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Lorna Higgins war fast blind, lebte in einem Heim in Cornwall - und hatte Angst. Angst vor einer Gestalt, die nur wenige je wirklich gesehen hatten. Man nannte ihn den Nachtschwärmer - eine düstere Erscheinung, halb Legende, halb Albtraum. Niemand nahm ihn ernst. Nicht einmal, als drei junge Männer tot an den Klippen aufgefunden wurden. Ihre Freundinnen? Verschwunden. Spurlos. Für die Polizei blieb alles ein Rätsel. Nicht für Lorna Higgins. Sie wusste mehr, und sie schrieb in ihrer Verzweiflung einen Brief an den Reporter Bill Conolly. Bill glaubte ihr. Er fuhr nach Cornwall, um den Nachtschwärmer zu jagen. Doch nicht allein, denn ich, John Sinclair, war ebenfalls dabei ...
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Der Nachtschwärmer
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
John Sinclair ist der Sohn des Lichts.Der Kampf gegen die Mächte derFinsternis ist seine Bestimmung.
von Jason Dark
Lorna Higgins war fast blind, lebte in einem Heim in Cornwall – und hatte Angst. Angst vor einer Gestalt, die nur wenige je wirklich gesehen hatten. Man nannte ihn den Nachtschwärmer – eine düstere Erscheinung, halb Legende, halb Albtraum. Niemand nahm ihn ernst. Nicht einmal, als drei junge Männer tot an den Klippen aufgefunden wurden. Ihre Freundinnen? Verschwunden. Spurlos.
Für die Polizei blieb alles ein Rätsel. Nicht für Lorna Higgins. Sie wusste mehr, und sie schrieb in ihrer Verzweiflung einen Brief an den Reporter Bill Conolly. Bill glaubte ihr. Er fuhr nach Cornwall, um den Nachtschwärmer zu jagen. Doch nicht allein, denn ich, John Sinclair, war ebenfalls dabei ...
Der harte Disco-Sound hämmerte noch in den Ohren der beiden jungen Leute, doch um sie herum war die künstliche Glitzerwelt mit all ihrem Krach und ihrer Ekstase verschwunden. Hier gab es keine Energy Drinks und Aufputschpillen mehr, keine funkelnden Lichter und verschwitzten Leiber, die beim Tanzen wie aufgedrehte Marionetten wirkten, hier war es einfach nur dunkel – und still.
Sie waren bis zu den Klippen gefahren und hatten dann gestoppt. Irgendwo arbeitete der Motor noch nach, anders war das leise Knacken nicht zu erklären, das bei Wendy Baxter eine Gänsehaut verursachte. Sie fühlte sich unwohl, und das sagte sie auch.
»Verdammt, ich wollte nicht, dass du hier zu den Klippen fährst. Scheiße ist das.«
Felix Molina lachte. »He, ich weiß gar nicht, was du hast. Hier ist es doch super.«
Wendy ballte die Hände zu Fäusten. »Ich wollte nicht hierher. Verstehst du das?«
»Aber in der Disco wolltest du auch nicht bleiben.«
»Stimmt!«
»Deshalb stell dich nicht so an!«
Wendy kniff die Lippen zusammen. Sie hatte Angst, und diese Angst war als Kribbeln zu spüren, das durch ihren Körper rann. Die Angst konnte sie schlecht in Worte fassen. Zumindest war der Grund dafür nicht rational erklärbar.
Er hatte auch nichts mit Felix zu tun, denn sie mochte ihn, und sie hatte schon öfter mit ihm geschlafen. Beide verstanden sich im Prinzip gut. Sie hatten sich wirklich gesucht und gefunden, aber manchmal konnte sie die Anwandlungen ihres Freundes nicht verstehen. Da fiel er einfach aus dem Rahmen. Dabei brauchten sie nicht mal bis an die Klippen zu fahren, um allein sein zu können. Felix hatte eine eigene Bude, in der sie ungestört waren, aber nein, er musste ja noch diesen verdammten Turn machen, und das ärgerte sie.
