John Sinclair Sonder-Edition 248 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair Sonder-Edition 248 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Als Marlene King ihre Enkelin Lucy ansah, stockte ihr der Atem: Auf der Haut des zwölfjährigen Mädchens schimmerte ein feines, graues Fell. Schockiert stellte sie die Frage, die sie kaum zu denken wagte. Zögernd gestand Lucy, dass sie sich mit einem Wolf angefreundet hatte.
Zur gleichen Zeit schnappte in London eine Falle zu - ein Werwolf war in ein ausgelegtes Fangeisen geraten. Suko und ich wurden auf den Fall angesetzt. Unsere Ermittlungen führten uns tief in einen einsamen Wald. Dort stießen wir auf Marlene und Lucy - Großmutter und Enkelin, die beide bereits den unheilvollen Wolfstrank getrunken hatten ...

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Der Wolfstrank

Vorschau

Impressum

John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.

Der Wolfstrank

von Jason Dark

Als Marlene King ihre Enkelin Lucy ansah, stockte ihr der Atem: Auf der Haut des zwölfjährigen Mädchens schimmerte ein graues Fell. Schockiert stellte sie die Frage, die sie kaum zu denken wagte. Zögernd gestand Lucy, dass sie sich mit einem Wolf angefreundet hatte.

Zur gleichen Zeit schnappte in London eine Falle zu – ein Werwolf war in ein ausgelegtes Fangeisen geraten. Suko und ich wurden auf den Fall angesetzt. Unsere Ermittlungen führten uns schließlich tief in einen einsamen Wald. Hin zu einer Großmutter und deren Enkelin, die beide bereits den unheilvollen Wolfstrank getrunken hatten ...

Marlene King öffnete leise die Zimmertür ihrer Enkelin. Es war schon spät geworden, und das Licht brannte nicht mehr. Trotzdem war es nicht völlig dunkel. Durch die Fenster stahl sich der helle und kühle Schein, wie es nur von einem vollen Mond stammen konnte. Er verlieh dem Zimmer einen gewissen Glanz, mit dem sich die ältere Frau allerdings nicht anfreunden konnte.

Lucy King lag im Bett. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und schaute zum Fenster hin. Ihre Großmutter wusste genau, dass sie nicht schlief, dennoch stellte sie mit flüsternder Stimme die Frage.

»Du schläfst noch nicht, Darling?«

»Nein ...«

»Warum denn nicht?«

»Keine Lust.«

»Bitte, Lucy, es ist fast Mitternacht. Da solltest du dir wirklich den Schlaf gönnen, den ein junger Mensch wie du braucht.«

»Ich bin schon zwölf. Vergiss das nicht!«

»Eben, Lucy, das habe ich nicht vergessen. Ganz und gar nicht. Ich weiß selbst, was Kindern in deinem Alter gut tut.«

Lucy legte eine Pause ein. Von ihr war nur der Kopf mit den dunkelblonden Haaren zu sehen. Ansonsten hatte sie die Decke bis zum Kinn hochgezogen.

Marlene ging näher und setzte sich auf die Bettkante. Dort atmete sie seufzend aus. Sie wollte ihrer Enkelin über das Haar streicheln, doch mit einer schnellen Bewegung drehte sich Lucy auf den Rücken und schaute der Großmutter ins Gesicht.

»Er war wieder da!«

Marlene King zuckte leicht zusammen. Sie wusste genau, wen Lucy damit gemeint hatte, dennoch schüttelte sie den Kopf.

»Du glaubst mir nicht?«

»Wer war da, Kind?«, fragte sie sanft.

»Eben er – der Wolf!«

Marlene King atmete tief ein. Es war nichts Neues für sie, dass ihre Enkelin darüber redete. Das hatte sie in den letzten Tagen öfter getan. Nur wollte Marlene King dies nicht akzeptieren, und sie schüttelte den Kopf.

