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Die Aussicht vom Turm der Kathedrale war wirklich phantastisch. Unter mir der herrliche Genfer See, die Stadt am Ufer, die Berge im Süden, aber vor mir stand die dunkelhaarige Florence mit der Waffe und stellte mir eine Frage: "Wer kann dir jetzt noch helfen, Sinclair?" Richtig. Sie und ihre Schwester Fiona, genannt das Duo Infernale, hatten Jane Collins und mich in die Falle gelockt. Was mit dem Verfaulen ihrer Mutter begonnen hatte, sollte im Turm der Kirche für mich ein blutiges Ende finden ...
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Duo Infernale
Vorschau
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
Duo Infernale
von Jason Dark
Die Aussicht vom Turm der Kathedrale war wirklich phantastisch. Unter mir der herrliche Genfer See, die Stadt am Ufer, die Berge im Süden, aber vor mir stand die dunkelhaarige Florence mit der Waffe und stellte mir eine Frage: »Wer kann dir jetzt noch helfen, Sinclair?«
Richtig. Sie und ihre Schwester Fiona, genannt das Duo Infernale, hatten Jane Collins und mich in die Falle gelockt. Was mit dem Verfaulen ihrer Mutter begonnen hatte, sollte im Turm der Kirche für mich ein blutiges Ende finden ...
»Geht es dir gut, Prinzessin?«
»Wunderbar, du kleine Hexe.«
»Freut mich.«
»Mich auch, Fiona.«
Florence, die Dunkelhaarige und Prinzessin genannt, warf ihren Kopf zurück und lachte kehlig. Danach flüsterte sie mit scharfer Stimme, damit sie auch gut zu hören war: »Erleben Sie das Achte Weltwunder – das Duo Infernale.«
»Seit wann zitierst du Werbespots?«, fragte die blonde Fiona.
»Nur dann, wenn sie uns betreffen ...«
An diesem Abend sah der See im Berner Mittelland nicht gut aus. Dabei war es nicht einmal dunkel, aber ich, der am Ufer auf einem großen Stein saß, hatte das Gefühl, als hätten sich die Tiefen des Grundes geöffnet, um uralte und unheimliche Schattenmonster freizulassen, damit sie sich in der normalen Welt tummeln und den Kämmen der Wellen einen grauen schimmeligen Anstrich geben konnten, der manchmal sogar die Farbe alter Wasserleichen aufwies.
Es war noch nicht Abend, es gab noch den Tag, und mein Blick streifte das Ufer auf der anderen Seite, das durch hügelige Weinberge gezeichnet wurde, die ebenfalls an Wellen erinnerten, jedoch an starre, denn kein Windstoß bewegte sie. Er spielte höchstens mit den Bündeln junger Trauben, die erst noch der Lese entgegenreifen mussten. Die kleinen Orte waren noch gut zu erkennen. In der Luft malten sie sich klar ab, wie auch die Schiffe, die über den See schipperten, wobei die hellen Ausflugsboote besonders auffielen, weil sie zu den größten Fahrzeugen gehörten.
Es war eine Landschaft, die zufrieden machte. Eben weil sie eine derartige Ruhe ausstrahlte, die ich leider nicht empfand.
Ich wusste selbst nicht, ob der Vergleich mit dem Wasser stimmte, denn ich konnte ihn mir auch eingebildet haben, weil ich nicht zum Spaß hier am See und auf dem Grundstück des Hotels saß, das hinter meinem Rücken lag und im Landhaus-Stil gebaut war.
Es gehörte zu den edelsten Schweizer Herbergen, und seine Lage war natürlich exponiert. Direkt am See, mit einer wunderschönen Terrasse, dem lichten Restaurant, den gemütlichen Zimmern und den dunkelbraunen Holzbalkonen.
Ich hatte hier schon eine Nacht verbracht und hätte mich auch sauwohl gefühlt, wäre ich privat hier am Murten-See gewesen. Aber das war ich nicht, denn ich wartete auf ein Boot, das mich abholen sollte, wie mir Jane Collins angekündigt hatte. Sie hätte eigentlich schon früher eintreffen sollen, aber ihr war etwas dazwischengekommen, und so hatte sich ihre Ankunft um einen Tag verzögert.