Am meisten jedoch ärgerte sich Wendy über ihre eigene Unsicherheit. Sie hatte das Gefühl, dass etwas in der Luft lag. Es war nicht zu sehen, sie konnte es auch nicht richtig beschreiben. Für sie war es etwas Bedrohliches, das die Nacht für sie bereit und auch versteckt hielt. Sie konnte es nicht beschreiben, aber wenn sie es auf einen Nenner brachte, dann lautete der: Gefahr!
Sie holte tief Luft.
»Hast du was?«
»Ja.« Wendy musste zweimal schlucken, bevor sie antworten konnte. »Ich habe einfach nur Angst.«
»Vor wem?« Er knuffte sie an. »Doch nicht vor mir – oder?«
Wendy drehte den Kopf. Was sie sah, gefiel ihr. Felix war kein so angepasster Typ, er war jemand, der seinen eigenen Weg ging, und das demonstrierte er auch nach außen. Hell gefärbte Rastalocken, die er jeden Morgen neu flocht und band. Ein Gesicht, in dem keine Falschheit zu lesen war.
Wendy hatte sich zuerst in seine Augen verliebt, die so sanft schauen konnten. Später hatte sie festgestellt, dass Felix auch so jemand war, der einen anderen Menschen ernst nahm. Nur hin und wieder flippte er aus. Da musste er seinen Kopf einfach durchsetzen.
»Nein, vor dir nicht.«
»Super. Vor wem dann?«
»Vor dem fliegenden Ungeheuer.«
Sie hatte leise gesprochen. Entsprechend laut klang das Lachen des jungen Mannes. Es schallte durch den Wagen, und erst als Wendy mit den Fäusten gegen das Armaturenbrett trommelte, hörte es auf.
»Lass das!«
»Warum? Soll ich weinen?«
»Nein. Aber du nimmst mich nicht ernst.«
Felix Molina nickte. »Stimmt, ich nehme dich nicht ernst. Was du gesagt hast, ist Mist. Das kannst du vergessen. Das war ein Schuss in den Ofen. Das fliegende Ungeheuer – wenn ich das schon höre. Das gibt es nicht. Das ist unmöglich. Wie wurde es noch genannt in den Zeitungen?« Er hatte den Kopf nach links gedreht, um Wendy anschauen zu können, die blass und steif neben ihm saß.
»Der Nachtschwärmer.«
»Toll.«
»Es gibt ihn«, flüsterte Wendy. »Denk doch mal an die Menschen, die in diesem Sommer verschwunden sind. Sie waren plötzlich weg, und niemand hat sie mehr gesehen. Sie sind nicht wieder aufgetaucht. Sie ... sie ...«
»Es verschwinden immer wieder Leute.«
»Ja, das weiß ich. In den Zeitungen steht das. Sie tauchen auch in den meisten Fällen nicht mehr auf. Aber hier sind sie aus dem Umkreis verschwunden, und da steckt mehr dahinter, das kann ich dir schwören. Glaub an mich.«
Felix grinste breit. »Klar, ich glaube an dich. Wenn nicht, wären wir nicht zusammen.«
Wendy drehte ihm wieder den Kopf zu. »Ach ja? Hast du das ehrlich gemeint?«
»Habe ich.«
Sie zeigte ein scharfes Grinsen. »Sehr gut, mein Lieber, sehr gut. Wenn du an mich glaubst, dann musst du auch akzeptieren, dass ich Angst habe.«
»Ja, das hast du. Aber Angst vor etwas, das es nicht gibt.« Felix fuchtelte mit den Händen. »Das sind doch Märchen. Du weißt selbst, wie die Leute hier sind. Die erzählen immer viele Geschichten. Sie bilden sich was ein. Die dichten sich irgendwelchen Scheiß zusammen, wenn die Dinge schlecht für sie laufen. Warum glaubst du mir nicht?«
Wendy bekam einen starren Blick.