»Warum glaubst du mir nicht, Großmutter?«

»Weil es keine solchen Wölfe gibt, Kind. Du hast ihn dir eingebildet.«

»Nein, es gibt sie, ich weiß das ganz genau.«

»Bitte, Kind, das ist doch Unsinn. Dieser Wolf existiert nicht. Du musst dich endlich mal davon lösen. Immer wieder sprichst du davon, aber das kann ich nicht akzeptieren. Hör auf damit! Sonst verrennst du dich noch in etwas.«

»Ich weiß es besser. Er will, dass ich zu ihm komme. Ich soll in den Wald.«

»Nein, das ist ...«

»Ich spüre das, Großmutter. Er ist kein normaler Wolf. Er ist etwas ganz anderes. Ein menschlicher Wolf.« Sehr ernst schaute sie der älteren Frau ins Gesicht, und Marlene King konnte nicht anders, sie musste plötzlich lachen.

Das wiederum gefiel Lucy nicht. Sie senkte den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten, während sie vor sich hin flüsterte und ihrer Großmutter dabei widersprach.

»Wölfe wie du sie gesehen hast oder meinetwegen auch nur einen Wolf, die oder den gibt es im Märchen. Du erinnerst dich doch an die Rotkäppchen Geschichte. Als du noch kleiner gewesen bist, habe ich sie dir oft genug vorgelesen.«

»Ja, das weiß ich.«

»Märchen, Kind.«

»Er war trotzdem hier.«

»Und jetzt ist er weg, nicht?«

Lucy setzte sich noch aufrechter hin und schüttelte den Kopf.

»Nein, wer sagt denn so etwas? Er ist nicht weg. Er ist noch da. Ich spüre es.«

Marlene King lachte leise. »Wenn es so wäre, dann müsste ich ihn doch auch gesehen haben. Aber er ist mir nie über den Weg gelaufen. Und ich wohne schließlich auch hier.«

»Er ist da!«, behauptete das Mädchen.

»Wo denn?«

»Am Fenster!«, behauptete Lucy.

Marlene drehte den Kopf. Sie wollte ihrer Enkelin den Gefallen tun, blickte hin, sah den viereckigen Ausschnitt und das Lächeln auf ihrem Gesicht zerbrach.

Was sie sah, war unglaublich.

Zwei gelbe Raubtieraugen starrten von außen her durch die Scheibe in das Kinderzimmer!

Marlene King war nicht auf den Mund gefallen. Aber es gab Momente, da verschlug es selbst ihr die Sprache, und einen derartigen Moment erlebte sie. Wie erstarrt saß sie auf der Bettkante. Das Blut wich aus ihrem Gesicht.

Es gab die Augen, und es gab den Kopf!

Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte. Es war der Schädel eines Tieres. Allerdings sah sie seine Umrisse nur schwach. Trotzdem hatte sie ihn sich nicht eingebildet. Andererseits konnte sie einfach nicht daran glauben. Es gab keine Wölfe mehr in England, und der Kopf hinter dem Fenster musste einem Hund gehören, den ihre Enkelin mit einem Wolf verwechselt hatte.

Ruhig!, sagte sie sich. Du musst ganz ruhig bleiben. Du kannst dir nicht erlauben, durchzudrehen. Du musst jetzt zeigen, dass du erwachsen bist, und dem Tier da draußen Paroli bieten. Es ist kein Wolf. Es ist ein Hund. Ein verdammter streunender Hund, nicht mehr.

Aber besaß ein Hund diese Augen, die so gelb waren? Darin steckte etwas. Ein kaltes Feuer, etwas Unheimliches, das trotz der Kälte brannte.

Das Tiergesicht bewegte sich nicht, sodass ihr schon der Verdacht kam, dass es sich um einen künstlichen Kopf handelte. Er starrte in das Zimmer, und Marlene King konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Botschaft da transportiert wurde. Seine Schnauze stand halb offen, und die Zunge war vorgeschoben. Sie sah jetzt auch das Fell, dass ihr sehr dunkel vorkam, obwohl es eigentlich grau war, wie bei den meisten Wölfen. Aber die waren ausgestorben. Es gab sie nicht mehr in diesem Land. Vielleicht im Osten Europas, aber nicht in England. Hier nur im Zoo oder in den Freigehegen.