So hatte ich hier einen Tag verbracht, war bei dem herrlichen Wetter schwimmen gegangen, hatte auf der Liegewiese geschlafen, gelesen und mich bedienen lassen.
So hätte es weitergehen können, aber in mir steckte eine Unruhe, deren ich nicht Herr wurde. Das Vergnügen würde bald vorbei sein, denn es gab etwas zu klären, mit dem Jane Collins nicht allein fertig wurde. Sie hatte mich nicht eingeweiht, zumindest nicht in Einzelheiten. Ich wusste nur, dass es gefährlich werden konnte, denn Jane Collins hatte mich nicht grundlos gewarnt.
Sie selbst wohnte nicht im Hotel, das zu einem Ort gehörte, der Meyriez hieß. Wo sie ihre Bleibe hatte, wusste ich nicht mal. Möglicherweise auf dem See und auch auf dem Boot, das mich an der Anlegestelle des Hotels abholen sollte.
Dort hockte ich wie von aller Welt verlassen. Ich schaute auf das Wasser, sah den Wellen und Strömungen zu, beobachtete auch das zufriedene Treiben der Schwäne und Enten und hätte mich an dem Anblick eigentlich erfreuen können, wäre da nicht dieser innerliche Druck gewesen, der mich einfach nicht aus seinen Klauen ließ.
Es ging mir einfach gegen den Strich, dass ich nicht wusste, um was es genau ging. Ich hatte Jane auch nicht dazu überreden können, es mir zu sagen, da hatte sie sich ziemlich verstockt gezeigt. Sie war nur der Meinung gewesen, dass ich mich auf sie verlassen sollte, und das hatte ich getan.
Mir war klar, dass Jane mich nicht aus lauter Spaß an der Freude in die Schweiz bestellt hatte, dazu kannte ich sie lange genug. Sie war Detektivin und keine Schaumschlägerin. Allerdings war sie auch so etwas wie eine positive Hexe, das heißt, sie hatte vor Jahren mal auf der anderen Seite gestanden und dem Bösen gedient, doch diese Zeiten waren längst vorbei. Nur kleine Reste waren noch in ihrem Innern zurückgeblieben, in der Regel verschüttet, doch zum richtigen Zeitpunkt wurden sie wieder hervorgedrückt, und es war durchaus möglich, dass ich damit konfrontiert wurde.
Eine genaue Zeit hatten wir nicht ausgemacht. Ich sollte am Ufer an der Anlegestelle des Hotels warten, und Jane würde mir früh genug Bescheid geben.
Der Wind war sacht. Er streichelte mehr das Gras und auch die Bäume, die Schatten gaben. Hinter mir breitete sich der Rasen bis zur etwas höher gelegenen Terrasse hin aus, auf der sich jetzt keine Gäste mehr aufhielten, sodass das Personal zum Dinner aufdecken konnte. Hin und wieder hörte ich eine Stimme, auch das leise Klirren der Bestecke, wenn nicht gerade die Wellen stärker am Ufer ausliefen, die von irgendwelchen Ausflugsbooten hinterlassen wurden.
Diese hellen Schiffe fuhren quer über den See und legten an den verschiedensten Orten an. Ich sah auch Segler und Surfer. Gerade die letzten huschten wie spielerisch über die Wellen hinweg und ritten sie regelrecht ab, um ihnen zu zeigen, dass sie die Herren hier waren und nicht das Wasser.
Die Farbe war geblieben. Dunkel und hell zugleich. Insgesamt fahl wie auch das Gebilde der Wolken hoch über mir. Es schien zwar noch die Sonne, trotzdem hatten sich die schraffierten Formationen gebildet, die mich an große, zerrissene Tücher erinnerten, die sich vom Wind wegtragen ließen.
Das nahe Uferschilf schabte gegeneinander, wenn es bewegt wurde. Enten wiegten sich auf den Wellen. Zwei Schwäne schoben sich majestätisch in das offene Wasser hinein, und durch die Luft segelten Vögel mit hellem Gefieder.
Jane hatte mir versprochen, mich vor dem Dunkelwerden zu erreichen. Bis es so weit war, verging noch genügend Zeit, und ich überlegte schon, ob ich sie nicht auf dem Balkon meines Zimmers verbringen sollte. Dort waren die Sitzgelegenheiten zumindest bequemer. Da konnte ich zwischen einem normalen Korb- und einem Liegestuhl wählen.
