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"In the Darkness" hieß das Grusical, das in London Furore machen sollte. Eine Geschichte um Liebe, Hass, Rache und Tod. Lady Sarah Goldwyn und Jane Collins hatten mich zu einem Premierenbesuch überredet. Das Stück lief toll an, wir hatten unseren Spaß - nicht ahnend, dass hinter der Bühne aus dem Spiel blutiger Ernst wurde. Denn es gab jemanden, der im Geheimen die Fäden zog und der eigentliche Regisseur des Grusicals war - Dracula II ...
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Blut und Sünde
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Blut und Sünde
von Jason Dark
»In the Darkness« hieß das Grusical, das in London Furore machen sollte. Eine Geschichte um Liebe, Hass, Rache und Tod. Lady Sarah Goldwyn und Jane Collins hatten mich zum Premierenbesuch überredet. Das Stück lief toll an, wir hatten unseren Spaß – nicht ahnend, dass hinter der Bühne aus dem Spiel blutiger Ernst wurde. Denn es gab jemanden, der im Geheimen die Fäden zog und der eigentliche Regisseur des Grusicals war – Dracula II ...
Dieser sich dem Ende zuneigende Tag sah abschreckend und düster aus, obwohl er eigentlich anders hätte sein können. Blasse Sonnenstrahlen, die auf herbstlich gefärbtes Laub tupften und es noch bunter wirken ließen, als es ohnehin schon war.
Es gab das Laub. Es gab die Wolken und den Wind, der mit den Blättern spielte, sie anhob, durch die Luft schleuderte und sie schließlich aus seinen unsichtbaren Händen fallen ließ.
Es war zwar farbig, aber es sah grau aus wie alles in dieser Gegend, die allmählich dem Tod entgegensiechte, weil die alten Zechen längst geschlossen waren.
Dem hatten die Menschen Tribut gezollt. Viele waren weggezogen, besonders die Jüngeren, die mehr Chancen auf Arbeit in den großen Städten gesehen hatten. Das lag ebenfalls zurück. In vielen Orten grassierte die Arbeitslosigkeit, und auf dem Lande war es in der ehemaligen Bergbauhochburg noch schlimmer.
Florence Turner hielt es trotzdem aus. Sie war eine junge Frau, die sich auch so durchs Leben schlug und es sogar noch schaffte, hin und wieder ihrem Beruf nachzugehen.
Damals war sie ausgelacht worden, als bekannt wurde, dass sie Schauspielerin werden wollte, aber sie hatte sich durchgesetzt. Jetzt war sie ausgebildet, zwar ohne festes Engagement, aber sie bekam hin und wieder kleinere Jobs, die so viel einbrachten, dass sie sich über Wasser halten konnte.
Sie gehörte zu den Menschen, die nicht viel brauchten und recht bescheiden lebten. In Depressionen verfiel die Sechsundzwanzigjährige nicht. Sie war an einem Sonntag geboren und vertraute auf ihren guten Stern.
Der Herbst war mit Wucht eingetroffen. Praktisch über Nacht. Er hatte den ersten Nebel, aber auch den Regen und den Wind mitgebracht, der sogar zu einem kleinen Sturm geworden war. So riss er die Blätter von den Bäumen, fegte sie über die alten Straßen und Gehsteige hinweg und sorgte auch dafür, dass die Temperaturen allmählich fielen.
Florence Turner war einkaufen gewesen. Ein wenig Brot, etwas Käse, Milch und Wasser. Gekauft hatte sie die Lebensmittel in einem kleinen Krämerladen, dessen Besitzer aushielten, obwohl es nicht viel zu verdienen gab. Beinahe störrisch stemmten sie sich gegen die Macht der Supermärkte an. Zudem brauchten sie keine Miete zu zahlen, denn das Haus gehörte ihnen.
Die Worte der Frau gingen Florence nicht aus dem Kopf. Sie hatten so deprimierend und zugleich warnend geklungen. Sie hatte davon gesprochen, dass es keine gute Zeit gewesen war. Ein zu düsterer Tag, und es lag ihrer Meinung nach nicht nur am Wetter.