Das brachte sie auf eine Idee. Es konnte sein, dass aus einem Zoo oder Tierpark ein Wolf ausgebrochen war und sich nun eine neue Umgebung suchte. Das würde den Besuch erklären. Auf der anderen Seite hätten die Behörden die Menschen warnen müssen, wenn diese Dinge passierten, aber auf sie konnte man sich auch nicht verlassen, wie man anhand der Seuchenmeldungen erlebt hatte.

»Siehst du ihn auch, Großmutter?«

»Ja«, flüsterte Marlene.

»Er ist echt geil, nicht?«

»Hör auf, Lucy, sag so etwas nicht. Es ist schlimm genug, dass er sich in unserer Nähe aufhält. Da will ich das nicht hören. Wir werden die Polizei rufen müssen. Das Tier muss wieder eingefangen und an seinen Platz gebracht werden.«

»Niemand kann ihn fangen!«

Marlene King war von dieser Bemerkung so überrascht, dass sie das Tier vergaß und ihre Enkelin anschaute. »Wie kannst du so etwas sagen, Lucy?«

»Weil ich es weiß.«

»Woher?«

»Er hat es mir gesagt. Er hat mir mitgeteilt, dass ihn niemand fangen kann, wenn er es nicht will. Ja, Großmutter, so ist das. Ich habe dir schon mal gesagt, dass er etwas Besonderes ist. Für mich ist er ein Freund. Ich spüre ihn genau. Er ist keine Bestie, er ist einfach megageil.«

»Hör auf, das will ich nicht hören.«

Lucy ließ sich nicht beirren. »Ich mag ihn. Ich habe keine Freunde, aber er ist einer.«

Marlene erschrak über die Bemerkung. »Was willst du denn damit sagen, Lucy?«

»Das weißt du doch, Großmutter. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich kann sogar mit ihm sprechen, denn er ist kein echter Wolf, sondern zugleich noch ein Mensch. Für mich ist er beides. Auf der einen Seite Mensch, auf der anderen Wolf.«

Marlene King sagte nichts. Sie wusste einfach nicht, was sie davon halten sollte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. So kannte sie ihre Enkelin nicht.

Bisher hatte sie Lucy immer für ein normales Kind gehalten, das musste sie jetzt revidieren. Lucy war kein normales Kind. Sie hatte sich in etwas verrannt, das niemand nachvollziehen konnte, und wenn sie so sprach, dann fürchtete sich Marlene beinahe vor ihrer Enkelin.

»He, Großmutter, was schaust du mich so an? Was hast du?«

»Nichts, Kind, nichts.«

»Doch, du willst doch etwas sagen.«

»Später.«

Lucy lächelte und fragte: »Kannst du mich denn nicht verstehen, Großmutter? Es ist eben alles nicht so, wie du es dir vorstellst. Manchmal ist das Leben richtig verrückt. Ich finde es toll. Ich mag den Wolf einfach.«

»Ja, das habe ich gemerkt«, gab die Frau zu und legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. »Aber du musst auch begreifen, dass ich anders darüber denke. Ich akzeptiere auch, dass du den Wolf magst, aber ich frage mich, ob das im umgekehrten Fall auch so ist. Genau das glaube ich nämlich nicht.«

»Wie kannst du das sagen?«

»Erfahrungen, Kind.«

»Nein, Das ist aber nicht so. Du hast Unrecht, Großmutter, wirklich Unrecht. Der Wolf mag mich, und ich mag ihn.«

Marlene King war beinahe verzweifelt. Sie wusste nicht, wie sie ihre Ansichten dem Mädchen näherbringen sollte. Es schien zwischen ihnen eine Sperre aufgebaut worden zu sein. Zu unterschiedlich waren ihre Meinungen, und sie glaubte auch nicht, dass die beiden zu einem Konsens kommen würden.

Der Wolf war eine Tatsache, das wusste sie jetzt. Und sie wusste auch, dass er nicht länger in der Umgebung herumstreunen durfte. Dafür würde sie sorgen. Noch in dieser Nacht wollte sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen, damit man sich auf eine Suchaktion vorbereiten konnte.