»Der Nachtschwärmer ist kein Scheiß!«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, wann geht das endlich in deinen Kopf hinein?«
»Nie.«
»Aber man hat ihn gesehen.«
»Woher weißt du das?«
»Nicht nur, dass Menschen verschwunden sind, es hat auch Tote gegeben. Man fand sie hier bei den Klippen. Sie lagen zwischen den Felsen. Abgestürzt, heißt es offiziell, weil ihre Körper zerschmettert waren. Aber daran glaube ich nicht. Sie sind bestimmt nicht abgestürzt. Nicht auf normale Art und Weise. Nein, nein, daran kann ich nicht glauben, Felix. Man hat sie einfach dort zwischen die Klippen geworfen. Das ist es.«
»Und wer, bitte, soll das getan haben?«
»Der Nachtschwärmer. Wer sonst.«
»Die Bestie?«
»Ja, genau.«
»Glaube ich nicht.«
»Ist mir auch egal, was du glaubst oder nicht. Das ist seine Zeit. Es geschah immer in der Nacht, und ich will auch nicht länger hier am Rand der Klippen bleiben. Ich will kein Opfer von ihm werden.« Sie schlug gegen den Wagenhimmel. »Und auch das Auto hier bietet keinen Schutz. Treib es nicht auf die Spitze. Es gibt einige, die von der Disco direkt in den Tod gefahren sind.«
»Dann aber gegen den Baum«, erwiderte Felix trocken.
»Nein, verdammt, auch nicht. Nicht gegen den Baum und nicht gegen einen Felsen. Sie sind ...«
HUSCH!
Nach einem leisen Schrei verstummte Wendy und wurde von einer Sekunde zur anderen bewegungslos.
»Was ist denn?«
»Hast du das gehört?«
»Wie? Was ...?«
»Das Geräusch«, flüsterte sie.
»Nein, habe ich nicht.«
»Du lügst!«, fuhr sie ihn an.
Felix Molina verdrehte die Augen. »Verdammt noch mal, warum sollte ich lügen?«
»Weil du die Wahrheit nicht vertragen kannst. Da ist ein Geräusch gewesen, und zwar direkt über uns. Furchtbar.« Sie suchte nach einem Vergleich. »Als wäre ein riesiger Vogel über uns hinweggeflogen.«
»Riesige Vögel gibt es nicht in Europa!«, erklärte er.
»Aber es gibt einen Nachtschwärmer!« Wendy ließ nicht locker. Sie schien ihrem Freund die Tatsache einhämmern zu wollen. »Warum glaubst du das denn nicht?«
»Weil ...«
HUSCH
Das war es wieder. Und jetzt hatten beide das Geräusch gehört. Es war nichts zu sehen gewesen, auch wenn sich Felix Molina duckte, um besser aus dem Fenster schauen zu können.
Wendy atmete heftiger. »Hast du es auch gehört, verflucht noch mal? Hast du das?«
Er schwieg.
Das gefiel ihr nicht. Der rechte Arm schnellte vor. Ihre Hand krallte sich an der Schulter ihres Freundes fest.
»Hast du das wenigstens gehört, verdammt?«, schrie sie ihn an und schüttelte ihn dabei. Ihr hübsches Gesicht hatte sich verzerrt, und Angst leuchtete in ihren Augen.
»Lass mich los!«
»Nein, hast du es gehört?«
Felix Molina verdrehte die Augen. »Ja, da ist etwas gewesen. Bist du nun beruhigt?«
Sie ließ ihn los. »Nein!«
»Ein Windstoß. Eine Bö, du weißt ja, dass sich hier an der Küste alles blitzschnell verändern kann. Das ist nun mal so.«
»Aber nicht jetzt. Es gibt so gut wie keinen Wind. Kein Drachenflieger würde von hier starten.«
Felix verdrehte die Augen. »Dann war es eben doch ein Vogel.«
Wendy Baxter hatte keine Lust mehr, lange zu diskutieren. Sie winkte mit einer Hand ab.