Eine Entscheidung wurde mir abgenommen, weil sich mein Handy plötzlich meldete. Ich hatte nicht damit gerechnet und schrak leicht zusammen. Vorbei war es mit der Ruhe und dem Schauen über das Wasser hinweg. Vorbei mit den Gedanken, und ich griff schnell in die Tasche, um den flachen Apparat hervorzuholen.
»Ja ...«
»Ich bin es nur.«
»Sehr gut, Jane. Auf deinen Anruf habe ich gewartet.«
»Kann ich mir denken.«
»Und wo hältst du dich jetzt auf?«
»Ich bin auf dem Boot und damit auf dem See.«
»Wann kannst du bei mir sein?«
»In einigen Minuten, denke ich. Sagen wir mal zehn bis fünfzehn. Bleibt es dabei, was wir abgemacht haben?«
»Klar, ich sitze an der Anlegestelle des Hotels. Ich schaue aufs Wasser, beobachte die Enten und Schwäne und denke daran, dass es schön wäre, hier einige Tage zu entspannen, denn das Wetter soll ja noch so bleiben.«
»Träume weiter.«
»Was gibt es?«
Ich hörte Jane tief einatmen. »Später, John. Später erfährst du alles. Freu dich weiter, es wird bald vorbei sein.«
»Toll, dass du mir immer diese Hoffnung machst.«
»Vergiss nicht, dass wir nicht zum Spaß hier in der Schweiz sind.«
»Klar, ich denke immer daran. Ist ja mein Job. Und mein Büro ist die ganze Welt.«
»Toll, John. Wer kann das schon von sich behaupten?«
»Bis gleich.«
Ich ließ das Handy verschwinden und hörte hinter mir ein leises Räuspern.
Als ich mich drehte, lächelte mich eine junge Frau an. Die Kleine gehörte zum Personal. Sie trug ein Tablett, auf dem ein schlankes Glas stand, in dem ein Getränk perlte.
»Einen Prosecco, Monsieur?«
»O gern.« Ich war überrascht und stand auf. »Nur hatte ich keinen bestellt.«
»Unser Haus erlaubt sich, Ihnen ein Glas anzubieten.«
»Merci, das nehme ich gern.«
»Santé, Monsieur.«
Das Mädchen lächelte, drehte sich um und ging davon. Ich hielt das Glas in der Hand, schaute den Perlen nach, die der Oberfläche entgegenstiegen, und leerte das schmale Gefäß beim ersten Schluck bis zur Hälfte.
Der Prosecco war wunderbar klar. Wie ein schmaler Strom aus Gletscherwasser rann er in meine Kehle hinab, und ich merkte erst jetzt, dass ich Durst gehabt hatte.
Mit dem Glas in der Hand drehte ich mich und schaute wieder über das Wasser hinweg. Es hatte eine andere Farbe erhalten und wirkte auf mich nicht mehr so düster und abweisend. Es lag an der Sonne, die sich wieder durch eine Wolkenlücke geschoben hatte und mit ihren Strahlen gegen das Wasser tupfte, sodass die Wellen einen goldenen Schein erhalten hatten.
Die Hügel am anderen Ufer traten noch schärfer hervor. Als hätten sie sich für einen Fotografen bereitgemacht, der sie als Motiv für eine Postkarte aufnehmen wollte.
Ich suchte das Wasser nach einem Boot ab, das Kurs auf genau diese Uferstelle hielt. Es waren noch immer recht viele Boote unterwegs und nicht nur Segler, aber welches Boot mich abholen würde, fand ich nicht heraus.
Trotzdem war es schnell da. Ich hatte das Glas soeben geleert und es auf den Stein gestellt, auf dem ich vorhin noch gesessen hatte, wobei ich hoffte, dass der Wind es nicht umblies, da schob sich von der linken Seite her der Rumpf eines hell gestrichenen Motorboots in mein Blickfeld. Die bewachsene und in den See hineinreichende Ufernase hatte mir zuvor den Blick genommen, aber jetzt tuckerte das Boot näher, an dessen Heck schon eine Positionsleuchte einen weichen Schein abgab. Es war zu groß und hatte wohl auch zu viel Tiefgang, um in diesem kleinen abgeteilten Hafen anlegen zu können, denn es nahm Kurs auf den Steg, der ebenfalls zum Hotel gehörte und einige Meter weit in den See hineinführte, wo Boote dann andocken konnten.