»Geben Sie gut auf sich Acht, Kind«, hatte sie gesagt. Sie sagte immer Kind, was Florence nicht einmal unangenehm war, so hatte der Kontakt zwischen ihnen eine persönliche Note erhalten. »Es ist kein guter Tag heute.«
Florence hatte gelacht und nach den Gründen gefragt.
»Das liegt nicht nur am Wetter, Kind. Es ist normal. Schließlich haben wir schon Oktober. Hier sind andere Dinge wichtig, die man leider nicht sehen und nur spüren kann.«
»Welche denn?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie sind verborgen. Sie liegen im Untergrund, und sie werden von den sichtbaren verdeckt. Wer sensibel ist, der kann sie spüren, und ich bin es in meinem Alter geworden. Also, geben Sie auf sich Acht. Es kann sein, dass es auch Sie trifft.«
Florence hatte nachfragen wollen, sich aber nicht getraut. Sie hatte dann gelacht – ein wenig verlegen – und mit den Schultern gezuckt. Wie jemand, der sich in sein Schicksal ergeben hat.
Dann war sie gegangen und lief jetzt durch das schlimme Wetter. Sie stemmte sich gegen den Wind an, der ihr so kalt ins Gesicht blies und der Sprüh mitbrachte, diesen feinen Regen, der irgendwann alles durchnässte.
Bis es so weit war, wollte sie ihre Wohnung erreicht haben. Sie lag nur ein paar Häuser entfernt, und Florence befand sich schon auf der richtigen Seite. Der Gehweg wurde von den mächtigen Laubbäumen begleitet. Der Wind bewegte ihre Zweige, denn gegen die starken Äste kam er nicht an. Sie blieben starr wie alte, ausgestreckte Arme. Die alten Häuser an der linken Seite warfen Schatten auf den Boden. So düster wie die gehetzt wirkenden Wolken am Himmel.
Sie lief schneller. Den Kopf hielt sie gesenkt. Nur ab und zu fuhr ein Auto an ihr vorbei. Jedem Wagen schaute sie nach, sah die roten Heckleuchten im Sprüh verschwommen aussehen und sie dann verschwinden. Florence dachte daran, dass sie sich kein eigenes Auto leisten konnte, aber irgendwann, das stand für sie fest, würde sie eines besitzen. Auch wenn es nur ein Kleinwagen war.
Das Wetter hatte die trübe Gegend noch düsterer gemacht. Sie lief durch ein Halbdunkel und kam sich manchmal vor wie in einem Tunnel, in dem es nur wenig Licht gab.
Wenn eben möglich, hielt es die Bewohner in ihren Häusern. So kam es, dass ihr nicht viele entgegenkamen und sie sich sehr allein vorkam.
Neben einer großen Pfütze, die sich in einer Senke am Rand der Straße gesammelt hatten, spielten Kinder und ließen selbstgebastelte Schiffe auf dem Wasser fahren.
Ihnen machte es Spaß, bei diesem Wetter draußen zu sein. Das hatte ihr als Kind ebenfalls gefallen. Sie lächelte flüchtig und winkte den Kindern zu. Die waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie es nicht sahen.
Florence Turner wohnte in einem alten Haus. Es war das zweitletzte in der Reihe. Das weiter folgende, ein Eckhaus, stand bereits leer. Es sollte im nächsten Frühjahr abgebrochen werden. Kein Mensch wusste, was anstelle dieses Hauses dort aufgebaut werden würde. Mieter für neue Wohnungen ließen sich nur schwer finden.
Alte Bauten mit graubraunen Fassaden und großen Fenstern, deren Scheiben hin und wieder Erker zierten. Früher hatten in den Häusern die leitenden Angestellten der Zechen gewohnt. Das gehörte der Vergangenheit an. Nur wenige Wohnungen waren noch belegt.
Sie hetzte weiter. Die Kapuze hatte sie über den Kopf gezogen. Der dünne Regen wurde an drei Seiten vom Stoff abgehalten. Ihr Gesicht war ungeschützt und deshalb nass.
Früher hatte es noch die gepflegten Vorgärten gegeben. Das Land war zwar vorhanden, aber die Gärten selbst waren als solche nicht mehr zu bezeichnen. Man konnte sie schon als Brachland ansehen. Es war auch niemand da, der sich um sie kümmerte. Der alte Mann aus dem Erdgeschoss, der es einmal getan hatte, war vor einem halben Jahr verstorben.