»Okay, lass uns fahren. Ich weiß, dass du damit Probleme hast. Dann ist es besser, wenn wir abhauen. Und wenn du nicht fahren willst, steige ich aus und renne zurück.«
Molina grinste breit. »Und was ist mit deinem Nachtschwärmer? Hast du davor keine Angst?«
»Doch, ich habe Angst. Aber es kann sein, dass er mir noch eine Chance gibt. Ich will auch nicht bis an den Rand der Klippen laufen. Ich will nur weg.«
»Klar, ich weiß.«
Zwischen ihnen wurde es still. So still, dass sie sogar das Rauschen des Meeres hörten, wenn sich das Wasser mit seiner gewaltigen Kraft an den Klippen brach.
HUSCH!
Jetzt schreckten beide zusammen. Wendy schrie auch nicht mehr. Sie saß wie eine Statue und schielte zur Seite, um die Reaktion ihres Freundes zu beobachten.
Felix hielt die Hände zu Fäusten geballt. Er hatte sich verändert. Plötzlich war auch er jemand, der bestimmten Dingen Glauben schenkte.
Nach einer kurzen Zeit der Starre bewegte er sich und versuchte, so viel wie möglich durch einen Blick aus dem Fenster erkennen zu können, was ihm aber nicht gelang. Er sah die Felsen, die auch hier in die Höhe ragten, und er sah den dunklen Himmel über der Erde, der sich wie ein gewaltiges Tuch spannte und von keiner Wolke bedeckt war. Etwas, das hier nicht oft vorkam. Urplötzlich hatte das Wetter umgeschlagen, und es war zu idealen Sommertagen und auch Nächten gekommen.
Die musste man genießen. Da musste man sich amüsieren. Das musste gefeiert werden. Es würde nicht lange so bleiben; sie wussten das beide.
Und dieses verdammte Geräusch oder dieser Nachschwärmer wollten einfach nicht dazu passen.
Gut, es hatte Geschichten gegeben, die kannte er auch. Es waren Menschen verschwunden. Man hatte einen unheimlichen Schatten gesehen, der durch die Luft flog. Von den Zeugen und von den Zeitungen war er der Nachtschwärmer genannt worden, aber es stand nicht fest, ob sich wirklich ein Ungeheuer dafür verantwortlich zeigte.
Felix glaubte es nicht. Ungeheuer kamen in Märchen und Sagen vor. Aber nicht hier. Das hatte eine andere Ursache gehabt, und dieser Meinung war auch die Polizei gewesen. Bei den abgestürzten Körpern hatte man keine Spuren von Gewaltanwendung finden können. Und die Verschwundenen waren nie wieder aufgetaucht. Weder tot noch lebendig.
»Warum startest du denn nicht?«, flüsterte Wendy.
Er verdrehte die Augen. »Lass mir noch ein paar Sekunden Zeit, bitte. Dann werde ich ...«
Sie unterbrach ihn: »Warum nicht sofort, Felix? Warum starten wir nicht jetzt?«
Er fuhr wieder zu ihr herum. »Weil ich mich umsehen will, verflucht noch mal!«
Ihr stockte der Atem. Dann schüttelte sie den Kopf und flüsterte: »Das ... das ... kann doch nicht dein Ernst sein, Felix? Du willst raus?«
»Genau!«
»Aber ...«
»Hör auf, denn ich weiß, was du sagen willst. Es ist für dich nicht nachvollziehbar. Aber ich will Gewissheit haben, verstehst du?« Er blickte sie scharf an. »Ich will endlich, dass mit dem Märchen aufgehört wird.«
»Das ist kein Märchen«, hauchte Wendy und begann zu zittern.
»Ich werde es dir beweisen.«
»Nein, du ...«
Er hörte nicht mehr hin und stieß die Tür des Fords auf. Wendy wollte ihn noch durch einen raschen Griff zurückhalten, doch das schaffte sie nicht mehr, denn er war schneller.
»Gott steh uns bei«, flüsterte sie nur und schaute auf die Wagentür, die nicht ins Schloss gefallen war, sondern halb offen stand ...
Felix hatte überlegt, ob er lachen oder grinsen sollte, aber das war ihm vergangen, als er zunächst im Freien stand und sich umschaute. Er kannte die Gegend gut. Er kannte sie am Tag und auch in der Nacht.
