wirst mir helfen, so wie es das Schicksal vorsieht. Du wirst mich begleiten. Du und andere. Hast du verstanden, Sam?«
Elam hatte alles gehört. In seinem Innern war eine Klappe geöffnet worden, aus der nicht alles hervorströmte, was so lange darin verborgen gewesen war. Schon immer hatte er gewusst, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Dass er anders war als die übrigen Menschen. Dass in ihm eine Macht steckte, die lange genug verkrustet gewesen war, die von Kamuel jedoch aufgerissen wurde. Er lächelte wieder, doch seine schmalen Lippen blieben dabei geschlossen. Nur die Augen starrten nach vorn. Lebendes Glas, gefüllt mit einem uralten Wissen.
»Du weißt nicht, wer ich bin, Sam?«
Er war verlegen. Die Sicherheit war weg. Sein Lächeln wirkte hölzern. »Nicht genau ...«
»Wo komme ich denn her?«
»Keine Ahnung.«
Kamuel bewegte die rechte Hand. Er spreizte dabei den Daumen ab und deutete in die Höhe. »Von dort. Das sagen zumindest die Menschen. Sie meinen, dass ich und auch du, sowie viele andere aus der Höhe kommen und nach unten sanken. Sie schwebten herbei. Einfach so, mein Lieber. Sie kamen auf die Erde, und die Menschen haben nichts davon gewusst. Oder nur wenige unter ihnen. Sie allein konnten es spüren, aber die meisten sind Ignoranten, weil ihnen der Sinn für alles andere und Fremde verlorenging.«
Elam wusste nicht, was er sagen sollte. Aber die Erinnerung drängte sich in ihm hoch. Sein Leben lief etappenweise vor seinem geistigen Auge ab. Er dachte an seine Einsamkeit. Er war nicht fähig gewesen, mit einer Frau eine Lebensgemeinschaft einzugehen. Er dachte auch an seine Träume, in denen er ein anderer gewesen war. Mächtig auf eine bestimmte Art und Weise. Einer, der zwischen Himmel und Erde pendelte und dem sich Welten geöffnet hatten.
»Nun ...?«
Elam nickte. »Ich glaube, dass ich es weiß. Ja, ich bin nicht so normal wie andere Menschen. Ich habe schon verstanden, denn ich bin und gehöre zu denen, die ...«
»Sprich es nicht aus, mein Freund. Es ist gut, dass du dich jetzt damit abgefunden hast. Aber du bist noch zu stark verkrustet. Innerlich meine ich. Du solltest dich öffnen. Ich will auch, dass sich andere öffnen. Alles soll seinen richtigen Weg gehen, damit ich meine Dankbarkeit erweisen kann.«
Elam hatte eine trockene Kehle bekommen. Es fiel ihm schwer, etwas zu sagen, deshalb trank er hastig einen Schluck Bier, auch wenn es mittlerweile warm geworden war. »Was meinst du denn damit?«, flüsterte er. »Einen neuen Weg gehen und ...«