Jane Collins stand an der Steuerbordseite. Sie hatte mich gesehen und winkte mir zu. Wer das Boot lenkte, sah ich nicht, weil sich das Licht auf den Scheiben des Ruderstands spiegelte, aber ich stellte fest, dass es unterhalb des Ruderstands eine Kabine gab, deren kleine Fenster verdunkelt waren.
Am Ende des Stegs wartete ich. Vor mir klatschten die Wellen gegen das Holz. Zwei Pfosten ragten in die Höhe und warteten darauf, von Tauen umschlungen zu werden, wenn die Boote anlegten.
So weit kam es bei mir nicht. Der Steuermann verstand sein Geschäft. Der Motor tuckerte nur leise vor sich hin, als sich der Bug immer mehr dem Steg näherte.
»Du musst schnell sein, John.«
»Keine Sorge.«
Mittschiffs war es leichter, das Boot zu entern. Bevor es sich an mir vorbeigeschoben hatte, trat ich auf den breiten Wulst vor der Reling. Dann griff schon Jane Collins zu, hielt mich fest und half mir, über die Reling zu klettern, was überhaupt kein Problem war und ich auch allein locker geschafft hätte.
Dann wäre ich fast gefallen, als der Steuermann wieder Fahrt aufnahm. So eben konnte ich mich noch festhalten und so mein Gleichgewicht finden.
»Willkommen an Bord«, sagte Jane und drückte mir einen Kuss auf den Mund. Ich war überrascht und glaubte sogar, dass ihre Lippen ein wenig nach See schmeckten.
Von mir stammte der Begriff »hübscheste Detektivin der Welt«, und wenn ich mir Jane Collins so anschaute, dann war das nicht gelogen. Sie war hübsch mit ihrer leicht sonnenbraunen Haut, der hellen Kleidung, dem Band, das die blonden Haare festhielt, und den hellen Augen, die so spöttisch funkelten. Sie trug eine weiße Hose und als Oberteil einen grobmaschigen Pullover, der hellblau eingefärbt war.
»Gut siehst du aus.«
»Danke.«
»Dann geht es dir auch gut – oder?«
Jane verzog die Lippen, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Das kann man nicht sagen, John.«
»Dachte ich mir doch.«
Jane drehte sich von mir weg. Langsam tuckerten wir wieder dem offenen See entgegen. Die Detektivin hatte ihre Arme auf die Reling gelegt und schaute über das Wasser hinweg, als gäbe es am anderen Ufer etwas Besonderes zu sehen.
Ich stellte mich neben sie, blickte allerdings nicht in ihre Richtung, sondern schaute sie an und stellte fest, dass ihr Profil von einer gewissen Härte gezeichnet war, die darauf hindeutete, dass sie nicht eben ein Bündel an Fröhlichkeit war.
Jane hatte mir auch nicht gesagt, um was es ging und was sie so bedrückte.
»Okay, Jane, ich bin hier. Ich habe auch keine großen Fragen gestellt, aber jetzt möchte ich wissen, warum ich hier an den Murten-See kommen sollte.«
»Du hast ein Recht auf Antworten, John.«
»Danke, dass du das so siehst.«
»Bitte keinen Spott. Die Lage ist zu ernst.«
»Okay, ich höre.«
Jane senkte den Kopf und schaute auf die Wellen.