Da hätte es eigentlich keine Probleme geben sollen.
Heute schon ...
Es war alles wie sonst. Die Dunkelheit, der Sommerwind. Er hörte das Meer, konnte aber noch nicht sehen, wie es von den mächtigen Felswänden gebrochen wurde, da hätte er bis an den Rand der Klippen gehen müssen, was er nicht tat.
Er ging nur ein paar Schritte von seinem Fahrzeug weg, das ihm vorkam wie eine helle Insel inmitten der Dunkelheit, denn die Innenbeleuchtung brannte weiter. Er sah auch seine Freundin, die angespannt auf ihrem Sitz hockte und sich der Fahrertür zugedreht hatte, damit sie nach draußen schauen konnte.
Es gab keine Bäume und kein Buschwerk, dass ihm die Sicht genommen hätte. Der Strandhafer wuchs weiter unten und in manch kleiner Bucht oder an einem flachen Uferteil. Hier erlebte er die Höhe und die nie abreißende Musik der Wellen.
Knapp drei Meter weiter hatte sich ein Felsen in dem Boden festgefressen, der aussah wie ein Kopf, dessen Oberschädel flach geschlagen worden war. Er sollte Felix' nächstes Ziel sein. Auf ihm wollte er sich niederlassen und die Umgebung beobachten.
Er gab sich selbst gegenüber zu, dass ihn dieses ungewöhnliche Geräusch beunruhigt hatte. So etwas hatte er hier nie gehört.
Ein leichter Schauer hatte sich auf seinem Rücken ausgebreitet. Er hätte es Wendy gegenüber nie zugegeben, aber sie sprach ihn auch nicht mehr an und blieb zurück im Wagen.
Kein Vogel. Was dann?
HUSCH!
Da war das Geräusch wieder!
Felix verharrte mitten in der Bewegung. An den Stein dachte er nicht mehr.
Er spürte das kalte Gefühl im Nacken und wusste plötzlich, dass er nicht mehr allein war.
Ein Schrei! Ein Lachen? Oder etwa beides?
Er konnte es nicht sagen, aber die Gefahr war vorhanden, und sie schlug in Sekundenschnelle zu. Er kam nicht mehr dazu, etwas zu unternehmen, plötzlich veränderte sich seine Welt. Er hörte nichts mehr, er sah jetzt, dass etwas auf ihn zuraste.
Der Schatten war da.
Riesig. Nicht zu fassen, kaum zu glauben. Und er stürzte sich aus der Dunkelheit auf ihn. Es gab nichts mehr, was ihn noch stoppen konnte. Er war auch nicht genau zu sehen, obwohl Felix auf ihn schaute, als er heranflog.
Groß, dunkel, ein weißer Fleck irgendwo!
Ein Lachen oder ein Schrei.
Und dann erlebte er den Aufprall!
Felix Molina hatte das Gefühl, von einem Stein getroffen worden zu sein. Er flog zurück. Die Luft wurde ihm knapp. Er konnte nicht mal schreien und verwandelte sich in eine Puppe, die mit beiden Beinen in der Luft herumtrat.
Etwas griff zu!
Es war mörderisch. Er konnte es auch nicht beschreiben. Es waren keine Hände, das mussten Krallen sein, wie man sie bei einem Menschen nicht erwartete. So etwas gehörte auch nicht zu einem Vogel. Er kannte überhaupt kein Tier, das mit derartigen Krallen ausgerüstet war. Zumindest nicht hier in Europa.
Mit einem brutalen Ruck wurde er in die Höhe gezogen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Seine Füße verloren den Kontakt. Er wand sich unter dem harten Griff, aber er kam nicht los. Die unheimliche Bestie zerrte ihn einfach vom Boden weg und flog mit ihm davon ...
Felix konnte es nicht glauben. Er wusste nicht, ob er träumte oder alles tatsächlich erlebte. Zwei Dinge sorgten dafür, dass er sich der Echtheit seines Zustands schon bewusst wurde.