Das wollte sie auch ihrer Enkelin sagen, obwohl Lucy bestimmt sauer darüber war. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Noch einmal schaute sie zum Fenster hin – und zuckte wieder zusammen, denn der Wolfskopf war verschwunden.

»Weg!« flüsterte sie. »Er ist weg.« Sie wischte über ihre Augen, als wollte sie die letzten Reste des Spuks vertreiben. »Das ist wirklich ein Hammer.«

Lucy schaute ebenfalls hin. Sie lachte dabei leise.

»Er ist nicht mehr am Fenster, Großmutter, aber er ist noch da, das weiß ich genau. Der läuft nicht weg.«

Marlene King hatte jedes Wort verstanden. Sie schaute in das Gesicht ihrer Enkelin und erlebte, wie sich auf ihrem Körper eine Gänsehaut bildete. Sie glaubte Lucy, die überhaupt nicht mehr müde war, sondern sie aus sehr hellwachen Augen anschaute. Lucy war ihre Enkelin, sie hatte das Kind immer geliebt, und sie hätte alles für es getan. Jetzt allerdings lagen die Dinge anders. Da war ihr Lucy so fremd geworden, aber sie wollte es ihr nicht zeigen. Verkrampft lächelnd schaute sie das Kind an.

»Bitte, wir wollen jetzt nicht weiter darüber sprechen. Es ist bald Mitternacht. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich muss auch ins Bett. Es ist besser, wenn du jetzt schläfst.«

»Aber ich habe Durst.«

»Ich hole dir ein Glas Wasser.«

»Nein, bitte nicht. Ich möchte selbst gehen.«

»Also gut, dann gehen wir gemeinsam.« Marlene King war froh, aufstehen und sich etwas bewegen zu können. Das längere Sitzen hatte sie steif gemacht.

Sie schuf Platz für die Enkelin und ließ dabei das Fenster nicht aus den Augen.

Der Wolf zeigte sich nicht. Marlene King wünschte sich, dass es wirklich nur ein Albtraum gewesen war, aber dieser Wunsch würde wohl nicht in Erfüllung gehen. Es gab den Wolf, sie hatte sich nicht geirrt. So etwas bildete man sich nicht ein, und sie merkte wieder, dass sich auf ihren Handflächen Schweiß bildete. Der Stress war noch nicht vorbei. Er hatte sich nur verlagert.

Gemeinsam verließen Marlene und Lucy das Kinderzimmer. Nachdem ihr Mann gestorben war, bewohnte Marlene King das Haus allein. Es stand sogar recht einsam. Das war etwas für Naturfreunde, denn wenn sie an der Rückseite aus dem Fenster schaute, blickte sie auf den Wald. Es war ein sehr dichtes und auch dunkles Gebiet, das sich gut als Wolfsversteck eignete. Da konnte sich ein Tier wochenlang aufhalten, ohne entdeckt zu werden

Das Haus war etwas verwinkelt. Die Räume verteilten sich auf zwei Etagen, obwohl der Bau selbst nicht hoch war. So führten jeweils nur kleine Treppen zu den einzelnen Etagen hoch. Um in die Küche zu gelangen, mussten die beiden die Treppe nach unten nehmen, die aus drei Stufen bestand.

Die Küche lag in der Nähe des Eingangstür. Hier gab es noch eine kleine Toilette und einen Raum, den sich Marlene King als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Es gab dort zwar keinen Schreibtisch, aber in diesem Zimmer nähte und bügelte sie und schaute dabei hin und wieder fern.

Lucy folgte ihr in die Küche. Sie hatte vor dem Verlassen ihres Zimmers noch einen bunten Bademantel übergestreift und mit beiden Händen ihre lockigen Haare zurückgeschoben. Obwohl sie Durst hatte, kümmerte sie sich nicht um den Kühlschrank. Das überließ sie ihrer Großmutter. Sie trat stattdessen an das Fenster und schaute hinaus.