»Es geht um eine Frau, sie sich hier auf dem Boot befindet. Sie liegt unter Deck und wird wohl noch in dieser Nacht sterben. Sie hat ihr ganzes Leben ein schlechtes Gewissen gehabt, und jetzt will sie sich erleichtern.«
»Kann ich verstehen, aber ich bin kein Pfarrer.«
Jane deutete das Kopfschütteln nur an. »Das brauchst du auch nicht zu sein, John.«
»Und was bedrückt sie?«
»Ihr Schicksal. Sie ist eine Person, die sich mit den falschen Freunden eingelassen hat.«
»Dämonen oder ...«
Jane ließ mich nicht ausreden. »Kann man so sagen. Aber es geht auch weniger um sie, sondern um ihre Töchter, die sie vor dreißig Jahren gebar. Sie heißen Florence und Fiona.«
»Finde ich die beiden ebenfalls unter Deck?«
»Nein, John. Um sie zu treffen, müssen wir zu einem anderen See und in eine andere Stadt fahren.« Sie richtete sich für einen Moment auf und umklammerte mit beiden Händen das hell gestrichene Metall. »Es ist Genf, und diese Stadt liegt bekanntlich am Genfer See oder am Lac Léman.«
»Aber vorher muss ich mit der Mutter sprechen.«
»Ja.«
Ich wiegte den Kopf. »Von einem See zum anderen. Das hört sich im Prinzip gut an.«
»Ist es aber nicht, wie du bald erkennen wirst. Wir fahren nur auf die Mitte des Sees. Dort halten wir an. Dann wirst du alles hören und kannst dir selbst ein Bild machen.«
»Darf ich fragen, was du mit der ganzen Sache zu tun hast? Warum treffe ich dich gerade hier?«
»Weil mich die Frau angerufen hat. Sie heißt Marcia und gehört einem Zirkel an.«
»Soll ich jetzt Hexen sagen?«
»Kannst du. Wäre nicht verkehrt.«
»Deshalb also hat sie sich an dich gewandt.«
Jane nickte sehr langsam. »Ja, so kann man es sehen. Man kennt mich in der Branche, um es mal etwas locker zu sagen. Man weiß auch, dass ich nicht eben auf der dunklen Seite stehe, aber auch nicht ganz out bin. Sie hat mir Bescheid gegeben, weil ich ihr helfen soll. Eigentlich nicht ihr, weil ihr nicht mehr zu helfen ist, wie du bald sehen wirst, aber es geht um ihre Töchter. Marcia ist nicht damit einverstanden, welchen Weg die beiden eingeschlagen haben.«
»Kennst du sie?«
»Nein, nur vom Hörensagen.«
»Und was hört man da?«
»Sie werden bewundert. Sie sind eine Attraktion für die restliche Welt, wie sie immer sagen. Sie nennen sich Künstlerinnen oder Artistinnen, und sie schaffen Dinge, die man mit dem Begriff ›unmöglich‹ umschreiben kann. Aber so weit sind wir noch nicht. Marcia will, dass ihre Töchter gestoppt werden.«
»Kann ich verstehen.«
Jane drehte sich mir zu. »Du wirst in einer Stunde mehr wissen, und dann ist auch deine Zeit hier auf dem Murten-See vorbei.«
»Schade«, erwiderte ich bedauernd. »Es hat mir hier wirklich gut gefallen. Es war ein Paradies.«
Jane sprach wieder dagegen. »Das allerdings auch leicht zu einer Hölle werden kann.«
Ich horchte auf. »He, das hört sich an, als wüsstest du mehr?«
»Noch nicht. Ich verlasse mich nur auf das, was ich von Marcia gehört habe. Sie sprach von gefährlichen Kräften, die möglicherweise frei werden können, wenn sie nicht mehr ist.«
»Meinte sie damit ihre Töchter?«
Jane hob die Schultern. »Das kann ich dir leider nicht sagen, John. Glaube es allerdings auch nicht. In dieser Frau, die du bald erleben wirst, steckt etwas ganz anderes. Eine wahnsinnige Kraft, würde ich sagen. Die jetzt allerdings abklingt.«
»Das hört sich an, als läge sie im Sterben.«
»Ja«, flüsterte Jane. »Sie liegt wirklich im Sterben, ich wiederhole mich da. Und sie will etwas loswerden. Ich hätte dir keinen Bescheid gegeben, wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass sie mir nichts vormacht. Sie hat wirklich Angst. Sie leidet unter dem Druck, und vielleicht bereut sie auch ihr bisheriges Leben, aber ändern kann sie daran nichts.«
Ich hielt meine Nase gegen den frischen Wind und schnupperte nach den Gerüchen, die er von der anderen Uferseite mitbrachte. »Wenn sie zwei Töchter geboren hat, dann muss es auch einen Vater geben.«
»Den gibt es, John.«
»Wer ist der Vater?«
Jane hob die Schultern. »Sorry, aber das kann ich dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß.«
»Hast du sie denn danach gefragt?«
»Natürlich. Aber sie hat ihn mir verschwiegen. Es geht nur um die beiden Töchter.«
»Wobei Florence und Fiona Zwillinge sind?«
»Erfasst. Die eine ist blond, die andere besitzt dunkle Haare.«
»Nun ja. Völlig normal, oder?«
»Bisher schon, John.«
Der Klang ihrer Stimme hatte mich misstrauisch gemacht. Deshalb hakte ich nach. »Und wo liegt das Problem?«
»Tja, ich weiß nicht, ob es ein Problem ist, aber ich denke schon, dass es mit der gesamten Entwicklung der Geschwister zusammenhängt. Die beiden Frauen sind nicht nur Zwillinge, sie sind siamesische Zwillinge, und du weißt, was das bedeutet, John ...«
Da hatte sie mich aber erwischt!