Florence erreichte ihr Haus. Ein kurzer Blick an der Fassade hoch. Das tat sie immer, auch wenn sie das Haus kannte und es nichts Neues mehr zu entdecken gab.
Die alte Tür. Nur wenige Lichter, die hinter den Scheiben leuchteten. Es waren nicht alle Etagen belegt. Das Dachgeschoss stand leer und auch eine Wohnung darunter.
In der zweiten wohnte sie. Die Zimmer lagen in der vierten Etage, und Florence durfte gar nicht daran denken, wie sie aussahen. Das Wasser war durch die Hauswand gedrungen und hatte nassen Schimmel an den Innenwänden hinterlassen. An der Westseite war es besonders schlimm, denn dort traf das schlechte Wetter zuerst ein.
Sie eilte durch den Vorgarten auf die Haustür zu. Der Mittelweg war verschmutzt. Seit dem Tod des alten Mannes fühlte sich niemand dafür zuständig, hier zu reinigen oder zu fegen. Die alte Haustür hätte auch einer Erneuerung bedurft, aber darum kümmerte sich niemand. Hier lag alles im Sterben.
Auf den letzten Metern hatte ihr der Wind die Kapuze vom Kopf weg in den Nacken geblasen. Der dünne Regen benetzte ihr Haar. Sie war nass geworden und ließ sich trotzdem noch Zeit, einen Blick an der Fassade in die Höhe zu werfen.
Wieder kamen ihr die Worte der Lebensmittelhändlerin in den Sinn. Die Frau hatte von einer schlechten Atmosphäre gesprochen, die sich über der Gegend ausgebreitet hatte. Und das hing nicht allein mit dem Herbstwetter zusammen.
Florence stemmte die Einkaufstüte gegen das linke angewinkelte Bein, um mit der rechten Hand nach dem Schlüssel zu kramen. Er steckte in der Tasche. Sie holte ihn hervor und schob den größeren der beiden Schlüssel in das Schloss der Haustür.
Aber sie drehte ihn noch nicht herum. Etwas störte sie. Es war der kalte Schauer, der über ihren Rücken rann und sich auch auf dem Gesicht verteilte. Das Haus sah normal aus wie immer, aber ihr kam es verändert vor.
Eine Erklärung fand Florence nicht. Etwas warnte sie, das Haus zu betreten. Das Gefühl, es nicht zu tun, wurde immer drängender, und sie fing sogar an zu schwitzen. Aber sie stemmte sich gegen das Gefühl an und schüttelte heftig den Kopf.
»Unsinn – ich falle noch nicht auf das Geschwätz einer alten Frau herein.«
Sie öffnete die Tür.
Vor ihr lag der Schlund!
Düster, ohne Licht. Der typische feuchtkalte Geruch wehte ihr entgegen. Hier wurde nicht geheizt. Kälte und Feuchtigkeit hatten sich durch die Wände von außen her gefressen und breiteten sich im Treppenhaus ebenso aus wie in den Wohnungen. Da gab es so gut wie keine Unterschiede.
Sie machte Licht. Der alte schwarze Schalter musste dabei noch gedreht werden. Wie immer freute sich Florence darüber, dass das Licht noch funktionierte. Wenn es dunkel geblieben wäre, hätte es sie auch nicht gewundert.
Der schwache Schein beleuchtete auch die alte Treppe mit dem dicken Geländer, an dem die Farbe längst abgeblättert war. Wie immer musste sie die Treppe hochsteigen, was ihr aufgrund des Alters nicht schwerfiel. Bei den anderen Mitbewohnern war es teilweise anders. Im Haus wohnten außer ihr zumeist ältere Menschen, die einfach nicht mehr ausziehen wollten.
Sie erreichte die Wohnungstür und stellte dort die Tüte ab.
Das Licht hatte sie unterwegs noch einmal einschalten müssen. Viel besser war die Sicht in dieser Etage nicht geworden, aber das kannte sie auch. Nur das Zittern war ihr neu, denn sie hatte Mühe, den Schlüssel in das Schloss zu stecken.