Die Spitzen der Krallen hatten seine Kleidung durchbohrt und griffen seine Haut an. Wie kleine Messer stachen sie hinein, und zugleich peitschte ihm der Flugwind ins Gesicht, sodass er nicht anders konnte, als die Augen zu schließen.
Er hatte die Bestie nicht richtig gesehen, und auch jetzt bekam er sie nicht zu Gesicht, weil er mit dem Kopf nach unten lag. Aber er hörte sie über sich schreien, vielleicht auch lachen. Es konnte durchaus eine Mischung aus beidem sein.
Er wurde kurz gedreht und merkte, wie beweglich die verdammten Krallen waren, dann lag er so, dass er nach unten schauen konnte. Er war zu einer Beute des Nachtschwärmers geworden. Der Riesenvogel hatte keinen Hasen gefangen, sondern sich einen Menschen als Beute geholt. Es war irgendwie nicht zu begreifen. Er zappelte als Beute in den verfluchten Fängen, und erst jetzt löste sich seine Starre.
Er schrie!
Felix schrie, was seine Lungen hergaben. Er brüllte so laut, dass ihm die Kehle wehtat, aber es war niemand da, der ihm half. Vielleicht hörte ihn auch niemand, denn der Flugwind schlug immer wieder gegen sein Gesicht. Er war wie eine Peitsche, die nicht aufhörte zu schlagen, und sie raubte ihm sogar die Luft.
Sie hat recht gehabt!, schrie eine Stimme in ihm. Verdammt, Wendy hat recht gehabt. Es gibt die Bestie, und sie hat mich in ihrer Gewalt.
Er wollte die Augen schließen und einfach nichts mehr hören und sehen. Aber er spürte auch mit geschlossenen Augen die Veränderung, die unter ihm stattgefunden hatte.
Es gab das Land nicht mehr. Keine Felsen, keinen harten Boden, genau diese Gewissheit zwang ihn, die Augen wieder zu öffnen. Er schaute jetzt in die Tiefe, die sich bewegte und nicht mehr so dunkel war, weil sie hin und wieder ein paar helle Flecken aufwies.
Es war das Wasser des Meeres mit seinen schäumenden Wellen, die diese tanzenden Flecken bildeten oder auch diese hochkochende Gischt, wenn das Wasser gegen die Klippen schlug.
Sekundenlang vergaß er sein eigenes Schicksal und dachte daran, dass man die zerschmetterten Körper zwischen den Klippen gefunden hatte. Die Vorstellung, dass auch er fallen und aufschlagen könnte, entsetzte ihn. Er riss den Mund auf, doch es gelang ihm nicht mal, einen Schrei loszuwerden.
Trotz der Schmerzen wünschte er sich, dass ihn der Unhold noch lange weitertragen würde. Dann merkte er wenigstens, dass er noch lebte.
Felix stellte sich auch vor, was er bei einem Fall nach unten empfinden würde. Er hatte so etwas im Fernsehen oder im Kino gesehen. Plötzlich waren die Bilder der fallenden Körper wieder da. Wie sie in der Luft um sich schlugen und strampelten, als wollten sie irgendwo einen Halt finden, den es aber nicht gab.
Von unten her peitschte ihm die Luft jetzt stärker entgegen. Er merkte, dass seine Kleidung zu flattern begann und aufgebläht wurde.
Und jetzt ...?
Da wurde es Felix Molina klar. Er hing nicht mehr fest. Es war auf dem Weg nach unten. Er fiel. Er raste in den Tod.
All diese Gedanken erwischten ihn innerhalb einer Sekunde. Das Fazit erlebte er ebenfalls.
Ich bin schon tot!, dachte er.
Dieser Gedanke brachte eine gewisse Sprengkraft mit. Plötzlich löste sich die innere Starre. Er konnte wieder schreien, und er brüllte all seine Not hinaus.
Niemand hörte ihn. Das Rauschen der Wellen verschluckte alles. Er riss die Augen auf. Er sah das Wasser, er sah die Gischt, die sich für ihn in grinsende Totenschädel verwandelte, die am Tor der Hölle standen, um den Neuen zu empfangen.
Dann prallte er auf!