Ich musste zunächst schlucken und dachte daran, dass siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind und es ihr Leben lang so bleiben, falls man sie nicht zuvor durch eine heikle Operation, die nicht immer gut ablief, trennte.
Jane Collins störte mich nicht bei meinen Gedanken. Ich hatte im Moment Schwierigkeiten, sie zu ordnen, denn mit siamesischen Zwillingen hatte ich bisher noch nichts zu tun gehabt, und ich fragte mit leiser Stimme: »Sind sie auch zusammengewachsen?«
»Nein, John, das waren sie. Man hat sie durch eine Operation getrennt.«
»Wann war das?«
»Ich weiß nur, dass es in der Kindheit geschah. Mehr hat Marcia mir nicht gesagt.«
Wir tuckerten noch immer der Mitte des Sees entgegen. Ich warf einen Blick auf das gegenüberliegende Ufer und hatte dabei den Eindruck, dass es kaum näher gerückt war. Inzwischen hatte sich die Sonne zurückgezogen, aber es war nicht wesentlich kühler geworden, eher schwüler, sodass ich mir leicht vorstellen konnte, bald ein Gewitter zu erleben. Die kleinen Weinorte auf der Nordseite sahen aus wie aus einer Spielzeugschachtel entnommen, und die Hangstraße, die teilweise durch die Hügel führte, musste erleben, dass die Fahrer der Autos die Lichter eingeschaltet hatten. Hin und wieder sah ich sie aufblitzen wie fast zu Boden gesunkene Sterne.
Jane drückte sich an mich. »Warum sagst du nichts?«
»Ich bin überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Verdammt, das ist ein Hammer.«
»Nun ja, aber nicht einmalig. Es gibt siamesische Zwillinge, die man nicht getrennt hat und die sich auch nicht trennen lassen wollen. Da habe ich mir vor kurzem noch entsprechende Reportagen im Fernsehen angeschaut. Die Menschen waren sogar glücklich, und sie hätten sich auch nie trennen lassen, aber hier ist es eben anders gewesen.«
»Hätte man es bleiben lassen sollen?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass Jane mir darauf auch keine Antwort geben würde.
»Das weiß ich nicht.«
»Du hast Marcia nicht gefragt?«
»Nein.«
Ich räusperte mich, fasste meine Gedanken zusammen und stellte die entscheidende Frage: »Warum willst du oder will diese Marcia, dass ich bei ihr sein soll?«
»Sie will es nicht. Ich hielt es für besser.«
»Okay, warum?«
Jane senkte den Kopf. Es kam mir vor, als hätten wir es abgestimmt, denn in diesen Augenblicken hatten wir ungefähr die Mitte des Sees erreicht und der Steuermann stellte den Motor ab. Bisher hatte ich ihn nicht gesehen, und auch jetzt ließ er sich nicht blicken, als das weiß gestrichene Boot allmählich auslief.
»Willst du mir nicht antworten, Jane?«
»Doch.«
»Dann bitte.«
Sie presste die Lippen zusammen und schaute mich auch nicht mehr an. Ich sah ihr an, dass sie einen inneren Kampf ausfocht, und ihr heftiges Atmen übertönte selbst das Klatschen der Wellen gegen die Bordwände.