Einmal drehen, dann konnte sie die Tür öffnen. Vorsichtig drückte Florence sie nach innen. Dabei wunderte sie sich über sich selbst, denn normalerweise betrat sie ihre Wohnung normal und nicht wie eine Fremde.
Auch jetzt machte sie Licht. Der kleine Flur, den sie durch eingerahmte Kalenderbilder verschönt hatte, kam ihr längst nicht so vertraut vor wie sonst. Die gesamte Wohnung wirkte irgendwie verändert. In jedem der drei Zimmer schaute sie nach, auch im Bad, aber es war niemand zu sehen.
Die Unruhe blieb trotzdem – und auch die Kälte. Sie kroch ihren Rücken hinab. So erlebte Florence sie wie draußen vor dem Haus. Diesmal nur etwas dichter und intensiver, denn die äußerliche Freiheit war hier nicht gegeben.
Die Wohnungstür war wieder ins Schloss gefallen. Eingesperrt, dachte sie und lachte zugleich auf. Nein, das war Unsinn. Auf diesen Vergleich wollte sie sich nicht einlassen. Florence hatte sich die Räume selbst ausgesucht und nach ihrem persönlichen Geschmack eingerichtet, wenn auch mit nicht eben großen finanziellen Mitteln.
Die Wohnung war leer. Kein Mensch hatte sie während der Abwesenheit betreten und hielt sich versteckt. Sie hätte beruhigt sein können, aber sie war es nicht. Trotzdem wollte sie die Wohnung nicht verlassen, um zu ihren Freunden zu laufen. Die letzten Proben waren gelaufen. Sie würde morgen nach London fahren und dort an der Premiere teilnehmen. Das war ihre Chance, und die wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Wenn sich jemand im Theater aufhielt, der sie sah und ihr Talent erkannte, dann war schon viel gewonnen.
Florence zog die feuchte Kleidung aus, hängte sie an den Haken und verstaute die Lebensmittel in ihrem kleinen, gebraucht gekauften Kühlschrank. Der Regen hatte ihre Jeans nass und klamm werden lassen. Auch der Pullover war nicht mehr trocken.
Überhaupt hatte sich die Kälte in der gesamten Wohnung ausgebreitet, in der es auch keine Heizkörper gab. Um es warm haben zu wollen, musste sie einen fahrbaren Radiator einschalten, der die meiste Zeit über im kleinen Bad stand und auch jetzt eingeschaltet war. Da kostete zwar Strom, doch frieren wollte sie auch nicht.
Ein Zimmer stand so gut wie leer. Hier hingen nur ihre Klamotten an einem fünffüßigen Garderobenständer. Im größten Raum lebte und schlief sie auch.
Alte Möbel aus zweiter Hand bildeten die Einrichtung. Zwei hohe Fenster gaben den Blick nach draußen frei, wo sich der Tag zu verabschieden begann. Es war längst dämmerig geworden, wenn nicht schon dunkel. Ihr Blick streifte über ein Brachgelände hinweg, das irgendwelche Leute als Müllkippe zweckentfremdet hatten, denn überall lag Zeug herum, das niemand mehr benötigte.
Sie sah wieder die fallenden Blätter und dachte daran, dass die Natur sich zum Schlafen legte und die alte Kleidung abwarf. Im nächsten Jahr erst würde sie wieder erwachen, doch daran konnte und wollte sie jetzt nicht denken.
Es zählte dieser Tag hier, und es zählte auch ihr Gefühl, das beileibe nicht gut war. Es bedrückte sie, es machte ihr Furcht.
Sie drehte sich um.
Das Frieren würde wahrscheinlich vergehen, wenn sie eine heiße Dusche nahm. Zwei Minuten später war sie ausgezogen und stand im warmen Bad. Eine Wanne gab es nicht, die Dusche reichte aus. Ein Handwaschbecken mit einem kleinen Spiegel darüber, Haken für Handtücher, die Toilette, ein dreibeiniger Hocker und die grün gestrichenen Wände mit den feuchten, großen Flecken machten den kleinen Raum nicht eben zu einer Luxusoase.