Er fiel auf die Felsen und rutschte auch in das Wasser hinein, aber dessen Kälte merkte er nicht mehr, weil eine andere Kälte viel stärker war. Die Kälte des Todes ...
Wendy Baxter war im Auto zurückgeblieben. Sie konnte es nicht fassen, nicht glauben. Sie hatte vorgehabt, das Auto zu verlassen, aber dazu hatte sie sich nicht überwinden können. Es war einfach eine zu schreckliche Szene, die sie zu sehen bekam. Sie hatte zwar irgendwie an den Nachtschwärmer geglaubt, aber dass es ihn wirklich geben könnte, das hatte sie nicht hinnehmen können.
Und sie wusste auch, dass sie zu schwach war, um gegen ihn anzukämpfen. Sie saß auf ihrem Platz und schaute durch die offene Tür nach draußen. Was da aus der Dunkelheit der Nacht auf ihren Freund zugeflogen war, das hatte sie nicht genau erkennen können. Es war ein Schatten gewesen, später ein lebendiges Wesen, aber kein Mensch und auch kein Vogel. Etwas, das man nicht fassen und auch nicht beschreiben konnte. Ein fliegendes Monster oder Ungeheuer. Aber es hatte Arme, auch Beine und sehr große Flügel. Sie sah einen hellen Flecken in der oberen Gesichtshälfte. Genau das musste das Gesicht sein oder die Fratze. Ja, es war eine verdammte Fratze, das traf schon eher zu.
Sie zitterte am gesamten Leib. Es war mehr das innere Zittern, das Gefühl einer eisigen Angst, die zudem ihr Herz umschloss. Sie fühlte sich unter einem wahnsinnigen Druck stehend und zugleich eingesperrt in einen Käfig, den sie nicht verlassen konnte, auch wenn sie es wollte.
Andere Gefühle zu beschreiben war ihr unmöglich. Es stand nur fest, dass sie hier das Grauen erlebte, und das in seiner schrecklichsten Form.
Felix wehrte sich nicht. Er konnte es nicht. Er hing in den Krallen des Riesenvogels fest, der sich ein Opfer geholt hatte.
Nein, kein Vogel.
Falsch, das war der unheimliche Nachtschwärmer, der jetzt zusammen mit seiner Beute in die Höhe stieg.
Wendys Augen weiteten sich. Sie hielt den Atem an. Sie wollte etwas unternehmen, aber der Selbsterhaltungstrieb hielt sie im Wagen zurück, denn sie wusste genau, dass auch sie verloren war, wenn sie den Schutz verließ und auf die Bestie zulief.
Sie flog in die Höhe – und sie nahm Felix mit. Er hing als leblose Beute in ihren Krallen, als sich das Wesen in der Luft drehte und Kurs auf die Klippen nahm.
Wendy ächzte. Sie weinte, sie jammerte. Sie streckte die Arme mit einer hilflosen Geste aus, als wollte sie ihren Freund noch im letzten Augenblick den Krallen entreißen.
Hilflos musste sie mit ansehen, wie der Nachtschwärmer mit seiner Beute davonflog.
Es war noch immer nicht zu fassen. Wendy schaute auf den leeren Fahrersitz. Sie schüttelte den Kopf und war jetzt froh, sich bewegen zu können. Um ihre Lippen zuckte es. Längst hatten die Tränen ihre nassen Spuren auf der Haut im Gesicht hinterlassen. Wendy war völlig durcheinander. 20 Jahre alt war sie geworden. Aber sie hatte noch niemals zuvor diesen grausamen Horror erlebt.
Sie weinte und stolperte aus dem Wagen hinaus. Als ihre Füße festen Boden spürten, hatte sie trotzdem das Gefühl, von aus der Erde greifenden Schlammarmen in die Tiefe gezogen zu werden. Sie schaute nach vorn und in den Himmel hinein, der als dunkles Etwas aus der Ewigkeit gekommen war und hoch über ihrem Kopf lag. Selbst das Funkeln der wenigen Sterne gab ihr keine Hoffnung mehr.