»Suchst du den Wolf, Lucy?«

»Ja.«

Marlene mischte Mineralwasser mit Orangensaft. »Er wird nicht mehr kommen, Kind. Er hat sich zurückgezogen. In dieser Nacht haben wir Ruhe vor ihm.«

»Vielleicht will ich das gar nicht.«

»Bitte?«

»Ja. Ruhe haben.«

»Aber das ist doch Unsinn.«

»Nein, warum?«

»Der Wolf ist gefährlich.«

»Nicht für mich.«

»Doch, auch, mein Kind. Das ist kein Mensch. Das ist auch kein Hund, und demnach ist es auch kein Spielkamerad für dich. Wann wirst du das endlich begreifen?«

»Du irrst dich, Großmutter. Ich sehe das alles ganz anders. Tut mir leid, wenn ich dir das sagen muss. Ich habe mich von deinem Denken befreit. Er ist ein Freund. Er hat mich schon oft besucht, und er will, dass ich zu ihm komme.«

Marlene stand in der Küchenmitte. Sie hielt das gefüllte Glas in der rechten Hand und hatte große Mühe, es festzuhalten, denn sie zitterte nach diesen Worten. Sie war bleich geworden.

»Wie kannst du so etwas nur sagen, Kind?«

Lucy nahm ihr das Glas aus der Hand. Sie trank in kleinen Schlucken. Erst als sie den ersten Durst gelöscht hatte, gab sie eine Antwort.

»Weil ich es weiß. Ich habe dir doch gesagt, dass er nicht nur ein Wolf ist, hinter ihm steckt noch jemand.«

Marlene King war perplex. So hatte sie ihre Enkelin noch nie gehört.

»Was denn? Was soll dahinterstecken?«, flüsterte sie. »Kannst du mir das sagen?«

»Ein Mensch. Er ist nicht nur Wolf. Er ist Mensch und Wolf zugleich.«

Marlene schwieg. Sie war einfach nicht mehr in der Lage, eine Antwort zu geben. Was sie gehört hatte, kam ihr unfassbar vor. Ein Wolf war ein Wolf, und ein Mensch war ein Mensch.

»Warum sagst du nichts, Großmutter?«

Marlene schluckte. »Was ist nur los mit dir, Kind? Himmel, ich kann es nicht begreifen.«

»Nichts ist los. Ich bin normal.«

»Nein, das bist du nicht. Du bist nicht mehr die Lucy, die ich kenne. Es muss etwas anderes sein. Bisher habe ich dich immer verstanden. Deine Eltern sind für zwei Jahre ins Ausland gegangen, und ich habe dich gern aufgenommen. Du bist in meinem etwas langweiligen Leben so etwas wie der Sonnenschein gewesen. Oder bist es noch. Aber nun begreife ich dich nicht, Kind.«

»Das ist doch so einfach, Großmutter. Der Wolf ist mein Freund. Ich kann ihn verstehen. Er mag mich ...«

»Und du magst ihn?«

»Ja.« Lucy griff wieder zum Glas und trank. Sie lächelte dabei und stellte das Glas weg, als es leer war. »Es ist Mitternacht, Großmutter.«

»Das weiß ich. Deshalb wird es auch Zeit für dich.«

»Stimmt genau.«

»Dann geh ins Bett und ...«

Marlene sprach nicht weiter, weil ihre Enkelin den Kopf schüttelte.

»Nein, Großmutter, ich werde nicht ins Bett gehen. Auf keinen Fall tue ich das. Ich weiß, dass ich erwartet werde. Jemand wird noch zu mir kommen.«

»Wer denn?«, fragte Marlene King, obwohl sie sich die Antwort denken konnte.

»Nicht der Wolf!«

»Doch!«

Ein Wort hatte gereicht. Es wirkte wie eine Initialzündung, denn plötzlich hörten beide das Heulen vor der Haustür ...

Keiner der beiden bildete sich das Heulen ein. Es war ein schrecklicher und in die Länge gezogener Laut, der auch von der Tür und von den Wänden nicht aufgehalten werden konnte. Er drang an die Ohren der beiden Menschen, die in der Küche standen und sich nicht vom Fleck bewegten. Sie schienen beide zu Stein geworden zu sein, aber nur eine lächelte, Lucy.

»Er ist da, Großmutter!«

Marlene sagte nichts.

»Hörst du ihn?«

»Ja!« Die Antwort klang gepresst. »Er ist ja nicht zu überhören, Kind.