Sie ließ das Wasser laufen. Es dauerte immer eine Weile, bis es heiß wurde. Zum Glück funktionierte die Wasseraufbereitung. Der Dampf quoll ihr wie Nebel entgegen. Florence regulierte die Temperatur. Ausgezogen hatte sie sich bereits. Das Handtuch lag über ihrer Kleidung auf dem Hocker, und dann endlich konnten ihr die warmen Strahlen das Frösteln und die Kälte aus dem Körper treiben.
Florence Turner genoss die Dusche. Ihre Gedanken wanderten dabei weit weg und hinein in die Zukunft. Sie dachte an das Stück, das sie und ihre Kollegin morgen aufführen würden. Ein gruseliges Drama und sogar mit einem Schuss Horror versehen. Die düstere Musik, die Szenerie, die Beleuchtung, das alles kam zusammen und veränderte die Bühne zu einer Filmleinwand.
Später trocknete sie sich ab und dachte auch jetzt über ihre Rolle nach.
Jetzt gefiel es ihr nicht mehr, dass sie eine Tote spielen sollte, die wieder zum Leben erweckt wurde. Normalerweise hätte es ihr nichts ausgemacht; sie hatte sich sogar auf die Rolle gefreut. Nun sah es anders aus, und sie spürte auch, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Angst?
Nein, im Prinzip brauchte sie keine Angst zu haben. Hier lief alles glatt, wie es immer gewesen war. Sie hatten lange genug geprobt. Da würde es keinen Ärger geben.
Florence hatte keine Lust mehr, sich normal anzuziehen. Sie entschied sich für einen weißen und flauschigen Morgenmantel, den sie in Höhe der Taille verknotete. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und schob die Heizung vor sich her.
Draußen war es jetzt völlig finster geworden. Die Dunkelheit drückte gegen die Scheiben wie ein schwarzes riesiges Tier, das bewegungslos in der Luft stand. Am Himmel zeigten sich keine Gestirne, denn die dicke Wolkenschicht verdeckte alles.
Florence erinnerte sich daran, dass sie eine Flasche Rotwein in der Küche stehen hatte. Sie entkorkte die Flasche und nahm sie zusammen mit dem Glas mit in das Wohn-Schlafzimmer.
Es war ein beruhigendes Gefühl für sie, als sie den Wein in das Glas gluckern hörte. Der Wein war etwas zu kühl, aber das machte ihr nichts aus. Er würde im Laufe der Zeit eine bessere Temperatur erhalten, dann konnte sie ihn richtig genießen.
Von einer Verwandten hatte sie einen Sessel geschenkt bekommen, dessen Rückseite sie zurückstellen konnte. Das lief in drei Stufen ab. Die erste Stufe war für Florence ideal. Da lag sie nicht, und da saß sie auch noch nicht. So konnte sie trinken, in die Glotze schauen oder auch lesen. Die Stehlampe stand in der Nähe. Sie selbst hatte sie aus zwei verschiedenen Teilen zusammengebastelt. Das Licht war weich, weil es durch den gelben Schirm gedämpft wurde. Es floss auf sie und fing sich funkelnd auf der Oberfläche des Rotweins.
Florence schaute sich die Reflexe an, hob das Glas, nahm die ersten beiden Schlucke und streckte dabei die Beine aus. Eigentlich hätte sie sich wohl fühlen müssen, wie an vielen anderen Abenden zuvor. Heute traf das nicht zu. Auch der Wein schaffte es nicht, ihre Nervosität zu unterdrücken. Sie blieb unruhig. Sie aß auch keinen Käse zum Wein, wie sie es sonst immer getan hatte. An diesem Abend war so vieles anders, obwohl sich äußerlich nichts verändert hatte.
Die Heizung gab genügend Wärme ab, um sie nicht frieren zu lassen. Aber die Gänsehaut wollte nicht weichen. Florence Turner stellte fest, dass die Kälte in ihr steckte und sich immer wieder hochdrängte. Dieser Abend war nicht gut. Er würde auch keinen weiteren guten Verlauf haben. Etwas stimmte nicht. Es war die Ahnung, dass ein schlimmes Ereignis bevorstand.