»Marcia liegt im Sterben.«
»Verdammt, Jane, wenn das so ist, dann gehört sie in ein Krankenhaus, aber nicht hier auf das Boot.«
»Ich weiß. Aber sie würde es nicht zulassen, John. Nie und nimmer wäre sie damit einverstanden. Ich bezweifle auch, dass man ihr in einem Krankenhaus noch helfen kann.«
»Warum nicht?«
Jane gab die entscheidende Antwort. Sie drehte sich wieder so hin, dass sie mich anschauen konnte, aber sie hielt dabei die Augen geschlossen und bewegte kaum ihre Lippen, als sie endlich sprach.
»Marcia stirbt auf eine besondere Art und Weise, John. Sie ist dabei, zu verfaulen ...«
Lachen!
Schrill und wenig freundlich. So laut, dass es sogar das Rauschen der Dusche übertönte, unter der Florence stand. Sie kannte das Lachen ihrer Schwester, aber sie wusste nicht, was sie amüsiert hatte. Das erfuhr sie wenig später, als sie die Dusche in einen Bademantel gewickelt verlassen hatte und mit einem Handtuch über ihr langes dunkles Haar rubbelte.
Das Wohnmobil war groß genug, um beiden Frauen eine entsprechende Bewegungsmöglichkeit zu bieten. Sie fühlten sich alles andere als eingeklemmt und hätten mit keinem Haus tauschen wollen. Auch nicht mit denen, die um den Genfer See herumstanden und besonders auf der Südseite in den Hügeln und an der Grenze zu Frankreich das Paradies der internationalen Steuerflüchtlinge bildeten, wobei man zugeben musste, dass die Hügel von Cologny wirklich von der Lage her einzigartig waren. Hier stand auch der Wagen der Schwestern, und der Blick über den See war einfach unbezahlbar.
Die blonde Fiona räkelte sich auf der Couch, die mit schweren Kissen wie aufgepumpt wirkte. Sie lachte jetzt nicht mehr. Ihr Gesicht hatte einen ernsten, fast verbissenen Ausdruck angenommen, und sie schaute mit starrem Blick ins Leere.
»Hast du gelacht?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich dachte schon an morgen.«
»An unsere Schau?«
Fiona nickte. »Und das hat dich zu diesem Lachen animiert?«
»Ja. Aber das ist nicht alles. Zuvor wird es jemand nicht mehr geben.«
Florence schwieg in den folgenden Sekunden. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, griff zum Glas, das auf dem Tisch stand, und trank den mit Birnengeist gemixten Martini mit kleinen Schlucken. Eigentlich war der Drink für Fiona bestimmt, aber das interessierte sie nicht. Die beiden Schwestern teilten alles, auch die Drinks.
»Du meinst die kommende Nacht?«
»Ja.«
»Und du denkst an Marcia.«
»Sie hat es nicht anders verdient«, flüsterte Fiona und fügte hinzu: »Sie hat uns verraten!« Nach dem letzten Wort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er wurde hart und kalt, in ihre Augen trat ein Schimmer, der nicht von dieser Welt war und so wirkte, als wäre in der Hölle die Klappe eines Glutofens geöffnet worden, um einen Feuerschein freizulassen.
»Sie ist unsere Mutter!«
Diesmal lachte Fiona wieder. »Na und? Spielt das eine Rolle? Denk lieber daran, wer unser Vater ist.«
»Ich weiß.«
»Sie hat ein Gewissen«, flüsterte Fiona scharf. »Sie hat ein verdammtes Gewissen ...«
»Hat jeder Mensch!«, warf Florence ein.
»Sind wir Menschen?«
»Wir sehen zumindest so aus.«
Fiona legte sich zurück. »Ja, wir sind Menschen – äußerlich und das müssen wir auch sein. Aber ich fühle mich nicht zu sehr als Mensch, verstehst du das? Ich ... ich ... bin etwas anderes. Ich bin, nein«, korrigierte sie sich, »nein, wir sind es gemeinsam. Wir sind die neue Generation von Menschen, wir sind ein Duo Infernale. Wir machen den Menschen was vor. Wir bringen sie zum Staunen, wir sind die Entertainerinnen der Hölle.«