»Ich will, dass du ... das du ...«

»Er ist gekommen, um mich zu holen. Ich freue mich auf ihn.«

Marlene King wollte nicht, dass Lucy ging. Deshalb schritt sie bis zur Küchentür zurück und baute sich dort breitarmig auf. »Ich lasse dich nicht gehen, Kind. Ich schaue nicht zu, wie du mit offenen Augen in dein Verderben läufst. Nein, das kannst du von mir nicht verlangen, tut mir leid.«

»Ich laufe nicht in mein Verderben, Großmutter. Ich gehe in die Zukunft.«

»Auf keinen Fall!«

»Doch, Großmutter. Und du kannst mich nicht daran hindern!«

Bei den letzten Worten hatte sich der Ton verschärft. Das kannte Marlene nicht. So hatte Lucy noch nie mit ihr gesprochen. Sie standen sich plötzlich gegenüber wie zwei Fremde, und Marlene spürte, wie es eiskalt ihren Rücken hinabrann. Mit so einer Veränderung hatte sie nicht rechnen können, und sie merkte, wie ihr Herz wesentlich schneller schlug als normal. Ein leichter Schwindel überfiel sie, der sie zur Seite taumeln ließ. Sie musste sich an der Kante des Schranks festhalten, um das Gleichgewicht halten zu können. Lucy stand noch vor ihr. Sie drehte sich, und die Küche drehte sich mit. Das Gesicht ihrer Enkelin hatte sich verändert und dabei jeglichen Liebreiz verloren. Es wirkte plötzlich hart und kantig und zugleich entschlossen. Lucy hatte sich vorgenommen, den Weg zu gehen, und niemand würde sie davon abhalten können.

Vor der Tür erklang wieder das Heulen. Ein klagender Laut wehte gegen den Himmel und verklang im Dunkel der Nacht. Für Lucy war es eine Aufforderung, endlich zu gehen, und die befolgte sie auch.

Marlene tat nichts. Das Heulen war so nah, und trotzdem kam es ihr weit entfernt vor. Es hüllte sie ein, füllte all ihr Denken aus, und sie wollte etwas tun, aber sie konnte es nicht.

Es war nicht genügend Platz für Lucy, die sich dann Platz schaffte und ihre Großmutter durch einen leichten Druck der Hand einfach zur Seite schob.

So hatte sie freie Bahn.

Marlene kam sich wie in einem bösen Traum gefangen vor. Sie drehte sich mühsam und blickte auf den Rücken ihrer Enkelin, die sich der Haustür näherte. Jetzt gab es niemanden mehr, der sie aufhalten konnte, und auch der leise Ruf stoppte sie nicht.

Marlene King überkam die Angst wie ein gewaltiger Schlag. Sie verfolgte den Weg ihrer Enkelin. Lucy tänzelte wie jemand, der sich auf ein bestimmtes Ereignis freut.

»Nicht, Lucy, du darfst nicht gehen ...«

Marlene wusste nicht, ob ihre Enkelin die Worte hörte. Und wenn, dann ließ sie sich nicht davon aufhalten.

Jetzt stand sie vor der Tür.

Sie dreht sich nicht mal um!, dachte Marlene. Sie dreht sich nicht mal zum Abschied um. Das ist verrückt und kaum zu begreifen. Sie hat alles vergessen, alles vergessen ...

Vorwürfe überfluteten die Frau. Sie dachte plötzlich daran, was sie Lucys Eltern sagen würde, wenn jetzt etwas Schreckliches mit ihrem Kind passierte.

Die Tür war immer von innen abgeschlossen. Lucy kannte sich aus. Sie drehte den Schlüssel zwei Mal rum.

Dann zog sie die Tür auf.

»Hi«, sagte sie und blieb auf der Schwelle stehen.

Ein Traum, das ist nicht wirklich wahr, dachte Marlene. Das kann ich nicht nachvollziehen, es ist einfach zu unwahrscheinlich.

Marlene wusste selbst nicht, welche Gedanken ihr da durch den Kopf schossen, aber dieser Albtraum hielt sie fest und ließ sie auch in den folgenden Minuten nicht los. So erlebte sie alles aus der Nähe mit und kam sich dabei trotzdem weit entfernt vor.