Sie hätte jetzt einige Klamotten packen und die Wohnung verlassen sollen. Darauf verzichtete sie. Es war, als hielte sie jemand im Sessel fest. Florence war nicht einmal in der Lage, nach der neben dem Sessel auf dem Boden liegenden Fernbedienung zu greifen, um die Kiste anzustellen.
So blieb sie in ihrer Haltung liegen, den Blick auf die graue Mattscheibe der Glotze gerichtet und hin und wieder Wein aus der Flasche nachschenkend.
Zeit verstrich. Florence merkte es nicht. Sie kam sich in ihrer eigenen Umgebung wie gefesselt vor, und es war ihr, als wäre sie von etwas Fremdem umgeben, das sich unsichtbar in den einzelnen Zimmern verteilt hatte.
Vor Kurzem hatte ihr ein Freund mal Teile aus der Offenbarung des Johannes vorgelesen. Schreckliche Dinge, die geschehen würden, bevor die Welt verging. Daran wurde Florence in diesen Augenblicken erinnert, und gerade in ihrer Lage konnte sie sich vorstellen, dass so etwas wahr werden würde.
Sie füllte das Glas noch einmal. Die Hälfte der Flasche war bereits leer, und Florence spürte schon die Wirkung des Rotweins. Sie lullte sie ein. Es gelang ihr nicht mehr, die Gedanken scharf und klar zu fassen. Sie wollten wegtreiben, ohne sich wieder einfangen lassen zu können.
Der Blick auf die Fenster.
Schwaches Licht nur glitt vor den Scheiben entlang. Es war kaum in der Lage, die Dunkelheit zu erhellen. Draußen bewegte sich ebenfalls nichts. Bäume gab es auf dem Brachgelände nicht mehr. So malten sich auch keine Kronen ab, die vom Wind hätten bewegt und deren Blätter hätten geschüttelt werden können.
Und doch war es nicht ruhig.
Vor dem Fenster sah Florence etwas Dunkles. Einen Schatten, der sich wie ein großer Vogel von einer Seite zur anderen bewegte, dabei aber immer in Höhe des Fensters blieb.
Sie hielt den Atem an. Florence wusste, dass es nicht normal war. Schon oft hatte sie am Abend hier gesessen und auf die Scheibe geschaut, aber was sie jetzt sah, war ihr noch nie aufgefallen. Sie rechnete damit, Besuch zu erhalten. Von einem mächtigen Vogel oder was auch immer. Einer, der sich verirrt hatte und eigentlich in einem Freigehege besser aufgehoben gewesen wäre.
Der ›Vogel‹ flog nicht weg. Er blieb nahe der beiden Fenster. War mal hinter dem einen besser zu sehen, mal hinter dem anderen. Je nachdem, wie er sich bewegte.
Plötzlich stand er still. Genau hinter der von Florence aus gesehen linken Scheibe. Er malte sich dort ab, aber sie war nicht in der Lage, alles genau zu sehen.
Sie wunderte sich sowieso darüber, dass dieses Wesen sich so starr in der Luft aufhalten konnte, als wäre es mitten in der Luft festgebunden worden.
Aber er trat deutlicher hervor. War es ein Kopf? Vielleicht ein Gesicht? Nicht rund, sondern eher aus Ecken bestehend. Irgendetwas war es schon, und sie bildete es sich auch nicht ein, denn dazu reichte die Phantasie doch noch nicht aus.
Das Rote.
Zwei Punkte!
Rechts und links. Dazwischen lag eine schwarze Fläche. Mit den roten Punkten, die für Florence die Farbe von Blut aufwiesen, kam sie nicht zurecht. Noch immer dachte sie an einen Vogel, dessen Augen diese Farbe aus welchen Gründen auch immer angenommen hatten.
Stillstand, keine Bewegung. Ebenso wie bei Florence. Sie sagte und tat nichts. Nur dieses Starren nach vorn. Direkt hinein in das Gesicht der Gestalt, deren Erscheinen für sie unbegreiflich war. Kein Mensch, kein Vogel, kein ...
»Öffne das Fenster!«
Eine Stimme. Von einem Fremden gesprochen, aber deutlich zu hören und auch wieder nicht normal zu hören, denn sie vernahm die Botschaft nur in ihrem Kopf.
Plötzlich war sie zu Stein geworden. Florence wollte gern an eine Täuschung glauben. Sie dachte auch daran, aufzustehen und wegzurennen, doch das ließ der andere nicht zu, denn er wiederholte seinen verdammten Befehl, und Florence Turner wusste nun mit Sicherheit, dass sie sich nicht geirrt hatte.
Der sprach auf eine besondere Art und Weise mit ihr. Der Jemand beherrschte Kräfte, von denen sie bisher höchstens etwas gelesen hatte.
Die junge Frau strengte ihre Augen an, um mehr erkennen zu können. Bessere Umrisse. Die Augen deutlicher und alles, was sich darunter abmalte. Auch das war nicht möglich. Nur diesen ungewöhnlichen Umriss sah sie, der einem Gesicht nahekam.
Wie unter dem berühmten Hieb mit der Peitsche zuckte sie zusammen, als sie das Kratzen außen am Fenster hörte. Das waren keine normalen Finger, die über die Scheiben hinwegglitten. Es musste sich schon um Krallen handeln, als wollten diese den Dreck vom Glas außen wegkratzen.
»Komm her!«
Da war die Stimme wieder. Diesmal noch schärfer und befehlsgewohnter. Mit beiden Händen umklammerte Florence die Lehnen an den Seiten, doch sie wusste zugleich, dass es nichts brachte. Auch sie würden ihr keinen Halt mehr geben.
Sie atmete tief durch – und stand auf!
Im ersten Moment erschrak sie sich über sich selbst, als sie sich vor dem Sessel stehen sah.
Ich bin das nicht!, hämmerte sie sich ein. Nein, ich bin das nicht, verdammt!
Trotzdem wusste sie genau, dass sie es war. Sie und keine andere stand vor dem Sessel und nicht ihr Geist. Sie starrte auf das Fenster. Auch wenn sie es gewollt hätte, es wäre ihr nicht möglich gewesen, woanders hinzuschauen.
Dieses dunkle Viereck mit dem Unbekannten dahinter war und blieb das Ziel.
Er war der Magnet, sie das Stück Eisen, das von ihm angezogen wurde. Ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, setzte sie ein Bein vor das andere und ging auf das dunkle Viereck zu. Wie oft hatte sie das Fenster geöffnet und hinausgeschaut. Wie oft hatte sie sich über die warme Luft eines Sommertages gefreut, wenn sie in ihre Wohnung eindrang. Das war nun vorbei.
Plötzlich kam ihr das Fenster fremd und abweisend vor. Es hatte sich verändert. Es war zu einem Einstieg ins Grauen geworden. Wer immer sich dahinter aufhielt, er konnte alles sein, nur nicht ihr Freund.
»So ist es gut.«
Der Fremde hatte genau mitbekommen, was sie tat. Irrte sie, oder hatte er ihr zugewinkt?
Florence fühlte sich als Marionette, die an den Fäden eines Fremden hing, vor dem sie sich fürchtete, dem sie aber gehorchte.
Es waren nur wenige Schritte bis zum Fenster. Alles war sie sonst geblieben. Nur schärfer. Sie hörte den eigenen Atem lauter. Jedes Aufsetzen des Fußes ebenfalls. Da hatte sich eine völlig andere Atmosphäre über die normale geschoben.
Dann war sie da.
Das heißt, sie brauchte nur den Arm auszustrecken, um den Griff umfassen zu können. Noch zögerte sie. Plötzlich schien die Scheibe verschwunden zu sein, so klar und deutlich sah sie das Gesicht in der Dunkelheit hinter dem Fenster schweben.
Das wie bleich angestrichen wirkende Gesicht eines Menschen. Bestückt mit Augen, deren Pupillen rot waren. Einfach nur zwei blutige Tropfen.
So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Das war nicht menschlich, auch wenn das Gesicht so wirkte. All die Bleichheit und diese dünne Haut, in der selbst die Lippen nicht auffielen. Dann die leicht gebogene Nase, über der sich die hohe Stirn mit den dunklen Brauen abhob.
Schwarzes Haar. Glatt nach hinten gekämmt. Ein Wesen, wie es in bestimmten Filmen und in entsprechenden Büchern vorkam, und das sie nicht als menschlich ansah.
»Öffne!«