Lucy begrüßte den Wolf wie einen guten Freund. Sie breitete die Arme aus und sagte mit schon leicht jubelnder Stimme: »Da bist du ja endlich. Ich habe schon sehnsüchtig auf dich gewartet.«

Die Antwort bestand aus einem leisen Knurren. Es hörte sich nicht gefährlich an, sondern irgendwie zufrieden, als hätte auch das Tier nur auf diesen Zeitpunkt gewartet.

Für Marlene King war das alles nicht zu begreifen. Sie hatte den unheimlichen Besucher auch nicht richtig sehen können, weil ihre Enkelin ihr einen Teil der Sicht nahm. Das änderte sich, als sich das Tier plötzlich aufrichtete.

Der Wolf wuchs und wuchs. Marlene King wollte es nicht glauben. Er überragte ihre Enkelin bei weitem. Er stand auf seinen Hinterläufen. Der Körper kam Marlene riesig vor. Sie sah das hellere Fell am Bauch, den mächtigen Kopf, das Gesicht mit der Schnauze, die kalten gelben Augen, die Vorderläufe, die gebogen waren und in harten Krallen endeten, und sie sah auch die mörderischen Zähne, die jede Beute zerrissen. Das Gesicht des Wolfes war irgendwie breiter als das eines normalen Tieres. Es war verrückt und kaum nachzuvollziehen, aber Marlene King konnte sich vorstellen, dass sie innerhalb dieser Fratze noch etwas Menschliches entdeckte, auch wenn sie das nicht begreifen konnte.

Sie begriff sowieso nichts mehr.

Sie merkte nicht einmal, dass ihr Mund offen stand. So staunte sie das Geschöpf an, das einem Albtraum entsprungen sein musste.

Und ihre Enkelin mochte den Albtraum. Sie ging auf ihn zu. Sie tänzelte dabei. Sie lachte, streckte der Kreatur ihre Hände entgegen, und der Wolf blieb weiterhin auf seinen Hinterläufen stehen. Er reckte sich so gut wie möglich, und in seinem Rachen bewegte sich eine breite Zunge.

Dann endlich hatte Lucy ihn erreicht. Und sie tat das, was Marlene noch mehr erstaunte. Sie trat so dicht an ihn heran, dass sie ihn umarmen konnte. Fest schloss das junge Mädchen die Arme um den zottigen Körper der Kreatur, in dessen Kehle das Röcheln entstand und wie ein Kratzen aus dem Maul drang.

Der Körper beugte sich nach vorn. Es sah so aus, als sollte Lucy erdrückt werden, aber sie blieb zitternd stehen. Doch dieses Zittern hatte nichts mit Angst zu tun. Es lag an der heißen Erwartung, die sich endlich für sie erfüllt hatte.

Marlene King begriff die Welt nicht mehr. Sie erkannte ihre Enkelin nicht wieder, die ihren Kopf gegen das weiche Bauchfell drückte und die Wange daran rieb.

Sie und das Tier waren zufrieden.

Wie lange das ungleiche Paar auf der Stelle gestanden hatte, wusste Marlene nicht. Die Zeit gab es nicht mehr für sie. Ebenso wenig wie die normale Welt. Sie hatten sich entfernt, und Marlene King kam sich vor wie eine Person, die der Realität entflohen war, obwohl sie all das, was sie sah, als Realität erlebte.

Der Wolf veränderte seine Haltung. Er verlagerte das Gewicht nicht mehr auf den Hinterläufen, sondern senkte seinen mächtigen Körper dem Boden entgegen. Er rutschte dabei an Lucy vorbei. Auch als er auf allen Vieren stand, konnte Marlene nur staunen, wie groß er war. Fast hätte ihre Enkelin auf ihm reiten können, so hochgewachsen war er.

Und dann gingen sie weg! Einfach so.

Marlene King kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Wolf und Mensch. Sie schritten nebeneinanderher wie ein Liebespaar. Lucy hielt den rechten Arm ausgestreckt und kraulte dabei das Nackenfell des Tieres.